Ich bin dein Tod - Inge Löhnig - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich bin dein Tod E-Book

Inge Löhnig

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich bin dein Tod. Mich hast du verdient.    Ein Mörder schickt seinen Opfern Nachrichten, bevor er sie tötet. Die Suche nach ihm wird für Kommissar Dühnfort zur besonderen Herausforderung. Er hat gerade seine neue Stelle in der Abteilung Operative Fallanalyse angetreten und muss sich bewähren. Als das Team der Profiler im Laufe mehrerer Wochen zu verschiedenen Tatorten gerufen wird, erkennt er als Erster den Zusammenhang. Doch sein Vorgesetzter glaubt nicht an einen Serienmörder. Ein fataler Fehler.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich bin dein Tod

Die Autorin

Schon als Kind verfügte INGE LÖHNIG über so viel Fantasie, dass ihre Geschichten noch heute in der Familie legendär sind. Neben dem Beruf als Grafik-Designerin war Schreiben lange ein Hobby. Erst mit dem Erscheinen der Reihe um den Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort wurde daraus die neue Profession. Die Kriminal-Romane von Inge Löhnig sind ebenso regelmäßig auf der Bestsellerliste zu finden, wie die spannenden Familien-Romane, die sie unter dem Pseudonym Ellen Sandberg veröffentlicht. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:Kriminalromane um Kommissar Dühnfort:Der Sünde SoldIn weißer StilleSo unselig schönSchuld währt ewigVerflucht seist duDeiner Seele GrabNun ruhet sanftSieh nichts BösesKriminalromane um Gina Angelucci:Gedenke meinUnbarmherzigAußerdem:Mörderkind

Inge Löhnig

Ich bin dein Tod

Kriminalroman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd GmbH, MünchenTitelabbildung: © DEEPOL by plainpictureAutorenfoto: © Frank Bauer / www.frankbauer.comE-Book Konvertierung powered by Pepyrus.comISBN 978-3-8437-2248-3

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6Videotagebuch

7

8

9Videotagebuch

10

11

12

13

14Videotagebuch

15

16

17Videotagebuch

18

19

20Videotagebuch

21

22

23Videotagebuch

24

25

26Videotagebuch

27

28

29Videotagebuch

30

31

32Videotagebuch

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Sie schlurfte hinter ihm her durch die verwahrloste Wohnung, als hätte sie Angst, dass er etwas von dem Müll klaute, der überall herumlag. Vor der Tür blieb er stehen, um sich zu sammeln. Dahinter wartete das Grauen.

»He, es kostet was, wenn du dich da umsehen willst.«

Er beachtete sie nicht und trat ein. Der Raum lag im Halbdunkel. Durch die Ritzen der Jalousie fiel das Nachmittagslicht direkt auf eine fleckige Matratze am Boden.

Dort also war sie gestorben.

Überall Spuren des Notarzteinsatzes. Einwegverpackungen, Kanülen, ein Latexhandschuh, eine Klebeelektrode. Die Heizung lief auf Hochtouren. Die Luft war heiß und stickig. Wie geronnen. Es stank nach Schweiß und Blut, nach Kotze und Pisse, nach Elend und Tod. Ein Raum, wie geschaffen zum Verrecken. Das Vorzimmer zur Hölle. Er atmete durch und ließ die Bilder nicht zu, die in ihm entstehen wollten.

»Zwanzig Euro, und du kannst hier eine halbe Stunde tun, was du willst. Fotos machen, Videos, dir einen runterholen. Interessiert mich nicht.« Fordernd streckte sie ihm die Hand entgegen. Einstichstellen und Hämatome in der Armbeuge. Verfluchte Junkies!

Er wollte ungestört sein und zog einen Schein aus der Hosentasche. »Und jetzt raus!«

»Zwanzig Minuten. Taxameter läuft.«

Er baute sich vor ihr auf. »Verschwinde!«

»Ist ja gut.« Sie schloss die Tür hinter sich, und er sah sich um.

Neben der Matratze gab es einen Polstersessel, der einst gelb gewesen war und jetzt ein Camouflagemuster an Flecken aufwies. Kein Tisch, kein Schrank. Nur noch ein Stuhl, auf dem ein verfilzter Pullover lag, für den die da draußen nichts bekommen würde. Alles andere hatte sie offenbar schon vertickt. Auf dem Boden lag eine kleine Geschenkbox aus Lackpapier und daneben eine Karte mit einem handschriftlichen Gruß: Bye, Prinzessin!

Hinter dem Sessel fand er einen billigen Nylonrucksack und leerte den Inhalt auf die Matratze. Ein Schlüsselbund. Ein zerfleddertes Portemonnaie, in dem nicht ein Cent war. Kein Ausweis, keine EC-Karte, nichts. Alles, was sich zu Geld machen ließ, war weg. Im hinteren Fach steckte ein Familienfoto. Zweifach geknickt und mit abgestoßenen Ecken. Das steckte er ein und tastete den Rucksack ab. Mehr war da nicht.

Weiter ging es mit der Matratze. Nichts darunter. Nichts darin. Er inspizierte die Fußbodenleisten auf der Suche nach einer losen, sah unters Fensterbrett und hinter den Heizkörper, untersuchte die Lampe und die Bodendielen. Eine war locker. Mit dem Taschenmesser hebelte er sie heraus. Im Hohlraum darunter lag eine zusammengeknautschte Plastiktüte. Ein Smartphone mit glitzernder rosa Hülle steckte darin.

Auf etwas Persönliches von ihr hatte er gehofft, nicht aber auf ihr Handy. Das war eine Überraschung. Wieso hatte sie es versteckt? Er schaltete es ein. Der Startbildschirm erschien, und er wurde aufgefordert, die PIN einzugeben.

Eine Weile überlegte er, dann probierte er es. Schon der zweite Versuch war erfolgreich. In den Tiefen des Systems suchte er nach der letzten Aktivität und fand ein Video, das sie in einem Ordner mit elf anderen gespeichert hatte. Mein verpfuschtes Leben. Eine große Liebe. Und der restliche Shit. Er startete es.

Ihr Gesicht erschien formatfüllend auf dem Display, und er erkannte sie beinahe nicht wieder. Die Haare stumpf und struppig. Dunkle Ringe unter den Augen. Eingefallene Wangen. Der Totenschädel saß schon dicht unter der Haut. Eine alte Frau. Dabei war sie erst achtzehn gewesen. Ihm wurde übel.

»Hey! Hallo, du da!« Ihr Lächeln verrutschte zu einer Grimasse. »Eigentlich glaube ich ja nicht, dass das hier irgendjemand mal sieht. Aber was soll’s? Ich nehme es trotzdem auf.« Einen Moment wirkte sie unsicher und abwesend. Dann wedelte sie ihre Bedenken weg. »Irgendwie bist du jedenfalls an mein Handy geraten und hast es gehackt. Du kennst mich vermutlich nicht.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Kann sein, dass du von der Polizei bist oder ein Sanitäter. Oder du hast mein Handy von Jenny, dann hat sie es doch gefunden und für den nächsten Kick verscherbelt. Du fragst dich gerade, ob du dir das hier angucken sollst. Es ist mein letztes Video. Es sind meine letzten Worte. Wenn du das hier siehst, bin ich tot.«

1

Als Dühnfort an diesem Morgen Anfang Oktober seinen Arbeitsplatz im K 16 der Münchner Kriminalpolizei betrat, stieg ihm erst Kaffeeduft in die Nase, dann erklang das vertraute Zischen der Milchschaumdüse seiner Pavoni. Anja Bartholomei hantierte in der Tee-Ecke – die von seinen neuen Kollegen mittlerweile in Café Tino umbenannt worden war – mit seiner Espressomaschine, die mit ihm umgezogen war. Von der Mordkommission in der dritten Etage in die Abteilung Operative Fallanalyse in der vierten.

»Guten Morgen, Tino!«

»Hallo, Anja!«

Die Weiterbildung zum Fallanalytiker lag hinter ihm. Seit einer Woche war er nun Mitglied der OFA und noch nicht wirklich angekommen.

