Gefallener Held - Manuel Blötz - E-Book

Gefallener Held E-Book

Manuel Blötz

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Beschreibung

Am Timmendorfer Strand wird auf ein Hotel ein Terroranschlag verübt. Bei der Explosion wird alles in Schutt und Asche gelegt und es gibt zahlreiche Todesopfer. Michael Logat beginnt nach den Tätern zu fahnden und gerät plötzlich selbst in den Verdacht, den Anschlag verübt zu haben. Anstatt seine Unschuld beweisen zu können, wird er von einer Terrorgruppe entführt und wird selbst zum meistgesuchtesten Terroristen der Welt. Er muss sich entscheiden, zwischen dem Leben von unschuldigen Menschen oder seiner Familie Für ihn beginnt ein schier aussichtsloser Kampf...

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren. »Benjamin Franklin«

Inhaltsverzeichnis

Ostholstein, Woltersteich Frühsommer 2016

Kiel Gaarden, Oktober 2016

6 Monate früher

Blickstedter Burger, Juni 2016

B76 Richtung Timmendorfer Strand

Bas Khira, Nord Irak

Hotelruine, Timmendorfer Strand

Flugzeugträger USS Nimitz, persischer Golf

Bas Khira, Nord Irak

Bundesnachrichtendienst Berlin, 2015

Fernsehstudio Hamburg

Bas Khira, Nord Irak

Timmendorfer Strand 2016

Kiel. Mein Büro, Juli 2016

Zu Hause 2016

Völlige Wende

Bas Khira, Nord Irak

Dana

Polizeirevier Kiel

Bas Khira, Nord Irak

Blickstedter Burger

Bas Khira

Polizeirevier Kiel

Bas Khira, Nord Irak

Polizeirevier Kiel

Bas Khira

Kronshagen

Fischhafen Eckernförde

Kiel

Irgendwo in Dänemark

Büro von Christian Ahlfes, Fischhafen Eckernförde

Irgendwo in Dänemark

Im Haus von Florian Kontz

Irgendwo in Dänemark

Fernsehstudio Kiel

Güterbahnhof Kiel

Untersuchungshaft, Polizeidienstelle Kiel

Polizei Kiel

Uni-Klinik Kiel

Ostholstein, Woltersteich Frühsommer 2016

»Und wie ist es jetzt?« Er hatte beide Hände an die Satellitenschüssel gelegt und drehte diese vorsichtig von links nach rechts. Es war ein Sonntag im Frühsommer und er war vor ein paar Stunden zusammen mit seiner Frau auf dem Campingplatz in Ostholstein angekommen.

Es lief wie jedes Jahr streng nach Plan. Sie luden zusammen ihre Sachen aus, er stieg auf das Dach des Wohnwagens und suchte den Himmel nach den Fernsehprogrammen ab, so dass sie abends den Tatort im Ersten sehen konnten. Sie kochte in der Zeit das Abendessen und sah hin und wieder auf den kleinen Fernseher in der Ecke, um zu prüfen, ob das Bild besser oder schlechter wurde.

Von hier oben hatte er einen herrlichen Ausblick. Er freute sich jedes Mal darauf, wenn sie ans Wasser kamen. Die Sonne stand schon etwas tiefer und der Woltersteich lag in den Farben des Abendhimmels vor ihm. Wie schwarze Oliven auf einer Pizza, stachen die kleinen Holzboote aus dem rötlich-gelb schimmernden See heraus.

An warmen Tagen versammelten sich am Steg die Jugendlichen vom Campingplatz und aus dem Ort. Sie tranken Bier, rauchten heimlich und sprangen vereinzelt ins Wasser. Auch das hatte sich in all den Jahren, die die beiden Rentner hierherkamen, nicht verändert. Es gefiel ihm zwar nicht, dass die Kids in so jungen Jahren schon Alkohol tranken oder Zigaretten rauchten, aber dieses jährlich wiederkehrende Ereignis gab ihm ein warmes Gefühl der Vertrautheit.

»Immer noch nicht gut.«, rief ihm seine Frau zu.

Er drehte die Schüssel weiter nach rechts.

»Es wird besser aber... wer, wer sind Sie?« Sie gab einen kurzen Schrei ab.

