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Inge Löhnig

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Beschreibung

Cold Cases - Verbrechen schlafen nicht Gina Angelucci, die Partnerin des Münchner Kommissars Dühnfort, arbeitet in der Abteilung für Cold Cases in München: Sie löst Mordfälle, die seit Jahren nicht geklärt werden konnten. Auf die Bitte einer Mutter nimmt sie die Ermittlungen zu einem tragischen Fall wieder auf. Vor zehn Jahren verschwand die kleine Marie. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Der Vater von Marie hat Selbstmord begangen. Hat er seiner Tochter etwas angetan? Gina ahnt, dass ihre Kollegen damals die falschen Fragen stellten. Warum sollte der Vater das Mädchen töten? Oder ist Marie noch am Leben? Gina folgt einer Spur, die zu unendlichem Leid führt …

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Das Buch

Gina Angelucci arbeitet im Münchener Kommissariat an Cold- Cases-Fällen, die seit vielen Jahren ungeklärt sind. Eine verzweifelte Frau taucht bei ihr auf und bittet sie darum, nach ihrer Tochter Marie zu suchen, die vor zehn Jahren verschwand. Das damals sechsjährige Mädchen wurde nie gefunden und schließlich für tot erklärt. Nur die Leiche von Maries Vater wurde an einem See entdeckt. Er hatte in einer Fischerhütte Schlafmittel genommen und anschließend die Hütte und sich selbst in Brand gesetzt. Alles deutete auf erweiterten Selbstmord hin. Aber der Mutter lassen die offengebliebenen Fragen bis heute keine Ruhe: Warum sollte ihr Mann das Mädchen getötet haben? Ist Marie vielleicht doch noch am Leben?

Gina ist anfangs skeptisch, aber einige Ungereimtheiten lassen sie aufhorchen: War die Schlafmitteldosis überhaupt stark genug? Und reichen ein Ehering und der Teil einer Tätowierung, um den Vater eindeutig zu identifizieren? Gina vergräbt sich in den alten Unterlagen und deckt eine Spur des Grauens auf …

Die Autorin

Inge Löhnig studierte an der renommierten Münchner Akademie U5 Graphik-Design. Nach einer Karriere als Art-Directorin in verschiedenen Werbeagenturen machte sie sich mit einem Designstudio selbstständig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie und einem betagten Kater in der Nähe von München. Besuchen Sie Inge Löhnig auf ihrer Homepage: www.inge-loehnig.de

Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Kommissar-Dühnfort-Serie:

Der Sünde Sold · In weißer Stille · So unselig schön · Schuld währt ewig · Verflucht seist du · Deiner Seele Grab · Nun ruhet sanft

Außerdem:

Mörderkind

INGE LÖHNIG

GEDENKE MEIN

KRIMINALROMAN

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1218-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© Inge Löhnig, www.inge-loehnig.deUmschlaggestaltung: bürosüd˚ GmbH, MünchenTitelabbildung: © Getty Images/Westend61

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Dienstag, 8. Februar 2005

1

Die Haut an ihren Armen kribbelte. Ein Brennen und Ziehen, wie früher, als sie ein Kind gewesen war und ihr der Nachbarsjunge eine »Brennnessel« verpasst hatte. Petra schob die Pulloverärmel hoch, rieb, versuchte die Furcht zu vertreiben, doch sie breitete sich weiter aus, wanderte nach innen, bis sie schließlich ganz damit angefüllt war wie ein Gefäß, dessen einzige Bestimmung es war, das Unerträgliche zu ertragen: die Ungewissheit.

Bitte! Dieses Wort zog wie ein Schriftband durch ihren Schädel. Bitte, lass nichts passiert sein. Bitte, lass es ihr gutgehen. Bitte!

Vor dem Fenster fiel der Regen in einem lautlosen Nieseln auf Dächer und Mauern, auf die kahlen Zweige der Bäume, auf die Fahrzeuge, die unten am Straßenrand parkten, auf Fahrbahnen und Gehwege, und gefror auf den frostkalten Oberflächen. Ein kristallener Panzer legte sich über alles, und für einen Augenblick wünschte Petra, ihr Herz möge ebenso gefrieren, ihr alle Gefühle nehmen. Die Wut wie die Zweifel, diese bohrende Sorge, die sich in Panik verwandeln wollte, sobald sie sich auszumalen begann, was alles geschehen sein könnte. Lass die Tür aufgehen und sie hereintanzen.»Bin wieder da, Mama!« Bitte!

Sie wusste nicht, an wen sie diesen stummen Wunsch richtete. Sie war nicht gläubig, obwohl sie getauft war. Sie ging nie zum Gottesdienst, obwohl ihre Eltern sie christlich erzogen hatten, und mit einem Mal beneidete sie ihre Mitmenschen, die einen Glauben hatten, die Zuversicht und Vertrauen besaßen, dass es eine ordnende Macht gab, einen Sinn in allem. Dass der Herr seine schützende Hand über alle hielt, auch über sie, dass er es richten würde.

Petra wandte sich vom Fenster ab. Sie musste etwas unternehmen, doch es gab nichts mehr, das sie noch tun konnte, um ihre Angst in Schach zu halten.

Sie versuchte die Wut auf Chris wieder heraufzubeschwören. Diesen Zorn, der sie erfasst hatte, als er Marie am Sonntagabend nicht wie vereinbart nach Hause brachte und sie erkannte, dass er sich nicht einfach verspätete, sondern verschwunden war. Mit ihrer Tochter. Einfach abgehauen, untergetaucht. Wut war besser als Angst. Sie war zielgerichtet, ein Schwert für den Kampf. Während Angst das Messer war, mit dem man sich die Haut vom Leib zog.

Nachdem es ihr nicht gelungen war, Chris telefonisch zu erreichen, war sie zu seiner Wohnung gefahren, hatte Sturm geläutet und dann entdeckt, dass sein Wagen weg war. Die Nachbarn wussten von nichts, hatten ihn und das Kind seit Samstag nicht gesehen. Chris, dieser Mistkerl! Er wollte sie quälen und bestrafen, und er wollte Marie für sich allein, denn er glaubte, dass sie unfähig sei, ein Kind zu erziehen, und hatte das alleinige Sorgerecht beantragt. Doch das würde er nicht erhalten. Das hatte ihm sogar sein Anwalt erklärt. Vor Zorn bebend war sie nach Hause gefahren, und in diesem Beben hatte bereits die Furcht gesessen.

Sie hatte jeden angerufen, der sie kannte. Doch niemand hatte etwas von Chris und Marie gehört oder eine Vermutung, wo sie sein könnten, und die Angst kam angeschlichen. Wenn vielleicht doch etwas passiert war?

Entziehung einer Minderjährigen hatte es der Kommissar genannt, bei dem sie ihre Tochter und ihren Noch-Mann schließlich als vermisst meldete. Seit Sonntagnacht suchte die Polizei in einer öffentlichen Fahndung nach den beiden. Ihre Bilder flimmerten über die Fernseher und prangten auf Zeitungen. Mittlerweile kannte halb Deutschland ihre Gesichter. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie finden würde. Wohlbehalten und unversehrt.

Die Kirchturmuhr von Maria Immaculata schlug vier Uhr. Die Tür ging auf. Heike kam herein und mit ihr ein Schwall Geräusche aus der Küche, wo Mark mit Laptop und Handy vorübergehend sein Büro aufgeschlagen hatte. »Es ist kein Problem, das Geschäft für ein paar Tage mobil zu führen. Freunde stehen einander bei. Und du brauchst uns jetzt. Mach dir also keinen Kopf unseretwegen«, hatte er gesagt und den Küchentisch zum Schreibtisch umfunktioniert.

Heike stellte zwei Becher Tee auf den Tisch in der Essecke. Auf dem Sideboard dahinter lagen Maries Lesefibel und das Schreibheft bereit, denn am Sonntagabend hatten sie noch lesen üben wollen. Dahinter hing der Mondblumenstrauß an der Wand, den Marie gezeichnet hatte. Wenn es Sonnenblumen gibt, muss es auch Mondblumen geben, Mama. Ist doch logisch.

Wenn sie nun nie wiederkam?

Heike hielt ihr einen Becher hin. »Trink wenigstens etwas. Du kippst sonst noch um, und wer soll sich dann um Marie kümmern, wenn die Polizei sie endlich gefunden hat? Ich kann das nicht. Das weißt du doch. Dafür fehlt mir das Talent.«

Eine warme Welle der Zuneigung durchflutete Petra und drängte die Angst in den Hintergrund. Heike glaubte also auch, dass alles gut werden würde, dass diese Tage nur ein einziger gelebter Alptraum waren, und danach konnten sie in ihr gewohntes Leben zurückkehren. Dankbar nahm sie den Becher und fühlte sich nicht wohl dabei. Nicht nur, dass sie selbst nicht imstande war zu arbeiten, obendrein hielt sie Mark und Heike auch noch davon ab. Die beiden waren Immobilienmakler und hatten alle Hände voll zu tun.