»Auch einen Cappu?«

»Danke. Ich hatte grad einen zum Frühstück.«

Schwungvoll goss Anja die aufgeschäumte Milch in die Tasse. »Wie schnell man sich an Luxus gewöhnt, ist sagenhaft. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir bisher ohne deine Pavoni ausgekommen sind.«

Er musste lachen. »Ist mir auch absolut schleierhaft.« Mit einem Lächeln durchquerte er den OFA-Raum, dessen beherrschende Elemente ein ovaler Konferenztisch und eine Wand aus Whiteboards waren. Keine Bilder an den Wänden, kein ablenkender Schnickschnack. Ein Zentrum für konzentrierte Arbeit. Hier traf sich das Team, um Fälle zu analysieren, Hypothesen zu entwickeln und Täterprofile zu erstellen.

Das Großraumbüro war in einzelne Bereiche unterteilt, die Dühnfort für sich Karrees nannte. Stellwände trennten sie voneinander ab und gaukelten Privatheit vor, wo in Wahrheit nichts privat blieb. Jeder sah den anderen und konnte Telefonate mithören. Sein altes Büro war ihm lieber gewesen. Er schätzte es, eine Tür hinter sich schließen zu können.

Die Arbeitsplätze waren identisch möbliert. Schreibtisch mit PC, Sideboard und Regal. Alles ergonomisch sinnvoll angeordnet. Ein beinahe lautloser Seufzer entfuhr Dühnfort beim allmorgendlichen Blick aus dem Fenster. Eine Aussicht, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hatte und vermutlich auch nie gewöhnen würde.

Seit das Kriminalfachdezernat 1 mit seinen nachgeordneten Kommissariaten von der Münchner Innenstadt in den Stadtteil Sendling umgezogen war, blickte er auf Wertstoffhof und Kleingartenanlage. Adieu, Frauenkirche, adieu, Löwengrube, vom Viktualienmarkt ganz zu schweigen. All das vermisste er noch immer schmerzlich.

Nachdem er den Rechner gestartet hatte, las er erst einmal online Nachrichten. Offenbar war seine ehemalige Kollegin und Nachfolgerin bei der Mordkommission Kirsten Tessmann im Fall des Messermords im Englischen Garten weitergekommen. Die Onlinemedien berichteten, dass der Beschuldigte gestanden hatte, allerdings ohne ein Motiv zu nennen.

Anja ging hinter ihm vorbei. Ihr Schritt verharrte, als sie den Artikel auf seinem Monitor sah. »Ich verstehe es nicht. Weshalb ersticht jemand einen anderen, den er nie zuvor gesehen hat? Ohne ein Wort. Einfach so. Geradezu beiläufig. Psychisch krank scheint er ja nicht zu sein.«

Anja war aus dem Rauschgiftdezernat zur OFA gewechselt. Sie war direkt und analytisch und sah umwerfend gut aus. Eine elfenhafte Schönheit mit schulterlangem hellem Haar. Außerdem Meisterin in Taekwondo, allerdings begleitet von dem Gerücht, manchmal die Kontrolle zu verlieren und auszurasten. Angeblich hatte sie deswegen bereits zwei interne Ermittlungsverfahren überstehen müssen.

»Vielleicht ist Frust das Motiv«, meinte er. »Eine unbestimmte Wut auf alles und jeden. Das breitet sich immer weiter aus. Die Leute rasten wegen nichts aus. Hast du von dem Zahnarzt gehört, der eine Fußgängerin angefahren hat, nur weil sie es gewagt hat, den Zebrastreifen zu betreten, als er sich näherte?«

Anja nickte. »Der Lack der Zivilisation wird täglich dünner.« Sie verschwand in ihrem Karree, das sich in einem Neunziggradwinkel zu seinem befand.

Manfred Trebing kam als Nächster. Seit vier Jahren bei der OFA, ehemals Kriminaldauerdienst. Ein in sich gekehrter, stiller Mann, der in über zwanzig Jahren Polizeidienst alles gesehen hatte, was Menschen einander antaten. Er war Ende vierzig und lebte mit seiner Frau und einem Hund in einem Vorortreihenhaus. Wortkarg war wohl das Adjektiv, das ihn am besten beschrieb. Von Anja wusste Dühnfort, dass er sich Hoffnungen machte, der Nachfolger von Armin Boos zu werden, wenn dieser in zwei Jahren in Pension ging. Manfred erwiderte im Vorbeigehen Dühnforts Gruß und verschwand in seinem Karree.

Dühnfort las gerade seine Mails, als Boos kam. Sie kannten sich seit vielen Jahren, in denen Armin immer wieder versucht hatte, ihm die Arbeit bei der OFA schmackhaft zu machen. Zielstrebig steuerte er, noch im Mantel, auf ihn zu. Ein großer Mann mit breitem Kreuz, wachem Blick und natürlicher Autorität. »Guten Morgen, ihr beiden!«

Anja schwenkte auf ihrem Bürostuhl herum.

»Die Kollegen aus Passau haben uns gerade angefordert«, sagte Boos. »Ein Doppelmord vor vierzehn Tagen. Nichts geht voran. Die Medien machen Druck. Der Staatsanwalt will Ergebnisse sehen. So ganz freiwillig scheint die Entscheidung nicht gefallen zu sein, uns hinzuzuziehen.«

Anja seufzte. »Das sind ja dann ideale Voraussetzungen.«

»Ihr werdet das schon hinkriegen. Euer Ansprechpartner ist Lutz Eichenauer. Kriminalhauptkommissar. Nehmt Ben mit. Ich habe ihn im Lift getroffen. Er weiß schon Bescheid und organisiert einen Wagen.« Armin nickte ihnen zu und verschwand in seinem Büro. Das einzige, das eine Tür hatte.

Was er von Ben halten sollte, wusste Dühnfort noch nicht. Einerseits besaß er einen geradezu britisch trockenen Humor. Andererseits nagte die Scheidung von seiner Frau an ihm. Er war Mitte dreißig und Vater eines dreijährigen Jungen. Vom Aussehen her ein Frauentraum. Groß. Markantes Gesicht. Fitnessgestählter Körper. Jeder Muskel war definiert. Doch auf Frauen war Ben nicht gut zu sprechen. Von Gleichberechtigung hielt er nichts. Männer und Frauen seien nun einmal unterschiedlich, das könne man nicht wegdiskutieren. Das sei wissenschaftlich bewiesen. Der Begriff Kampfemanzen war schon gefallen, und dass echte Männer auf die rote Liste gehörten. Eine vom Aussterben bedrohte Art. Dühnfort schrieb es der gescheiterten Ehe zu. Hoffentlich legte sich das.

Während sie auf Ben warteten, mailte er Gina. Kannst du heute Chiara vom Kindergarten abholen? Ich muss nach Passau und werde es nicht schaffen. Er hängte ein Kuss-Emoji an und klickte auf Senden.

Ihre Antwort kam sofort. Kein Problem. Gute Fahrt und pass auf dich auf! Ein Herz-Emoji folgte.

Ben Guhl steuerte auf Dühnforts Karree zu. Enges schwarzes T-Shirt, perfekt sitzende Jeans und darüber offen eine Cabanjacke. »Moin, Tino!« Sein Blick schwenkte zu Anja am Schreibtisch nebenan. »Servus, Anja! Packen wir es. Ich habe uns einen X3 organisiert.«

Das Wetter war gut und die Autobahn frei. Ben gab Gas. Nach zwanzig Minuten lagen Dühnforts Nerven blank. Vermutlich würde Ben sich als sportlichen Fahrer bezeichnen. Doch er missachtete Tempolimits, hielt zu geringen Abstand und benutzte die Lichthupe. Als Ben hinter Landshut einen Porsche mit Tempo hundertachtzig bedrängte, sah Dühnfort sich für eine Sekunde blutüberströmt und eingeklemmt im Wrack des BMW liegen. Neugierige zückten die Handys und machten Videos. »Geht’s auch ein wenig gelassener?«

Überrascht sah Ben zu ihm hinüber. »Gelassener? Wir sind hier nicht im Yogakurs.«

Von der Rückbank meldete sich Anja. »Ich verstehe ja, dass du den Kick ab und zu brauchst. Vielleicht brauchst du demnächst aber auch einen Putzlappen.«

Ben blickte besorgt in den Rückspiegel. »Du reiherst mir aber jetzt nicht in den Wagen.« Er ging tatsächlich vom Gas und wechselte auf die rechte Spur. »Soll ich beim nächsten Parkplatz rausfahren?«

»Wird hoffentlich nicht nötig sein, wenn du die Pferde zügelst.«

Ben gab sich Mühe, und Dühnfort wunderte sich. Von Frauen schien er nicht viel zu halten – doch dann verstand er es. Wenn sich eine schwach und bedürftig zeigte, wurde er fürsorglich. Ganz Gentleman.