Der Wohnwagen wurde plötzlich kräftig durchgeschüttelt. Krampfhaft hielt er sich an der Satellitenschüssel fest, doch seine Kraft reichte nicht aus. Er verlor das Gleichgewicht. Seine rechte Hand hatte noch den Rand der Satellitenschüssel im Griff, doch sie bot ihm keinen Halt. Instinktiv zog er seinen Arm noch nach vorne, um den Sturz abzufedern, doch es war zu spät. Fast ungebremst knallte er mit der linken Seite auf das Dach und schlug mit dem Kopf auf die Dachluke. Für ein paar Sekunden verlor er die Orientierung und rutschte über den abgerundeten Untergrund des Wohnwagendaches auf den Rand zu. Dort gab es keine Reling, die ihm hätte Halt geben können. Seine Hände suchten vergeblich nach einem festen Punkt, an dem er sich festhalten konnte, fanden jedoch nichts als Leere. Wie in Zeitlupe rutschte er über das Ende des Daches. Eben noch fühlte er den festen Boden unter sich und dann rauschte die Seitenwand des Wohnwagens an ihm vorbei, während er in Richtung Boden herunterfiel. Er hörte ein Knacken, als er auf die trockene, harte Erde aufschlug.

Der Mittelfinger der rechten Hand stand merkwürdig von der Hand ab und auch aus der Schulter meldete ein starkes Stechen, dass es dort eine Verletzung gab.

Für kurze Zeit sah er Sterne und versuchte sich zu orientieren. Er hob leicht den Kopf und konnte unter dem Wohnwagen hindurchsehen. Er sah die Füße seiner Frau. Sie hingen in der Luft und schlugen in alle Richtungen aus, während links und rechts neben ihr jeweils zwei Beine zu sehen waren, die in schwarzen Hosen steckten.

Er konnte sie gedämpft schreien hören. Seine Ohren klingelten. Er drückte sich nach oben, ignorierte den Schmerz und versuchte aufzustehen. Wackelig kam er auf die Beine. Er musste ihr helfen. Er taumelte um den Wohnwagen herum. Seine Knie gaben nach und er kippte zur Seite. Er landete erneut auf dem harten Untergrund. Schnell raffte er sich wieder auf. »Reiß dich zusammen!«, schrie er sich selbst innerlich zu. Er erreichte die Front des Anhängers, doch es war zu spät. Gerade als er an der Ecke ankam, sah er, wie die Beine seiner Frau im Fond eines schwarzen Geländewagens verschwanden. Ein letzter Augenkontakt, ein letztes Kreuzen ihrer Blicke, dann war sie weg. Die Tür wurde zugeschlagen und das Auto fuhr mit durchdrehenden Rädern davon. Alles was es hinterließ, war Staub.

Wer war das und warum hatten sie seine Frau entführt?

Panik machte sich in ihm breit. Er konnte dem Fahrzeug nur noch hinterher starren. Der Staub legte sich und es wurde ruhig um ihn. Er war jetzt allein. Ganz allein.

Kiel Gaarden, Oktober 2016

Marias Panik hatte sich bereits in einen Bereich gesteigert, an dem es für sie fast nicht mehr möglich war, sich zu kontrollieren. Sie atmete hektisch und der Puls war jenseits eines gesunden Taktes angelangt. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich in einen dunkelroten Ton verwandelt und sie spürte die Hitze, die in ihr aufstieg.

Immer wieder blickte sie auf ihr Handgelenk, dahin wo der kleine schwarze Sekundenzeiger unerbittlich seine Runden über das weiße Ziffernblatt drehte.

Sie hatte die Uhr von ihrer Tochter zum vierzigsten Geburtstag geschenkt bekommen und auch wenn sie wusste, dass es ein Plagiat war, das sie aus der Türkei mitgebracht hatte, liebte sie sie.

Nur nicht an diesem Tag. Heute hasste sie das kleine goldene Ding.

»Wo sind diese scheiß Schlüssel?« Sie schrie ihre Wut laut raus und es befreite sie ein wenig.

Ihre Haut fing unter dem dicken roten Wollpullover an zu jucken. Sie kratzte sich und überlegte, ob sie ihn einfach ausziehen und zu Hause lassen sollte. Doch es war ihr Glückspullover und heute konnte sie jedes Glück gebrauchen.

»Warum hat sich heute alles gegen mich verschworen?« Maria begann an ihrem Verstand zu zweifeln. Sie hatte sogar schon ihre Katze in Verdacht und durchsuchte den Korb in der Ecke. Spikey war ein alter Kater, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Selbst dann nicht, als Maria ihn zusammen mit seiner Kuscheldecke hochhob, um zu sehen, ob sich ihre Schlüssel unter ihm befanden. Aber sie blieb erfolglos.

Sie guckte unter die Couchkissen, zerwühlte das Bett, sogar im Ofen hatte sie schon nachgesehen.

»Scheiß drauf, dann gehe ich halt zu Fuß!«, sagte sie laut zu sich selbst und schnappte sich ihre Tasche, während sie zur Haustür eilte.