»Es wäre besser, wenn wir alle ins Büro fahren. Die Arbeit wird mich ablenken.« Vielleicht ging es ja heute. Gestern hatte es überhaupt nicht funktioniert. Es war ihr nicht gelungen, sich zu konzentrieren. Bei jedem Läuten des Telefons oder der Türglocke war sie zusammengezuckt. Und in einem Maklerbüro klingelte es ständig.

»Wir können es morgen versuchen. Aber nur, wenn du geschlafen hast.« Mit der Hand strich Heike über Petras Arm. »Sie werden sie bestimmt bald finden. Chris kann sich nicht ewig mit der Kleinen verstecken. Man wird ihn erkennen. Beim Tanken, in einem Hotel, in einem Restaurant.«

»Hoffentlich.« Doch die Angst wühlte weiter mit kalter Hand in ihrem Innersten. Und wenn doch das Unaussprechliche geschehen war? Allerdings gab es für diese Befürchtung keinen Anlass. Chris liebte Marie. Er könnte ihr nie etwas antun. Er war nicht wie diese Väter, die ihre Kinder mit in den Tod nahmen, wenn die Beziehung scheiterte. So einer war er nicht. Die einzige Erklärung war die, dass er mit Marie untergetaucht war, um ein neues Leben zu beginnen. Sein altes war weiß Gott verfahren genug, um nicht zu sagen auf allen Ebenen gescheitert.

»Es ist verrückt. Ich habe solche Angst, obwohl ich weiß, dass Chris Marie nichts tun wird.«

»Wovor fürchtest du dich dann?«, fragte Heike.

Es war die Angst, dass sie sich schrecklich irrte, dass Chris mit Marie nicht abgetaucht war, dass es eine andere Erklärung für das Verschwinden der beiden gab. »Vor einem Unfall, den niemand bemerkt hat. Erinnerst du dich an den Bauern, der mit seinem Wagen in die Donau gestürzt ist? Bei Nacht und Nebel und ohne Zeugen. Erst nach acht Jahren hat man ihn gefunden. Oder der Bergwanderer, der niemandem Bescheid sagte, als er loszog. Spurlos verschwunden. Seine Leiche wurde erst nach einem halben Jahr in einer Felsspalte entdeckt. Oder ein Verbrechen. Jemand hat sie entführt und ermordet.«

Jetzt, wo sie es aussprach, fühlte sie sich leichter. Derartige Szenarien waren nahezu unwahrscheinlich. Sie ließ hier ihre Phantasie Amok laufen, während Chris mit Marie vielleicht irgendwo gemütlich Hamburger und Pommes aß. Ihr Leibgericht, das sie nur selten bekam.

Das plötzliche Schrillen der Wohnungsklingel ließ Petra zusammenfahren. Sie warf einen Blick hinunter auf die Straße. Ein Streifenwagen stand vorm Haus. Von einer Sekunde auf die andere begann ihr Herz zu rasen. Es musste Neuigkeiten geben, wenn sie bei diesem Eisregen persönlich kamen. Sie hatten Marie gefunden.

Schritte im Flur. Mark öffnete. Dann Stimmen. Heike griff nach ihrer Hand. »Du wirst sehen, alles ist gut.«

Alles ist gut. Bitte! Lass die Tür aufgehen und Marie hereintanzen. »Bin wieder da, Mama!«

Die Tür öffnete sich, Mark kam herein, der Kommissar folgte ihm und ein Kollege, den Petra nicht kannte. Ein Mann mit dem feinen Gesicht eines Künstlers und dem traurigen Blick eines Beladenen. An der Brusttasche seines dunkelblauen Parkas entdeckte Petra eine Aufschrift. Die Haut an ihren Armen begann wieder zu jucken. Die Angst kehrte mit brachialer Gewalt zurück. Sie starrte auf die Zeichen, reihte sie zu einem Wort, das alle weiteren überflüssig machte.

Polizeiseelsorger.

In ihren Ohren dröhnte es, in ihrem Brustkorb wummerte ihr Herz wie in einer gottverlassenen Kathedrale. Nein! Bitte! Nein!

Zehn Jahre später. Anfang September 2015

2

Die Stuhlreihen vor dem Podium füllten sich zusehends mit den Vertretern der Medien. Ihrer Anzahl nach waren es nicht nur die der Münchner Presse und des Bayerischen Fernsehens. Sie kamen von Redaktionen und Fernsehanstalten aus ganz Deutschland. Die Klärung des Mordfalls Diana Weigelt nach achtundzwanzig Jahren war eine kleine Sensation und das Interesse an der Pressekonferenz der Münchner Polizei entsprechend groß. Weniger wegen des Opfers, sondern wohl hauptsächlich wegen der Prominenz des Täters.

Kriminalhauptkommissarin Gina Angelucci stand ein wenig abseits am Fenster und beobachtete das Treiben, das es ohne ihre Beharrlichkeit nicht gäbe. Manche würden es auch Sturheit nennen. Doch stur war man ihrer Meinung nach nur dann, wenn man störrisch an einem Ziel festhielt, das nicht erreichbar war. Beharrlich, wenn man nicht aufgab, das Mögliche zustande zu bringen. Und das war ihr gelungen. Am Ende hatte sie wie ein Maulwurf unter Tage in den Katakomben des LKA nach den Asservaten in diesem Fall gesucht. Irgendwo mussten sie sein, es sei denn, Doktor Till Strassers Schwiegervater hätte tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, seinen politischen Einfluss zu nutzen, um sie verschwinden zu lassen. Doch ganz so einfach wie im Fernsehkrimi ging das nicht. Zu guter Letzt hatte Gina die Beweismittel dort gefunden, wo sie ganz sicher nicht hingehörten. In den Unterlagen eines anderen Falls. Schlamperei oder Absicht? Eine nicht zu klärende Frage.

Thomas Wilzoch betrat den Raum durch den Seiteneingang, sah sich um und nickte ihr zu, als er sie entdeckte. Ihr Chef war ein stattlicher Mann mit Bürstenhaarschnitt, in dem sich die Geheimratsecken kontinuierlich vorarbeiteten. Seine schmale Nase und die scharfen Gesichtszüge ließen auf Strenge schließen, dabei war er ein gemütlicher Kerl, der es ruhig angehen ließ. Nach und nach hatte er sich bei der Mordkommission seine eigene Abteilung geschaffen, indem er sich bereitwillig und immer häufiger den ungeklärten Altfällen widmete, bis er schließlich als Spezialist für Cold Cases galt. Offiziell gab es diese Abteilung nicht. Thomas leitete eine Mordkommission wie jede andere, und gelegentlich mussten er und sein Team, das bis vor drei Wochen aus ihm und Gina bestanden hatte, sich mit aktuellen Fällen befassen. Heute trug er Uniform und steuerte zielstrebig den Tisch auf dem Podium an, grüßte Heigl, der von Gina unbemerkt den Raum betreten hatte, und setzte sich.

Kriminaldirektor Leonhard Heigl war Leiter des Dezernats 11 und erweckte stets den Eindruck, als arbeite er sich pausenlos für Recht und Gerechtigkeit auf. Ein fortwährender Kampf. Hinter seinem Schreibtisch traf man ihn stets mit aufgezogenem Krawattenknoten, hochgekrempelten Ärmeln und zerrauften Haaren an. Jetzt war das Haar geglättet, die Krawatte saß, und der mittlere Knopf des Sakkos war geschlossen.

Fehlte noch Oberstaatsanwalt Jochen Poschmann, der Herr des Verfahrens und potentieller Empfänger der Lorbeeren, die Gina aus dem Dreck gewühlt hatte. Sei es drum. Sollte Poschmann den Applaus bekommen. Gina war es egal. Was ihr eine tiefe, beinahe grimmige Befriedigung verschaffte, war die Tatsache, dass sie Strasser den Mord an Diana Weigelt nachgewiesen hatte und er endlich dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen er mehr oder weniger unbehelligt geblieben war, in denen er Karriere gemacht, mit seiner Frau noch zwei Kinder gezeugt und das Leben genossen hatte, ereilte ihn nun die Macht der Exekutive. Hoffentlich. Denn zu hundert Prozent war das noch nicht sicher. Totschlag oder Mord? Verjährung oder Anklage?

Gina suchte Poschmanns Blick. Er hob beide Daumen, und ein erleichtertes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Der Richter hatte das also abgenickt.