Obwohl Ben nun defensiver fuhr, erreichten sie Passau früher als vom Navi ursprünglich veranschlagt.

Die Drei-Flüsse-Stadt lag am östlichen Rand Bayerns in unmittelbarer Nähe zur österreichischen Grenze. An diesem strahlend schönen Herbsttag zeigte sie sich in ihrer ganzen barocken, blau-weiß-goldenen Pracht. Die Veste Oberhaus thronte auf dem Georgsberg wie ein nimmermüder Bewacher. Die Türme des Doms strahlten in einem überirdischen Weiß, als könnte jeden Moment Gottes Segen über diesen malerischen Fleck Erde niedergehen. Die Illusion einer heilen und intakten Welt. Doch das Grauen gab es überall, das Böse und Gemeine. Niedertracht, Hass, Neid, den ganzen Sumpf an menschlichen Abgründen. Ein Doppelmord war hier geschehen.

Die Kriminalpolizeiinspektion befand sich in der Nibelungenstraße, unweit des Bahnhofs. Ein funktionaler Betonklotz aus den Siebzigerjahren. Lutz Eichenauer, der Leiter der Soko Dornröschen – benannt nach dem Tatort im Dornröschenweg –, erwartete sie bereits. Ein drahtiger Mittfünfziger mit Bürstenhaarschnitt und festem Händedruck. Er machte keinen Hehl daraus, dass er die OFA nicht angefordert hätte. »Das kam von oben.« Mit dem Daumen wies er Richtung Decke. »Ganz ehrlich: Ihr habt noch keinen Mord geklärt.«

»Das ist auch nicht unser Job«, sagte Anja. »Wir sehen uns als Service-Einheit für die Mordkommissionen. Als Berater. Das ist und bleibt Ihr Fall.«

»Gut zu hören.« Die harten Linien in Eichenauers Gesicht wurden ein wenig weicher. »Schauen wir mal, was dabei am Ende rauskommt.« Mit einem raschen Blick taxierte er Anja von oben bis unten, und seine Haltung wurde ein wenig straffer. »Obwohl eigentlich klar ist, was da passiert ist. Aber die Medien …« Er schickte einen Blick gen Himmel und bat sie, ihm zu folgen.

Im Ermittlungsraum saß eine junge Frau an einem PC. »Meine Kollegin Julia Jähnike. Julia, das Team aus München. Die Profiler.« Er dehnte das letzte Wort wie Kaugummi, dann stellte er sich vor die Pinnwand, an der zahlreiche Fotos und Skizzen hingen. Dühnfort betrachtete die Aufnahmen, während Eichenauer erläuterte, was in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober zwischen zweiundzwanzig Uhr und zwei Uhr morgens in einem Reihenmittelhaus im Dornröschenweg 15d geschehen war.

»Es war ein warmer Montag. Am Abend war es noch lauschig. Bruno und Ranghild Sander saßen mit einem Glas Wein auf der Terrasse. Kurz vor zwanzig Uhr gingen sie hinein. Sie räumte die Küche auf und las anschließend eine Illustrierte, während ihr Mann vermutlich in seinem Arbeitszimmer noch ein paar Aufsätze korrigierte. Er war Lehrer, vierundvierzig Jahre alt. Sie Töpferin mit eigener Werkstatt und einem Laden in der Altstadt und ein Jahr jünger als er. Kinderlos. Die beiden lebten allein im Haus. Zwischen zehn und halb elf gingen sie zu Bett. Irgendwann werden sie von einem Geräusch geweckt. Sander steht auf, öffnet die Schlafzimmertür und sieht Licht in seinem Arbeitszimmer. Ein Einbrecher. Er will ihn stellen. Doch der bedroht ihn mit einer Armbrust. Sander rennt zurück ins Schlafzimmer, wo sein Handy liegt, kriegt die Tür aber nicht schnell genug zu. Sein Verfolger holt ihn ein und schießt. Er trifft ihn in den Schädel. Genauer gesagt ins linke Auge.«

Eichenauer wies auf eines der Fotos an der Wand. Dühnfort hatte schon etliche Tote gesehen, eine derartige Verletzung aber noch nicht. Eine dunkle, klaffende Höhle, wo einst ein Auge gewesen war. Der Bolzen war tief in den Schädel eingedrungen. Nur das Ende mit den Federn sah heraus.

»Ranghild Sander springt aus dem Bett«, fuhr Eichenauer fort. »Oder ist bereits aufgestanden. Vermutlich schreit sie. Der zweite Schuss trifft sie, und zwar in den Hals. Es wurden keine weiteren Schüsse abgegeben. Beide waren tödlich. Wenn Sie mich fragen, war das einer aus dem wilden Osten. Die machen uns derzeit richtig Arbeit. Die Grenze ist nicht weit.«

Dühnfort betrachtete die Fotos der Opfer. Kaum Blut. Auf den ersten Blick keine Kampfspuren. Ranghild Sanders Nachthemd war ein wenig nach oben gerutscht. Das konnte im Todeskampf passiert sein. Bruno Sander lag auf dem Rücken wie ein gefällter Baum. Ein kompakter Mann, dessen linkes Auge nicht mehr existierte.

»Was für ein Anblick«, sagte Anja. »Ich hätte nicht gedacht, dass Armbrustpfeile eine solche Durchschlagskraft haben.«

Neben dem Foto des toten Bruno Sander hing eine schematische Zeichnung des Raumes, in der die Lage der Körper eingezeichnet war. Etwas schien nicht zu passen.

»Haben Sie die Tatwaffe?«, fragte Ben.

»Die hat der Täter mitgenommen«, erklärte Eichenauer. »Zusammen mit einer Rolex, einem fünfzig Gramm schweren Goldbarren, etwas Schmuck und außerdem Bargeld. All das bewahrte Sander in einer Metallkassette im Arbeitszimmer auf. Wir haben seine Bargeldabhebungen und seine Ausgaben verglichen. Es müssen mindestens fünfhundert Euro cash gewesen sein. Es wurde schon für weniger gemordet.«

Dühnfort wandte sich um. »Ich frage mich, warum sich ein Einbrecher für eine so sperrige Waffe entscheidet, die er nicht eng am Körper führen kann und die er außerdem nicht schnell schussbereit bekommt.«

»Weil man eine Armbrust ohne Waffenschein kaufen kann. Außerdem sind das keine schweren mittelalterlichen Klötze aus Eichenholz und Schmiedeeisen. Die werden heute aus Kunststoff und Leichtmetallen gebaut. Es gibt handliche Modelle.«

»Als sie gefunden wurden, lagen sie so da?« Dühnfort wies auf die Fotos. »Oder wurden die Leichen bewegt, bevor die Aufnahmen entstanden?«

»Die hat niemand angerührt.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Die Putzfrau. Sie kommt jeden Dienstag um zehn und hat einen Schlüssel, weil die Sanders um diese Zeit arbeiten. Es sei denn, es sind Ferien, dann ist er daheim. Sie erhalten noch heute Zugang zur digitalen Ermittlungsakte. Außerdem druckt bereits eine der Sachbearbeiterinnen das alles für Sie aus. Tatortbericht. Obduktionsbericht. Zeugenaussagen. Das ganze Pipapo. Fotos und Videoaufnahmen liegen auf unserem Server. Julia richtet Ihnen einen Zugang ein und schickt Ihnen den Link.« Eichenauer sah auf die Uhr. »Ich habe einen Termin. Sie wollen sicher noch den Tatort sehen.« Er wandte sich an Julia Jähnike. »Kannst du das übernehmen?«

»Ja klar. Sehr gerne.«

Sie folgten Julia Jähnike zum Ende einer Sackgasse, die in den Garagenplatz einer Vorortsiedlung aus den Achtzigerjahren mündete. Ben stoppte den BMW hinter Jähnikes Twingo. Dühnfort sah sich um, während Anja ein Päckchen Kaugummi aus der Lederjacke zog, Ben die Knöchel knacken ließ und die Passauer Kollegin ihn verstohlen musterte.