Maria war schon immer eine Chaotin. Ihre Wohnung sah aus, als wäre sie von der Mafia durchsucht worden. Pizzaschachteln stapelten sich in ihrer Küche und ein riesiger Besteckhaufen lag in der Spüle. Sie wusch ihr dreckiges Geschirr nur dann, wenn sie kein sauberes mehr zur Verfügung hatte. Wobei sie nur in seltenen Fällen Teller benutzte. Die meisten Gerichte bestellte sie über diverse Lieferanten und aß diese dann direkt aus der Packung.

Ihre Wohnung war im dritten Stock eines alten Mehrfamilienhauses untergebracht und war nur sehr spärlich eingerichtet. In ihrem Schlafzimmer stand ein altes Holzbett. Daneben hatte sie einen Nachttisch von Ikea hingestellt, auf dem eine kleine Lampe und ein USB-Kabel zum Aufladen ihres Handys lagen. Das Wohnzimmer bestand aus einer Zweiercouch, einem Glastisch und einer Kommode, auf dem der Fernseher stand. Ein hohes Holzregal zierte die Wand neben dem Eingang zum Wohnzimmer. Bis auf ein Foto ihrer Tochter in einem silbernen Rahmen, waren die Fächer jedoch leer. Das Bild zeigte Katharina, wie sie auf einer Schaukel, saß, die an einem großen Apfelbaum hing. Sie grinste und zeigte damit eine entzückende Zahnlücke. Sie hatte viele kleine Sommersprossen und leuchtend, rotes Haar. Sie trug ein Sommerkleid. Maria erinnerte sich gerne an diesen Moment. Sie waren so glücklich an diesem Tag.

Ihre restlichen Habseligkeiten lagen noch immer in den Umzugskartons, die sie in der Ecke des Zimmers abgestellt hatte.

Noch vor zwei Monaten hatte sie in einem Haus bei Neuwittenbek, hoch im Norden von Schleswig-Holstein gewohnt.

Nachdem ihr Mann sie und ihre Tochter vor zwanzig Jahren sitzen ließ, war die kleine Katharina der einzige Grund dafür, weshalb sie das Haus behalten hatte. Sie hatte die Kleine im Alter von zweiundzwanzig Jahren bekommen. Sie heirateten pflichtbewusst, in der Hoffnung, dass sich alles von alleine zum Guten wenden würde. Doch es sollte nicht sein. Max, ihr Exmann, war selbst erst einundzwanzig und sie glaubte, dass er Torschlusspanik bekam, denn er flog eines Tages mit einem Freund zu einem Männerwochenende nach Mallorca und verschwand von der Bildfläche. Nur Marco, sein bester Freund kehrte zurück. Er meinte, sie wären im Bierkönig versackt und hätten dort so viel getrunken, dass ihm am nächsten Morgen jegliche Erinnerungen nach 22 Uhr abhandengekommen waren. Er wartete bis zum letzten Moment im Hotel auf Max, doch der tauchte nicht auf. Auch am Flughafen in Palma ließ Marco ihn mehrfach ausrufen, doch irgendwann hob der Flieger in Richtung Hamburg ab und seitdem verlor sich Max Spur. Die Polizei begann nach ihm zu suchen, da Maria Unterhalt zustand, gab die Suche aber alsbald auf, als sich das Gerücht breitmachte, Max wäre im Ausland getürmt und dort untergetaucht. Seitdem hatten Maria und auch seine ehemaligen besten Freunde, nichts mehr von ihm gehört.

Dabei begann alles gut. Kurz vor seinem Verschwinden kauften die beiden sich einen alten Resthof für sehr wenig Geld. Es gab einen schönen großen Garten, in dem Katharina zuerst mit ihren Freunden spielen und später dann mit ihnen Partys feiern konnte. Sie würde in den zahlreichen Schuppen verstecken Spielen, oder die Wände von innen mit Kreide bemalen, um dann schöne Abenteuer zu erleben. Doch dann war sie plötzlich alleine.

Als Katharina sechszehn wurde, lernte sie schließlich Lenny kennen und verbrachte fast die ganze Zeit bei ihm und seinen Eltern. Das Haus fühlte sich immer verlassener an und auch der große Garten sowie die Schuppen verwahrlosten zusehends. Maria zog sich in das Wohnzimmer des Hauses zurück und verbrachte dort die Tage wie auch die Nächte meistens auf der Couch. Sie konnte sich nicht aufraffen, weder um das Haus zu putzen, den Rasen zu mähen oder auch mal aus den eigenen vier Wänden zu kommen, um jemanden kennenzulernen. Nur zum Einkaufen verließ sie das Grundstück. Dabei war sie keine unattraktive Frau. Sie hatte lange blonde Haare, große blaue Augen, war schlank und sie hatte Sinn für Humor.