Der Oberstaatsanwalt erklomm das Podest und setzte sich zwischen Heigl und Wilzoch. Poschmann war ein kleiner wuseliger Mann, der beim alljährlichen Starkbieranstich am Nockherberg und dem damit einhergehenden Politikerderblecken problemlos als Double für Gregor Gysi durchgehen würde. Nur traute sich niemand, ihm das vorzuschlagen, denn er war ein Schwarzer durch und durch, genau wie Strassers Schwiegervater, der alte Sepp Drenger, ein Urgestein der CSU, das allerdings seit zwei Jahren in einem Pflegeheim verwitterte.

Stühle wurden gerückt, allmählich verebbte das Stimmengewirr, und die Aufmerksamkeit der Journalisten begann sich auf das Podium zu richten. Heigl justierte sein Mikrophon. Poschmann hatte das bereits getan und ergriff das Wort. »Ich begrüße Sie sehr herzlich zur Pressekonferenz des Polizeipräsidiums München und gebe die Festnahme von Staatssekretär Doktor Till Strasser bekannt. Wie ich gerade erfahren habe, wird das Gericht eine Anklage zulassen, da es die Tatmerkmale für Mord erfüllt sieht. Eine Verjährung, wie bei Totschlag vorgesehen, ist somit nicht eingetreten.«

Weiter hinten entdeckte Gina ihren neuen Kollegen Holger Morell und verzog unwillkürlich den Mund. Mit dem Blick auf sein Handgelenk vergewisserte er sich nicht, ob die Pressekonferenz pünktlich begann, sondern wie viele Schritte er heute schon getan hatte oder wie viele Kilometer er gejoggt war und ob sein Ruhepuls in akzeptabler Zeit erreicht wurde. Holger war ein Selftracker vor dem Herrn. Zahlreiche Apps befanden sich auf seinem Smartphone und natürlich das obligatorische Fitnessarmband am Handgelenk.

Jedenfalls war Gina seit seiner Bemerkung über ihren Körperfettanteil, der seiner Meinung nach dringend reduziert gehörte, nicht gut auf ihn zu sprechen. An ihrem Körper gehörte gar nichts reduziert. Und auch nicht gestrafft, geglättet oder mit Silikon gestützt, obwohl er weit davon entfernt war, den Bildern zu entsprechen, die Werbung und Medien einem vor die Nase hielten wie dem Esel die Karotte. So wie er war, so war er gut. Und in den nächsten Monaten würde er runder werden, denn er vollbrachte ein unvorstellbares Wunder. Ein Kind wuchs in ihr heran. Mit achtunddreißig Jahren war sie endlich schwanger geworden.

Unwillkürlich strich sie über ihren Bauch und lächelte in sich hinein, während Poschmann nach den Lorbeeren hangelte und erklärte, dass es den zuständigen Ermittlern – flüchtiger Blick zu Thomas – gelungen war, die verschollenen Asservate dieses Falls aufzutreiben und damit die Einweghandschuhe, die der Täter im Mai 1987 in der Nähe des Tatorts achtlos zurückgelassen hatte, nicht ahnend, dass sich in der Kriminaltechnik eine epochemachende Wende ankündigte, die DNA-Analyse. Vorgestern war es gelungen, tatrelevante DNA an den Handschuhen zu isolieren und zu sequenzieren und mit einer richterlich angeordneten Vergleichsprobe dem Mann zuzuschreiben, der schon vor achtundzwanzig Jahren im Brennpunkt der Ermittlungen gestanden hatte: Staatssekretär Doktor Till Strasser. Ein Raunen ging durch die Reihen.

Gina war froh, dass die Staatsanwaltschaft damals bei der dünnen Beweislage keine Anklage erhoben hatte. Dann wäre jetzt Strafklageverbrauch eingetreten, und Strasser käme mit einem grausamen Mord ungeschoren davon. Denn niemand durfte wegen derselben Tat zweimal vor Gericht gestellt werden.

Der angesehene Politiker und Wissenschaftler, ehemals Vorstand der renommierten Archimedes-Gesellschaft und verheiratet mit der Tochter von Sepp Drenger, hatte seine heimliche Geliebte Diana Weigelt erstochen und ihr das ungeborene Kind aus dem Leib geschnitten, um seine politische Karriere und den gesellschaftlichen Aufstieg nicht zu gefährden. Und wer hatte das nachgewiesen? Sie und natürlich Frank Buchholz in seinem Labor. Gestern hatte Gina Strasser verhaftet, und noch immer erfüllte sie das mit beinahe grimmiger Genugtuung.

Poschmann gab das Wort an Heigl weiter, der die Fragen der Journalisten beantwortete, sich dabei allerdings ein wenig bedeckt gab, denn noch hatte Strasser nicht gestanden. Thomas saß daneben, guckte Löcher in die Luft und sehnte das Ende dieser PK herbei, genau wie sie.

Eine Journalistin hob den Kuli. Heigl erteilte ihr das Wort. »Anne Kaiser vom Münchner Blick. Ich wüsste gerne, wie man sich das Ausgraben, wie Sie es genannt haben, dieser Asservate vorstellen darf. Wurden sie gezielt versteckt?«

Diese Frage gefiel Heigl natürlich nicht, sie lief in Richtung politischer Machtmissbrauch. »Im Laufe der letzten achtundzwanzig Jahre ist die Asservatenkammer zweimal umgezogen. Dabei gerät schon mal etwas durcheinander.«

»Es gab doch sicher schon früher Versuche, diesen Fall mittels DNA zu lösen. Schließlich wird diese Technik seit zwanzig Jahren eingesetzt.«

Zustimmendes Nicken von Poschmann. »Leider fehlten bisher die Asservate.«

»Gibt es Hinweise darauf, dass Sepp Drenger, Strassers Schwiegervater, dafür gesorgt hat, dass sie unauffindbar waren?«

Nun lächelte Poschmann. »Aber wir haben sie doch gefunden.«

»Sie persönlich?«, hakte Anne Kaiser nach.

Thomas beugte sich vor und zog Poschmanns Mikro zu sich. »Dass uns die Asservate jetzt zur Verfügung stehen, verdanken wir der Hartnäckigkeit von Kriminalhauptkommissarin Gina Angelucci. Sie hat sie entdeckt.« Thomas wies in ihre Richtung.

Gina drückte den Rücken durch und lächelte. Sie fühlte sich unwohl, als sich nun alle Blicke auf sie richteten und die Kameras klickten. Es dauerte nicht lange. Heigl beantwortete noch einige Fragen und beendete die Pressekonferenz. Als Gina den Raum verlassen wollte, berührte sie jemand am Ellenbogen. Es war Anne Kaiser. »Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

Gina ahnte, was die Journalistin wollte. Eine Vermutung, dass Drenger sein Amt missbraucht hatte. Doch die würde ihr nicht über die Lippen kommen. Sie konnte es nicht beweisen, und was die Medien aus solchen Annahmen machten, war bekannt, und postwendend hatte sie eine Anzeige wegen Verleumdung am Hals. »Sie werden von mir nicht das hören, was Sie gerne hören wollen.«

»Sie meinen Drenger. Keine Sorge, ich weiß, wie das Spiel läuft. Ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Arbeit unterhalten. Cold Cases. Das interessiert unsere Leser. Wie arbeitet man an alten Fällen, die ausermittelt scheinen? Ist es nicht frustrierend und langweilig, sich durch Aktenberge zu graben?«

»Hängt davon ab, was man unter langweilig versteht.«

»Ich bekomme ein Interview?«

Gina mochte ihre Arbeit, und es gab keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen, wie man die alten Fälle neu anging. »Gerne. Aber im Moment ist es schlecht.« Sie hatte Tino entdeckt, der durch den Saal auf sie zusteuerte, und wie immer erfüllte sie bei seinem Anblick ein tiefes, stilles Glück. Vor sieben Jahren war er aus Hamburg zur Kripo München gekommen, und sie hatte sich gleich am ersten Tag in ihn verliebt. Wie in einem Schmachtfetzen, beim ersten Blick in seine graugrünen Augen. Bis aus ihnen ein Paar geworden war, hatte es allerdings Jahre gedauert. Vielleicht war auch diese Liebe ein Ergebnis ihrer Beharrlichkeit. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.

»Sagen Sie einfach, wann es Ihnen passt.«

»Treffen wir uns doch um eins in der Kantine.« Gina verabschiedete sich von Anne Kaiser und ging Tino entgegen.

»Hallo, Liebes.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Poschmann hat sich ja hübsch mit deinen Federn geschmückt.«

»Das tun Häuptlinge nun mal. Und Thomas hat mich ja lobend erwähnt.«

»Immerhin.« Mit der Hand strich Tino ihr sanft über den Bauch, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Hoffentlich hatte das niemand gesehen. »Was macht der Kleine?«

»Vermutlich schlafen und wachsen und sich darauf vorbereiten, was ihn erwartet, wenn er erst einmal diese kuschelige Höhle verlassen muss.«

Gina wusste, was Tino gleich fragen würde: ob sie Thomas endlich gesagt hatte, dass sie schwanger war. Der Fall war geklärt. Es war Zeit, die Karten – besser gesagt den Mutterpass – auf den Tisch zu legen und sich von ihrem Chef für die nächsten Monate dahinter verbannen zu lassen. Denn als schwangere Polizistin durfte sie keinen Außendienst leisten. Zu gefährlich. Man wusste nie, wem man über den Weg lief. Doch etwas in ihr sperrte sich dagegen.