Dühnfort betrachtete die zwei Reihenhausriegel mit je fünf Häusern. Dazwischen lag der Platz mit den Garagen, die man umrunden musste, wenn man die Sackgasse wieder verlassen wollte. Die vor Jahrzehnten gepflanzten Buchen und Ulmen waren zu stattlichen Bäumen herangewachsen. Im Sommer beschatteten sie den Platz. Jetzt warfen sie das welke Laub ab.

»Das ist es.« Julia wies auf ein Haus in der westlichen Kette. Ein Polizeisiegel klebte an der Tür. Blätter hatten sich im Vorgarten zwischen vertrockneten Stauden und Buchsbaumkegeln verfangen. Zwei Wochen waren erst vergangen, und schon sah man die beginnende Verwahrlosung.

»Der Täter ist hinten rein, über die Terrasse.« Mit dem Hausschlüssel zerriss Jähnike das Siegel und sperrte auf. »Leider gibt es keine Zeugen. Niemand hat etwas gehört oder gesehen.« Sie ging voran in den Flur. Die Luft war abgestanden und kühl. Links die Gästetoilette, rechts eine kleine Küche. Es folgte das Treppenhaus und weiter hinten das Wohnzimmer mit Essecke und Zugang zur Terrasse. Alles war sauber und aufgeräumt. Keine herausgerissenen Schubladen, keine durchwühlten Schränke. Eine Illustrierte lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch. Vermutlich die, in der Ranghild Sander am letzten Abend ihres Lebens gelesen hatte.

»Hier kann man die Spuren des Schraubenziehers noch sehen, mit dem er die Tür aufgehebelt hat. Der Klassiker schlechthin.« Die Kollegin öffnete die Terrassentür. Ein kalter Luftschwall zog herein. Sie deutete auf eine Einkerbung im Holzrahmen. »Unten hat er sich nicht aufgehalten. Er ist gleich nach oben. Alles war wie immer, als die Putzfrau kam. Wir haben hier unten auch keine Spuren von ihm gefunden. Nur oben.«

»Sie haben seine DNA?«, fragte Anja.

»Im Arbeitszimmer von Bruno Sander hat er einen Nasenpopel an die Tischkante geschmiert. Das Blöde ist nur, dass er nicht in der Datenbank ist.«

Jähnike ging voran nach oben. Ein kleiner Vorplatz. Linker Hand das Arbeitszimmer. Es lag mit Blick zum Reihenhausgarten. Daneben das Schlafzimmer. Es ging nach vorne hinaus zu den Garagen. Dazwischen befand sich das fensterlose Bad.

Das Arbeitszimmer war etwa fünfzehn Quadratmeter groß. Eine Wand wurde vollständig von einem maßgefertigten Regal bedeckt. Es musste neu sein, denn der Duft von Kiefernholz lag in der Luft. Deutsch- und Geschichtsbücher, Romane, Sachbücher und Reiseführer füllten die Fachböden. Der Schreibtisch befand sich vor dem Fenster. Aufsätze lagen in einem Stapel neben der Schreibunterlage. Stifte, Spitzer und Radiergummi in einer flachen Schale. Unten auf dem Rasen sammelte sich das Herbstlaub, das Sander nun nicht mehr zusammenrechen würde. Was war er für ein Mensch gewesen?

Etwas stimmte hier nicht. Dühnfort gab diesem Gefühl Raum, während Jähnike die oberste Schublade herauszog. »Hier lag Sanders Geldbörse, außerdem die Metallkassette mit dem Fünfzig-Gramm-Goldbarren, der Rolex und dem Schmuck von Ranghild Sander. Das wissen wir von ihrer Mutter. Die Kassette ist weg.«

Sie ging weiter zum Schlafzimmer, während sich in Dühnfort das Gefühl verdichtete, dass Eichenauers Theorie zum Tatablauf sich in Luft auflösen würde. Anja schien das ähnlich zu sehen. Ihre Mundwinkel verzogen sich, während sie nahezu unmerklich den Kopf schüttelte. Nur Ben behielt seine Vermutung nicht für sich. »Kann es sein, dass er wusste, wo er suchen musste?«

Jähnike blieb stehen. »Wie meinen Sie das?«

»Der Täter ist zielsicher ins Arbeitszimmer marschiert. Er hat nur eine Schublade geöffnet, und zwar die richtige. Er hat nichts durchwühlt. Oder?«

»Er war nur am Schreibtisch«, räumte sie ein. »Den hat er zuerst durchsucht. Ist auch logisch. Wer bewahrt schon den Geldbeutel im Regal auf?«

»Durchsucht hat er ihn ganz offensichtlich nicht. Oder war er auch an den anderen Schubladen?«

»Keine Ahnung.«

»Die Theorie vom Täter aus dem Osten können Sie knicken. Der kannte sich hier aus.«

Es war ein absolutes No-Go ihres Jobs, Vermutungen zu äußern. Anja seufzte leise neben Dühnfort.

»Sagt wer?«, fragte Jähnike.

»Der gesunde Menschenverstand«, entgegnete Ben, und sie schaltete in Angriffsmodus um. »Wohl eher Ihr Bauchgefühl. Ich dachte, Profiler arbeiten faktenbasiert.«

»Sie gehen von einem Einbruch aus, der aus dem Ruder gelaufen ist. Ein nicht geplanter Doppelmord. Dann erklären Sie mir mal, weshalb er einbricht, wenn jemand im Haus ist. Zwei Menschen schlafen friedlich in dem Raum, in den er eindringen will, um Beute zu machen. Denn die meisten Leute bewahren Wertsachen im Schlafzimmer auf. Und er hat nicht vor, sie zu töten, hat aber eine Armbrust bei sich. Sorry, das passt vorne und hinten nicht. Genau wie die Sache mit der Schublade hier. Wer lässt Frauen eigentlich zur Kripo?«

Nun schritt Dühnfort doch ein. »Es ist gut, Ben. So kommen wir nicht weiter.«

Anja wandte sich an Julia Jähnike. »Niemand will Ihnen etwas am Zeug flicken. Die Ermittlungen in einem Doppelmord sind immer komplex und gehören sicher nicht zu Ihren Routineaufgaben. Wir sind hier, um Sie zu unterstützen.«

»Ja klar.« Zornig blickte Jähnike zu Ben, doch Dühnfort bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie war jung und konnte noch nicht viel Erfahrung bei der Kripo gesammelt haben.

»Das ist so«, bekräftigte Anja. »Unsere Aufgabe ist es, die Ermittler vor Ort zu unterstützen. Dafür sind wir ausgebildet und haben uns mit Aberhunderten Tötungsdelikten beschäftigt. Und Sie hatten bisher vielleicht mit zwei, drei Morden zu tun, oder?«

»Mit einem außer dem hier«, räumte sie ein. »Und mit einer Körperverletzung mit Todesfolge vor vier Wochen. Damit kommen wir auch nicht voran.« Sie schluckte ihren Ärger hinunter. »Also Schwamm drüber.«

Sie betraten das Schlafzimmer. Während Julia Jähnike den vermuteten Tatablauf erklärte, öffnete Dühnfort auf dem Smartphone seine Aufnahmen der Lageskizze und der Fotos der Leichen, die er im Ermittlungsraum gemacht hatte. Entweder waren sie doch bewegt worden, oder die Schüsse waren nicht aus Richtung Tür gekommen. Er sah hinunter auf den Garagenvorplatz. »War das Fenster eigentlich offen, als die Putzfrau die Toten gefunden hat?«

2

Einige Wochen zuvor. Passau.Samstag, 7. September. 02.15 Uhr.

Der Nachthimmel war sternenklar. Er spannte sich über ihm, unendlich und beständig. Das Universum trug alle Zeit in sich. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Nichts ging verloren. Es änderte sich nur. Verwandelte sich.

Er atmete durch und sah auf das Display seines Smartphones. Der blaue Punkt verharrte noch immer an derselben Stelle. Aus dem Lautsprecher in seinem Ohr drangen leise Musik und Gesprächsfetzen, Lachen, das Klirren von Gläsern.

Er schaltete das Display aus, rückte den Knopf im Ohr zurecht und wechselte das Standbein. Er trug einen schwarzen Neoprenanzug, schwarze Neoprenschuhe und –handschuhe. Außerdem eine Sturmhaube mit Augenschlitz. Darüber eine Arbeits-Schutzbrille. Er hinterließ keine Spuren und war obendrein in der Dunkelheit zwischen den Bäumen nicht auszumachen. Er verschmolz mit ihr.

Vor dem Erotic-Club Sophia standen nur noch sieben Fahrzeuge. Bis auf zwei gehörten sie dem Personal. Etwas raschelte. Ein Igel umrundete einen Laubhaufen, überquerte den Asphalt und verschwand zwischen Gebüsch und Bäumen, die den Parkplatz auf der anderen Seite begrenzten. Sie hoben sich als Schattenrisse vom Nachtgrau ab. Dahinter befand sich eine halbhohe Mauer, hinter der die Donau behäbig durch die Altstadt von Passau floss. Ein leichter Wind kam auf, bewegte die Zweige. Vorne an der Straße fuhr ein Auto vorbei. Die Lufttemperatur betrug noch fünfzehn Grad, eine milde Septembernacht.

Die Geräuschkulisse veränderte sich. Die Musik wurde abgedreht, die Stimmen lauter. Wir machen jetzt Schluss. Zeit zu gehen, Freunde.

Sein Adrenalinspiegel stieg. Er war bereit.

Nur noch einen Absacker, dann geh ich.

Es war wie erwartet. Denn es war wie immer.

Also gut: Einen noch. Geht aufs Haus.

Zuerst kam der Ofenbauer heraus. Selbstständig. Ladengeschäft in einem Vorort. Verheiratet, drei Kinder. Eine Frau, die keine Lust mehr hatte. Er wankte zu seinem Auto, ließ sich hineinfallen und fuhr langsam vom Hof. Die Rücklichter verschwanden hinter der Biegung.

Dann bis zum nächsten Mal. Wir sehen uns.

Die Tür ging auf. Eine massige Gestalt erschien. Pascal Pfaller. Dreiunddreißig Jahre, eins siebzig, hundertzehn Kilo. Unfreiwillig zölibatär. Keine Frau wollte ihn. Da kaufte er sie sich eben. Er verdiente gut als IT-Spezialist. Und er verachtete Frauen.

Schwankend steuerte er sein Auto an, besann sich dann anders, lenkte seine Schritte zum Gebüsch und nestelte an seiner Hose herum.

Es war so weit. Lautlos überquerte er den Parkplatz, der normalerweise mit einer Kamera überwacht wurde, und trat so leise hinter Pfaller, dass der ihn erst bemerkte, als er ihm auf die Schulter klopfte. »Hallo, Pascal!«

Erschrocken fuhr Pfaller herum. »Mann, mich so …« Er sah ihm ins schwarz vermummte Gesicht und verstand, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht. Angst flackerte in seinen Augen auf. »Wer … wer bist du?«

»Ich bin dein Tod.«

Ein trockenes Lachen, eigentlich mehr ein Keuchen war Pfallers Antwort. »Das ist jetzt ein Witz.«

»Ganz sicher nicht.«

Sein Angriff dauerte nur Sekunden. Ein Schlag gegen die Brust. Eine Hand ans Kinn, die andere an den Hinterkopf. Sein rechtes Bein, in Pfallers linkes gehakt. Eine Wendung unter Einsatz beider Körpergewichte. Ein leises Knacken, mit dem das Genick brach, und Pfaller sackte zusammen.

Langsam ließ er ihn zu Boden gleiten. Er lag auf dem Rücken, streckte alle viere von sich. In seinem gebrochenen Blick spiegelten sich die Sterne. Für Pfaller gab es keine Gegenwart mehr, keine Vergangenheit und auch keine Zukunft. Und das war gut so.

3

Zwei Tage nach der Rückkehr aus Passau stand Dühnfort im Schießkeller. Da er eine Vorstellung von der Waffe bekommen wollte, mit der Bruno und Ranghild Sander getötet worden waren, hatte er einen Termin mit Ferdinand Weiß vereinbart, dem Schusswaffenexperten des LKA.

»Da haben wir das gute Stück.« Ferdinand nahm eine Armbrust aus einem Nylonrucksack. »Eine Cobra. Ist leicht, lässt sich schnell schussklar machen, und vor allem tötest du mit ihr nahezu lautlos.«

Dühnfort war verblüfft, wie klein sie war. »Sieht wie ein Kinderspielzeug aus.«

»Das täuscht. Die hat eine enorme Wirkung. Wirst du gleich sehen.« Weiß steckte den Schaft auf und schraubte den Frontgriff an. »Den braucht man nicht unbedingt. Man kann sie auch am Spannhebel halten. Hier ist das Visier. Das kannst du durch ein Zielfernrohr ersetzen. Überhaupt könnte man einiges anbauen.« Ferdinand schien ganz in seinem Element zu sein. »Auf diese Picatinny-Schiene hier« – er deutete auf ein graues Kunststoffteil – »lässt sich eine Halterung für eine Zoomtaschenlampe und einen Laser montieren. Damit kannst du sie dann auch bei Dunkelheit einsetzen.«

»Und das ist erlaubt?«

»Klar. Du brauchst nicht mal einen Waffenschein dafür. Einzige Voraussetzung für den Kauf ist die Volljährigkeit. Probiere es mal.«

Dühnfort nahm die Armbrust, setzte sie an die Schulter und visierte die Zielscheibe in zwanzig Metern Entfernung an. Die Waffe war leicht und lag gut in der Hand.

»Der Täter in Passau wird eine Cobra oder ein ähnliches Modell benutzt haben«, erklärte Weiß. »Die hier wird gerne zum Wildern verwendet. Hat einen Hundertdreißig-Pfund-Bogen. Damit kann man nicht nur Rehe töten. Ich habe die gleichen Bodkins für die Bolzen besorgt, die auch bei dem Mord in Passau verwendet wurden.« Aus einer Schachtel nahm Ferdinand eine Metallspitze und zeigte sie Dühnfort. »Fünfkantig. Jede Kante messerscharf geschliffen. Von einem Hundertdreißig-Pfund-Bogen abgeschossen, hat die eine enorme Penetrationswirkung.«

Ferdinand hatte bereits sechs Bolzen mit den Bodkins bestückt und legte sie ins Magazin. Dann löste er den Spannhebel, drückte ihn nach vorne, zog ihn zurück und spannte durch die entstehende Hebelwirkung die Sehne des Bogens. »Hier ist die Sicherung.« Er wies auf einen Metallstift oberhalb des Abzugs und reichte Dühnfort die Waffe.

Er löste die Sicherung, setzte die Armbrust an, nahm das Ziel ins Visier und zog den Abzugshebel durch. Beinahe lautlos schoss der Bolzen hervor und schlug in zwanzig Metern Entfernung in einen Zylinder aus ballistischer Gelatine ein, den Weiß eigens für diese Vorführung mit Fensterleder und einem Stück Baumwollstoff präpariert hatte. Sie symbolisierten Haut und Kleidung. Dühnfort spannte die Waffe. Es dauerte vier Sekunden, bis er den nächsten Schuss abfeuerte. Beim dritten ging es noch schneller. Nur das leise Klacken beim Abdrücken war zu hören und das Ratschen, das beim Spannen des Bogens entstand. Er schoss alle sechs Bolzen ab. Alle erreichten das Ziel.

»Nicht schlecht.« Ferdinand holte den Zylinder. Drei Bolzen hatten ihn durchschlagen. Zwei ragten an der Rückseite zur Hälfte heraus.