»Und …«, begann Tino.

»Nein. Habe ich noch nicht. Ich ziehe Strasser noch ein Geständnis aus der Nase, schreibe den Abschlussbericht, und dann lass ich mich zum Innendienst verdonnern. In Ordnung?«

Tino zog sie an sich. »Du wirst es bis kurz vor der Entbindung verheimlichen.«

»Keine Sorge. Das wird mir nicht gelingen. Da ist Holger vor. Irgendwann kommt er dahinter, welche Bewandtnis es mit meinem Körperfettanteil in Wahrheit hat.«

3

»Es tut mir leid, Frau Weber. Wirklich.« Bedauernd zog Karin Svoboda die Schultern hoch. »Leser wollen nun mal Neuigkeiten. Wie oft haben wir in den letzten Jahren schon über Marie berichtet? Sieben- oder achtmal?«

»Fünfmal.« Sofort ärgerte Petra sich über ihre Kleinlichkeit. Sie war auf das Wohlwollen der Medien angewiesen, und die Journalistin vom Focus war ihr schon häufig entgegengekommen und hatte immer wieder Artikel über ihre Suche nach Marie ins Heft gehoben und so das Interesse der Öffentlichkeit wachgehalten.

»Es gibt doch etwas Neues.« Sie wies auf das Phantombild, das bereits vor Karin Svoboda auf dem Tisch in Wiener’s Café am Rosenkavalierplatz lag. »Schließlich habe ich Maries Bild noch einmal überarbeiten lassen. Das letzte war ja schon zwei Jahre alt. So könnte sie heute, mit siebzehn, aussehen.«

»Ich würde ja gerne. Aber das Bild alleine reicht nicht. Ich brauche einen Aufhänger. Irgendeine Neuigkeit, sonst nickt mein Ressortleiter das bei der Themenkonferenz nicht ab. Gibt es denn gar nichts?«

Doch, es gab etwas. Aber Petra schämte sich beinahe, es auszusprechen. Selbst Mark, ihr einzig verbliebener Freund und Unterstützer, wusste noch nichts davon. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich wieder an eine Wahrsagerin gewandt. Was sollte sie denn tun, wenn alles andere im Sand verlief? So hatte sie das bisschen Hoffnung, das ihr noch geblieben war, zusammengekratzt und nach einer Hellseherin gesucht. Nicht wie damals im ersten Jahr nach Maries Verschwinden, als sie einer aufgesessen war, die ihr für ein unverschämtes Honorar erzählte, was sie hören wollte, sondern nach einer, die einen guten Ruf und vor allem Erfolge vorzuweisen hatte.

So hatte sie Miranda gefunden. Eine warmherzige Frau um die fünfzig, die sie in einer modernen und hellen Wohnung empfangen hatte, in der nichts an Hokuspokus erinnerte, außer vielleicht die kupferrot gefärbten Haare des Mediums, das natürlich längst wusste, wer Petra war und weshalb sie kam. Das erforderte allerdings keine hellseherischen Fähigkeiten. Sie war bekannt, weil es ihr bisher immer gelungen war, das Interesse der Medien an der Suche nach ihrer verschollenen Tochter wachzuhalten. Also fasste sie sich ein Herz.

»Ich habe mich mit einer Hellseherin getroffen.«

Karin Svoboda gelang es ebenso wenig, ihre Verblüffung zu verbergen wie das Mitleid, das eine Sekunde später in ihrem Gesicht heraufzog. »Tatsächlich? Und hat es was gebracht?«

Gewissermaßen schon. Seither war sie ruhiger und wieder motiviert, die Suche fortzusetzen. Doch dafür brauchte sie Geld, sprich weitere Spenden, und die bekam sie nur, wenn die Medien weiter über Chris’ niederträchtige Tat und ihre Suche nach Marie berichteten. »Nichts Konkretes natürlich. Also keine Adresse oder Telefonnummer oder GPS-Koordinaten. So funktioniert das nicht«, räumte sie ein.

Ein Nicken war die Antwort, als habe die Journalistin nichts anderes erwartet. Petra verstand sie ja. Sie selbst war schließlich auch skeptisch gewesen und hatte Miranda voller gemischter Gefühle aufgesucht. Machte sie sich lächerlich? Warf sie ihr Geld am Ende zum Fenster raus und ging einer geschickten Manipulatorin auf den Leim? Doch Miranda hatte gute Referenzen, und in einem Fall in Baden-Württemberg hatten ihre übersinnlichen Fähigkeiten nachweislich dazu beigetragen, dass ein seit Jahren vermisster Ehemann zu seiner Familie zurückgekehrt war.

Es gab so viel Unerklärliches und Unerforschtes. Manche Tierarten verfügten über ganz eigene Sinne. Warum sollte das bei einigen besonderen Menschen nicht ebenso sein? Daher hatte Petra sich darauf eingelassen, und seither fühlte sie sich besser.

»Sie hat Karten gelegt und daraus gelesen, dass es meiner Tochter gutgeht. Sie lebt. Möglicherweise in einem anderen Land. Und ich werde sie finden.« Chris hatte Marie nicht umgebracht. Es war eine Lüge, um sie zu quälen.

»Eine Wahrsagerin.« Karin Svoboda fuhr sich über die Stirn. »Das ist eher eine Story für die Yellow Press. Ich höre es meinen Ressortleiter schon sagen. Daraus kann ich keinen Artikel stricken. Es tut mir wirklich leid. Das Thema ist durch.« Sie schob die Plastikhülle mit dem Bild der siebzehnjährigen Marie über den Tisch und verabschiedete sich von Petra. »Vielleicht wäre es besser, nach vorne zu blicken, Frau Weber. Sie vergessen ganz zu leben. Und falls sich etwas tut, melden Sie sich bei mir.«

Resigniert blickte Petra der Journalistin nach. Der Cappuccino war kalt geworden, und den Keks hatte sie zerbröselt, ohne es zu bemerken. Alles stand still. Dabei war rings um sie Leben. Es wurde mit Geschirr geklappert, die Düsen der Kaffeemaschinen zischten. Leute unterhielten sich, aßen, lachten, machten Witze, während sie sich wie in einer Glasglocke gefangen fühlte, die Chris ihr übergestülpt hatte. Vergaß sie zu leben? Vielleicht war das so. Dass Marie tot war, würde sie erst an dem Tag akzeptieren, an dem man ihr ihre sterblichen Überreste zeigte.

Bei diesem Gedanken setzte sich ein drückender Schmerz in den Hals. Alle anderen hatten aufgegeben. Sie musste weitermachen. Wer, wenn nicht sie, ihre Mutter? Irgendwo da draußen wartete Marie, und Tag für Tag verblassten ihre Erinnerungen ein wenig mehr. Die Zeit arbeitete gegen sie. Sie durfte sie nicht vergeuden. Sie musste weitermachen.

Entschlossen winkte Petra der Kellnerin und zahlte. Auf dem Weg zur U-Bahn überlegte sie, was sie noch tun konnte. Das Geld für die Suche ging ihr aus. Sie hatte bereits alles verkauft. Die Eigentumswohnung – viel war nicht übriggeblieben, nachdem sie die Hypothek getilgt hatte –, das kleine Erbe von Chris’ Eltern, den Schmuck, den ihr eine Tante hinterlassen hatte. Sie hatte noch ihren alten froschgrünen Lupo. Den könnte sie verkaufen, doch er war so gut wie nichts wert.

Die Spenden, die sie durch die Webseite, die sie für die Suche nach Marie eingerichtet hatte, vor allem aber nach Zeitungsberichten und Fernsehauftritten erhielt, waren völlig eingebrochen, weil es ihr immer seltener gelang, das mediale Interesse zu gewinnen. Vielleicht sollte sie wieder Plakate drucken lassen, mit Maries neuem Bild. Über Facebook konnte sie nach Freiwilligen suchen, die ihren Aufruf teilten und die Plakate in ihren Heimatstädten aufhängten. Am besten in mehreren Sprachen und weltweit. Eine gigantische Aktion. So gigantisch, dass sie nicht zu bewältigen war. Dieser Gedanke löste eine Welle von Mutlosigkeit in ihr aus. Seit zehn Jahren suchte sie, kämpfte gegen Vorurteile, Gleichgültigkeit und Widerstände aller Art, und wieder einmal fühlte sie, dass ihr die Kraft auszugehen drohte.