Die Tatortfotos wirkten in Dühnfort nach. Mittlerweile hatte er auch die Obduktionsberichte gelesen. Unglaublich, welche Vernichtungskraft in dieser kleinen Armbrust steckte. Bei Ranghild Sander war der Bolzen in den Hals eingedrungen, war durch Luft- und Speiseröhre gejagt und knapp links der Halswirbelsäule zwei Zentimeter weit ausgetreten. Ranghild Sander war an ihrem eigenen Blut erstickt. Bei ihrem Mann Bruno hatte der Bolzen das Gehirn durchschlagen und war am Hinterhauptbein stecken geblieben. Todesursache: Schweres Hirntrauma mit massiver Blutung.

Ferdinand hob die Cobra. »Das waren keine Zufallstreffer in Passau. Der Täter kann mit dieser Waffe umgehen.«

»Was für ein Teufelszeug. Und das ist frei verkäuflich.« Dühnfort bedankte sich und verließ das LKA. Es war Mittagszeit, und die Kantine mied er nach Möglichkeit. Deshalb rief er Gina an. »Wie sieht’s aus? Hast du Zeit für eine gemeinsame Mittagspause?«

»Ja, das sollte klappen.«

»Was hältst du von der Gans am Wasser? Der Wind ist zwar ein wenig kühl, aber mit Jacke kann man es draußen gut aushalten.«

»Prima. Ich brauche frische Luft.«

Das Café Gans am Wasser lag im Westpark, zehn Minuten zu Fuß von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Ein Café war es eigentlich nicht. Eher ein Zwitter aus Kiosk und Biergarten. Das Lokal verfügte neben Plätzen unter freiem Himmel über ein mit Flohmarktmöbeln eingerichtetes Zelt und hatte was von Flower-Power und der frühen Tollwood-Zeit. Asiatische Sonnenschirme mit Troddeln spendeten Schatten, Windspiele klimperten in der Brise, und wer gerne etwas ungewöhnlicher Platz nehmen wollte, setzte sich in eine der halbierten Badewannen mit Sitzpolstern.

Als Dühnfort kam, war Gina schon da. Er entdeckte sie an ihrem Lieblingsplatz direkt am Ufer des Mollsees. »Grüß dich. Ich hab uns schon mal Burger und Pommes bestellt. Müssten gleich fertig sein.«

Auch wenn er kein Fan von Fast Food war, hier machte er eine Ausnahme. Denn hier war alles hausgemacht, auch Pommes und Burger. Das Gans war gut besucht. Gesprächsfetzen drangen von den anderen Tischen herüber. Der Wind schüttelte das Herbstlaub aus den Kronen der Kastanien, klimperte in den Windspielen und kräuselte die Wasseroberfläche des Sees. Dühnfort zog den Reißverschluss an seiner wattierten Jacke hoch. »Und, wie war dein Tag bisher?«

Gina arbeitete in der Abteilung für ungeklärte Altfälle und rollte derzeit den Fall ihrer vor über zwanzig Jahren verschwundenen Schulfreundin Hermine Lassak wieder auf. Doch im Moment bereitete ihr etwas anderes Sorgen. Ihr Vermieter war gestorben. »Frau Eberhardter von der Hausverwaltung hat angerufen. Die Beisetzung ist morgen um zehn auf dem Ostfriedhof. Sie hat uns informiert, falls wir daran teilnehmen wollen.«

»Sollen wir?«

»Ich habe eigentlich keine Zeit«, sagte Gina. »Du?«

»Ich auch nicht.«

»Wenn wir gehen, könnten wir seine beiden Nichten kennenlernen, die das Haus erben.«

»Sie werden uns ganz sicher nicht bei der Beisetzung verraten, was sie damit vorhaben.«

»Aber man könnte sich ein Bild von ihnen machen. Wie sie so drauf sind. Eher links-alternativ oder späte Frühkapitalistinnen, die das Maximum an Rendite rausholen wollen?«

»Was nützt uns das? Sie sind, wie sie sind. Wir werden früh genug erfahren, was sie mit dem Haus vorhaben.«

»Machst du dir keine Sorgen, dass sie es meistbietend an einen Investor verscherbeln?«

»Doch. Natürlich. Aber wir werden abwarten müssen.«

Ihre Nummer wurde aufgerufen. Gina holte am Kiosk die Burger. Er sah ihr nach. Natürlich verstand er, dass sie Angst hatte, ausziehen zu müssen. Die hatte er auch.

Nach dem Essen machte Dühnfort sich mit Gina auf den Rückweg in die Hansastraße. Unterwegs trafen sie Conny, eine Sachbearbeiterin bei der Mordkommission. Ihr Markenzeichen war eine kaum zu bändigende Fülle strohblonder Locken. Ihre vorherrschende Stimmung war Melancholie. Ein Mann war dafür verantwortlich. Bei einer Feier hatte Conny mal darüber gesprochen. Verliebt in einen Kerl, der offenbar nur ihre Freundschaft wollte und ab und zu Sex.

Sie grüßten sich, tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus und gingen weiter. »Sie sollte ihn in den Wind schießen«, sagte Gina. »Er nutzt sie nur aus.«

In der dritten Etage trennten sie sich. Er stieg noch eine höher und machte sich wieder an die Arbeit. Die Frage, ob die Leichen bewegt worden waren, beschäftigte ihn weiter. Auf der Suche nach einer Antwort vertiefte er sich bis kurz vor fünfzehn Uhr in die Akten.

Das erste Team-Meeting sollte gleich beginnen. Vorher brauchte er noch eine Ration Koffein. Er ging hinüber ins Café Tinound machte sich einen doppelten Espresso. Anja Bartholomei und Kim Eck, die heute den ersten Tag wieder da war, gesellten sich zu ihm.

»Due cappuccini, per favore.« Anja zwinkerte ihm zu. »Ist das okay?«

Er lachte. »Sicher. Gina überlegt ohnehin, ob sie mir zu Weihnachten einen Barista-Kurs schenken soll.«

»Hast du bestimmt nicht nötig.«

Kim schloss sich an. »Wir stellen uns jedenfalls gerne als Testpersonen zur Verfügung, um das zu klären.«

Vor ihrem Wechsel zur OFA war sie Kriminaltechnikerin gewesen. Eine ruhige und nachdenkliche Frau mit asiatischen Zügen, die sie ihrer vietnamesischen Großmutter verdankte.

Während er die Cappuccini zubereitete, versammelte sich das Team nach und nach am ovalen Tisch. Manfred kam als Erster. Ihm folgte Ben, der an der Längsseite mit Blick auf die Whiteboards Platz nahm und sich in seine Notizen vertiefte. Beatrice Mevél setzte sich ihm gegenüber und zog die Lesebrille aus einem Etui. Sie war Französin, lebte aber seit über dreißig Jahren in München. Ein Urlaubsflirt hatte sich zur Liebe ihres Lebens entwickelt. Vor dem Wechsel zur OFA hatte sie als Polizeipsychologin gearbeitet, daher hatte Dühnfort während seiner Zeit bei der Mordkommission häufiger mit ihr zu tun gehabt.

Tino gab Kim und Anja die Tassen. »Ein Cantuccino dazu?« Er reichte ihnen die Dose.

»Gerne. Danke«, sagte Anja. »Das wird heute keine lange Sitzung. Was die Kollegen sich da zusammengereimt haben, passt vorne und hinten nicht.«

Kim nickte. »Das ist ein merkwürdiger Fall. Mich irritiert, dass es kaum Spuren gibt. Entweder hat die Kriminaltechnik geschlampt – was ich nicht glaube, denn sie haben immerhin einen Teilfingerabdruck an der Schubladenunterseite gefunden, und so etwas wird gerne mal übersehen –, oder der Täter war sehr gut vorbereitet. Nur im Arbeitszimmer hat er einen Fehler gemacht. Die DNA-Spur …« Sie lachte. »Ich meine, zuerst verhüllt er sich wie eine ägyptische Mumie, um kein Haar zu hinterlassen, und dann schmiert er einen Popel an die Tischkante.«

Die Tür öffnete sich. Armin kam herein. »Und los geht‘s«, sagte Anja. Dühnfort gesellte sich mit seinen Kolleginnen an den Konferenztisch.

Eine Fallanalyse orientierte sich ausschließlich an Fakten. Sie erforderte analytisches Denken und die Fähigkeit, das eigene Ego hintanzustellen und im Team zu arbeiten. Der erste Schritt bestand im Sezieren des Tathergangs. Wie war die Tat abgelaufen? Welche Entscheidungen hatte der Täter getroffen? Welche Handlungen waren dafür notwendig gewesen, welche nicht? Welche Schlüsse ließen sich daraus ziehen? Dafür zerlegten sie das Tatgeschehen in sechs Abschnitte: Annäherung an das Opfer. Angriff. Kontrollgewinnung. Sexuelle Handlungen, falls gegeben. Die Tötung. Das Nachtatverhalten.

Seit ihrer Rückkehr aus Passau hatte sich das komplette Team der OFA durch Tatortbefund- und Obduktionsberichte gearbeitet, durch die Spurenakten, digitale Bildmappen und das Video vom Tatort. Durch Berge von Papier sowie etliche Gigabyte an Bild- und Videodaten.

Armin hängte das Sakko über den Stuhl. »Schön, dass wir komplett sind. Fangen wir an.«

Manfred nickte ebenfalls in die Runde, und Dühnfort bemerkte erstmals, dass er sich ähnlich wie Armin kleidete. Taubengrauer Anzug, weißes Hemd und Krawatte, was an und für sich nicht ungewöhnlich war. Doch Manfred trug ebenfalls eine amerikanische Pilotenuhr, die zu Armins Statur eines Footballspielers passte. Obendrein besaß Armin natürliche Autorität und war der Typ, der in einer Krisensituation ganz selbstverständlich Führung übernehmen würde. Ein Mann, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, wenn er einen Raum betrat. Während Manfred ein penibler Beamter mit einer Portion Ehrgeiz war.

Armin räusperte sich. »Beginnen wir mit der Annäherung an die Opfer. Es gibt offene Fragen. Beispielsweise die, wie der Täter zum Tatort gekommen ist. Niemand hat ihn bemerkt. Das ist ungewöhnlich. Zehn Häuser befinden sich am Ende dieser Sackgasse.«

Anja hob den Kugelschreiber. »Zugang hat er sich ja über die Gartenseite verschafft. Gegenüber befindet sich nur ein Spiel- und Bolzplatz und daran anschließend ein Schulhof. Da war um diese Zeit sicher niemand.«

Dühnforts Blick wanderte zu den Fotos des Wendehammers mit dem Garagenplatz und den Häusern. Eines wurde derzeit renoviert und stand leer. Im Haus daneben lebte ein schwerhöriges altes Ehepaar. Im dritten war der Bewohner auf Dienstreise, und die in den übrigen hatten geschlafen.

»Aber wie ist er zum Tatort gekommen?« Fragend blickte Armin zu Dühnfort.

»Entweder zu Fuß, dann wohnt er nicht weit entfernt. Oder mit einem Rad oder dem Auto. Wenn er mit einem Wagen gekommen ist, wird er ihn am Spielplatz abgestellt haben und das kurze Stück zu Fuß gegangen sein.« Dühnfort stand auf und trat ans Whiteboard. Dort hing der Lageplan der Siedlung mit zahlreichen Umgebungsfotos. Er deutete auf den Fußweg, der hinter dem Reihenhaus der Familie Sander vorbeiführte. Auf der anderen Seite befand sich der Spiel- und Bolzplatz, der ebenfalls am Ende einer Sackgasse lag. Dort gab es drei Parkbuchten. »Der Zaun zwischen Spielplatz und Fußweg ist nicht hoch. Man kann ihn problemlos übersteigen, genau wie den Gartenzaun der Sanders. Allerdings wurden dort keine Spuren gefunden.«

Ben hob die Hand. »Was mich irritiert: Es gibt keine weiteren Spuren im Garten oder auf der Terrasse.«

Nun meldete sich Kim. »Das ist mir auch aufgefallen. Nur an der Tür. Da haben die Kollegen noch ein Stück Latex am Rahmen gefunden, wie es für Einmalhandschuhe verwendet wird. Etwa zwei mal vier Millimeter groß. Ich vermute, dass wir den Teilfingerabdruck diesem Loch im Handschuh verdanken. Außerdem haben sie ein paar Krümel entdeckt. Sägemehl vermischt mit einem Kunststoff, wie er für Pressspanplatten verwendet wird. Könnte an der Kleidung gehaftet haben oder an den Schuhen.«

»Weder den Fußweg noch den Spiel- und Bolzplatz entdeckt man im Vorbeifahren«, sagte Armin. »Das war kein spontaner Einbruch. Der Täter muss das Haus vorher ausgekundschaftet haben.«

Manfred tippte auf die Tischplatte. »Vielleicht war es jemand aus dem Umfeld. Ein Schüler oder erboste Eltern.«

»Schüler machen Streiche«, sagte Ben. »Chinaböller im Briefkasten hochgehen lassen. Den Auspuff mit einem Tennisball abdichten. Solche Sachen. Die steigen nicht mit einer Armbrust bewaffnet nachts ein. Außerdem wurde die Terrassentür professionell aufgehebelt. Zeig mir den Schüler, der das kann.«

Beatrice meldete sich zu Wort. »Für einen Schülerstreich ist die Tatausführung auch zu kaltblütig und die Vorbereitung zu gut. Er hat kaum Spuren hinterlassen. Dann eher ein ehrgeiziger Vater oder eine gekränkte Mutter.«

Dühnfort schloss sich dieser Meinung an. »Was mich beschäftigt, ist die Durchsuchung des Hauses nach Beute, die nicht stattgefunden hat.«

Alle nickten, bis auf Manfred.

»Der Täter ist zielsicher in Bruno Sanders Arbeitszimmer marschiert und hat nur eine Schublade geöffnet. Die einzige, in der Wertsachen lagen. Das lässt nur eine Interpretation zu: Der Täter kannte sich aus. Nicht der große Unbekannte ist eingebrochen, sondern jemand, der vor der Tat mindestens einmal im Haus war oder einen Informanten hatte. Und damit ist Eichenauers These vom großen Unbekannten vom Tisch.«

In diesem Punkt waren sie sich alle einig, auch Manfred schloss sich an.

»Machen wir weiter mit der Annäherung an die Opfer«, sagte Armin. »Beginnen wir mit dem ersten, Bruno Sander. Wie belastbar ist die Theorie, er hätte den Einbrecher überrascht, und der habe ihn daraufhin mit der Armbrust bedroht? Sander versucht ins Schlafzimmer zu seinem Handy zu gelangen, um einen Notruf abzusetzen. Sein Verfolger holt ihn ein, bevor Sander die Schlafzimmertür abschließen kann und erschießt erst ihn, dann dessen Frau. Weshalb überhaupt eine Armbrust? Das ist schon eine ungewöhnliche Waffe.«

Dühnfort war zu anderen Schlüssen gelangt. »Ich teile Eichenauers Überlegung. Jeder kann sie kaufen. Er besitzt also keinen Waffenschein und verfügt auch nicht über Beziehungen zu kriminellen Kreisen, um sich eine Pistole zu besorgen.«

»Vielleicht wollte er auch nur keinen Lärm machen«, warf Manfred ein.