Die U-Bahn ratterte durch den Tunnel. Aus der spiegelnden Scheibe der Tür sah ihr eine Fremde entgegen. Zum ersten Mal seit langer Zeit brachte sie ihrem Spiegelbild wieder Interesse entgegen. War das wirklich sie? Diese verhärmte Frau. Ungeschminkt und in Billigjeans. An welcher Ecke hatte sie die stets gepflegte und nach der aktuellen Mode gekleidete Petra verloren?

Es war gleichgültig. Sie wandte sich ab und setzte sich auf einen freien Platz. Gegenüber saß eine Frau und las den Münchner Blick. Dessen Chefredakteur hatte sie nicht einmal angehört und per Mail mitgeteilt, dass er im Moment nichts für sie tun könne.

Es war Mord! Staatssekretär Till Strasser in Untersuchungshaft.

Blattbreit thronte diese Headline auf der Titelseite. Dafür interessierten sich die Leute. Für Prominente und für Mord und Totschlag. Nicht für eine zehn Jahre zurückliegende Entführung. Ihr Blick blieb an der Zeile über der Headline hängen: Kriminalhauptkommissarin Gina Angelucci löst nach achtundzwanzig Jahren den Mordfall Diana Weigelt.

4

Mit sich zufrieden, schaltete Gina das Mikrophon im Vernehmungsraum aus, während Thomas zum Telefon griff und zwei Beamte anforderte, die Strasser zurück in die Haftzelle bringen sollten.

»Das Geständnis wird jetzt abgetippt und Ihrem Mandanten zur Unterschrift vorgelegt«, erklärte sie Dr. Weileder. Strassers Anwalt war ein stiernackiger Kerl mit rotem Gesicht, der sich erstaunlich kooperativ gezeigt hatte, nachdem sein Mandant nach einer Stunde Vernehmung plötzlich erklärte, dass er reinen Tisch machen wolle. »Ob die U-Haft aufgehoben wird, entscheidet der Richter. Aber das wissen Sie ja.«

Strasser saß mit gesenktem Kopf am Tisch und wirkte erleichtert. Es täte ihm leid, hatte er gesagt. All die Jahre habe er beinahe täglich mit seiner Verhaftung gerechnet, jedenfalls seit der Nachweis des genetischen Fingerabdrucks durch DNA-Analysen erstmals gelungen war. Über zwanzig Jahre Ungewissheit und Angst. So wie er es sagte, klang es, als sei das schon Strafe genug, und jetzt könne man ihn bitte schön gehen lassen. Aber für Mord gab es Lebenslänglich. Und diese Strafe hatte Strasser sich weiß Gott verdient. Als die Details der Tat zur Sprache kamen, hatte Gina sich unter einem Vorwand ausgeklinkt und Thomas weitermachen lassen. Sich anzuhören, wie Strasser seiner Geliebten das Kind aus dem Bauch geschnitten hatte, wollte sie sich in ihrem Zustand nicht zumuten.

Die Kollegen erschienen und führten ihn ab. Dr. Weileder verabschiedete sich, Gina steckte das Smartphone ein und trat mit Thomas in den Flur, wo er sie mit einem wohlwollenden Kopfnicken bedachte. »Du solltest Kurse in Vernehmungstechnik geben, so schnell, wie du ihn zu diesem Geständnis gebracht hast.«

»Danke für die Blumen. Aber so schwer war das nicht. Ich wusste, dass ihm Familie wichtig ist.«

Damit hatte sie ihn gekriegt. Sie hatte ihm vor Augen geführt, wie sehr die Ungewissheit darüber, was damals geschehen und wer dafür verantwortlich war, Diana Weigelts Familie quälte. Seit achtundzwanzig Jahren. Ihre kleine Tochter, die längst erwachsen und selbst Mutter war, ihre Eltern und ihren Bruder. Ihren Mann. Es sei an der Zeit, ihnen nach so vielen Jahren Frieden und Ruhe zu schenken und reinen Tisch zu machen.

Das Geständnis eines grausamen Mordes als Geschenk verpackt. Ein annehmbares Angebot. Das war wirklich keine dumme Idee gewesen. Gutgelaunt verabschiedete Gina sich von Thomas, um eine Etage höher zu steigen und sich bei Tino einen Cappuccino zu holen. Koffeinfreien allerdings, denn dem Kleinen tat richtiger Kaffee nicht gut, auch wenn sie prophezeite, dass er bereits mit einem Espresso doppio in der Hand geboren würde, wenn er nach seinem Vater kam.

Vor dem Cappuccino guckte Gina noch rasch ins Büro, was sich als Fehler erwies. Seit drei Wochen teilte sie es mit Holger, der telefonierend an seinem Platz saß. Als sie eintrat, drehte er sich auf dem Bürostuhl um. »Glück gehabt. Sie kommt gerade. Es geht also in Ordnung.«

»Was geht in Ordnung?«

Holger legte auf. »Besuch für dich. Scheint dringend zu sein. Die Dame wird heraufgebracht.«

»Eigentlich bin ich gar nicht da.«

»Dann ist das aber ein verdammt gutes Hologramm von dir.«

Gina seufzte. Auf Holgers Schreibtisch lag der Münchner Blick mit dem Artikel über Strassers Festnahme. Darunter war das Interview abgedruckt, das sie Anne Kaiser gestern gegeben hatte. Sie hatte es noch nicht gelesen und hoffte, dass man ihr nicht das eine oder andere Wort im Mund verdreht hatte.

Holger lehnte sich im Stuhl zurück. »Was tust du eigentlich hier? Hat Strasser etwa schon gestanden?«

»Aber sicher.«

Es klopfte. Gleichzeitig trat eine Frau ein. Raspelkurze Haare. Die Figur eines magersüchtigen Teenagers. Mitte vierzig. Eins fünfundsechzig. Haselnussbraune Augen. Ovales Gesicht. Besondere Merkmale: keine. Jeans. Weißes T-Shirt. Grüne Strickjacke. Umhängetasche aus braunem Leder, aus der der Münchner Blick ragte. Typ: durchsetzungsstarkes Energiebündel, obwohl sie mit ihrer Zartheit sicher männliche Beschützerinstinkte weckte.

Seit ihrer Ausbildungszeit wurde Gina diese Macke nicht los. Noch immer betrachtete sie ihre Mitmenschen, als müsste sie demnächst eine Personenbeschreibung abgeben.

Die Frau kam Gina bekannt vor. Irgendwo hatte sie sie schon einmal gesehen. Holger schenkte sie keinerlei Beachtung und steuerte gleich auf Gina zu. »Guten Tag, Frau Angelucci. Ich bin Petra Weber, und ich brauche Ihre Hilfe.« Erwartungsvoll streckte sie ihr die Hand entgegen.

Gina brauchte einen Kaffee, und wenn es nur ein koffeinfreier war. »Sind Sie sicher, dass Sie zu mir möchten? Wir kümmern uns hier um alte Fälle.«

Die Frau ließ die Hand sinken. »Darum geht es. Um ein ungeklärtes Verbrechen. Meine damals sechsjährige Tochter Marie ist seit über zehn Jahren verschwunden.«

Holger rollte auf seinem Bürostuhl näher. »Dafür ist die Vermisstenstelle zuständig.«

»Aber alle denken, es war Mord. Weil mein Mann in seinem Abschiedsbrief behauptet, dass er sie getötet hat. Die Kripo Rosenheim hat den Fall von Anfang an als Tötungsdelikt behandelt.«

»Die Leiche wurde also nicht gefunden?«, fragte Gina.

»Natürlich nicht. Es gibt keine Leiche. Chris hat Marie nicht umgebracht. Er hat gelogen, um mich zu quälen. Er hat Marie an jemanden übergeben. An jemanden, dem er vertraute, oder gleich an ein Ehepaar, das selbst keine Kinder bekommen konnte.«

Gina fing Holgers skeptischen Blick auf. Die gute Frau dreht ganz schön am Rad. Eine Einschätzung, die nicht ganz von der Hand zu weisen war. Doch die Verzweiflung dieser Mutter, die natürlich nicht an den Tod ihres Kindes glaubte, berührte Gina, auch wenn sie ihr nicht helfen konnte.

»Es tut mir leid. Aber wir sind wirklich nicht zuständig. Sie sollten sich an die Kripo Rosenheim wenden, damit die den Fall noch einmal aufrollen.«

»Was meinen Sie, was ich seit Jahren versuche?« Petra Weber sank auf den Besucherstuhl. »Ausermittelt, sagen sie. Solange es keine neuen Hinweise gibt, können sie nichts tun. Die halten mich dort eh schon alle für verrückt. Wenn ich noch einmal auftauche, lässt dieser Stellmacher mich vermutlich einweisen.« Sie lachte kurz auf. »Zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls. Es ist doch ein alter Fall, und Sie sind gut.« Aus der Tasche zog sie die Zeitung und hielt Gina die Titelseite entgegen. »Niemand hat mehr geglaubt, dass dieser Mord jemals geklärt wird. Aber Sie haben es geschafft. Sie werden auch meine Marie finden. Bitte. Sie müssen mir helfen.«

Selbst wenn sie wollte, es war nicht ihr Revier. Sie waren nicht zuständig. Außerdem würde sie die nächsten Monate hinter dem Schreibtisch Dienst schieben.

»Es geht nicht, Frau Weber. Ich werde aber mit den Kollegen in Rosenheim sprechen, damit sie sich den Fall noch einmal vornehmen. Das ist alles, was ich für Sie tun kann.«

Die Gesichtszüge der Frau versteinerten. Sie schnellte aus dem Stuhl hoch. »Nicht: können. Sondern: wollen. Es ist alles, was Sie für mich tun wollen. Und die Rosenheimer werden nichts tun.« Sie zog die Tasche am Schulterriemen nach vorne und holte ein Foto heraus. »Das ist Marie. Mit sechs Jahren. Das Bild wurde eine Woche bevor sie verschwand gemacht. Sehen Sie es sich an und dann sagen Sie mir ins Gesicht, dass Sie mir nicht helfen wollen.«

Das ging zu weit. Gina öffnete die Tür. »Wie gesagt, ich rede mit den Kollegen.«

»Sie haben keine Ahnung, durch welche Hölle ich seit zehn Jahren gehe. Tag für Tag. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie nie dasselbe durchmachen müssen.« Ihr Blick heftete sich auf Ginas Körpermitte. Mit dem Finger deutete sie darauf. »Ich hoffe für Sie, dass Ihr Kind nie spurlos verschwindet. Passen Sie nur ja gut darauf auf.« Sie knallte das Foto ihrer Tochter mitsamt einer Visitenkarte auf den Tisch. »Schauen Sie es sich wenigstens an!« Auf dem Absatz machte sie kehrt und verließ den Raum.

Verblüfft blickte Gina ihr nach. Woher wusste sie es? Man sah es ihr doch noch gar nicht an.

Holgers Bürostuhl quietschte. »Imposanter Abgang. Bist du etwa schwanger?«

Mit der Hand wedelte sie vor ihrem Gesicht, was sowohl bedeuten konnte, dass sie Maries Mutter für durchgeknallt hielt, als auch, dass Holgers Frage Quatsch war. Ganz sicher würde er es nicht vor Thomas erfahren.

5

Tino war nicht in seinem Büro. Schade. Sie hätte sich gerne mit ihm über Strasser und den Auftritt von Petra Weber unterhalten. Die Frau hatte Nerven und offenbar sehr feine Antennen. In der spiegelnden Fensterscheibe betrachtete Gina ihr Körperprofil. Ihr Bäuchlein war nicht runder als sonst.

Die Espressomaschine war eingeschaltet, also machte sie sich einen Cappuccino und stibitzte sich ein Amaretto morbido aus der Schublade, in der Tino Schokolade und Kekse aufbewahrte, und setzte sich damit auf das Fensterbrett. Unten in der Löwengrube, wie der Platz vor dem Dom aus unerfindlichen Gründen hieß, herrschte das übliche Menschengewurl.

Seit sie schwanger war, lief ihr Geruchssinn auf Hochtouren. Manchmal war das kein Grund zur Freude, bei versagenden Deos beispielsweise. Jetzt trug er dazu bei, dass sie sich noch einen Keks nahm. Sie dufteten einfach zu köstlich. Was das für ihren Körperfettanteil bedeutete, wollte sie im Moment lieber nicht wissen.

Petra Webers Auftritt ging ihr noch immer durch den Kopf. Die Frau tat ihr einerseits leid. Zehn Jahre voller Ungewissheit mussten eine Hölle zwischen Hoffnung und Verzweiflung sein. Andererseits ärgerte sie sich über sie. Die Unterstellung, nicht helfen zu wollen, war absurd, als glaubte sie wirklich, dass sich alle gegen sie verschworen hätten. Sie waren nun einmal nicht zuständig, und die Rosenheimer konnten ohne neue Hinweise nichts tun. Trotzdem würde sie die Kollegen jetzt anrufen. Schließlich hatte sie es versprochen.

Die Tasse war geleert. Sie machte mit dem Smartphone ein Foto und schickte Tino eine WhatsApp. Bekenne mich des Mundraubs schuldig. Und bevor du fragst: Ja, es war Decaf. :X

Vermutlich hatte er längst gegoogelt, was mit den Kaffeebohnen alles angestellt wurde, um das Koffein herauszubekommen. Gina wollte es gar nicht erst wissen, sonst würde sie womöglich nie wieder Decaf trinken. Vogel-Strauß-Politik nannte er das. Aber manchmal war es besser, dumm zu bleiben, wenn man das Leben ein wenig genießen wollte. Und sie trank den Entkoffeinierten ja nicht literweise. Er würde dem Kleinen schon nicht schaden.

Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, kam eine WhatsApp von Tino mit dem Foto eines Gewächshauses, das als Event-Location genutzt wurde. Habe es grad fix gemacht.

Es hatte also geklappt. Wie schön! Sie bekamen die Alte Gärtnerei für die Hochzeit. Knapp sechs Wochen noch, und es war jede Menge zu tun. Ihre Mutter hatte Hilfe bei den Vorbereitungen signalisiert. Ein verlockendes Angebot, das sie am besten annehmen sollten. Gina sandte Tino einen virtuellen Kuss und setzte sich an den Schreibtisch.

Das Foto des Mädchens lag neben der Tastatur. Ein überraschter Blick aus ein wenig zu weit auseinanderstehenden Augen. Die Kleine trug einen spitzen Zauberhut mit Sternen und Monden und wies mit einem glitzernden Zauberstab aus Plastik direkt auf sie. Hex, hex! Du sollst eine Kröte sein!

Bevor sie mit den Kollegen telefonierte, wollte Gina sich erst einmal informieren und gab Mordfall Marie Weber in die Suchmaske ein. Der erste Treffer bezog sich auf eine Webseite, die Petra Weber für die Suche nach ihrer Tochter eingerichtet hatte, und jetzt wusste Gina auch, woher sie die Frau kannte. Aus einer Talkshow im Fernsehen, die verlinkt war.

Die von der Mutter eingestellten Informationen waren bestimmt mit Vorsicht zu genießen. Gina suchte nach einer objektiveren Quelle und las schließlich einen Artikel der Süddeutschen Zeitung.

Was sich am ersten Februarwochenende 2005 ereignet hatte, war keine ungewöhnliche Tat. Ein Familiendrama, wie sie leider immer häufiger geschahen. Petra und Christian Weber hatten sich getrennt, die Scheidung stand bevor. Eine narzisstische Kränkung, die er nicht ertrug. Obendrein hatte er Schulden, die er nicht mehr bedienen konnte, und den Arbeitsplatz verloren. Ein Bündel von Problemen, für die er in seiner Verzweiflung nur eine Lösung gesehen hatte: den Tod. Und in den hatte er seine Tochter mitgenommen. Er hatte ihr Schlaftabletten eingeflößt und das tote Kind im Langbürgner See versenkt, bevor er sich selbst das Leben genommen hatte. Spaziergänger hatten seine Leiche zwei Tage später in einer verfallenen Fischerhütte am Ufer entdeckt.

Die Motivlage für Mitnahmeselbstmorde war komplex. Meist eine Mischung aus Rache und Bestrafung der Ehefrau sowie die irrige Annahme, besser gesagt Verblendung dieser Männer, die tatsächlich dachten, ihren Kindern ein Schicksal zu ersparen, das schlimmer war als der Tod. Nämlich als Scheidungskind an der Seite einer unfähigen Mutter aufzuwachsen. Genau so war es im Fall Weber gewesen. Nicht einmal die Tatsache, dass man die Leiche des Kindes nicht gefunden hatte, stellte eine Besonderheit dar. Es gab mittlerweile etliche ähnliche Fälle. Über ihren Tod hinaus peinigten diese Männer ihre Frauen mit ewiger Ungewissheit.

Gina schloss das Browserfenster. Das Foto lag noch neben der Tastatur. Ein hübsches Mädchen mit einem koboldhaften Zug um den Mund und einem verschmitzten Blick. Vermutlich ein richtiges Lausemädel. Vielleicht konnte sie dazu beitragen, dass Marie ein richtiges Grab bekam und ihre Mutter nach so vielen Jahren endlich Gewissheit.

Gina griff zum Telefon, wählte die Nummer der Kriminalpolizeiinspektion Rosenheim und verlangte nach KHK Johannes Stellmacher, dem damals zuständigen Ermittler. Nachdem man sie verbunden hatte, stellte sie sich als Kollegin vor. »Es geht um den Fall Christian und Marie Weber.«

Ein Stöhnen klang durchs Telefon. »Ich ahne es. Sie war bei Ihnen.« Seiner Stimme nach zu urteilen, stand Stellmacher kurz vor der Pensionierung und trug eine veritable Bierwampe vor sich her, jedenfalls schien sein brüchiger Bariton über einen imposanten Resonanzraum zu verfügen.