»Darauf wollte ich gerade kommen. Sowohl das Spannen als auch das Abfeuern geschieht beinahe lautlos. Zwei Schüsse. Zwei Treffer. Der Täter beherrscht diese Waffe. Auch in einer Stresssituation. Er hat damit geübt und besitzt sie vermutlich schon länger. Aber die Tat muss anders abgelaufen sein, als Eichenauer annimmt. Ich glaube, dass der Täter nicht im Haus war. Er hat entweder vom gegenüberliegenden Garagendach geschossen oder aus dem Haus gegenüber, das derzeit renoviert wird.«

Manfred stieß ein Schnauben aus. »Waren wir uns nicht gerade einig, wie er eingestiegen ist?«

»Als er die beiden tödlichen Schüsse abgegeben hat, war er ziemlich sicher nicht im Haus«, korrigierte sich Dühnfort. »Später möglicherweise schon. Ich schließe das erstens aus der Lage der Leichen. Vorausgesetzt, sie wurden nicht bewegt, kamen die Schüsse nicht aus Richtung Tür, sondern aus Richtung Fenster, und das stand offen. Und zweitens liegt es an den Schusskanälen.«

Beatrice nickte. »Ach ja, genau. Mir ist das im Obduktionsbericht auch aufgefallen. Sie verlaufen in einer leichten Steigung, und ich habe mich gefragt, ob der Täter vielleicht gekniet hat. Aber wenn er auf dem Garagendach lag, dann ergibt das einen Sinn.«

Dühnfort erklärte anhand der Tatortfotos und der Lageskizze seine Theorie des Tatablaufs. »Vermutlich war die Frau das erste Opfer. Das Ehepaar Sander ging – laut Aussage der Nachbarn – meistens zwischen zehn und halb elf zu Bett und schlief so gut wie immer bei offenem Fenster. Ich nehme an, dass Ranghild Sander das Fenster wie jeden Abend öffnete. Ihr Mann lag zu diesem Zeitpunkt bereits im Bett. Man sieht, dass es benutzt wurde.«

Dühnfort deutete auf die Aufnahme, die das Doppelbett zeigte. »Auf seiner Seite sind Abdrücke im Kopfkissen, und die Decke ist zerwühlt, während auf ihrer Seite die Bettdecke nur zurückgeschlagen ist. Keine Abdrücke des Körpers. Sie öffnet also das Fenster. Auf dem Garagendach gegenüber liegt der Täter, der auf diesen Moment gewartet hat und abdrückt. Der Bolzen trifft sie in den Hals. Sie taumelt zurück und versucht, den Fremdkörper aus dem Hals zu ziehen. Ihr Mann springt alarmiert aus dem Bett. Vermutlich versteht er gar nicht, was passiert ist. Der Bolzen kam lautlos. Er erkennt nur, dass seine Frau Hilfe braucht. Noch bevor er bei ihr ist, wird er getroffen. Genau in diesem Moment sieht er zum Fenster. Der Bolzen tritt im Auge ein und jagt durchs Gehirn. Sander ist sofort tot, während bei ihr der Tod erst Minuten später eintritt. Ihre dem Raum zugewandte Lage ist so erklärbar. Für kurze Zeit war sie noch handlungsfähig. Er dagegen starb, unmittelbar nachdem er getroffen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er der Tür den Rücken zugewandt. Ergo kann der Schuss nicht aus dieser Richtung gekommen sein.«

Anja klopfte kurz mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »So wird ein Schuh daraus. Mir hat die Geschichte vom Einbrecher von Anfang an nicht gefallen. Wenn deine Annahme stimmt, ging es nie um Geld, sondern um Bruno und Ranghild Sander. Ihr Tod ist nicht Kollateralschaden eines Einbruchs. Das war ein geplanter Doppelmord.«

»Und wie hat der Täter in der Dunkelheit sein Ziel erkannt?«, fragte Manfred. »Im Schlafzimmer brannte kein Licht.«

»Irrtum. Ihr Nachttischlämpchen war eingeschaltet. Außerdem stehen auf dem Garagenplatz zwei Straßenlaternen «, sagte Dühnfort. »Das Licht dürfte ausreichend gewesen sein, um Ranghild Sander am Fenster zu erkennen.«

»Und ihn? Er starb zwei Meter entfernt in einem beinahe dunklen Zimmer.«

»Vielleicht mit einem Restlichtverstärker.«

Manfred lachte. »In Chicago vielleicht, aber doch nicht in Niederbayern.«

Armin stützte die Arme auf. »Interessante Hypothese. Lasst sie uns überprüfen.«

Das taten sie in den nächsten Stunden. Sie diskutierten alle möglichen Szenarien. Armin hielt als Advocatus Diaboli dagegen, und Manfred schloss sich ihm an. Um sechs Uhr abends hatten sie die Hypothese nach allen Richtungen abgeklopft und sich geeinigt, dass der Doppelmord nicht Ergebnis eines schiefgegangenen Einbruchs war, sondern von Anfang an das Ziel des Täters.

Den Einbruch interpretierten sie zunächst als Versuch, eine falsche Fährte zu legen. So ließ sich außerdem der spurenarme Tatort erklären. Im Schlafzimmer war der Mörder nie gewesen. Irritierend war allerdings die DNA-Spur in Form eines Nasenpopels, den der Mörder so leichtfertig hinterlassen hatte. »Das passt nicht zu einem planenden und umsichtig agierenden Mann«, meinte Ben. »Ebenso wenig wie der laienhafte Vertuschungsversuch. Ich kriege das jedenfalls nicht zusammen. Ihr etwa?«

»Und wenn der Popel nicht vom Mörder stammt?«, schlug Dühnfort vor. »Es wäre möglich, dass in der Tatnacht ein anderer eingebrochen ist. Der Täter hatte eigentlich keinen Grund, ins Haus einzusteigen …«

»Natürlich hatte er einen«, fiel Manfred ihm ins Wort. »Der Diebstahl ist der Versuch, vom wahren Motiv abzulenken. Darin waren wir uns doch grad einig.«

»Aber er barg das Risiko, Spuren zu hinterlassen.«

»Damit hat Tino recht«, sagte Kim. »Sein eigentliches Ziel war erreicht. Ranghild und Bruno waren tot. Also ich würde in dem Fall zusehen, dass ich möglichst schnell verschwinde, und zwar ohne Spuren zu hinterlassen und ohne das Risiko einzugehen, doch noch bemerkt zu werden.«

»Das hieße, dass zwei Personen unabhängig voneinander am Tatort waren, und zwar zu verschiedenen Zeiten«, sagte Armin. »Wie wahrscheinlich ist das?«

»Äußerst unwahrscheinlich«, sagte Manfred. »Mit dieser Hypothese werden wir uns lächerlich machen.«

Als Dühnfort an diesem Abend nach Hause kam, empfing ihn seine Tochter Chiara im Wohnungsflur mit einem Juchzen: »Papi!« Wobei sie das I in nicht enden wollende Länge zog, während sie sich gleichzeitig in seine ausgebreiteten Arme warf.

»Hallo, Maus!« Er hob sie auf den Arm. »Na, war der Felix heute wieder nett zu dir, oder muss ich ihn auffressen?«

Felix war Chiaras Kindergartenfreund. Die beiden waren ein Herz und eine Seele und wild entschlossen, später Prinz und Prinzessin zu werden, damit sie heiraten konnten. Doch gestern hatte Felix zweierlei erklärt. Erstens, dass er lieber Seeräuber sein wolle. Und zweitens, dass sie dann nicht heiraten konnten, denn es gab keine Seeräuberinnen. Chiara hatte Tränen vergossen, bis Dühnfort ihr erklärte, dass Mädchen alles konnten, was Jungs konnten. »Auch Seeräuber sein?«, hatte Chiara gefragt. – »Na klar, warum denn nicht?«

»Du tannst Flix aber nicht auffressen«, erklärte sie nun. »Du bist ja tein Tiger.«

»Ja … Da hast du wohl recht.«

»Papi? Was ist ein Mongo?«

Die Frage versetzte ihm einen unerwarteten Stich, obwohl er gewusst hatte, dass sie früher oder später kommen würde. Aber nicht in dieser Form. Eher, dass Chiara fragte, weshalb sie anders war als andere Kinder. Bisher war ihr das nicht bewusst. »Du meinst wohl Mango. Das ist eine ganz leckere Frucht. Sehr süß und exotisch. Etwas für Prinzessinnen wie dich.«

»Der Flix hat aber Mongo gesagt.«

Dühnfort presste die Kiefer zusammen. Woher hatte der Junge das? Auf seinem Mist war das sicher nicht gewachsen. »Da kann er jetzt aber froh sein, dass ich kein Tiger bin, sonst müsste ich ihn doch fressen. Wo ist denn die Mama?«

»In der Tüche. Sie macht Abendbrot.« Das O von Brot wurde ebenso lang gezogen wie das I bei Papi.

Tatsächlich stand Gina am Herd. Ein ungewohnter Anblick.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.