»Frau Weber hat mich gebeten, den Fall neu aufzurollen. Ich bin auf Altfälle spezialisiert. Alles, was ich ihr versprechen konnte, war, mit Ihnen zu reden.«

»Mein Gott, was soll man da noch reden? Die Frau will nicht wahrhaben, dass das Kind tot ist. Verstehe ich ja. Aber es wäre besser für sie und für uns, wenn sie das endlich akzeptieren und Ruhe geben würde.«

»Solange die Leiche nicht gefunden wurde, wird sie sich Hoffnungen machen. Das ist doch verständlich. Keine Mutter wird glauben, dass ihr Kind tot ist, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Sie wollen mich jetzt hoffentlich nicht dazu bringen, die Taucher wieder loszuschicken?«

»Das war eigentlich mein Plan.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Was spricht dagegen?«

»Sie kennen den Langbürgner See nicht. Er ist über einen Quadratkilometer groß und an manchen Stellen vierzig Meter tief. Ein zerfranstes Ufer wie ein norwegischer Fjord und obendrein dicht bewachsen. Die Taucher haben es damals über eine Woche lang versucht, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, und im Sommer dann noch mal. Wir wissen ja nicht einmal, wo er sie versenkt hat. Das Schlauchboot, mit dem er sie rausgebracht hat, lag festgezurrt am Ufer. Und selbst wenn wir es wüssten: Dort gibt es eine Strömung. Die Leiche kann überall sein. Der See wird sie schon irgendwann freigeben. Früher oder später kommen sie alle hoch, und dann hat die liebe Seele eine Ruh.«

»Und wenn Weber dafür gesorgt hat, dass sie nicht hochkommt, wird seine Frau nie Gewissheit haben. Das ist es doch, was er wollte. Dass sie nicht sicher sein kann und sich quält.«

»Die Gewissheit hat sie seit zehn Jahren. Er hat den Mord in seinem Abschiedsbrief gestanden. Das Kind lebt nicht mehr. Doch sie webt seit Jahren weiter an ihrem Hirngespinst, dass ihr Mann das Kind in gute Hände gegeben hat. Frau Angelucci, ich bitte Sie. Sie sind Profi, Sie wissen, wie das läuft. Die Überschrift heißt erweiterter Suizid. Die gute Frau sollte endlich eine Grabstelle kaufen und einen Stein errichten lassen. Dann hat sie einen Ort zum Trauern.«

»Ein leeres Grab? Das ist doch unmenschlich. Sie könnten es doch noch mal versuchen. Es ist warm, das Wetter wunderbar …«

»Und der See von der Badesaison aufgewühlt«, unterbrach Stellmacher sie. »Da sieht ein Taucher keinen Meter weit. Das bringt nichts, Frau Angelucci. Irgendwann gibt der See sie schon frei.« Eine Stimme war plötzlich im Hintergrund zu hören. Jemand rief nach ihm. »Eine aussichtslose Aktion, die meine Chefin ohnehin nicht genehmigt. Und ich werde jetzt anderweitig gebraucht.« Stellmacher verabschiedete sich und legte auf.

Früher oder später kommen sie alle hoch. Gina hatte Zweifel, ob das stimmte. Wenn Christian Weber die Leiche seiner Tochter in eine Plane gepackt und beschwert hatte, kam sie nie hoch. Und falls er das nicht getan hatte: Wie viel Auftrieb hatten Knochen? Vermutlich gar keinen.

Gina wählte die Nummer von Robert Bachmair, dem Chef der Polizeitaucher, und schilderte ihm den Fall. Seine Einschätzung war ähnlich wie Stellmachers. Er kannte den See und hielt eine Suche nach so langer Zeit für wenig erfolgversprechend. »An der Sicht liegt es nicht. Der Langbürgner See gehört zu den klarsten in der Hemhofer-Seenplatte. Das Problem sind die Größe und die Baumskelette im Uferbereich. Vor allem aber seine Tiefe. Wenn wir einen Anhaltspunkt hätten, wo wir suchen müssen, würde ich’s vielleicht probieren. Aber so …« Gina sah Bachmairs Schulterzucken beinahe vor sich. »Und die Hunde können wir nach zehn Jahren nicht einsetzen. Kein Leichengeruch mehr, der an die Oberfläche steigt.«

Während Gina telefonierte, kam Holger herein. Trotz seines Selftracker-Tics musste man ihm eines lassen: super trainierter Körper. Oder vielleicht gerade weil er all diese Apps und Gadgets nutzte? Breite Schultern, schmale Hüften. Reichlich Muskeln und Sehnen, aber nicht zu viel davon. Sein Körperfettanteil war eindeutig im idealen Bereich. Tinos hingegen nicht. Sein Gourmet-Sixpack, wie eine Ex von ihm sein Bäuchlein mal genannt hatte, harmonierte mit ihrem kleinen Vorrat für Notzeiten rund um Bauch und Hüfte. Sie passten eben perfekt zueinander. Lächelnd sah sie Holger nach, der sich an den PC setzte, und wandte sich wieder an Bachmair.

»Ein Vorschlag, Rob: Wenn es mir gelingt, das Areal für die Suche einzugrenzen, würdet ihr euch in die Neoprenanzüge werfen, die Sauerstoffflaschen anziehen und nach der Kleinen suchen?«

»Du lässt nicht locker. Also gut. Grenze es auf wenigstens dreißig Prozent der Fläche ein, und ich werde sehen, was wir tun können. Vorausgesetzt, es gibt grünes Licht von denen, die dafür zuständig sind. Die Rosenheim-Cops, oder?«

»Ich werde Stellmacher schon überzeugen.« Gina dankte Rob und legte auf.

Ein fragender Blick aus Holgers grauen Augen traf sie. »Täusche ich mich, oder nehmen wir uns als Nächstes doch den Fall Marie Weber vor?«

»Tun wir nicht. Ich motiviere Stellmacher lediglich, nach der Leiche suchen zu lassen.«

6

Um fünf war der Abschlussbericht im Fall Weigelt fertig. Gina druckte ihn für die Akten aus und sandte ihn per Mail an Thomas. Abgehakt. Erledigt. Ein ungeklärter Fall weniger. Vermutlich waren sie die einzige Abteilung, die kontinuierlich daran arbeitete, sich selbst abzuschaffen.

Da Tino noch zu tun hatte, ging Gina alleine nach Hause. In der Buchhandlung am Marienplatz kaufte sie eine Rad- und Wanderkarte für das Gebiet der Hemhofer Seenplatte, zu der auch der Langbürgner See gehörte. Beim Käsestand am Viktualienmarkt erstand sie Paglietta, Mozzarella und ein Stück vom Brie de Meaux und beim Bäcker ein Dinkelciabatta. Oliven, Tomaten und Rucola waren noch im Kühlschrank. Alles an Bord fürs Abendessen.

Wieder einmal genoss sie ihren kurzen Heimweg durch die Altstadt. Es erschien ihr wie ein Privileg, nur eine Viertelstunde von ihrem Arbeitsplatz entfernt zu wohnen.

Das Zusammenziehen mit Tino war nicht einfach gewesen. Seine Wohnung in der Pestalozzistraße mit Ausblick auf den Alten Südfriedhof war für zwei zu klein, und in ihre WG am Bordeauxplatz wollte er nicht wechseln. Was sie akzeptiert hatte, denn wenn jemand nicht WG-kompatibel war, dann er. Sie hatten schon Ausschau nach einer Wohnung gehalten, als Tino erfuhr, dass seine Nachbarin auszog. Gina hatte die Chance genutzt, die Wohnung zu mieten, und es war ihr gelungen, der Hausverwaltung die Zustimmung für einen Durchbruch abzuringen. Nun verfügten sie über knapp neunzig Quadratmeter, verteilt auf vier kleine Zimmer, zwei Küchen, zwei Bäder und zwei Balkone. Das reichte bequem auch für drei.

Es war ein schöner Altweibersommerabend. Gina nahm die Abkürzung über den Friedhof, die auch Tino gerne nutzte. Der Lärm der Stadt blieb jenseits der Mauern. Unter den alten Bäumen war es schattig und kühl. Zwei Tauben tippelten gurrend auf dem patinagrünen Kupferdach von St. Stephan hin und her. Das kratzende Geräusch von Krallen auf Metall verursachte Gina einen Schauer und ließ sie ihre Schritte beschleunigen.

Ein paar Minuten später sperrte sie gewohnheitsgemäß die rechte der beiden Eingangstüren auf, legte die Post auf die Ablage im Flur und die Einkäufe auf den Tisch in Tinos Küche, denn ihre Küche war nie eingerichtet worden. Mittlerweile nutzte sie den Raum als begehbaren Kleiderschrank und Bügelzimmer.

Sie öffnete die Tür zum Küchenbalkon, um frische Luft hereinzulassen, und ging mit der Wanderkarte ins Wohnzimmer. Auf dem Teppich neben der Couch stand die Lego-Ritterburg, die Tino gekauft hatte, kurz nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatten. Eine völlig neue Seite an ihm. In dem ernsthaften Mann steckte noch immer der kleine Junge. Und der weigerte sich, die Burg nach Plan zu errichten. Er wollte seine eigene bauen, wie er und sein Bruder das als Kinder getan hatten, als nichts vorgefertigt war und man seiner Phantasie freien Lauf lassen durfte. Gelegentlich half sie Tino beim Burgbau. Der wackelige Turm an der Vorderseite war ihr Werk. Eine Fahne konnte er noch vertragen. Gina bückte sich, suchte in den Plastikteilen danach und steckte sie auf.

Als Tino eine halbe Stunde später kam, saß sie über die Karte gebeugt auf dem Balkon. Nach welchen Kriterien sollte sie vorgehen, um das Areal einzugrenzen? Richtig beurteilen konnte sie das eigentlich erst, wenn sie die Ermittlungsakten gesehen hatte. Doch die waren in Rosenheim, und Stellmachers Bereitschaft, sie ihr zu überlassen, war sicher ähnlich hoch wie ihre, sie anzufordern: nämlich null. Das war nicht ihr Fall.

Tino trat auf den Balkon. »Hallo, Schatz.«

»Grüß dich.« Obwohl seine Figur eher gemütlich war, war er ein ziemlich gutaussehender Mann. Dunkles, noch volles Haar, während der Dreitagebart bereits graumeliert war. Ein markantes Gesicht mit einem Grübchen am Kinn und ein Blick aus graugrünen Augen, der ihr noch immer durch und durch ging. Sie waren das Erste gewesen, das ihr an ihm aufgefallen war, das Nächste war seine Ernsthaftigkeit. Er nahm nichts auf die leichte Schulter, wog ab, bevor er entschied, dachte erst nach und redete dann. Er war jemand, auf den man sich ganz und gar verlassen konnte. »Schön, dass es mit der Alten Gärtnerei klappt.«

Er holte aus dem Kühlschrank ein Glas vom Soave für sich und für sie eine Rhabarberschorle. »Wir sollten das Menü bald auswählen, und um die Musik müssen wir uns selbst kümmern.« Er reckte sich und streckte die Beine aus, die in der obligatorischen Chino steckten. Sandfarbene Chinos und schwarze oder dunkelblaue Poloshirts waren zu einer Art zweiten Uniform für ihn geworden.

Gina wusste nicht, wie sie die ganzen Hochzeitsvorbereitungen in der kurzen Zeit auf die Beine stellen sollten, ohne Urlaub zu nehmen. »Dorothee hat Hilfe angeboten. Wie wäre es, wenn wir die Planung ihr überlassen? Sie wird das in unserem Sinn tun.« Mit ihren Eltern verstand sie sich gut und hatte sogar einige Jahre mit ihnen in der WG gelebt. Ihre Mutter würde nicht der Versuchung erliegen, dem Fest ihren Stempel aufzudrücken.

»Solange sie nicht selbst kocht, ist mir das sehr recht.«

»Keine Sorge, dazu hat sie keine Ambitionen.« Wenn es jemals einen Wettbewerb für die untalentierteste Köchin geben sollte, wäre Dorothee die haushohe Favoritin.

Tino bemerkte die Karte. »Planst du eine Radtour?«

»Einen Tauchgang. In dem See liegt eine Leiche.« Während sie das Abendessen vorbereiteten, erzählte sie ihm von Petra Webers Besuch. »Die Frau tut mir leid. Sie sollte endlich ihr Kind bestatten können.«

Tinos Stirn legte sich in Falten. Sie ahnte, was dahinter vor sich ging. »Nein. Es ist nicht, wie du denkst. Ich ziehe mir keinen neuen alten Fall an Land. Dieser gehört ohnehin den Rosenheimern. Ich hab einen Deal mit Rob. Wenn ich das Suchgebiet eingrenzen kann, ziehen sie sich die Flossen an. Das ist alles. Und danach lege ich meine Hände in den Schoß und bringe die Ablage unserer Abteilung auf Vordermann.«

»Rob schickt seine Leute runter, wenn du ihm sagst, wo sie suchen müssen?«

»Gesagt hat er es. Vorausgesetzt, Stellmacher gibt grünes Licht. Es ist sein Zuständigkeitsbereich.«

»Auf welcher Basis willst du den möglichen Fundort ermitteln? Doch nicht mit Kaffeesatzlesen, Gina. Du wirst dir die Akten besorgen …«

»Hab ich nicht vor. Außerdem würde Stellmacher sie mir nicht überlassen. Ich mache die nächsten Monate Ablage. Versprochen. Aber vorher stoße ich noch die Suche nach der Kleinen an.« Aus der Hosentasche zog Gina das Foto hervor und legte es vor Tino auf den Tisch. »Das ist sie. War sie. Eine süße kleine Maus. Ich kann sie doch nicht da unten am Grund des Sees liegen lassen, unbetrauert und unbestattet. Du würdest dasselbe tun.«

Er zog sie an sich und setzte einen Kuss auf ihre Nasenspitze. »Vermutlich. Aber ich bin auch nicht schwanger.«

»Schwanger ist nicht gleich krank. Mir geht es gut. Sehr gut sogar.« Das stimmte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so gefühlt. In sich ruhend und gefestigt, stark und unantastbar. Sie schlang ihre Arme um seinen Körper und sog seinen Duft ein. Ein Rest von Aftershave, ein wenig Schweiß, ein Hauch Büro und Papier, eine Brise Wind. »Hast du schon eine Idee, wohin unsere Hochzeitsreise nun gehen soll?«

»Ich habe mir überlegt, dass Venedig schön wäre. Da wolltest du doch schon längst hin.«

Überrascht löste Gina sich von ihm. Eine romantische Reise nach Venedig war tatsächlich einer ihrer noch offenen Träume. Nur Tino hatte bisher wenig davon gehalten. »Hast du nicht mal gesagt, Venedig wäre Disneyland auf Italienisch?«

»Und du meintest, ich hätte Vorurteile. Ist Venedig nicht die Stadt der Liebe? Und die Biennale läuft noch bis Ende November. Es passt doch wunderbar.«

Der Mann, den sie liebte, interessierte sich für Kunst und für Gedichte. Er kam aus einer für sie fremden und faszinierenden Welt. Großbürgerlich, konservativ, hanseatisch. Internate und Studienaufenthalte im Ausland hatten in seiner Erziehung eine Rolle gespielt, Tennis und Segeln natürlich. Sein Vater war ein anerkannter Strafverteidiger und seine Mutter eine berühmte Malerin. Man hatte ein Ferienhaus auf Sylt und verbrachte den Sommer an der Côte d’Azur oder in Biarritz.

Während sie in ihren Ferien auf dem Pferdehof oder in Berghütten gewesen war oder in preiswerten Hotels an der Adria. Ihr Vater arbeitete als Lokführer bei der Münchner S-Bahn, und ihre Mutter war Reinigungsfachkraft.

Gina hatte eine Vermutung, woher der Wind Richtung Venedig tatsächlich wehte. Es ging weniger um die Kunstpavillons in den Giardini oder romantische Dinner am Canal Grande oder sündteure Espressi im Caffè Florian. Ihre ursprünglichen Überlegungen für die Hochzeitsreise waren neben Venedig in Richtung Madeira oder Malediven gegangen. Flugreisen. Vermutlich zu anstrengend und risikoreich für eine achtunddreißigjährige Erstschwangere. Tino hatte Angst, dass irgendetwas schieflaufen könnte. Nur ihm zuliebe hatte sie schließlich den Termin für das Ersttrimesterscreening vereinbart. Eigentlich war ihr die ganze Pränataldiagnostik zuwider, die für Erstgebärende in ihrem hohen Alter vorgesehen war.

»Gut, dann Venedig. Im Oktober soll es dort wunderschön sein. Und wenigstens einmal müssen wir Gondel fahren.«

»Aber bitte mit einem stummen Gondoliere.«

»Nee, wenn schon, dann mit Gesang.«

»Ich habe es geahnt.«

Obwohl sie selbst sich als durch und durch pragmatisch sah, gab es in einer Ecke ihres Herzens einen kleinen geheimen Ort für Romantik. Ein Ressort für große Gefühle und dramatische Auftritte. Und das war manchmal gar nicht schlecht, denn einer dieser Auftritte hatte endlich das Eis zwischen ihnen gebrochen. Bei der Erinnerung daran musste sie lächeln

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