Katharina begann eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Lenny, sein richtiger Name war Lennart, wollte Fachinformatiker werden. Er hatte ein Händchen für Technik und baute schon früher seine eigenen kleinen Computer.

Die beiden waren ein Jahr lang ein Paar, bis Katharina plötzlich beschloss, Zeitsoldatin zu werden. Der Beruf als Verkäuferin wäre ihr zu langweilig und sie wollte schon immer mehr von der Welt sehen. Deshalb ging sie zur Marine. Von da an war sie viel auf Schiffen unterwegs und kam nur noch selten nach Hause. Erst zerbrach die Beziehung zu Lenny daran und auch für Maria wurde die beklemmende Leere im Haus immer erdrückender. Sie engagierte einen Makler und suchte sich eine Wohnung in der Innenstadt von Kiel.

Das war vor zwei Monaten und seitdem hatte sie nur das Nötigste ausgepackt und nahm sich vor den Inhalt der Kartons erst auszuräumen, wenn Katharina von ihrem aktuellen Auslandseinsatz aus Neuseeland wieder zurückkehrte.

Maria rechnete nicht damit, dass Katharina wieder fest bei ihr einziehen würde. Die Frauen in ihrer Familie waren schon immer jung flügge. Sie selbst hatte sich sehr früh von ihrer Mutter gelöst und war von Berlin nach Kiel gezogen. Sie hasste das Großstadtleben und es zog sie ohnehin immer an die Ostsee. Sie hatte als Jugendliche viel gelesen und am liebsten las sie die Küstenkrimis. Eine Lesereihe aus Büchern verschiedenster Autoren, die sich ausnahmslos immer an der Küste Schleswig-Holsteins abspielten. Seitdem träumte sie von einem Leben am Meer.

Als sie Katharinas Vater heiratete, brach der Kontakt zu ihrer eigenen Mutter komplett ab. Ihre Mutter verachtete Max. Nannte ihn einen Versager. Im Nachhinein, so dachte Maria, hatte ihre Mutter Recht gehabt, aber sie würde den Teufel tun und ihr diesen Sieg gönnen. Bis heute hat sie nie wieder etwas von ihr gehört und sie hatte auch nicht das Bedürfnis danach. Selbst von der Enkeltochter hatte sie ihr gegenüber nichts erwähnt und Katharina hatte sie erzählt, dass ihre Oma früh gestorben sei.

Vor vier Wochen kündigte Maria ihren Job bei einem ambulanten Pflegedienst. Eigentlich mochte sie ihre Arbeit. Es störte sie nicht, dass sie alten Menschen bei ihrer Notdurft helfen musste oder diese reinigen, wenn sie es nicht mehr bis zur Toilette schafften, aber in den letzten Jahren verlangte man ihr zu viel ab. Sie schob eine Überstunde nach der anderen. Man versprach ihr, dass sie dafür entlohnt werden würde, doch ihr Chef konnte das Geld nie aufbringen. Irgendwann kam sie selber kaum noch von der Couch hoch, weil ihr Körper überanstrengt war.

Täglich suchte sie in der Zeitung nach einem neuen Arbeitgeber und schließlich fand sie eine Stellenanzeige einer Arzneimittelfirma, die eine Verkäuferin im Innendienst benötigte. Sie bewarb sich dort und kündigte, ohne zu wissen, ob sie den Job überhaupt bekommen würde, bei dem Pflegedienst. Maria hatte ihr altes Leben satt und wollte einen Neuanfang. Koste es, was es wolle. Jetzt und hier! Egal wie!

Sie hatte Glück, denn heute sollte sie zu einem Vorstellungsgespräch in die Firmenzentrale kommen, doch ihr Schicksal schien ihr wieder mal einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Die Regentropfen hämmerten gegen das Balkonfenster und der tiefgraue Himmel ließ vermuten, dass sich das Wetter nicht so schnell ändern würde.

Maria riss die Haustür auf und in dem Moment blickten sie ihre Schlüssel an.

War sie gestern so betrunken gewesen?

Ihre beste Freundin hatte sie in ihr Stammlokal eingeladen und sie tranken ein paar Gläser Wein. Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, nur für eine Stunde dorthin zu fahren. Kurz nach ein Uhr nachts fuhr sie dann nach Hause und musste beim Hineingehen in die Wohnung die Schlüssel im Schloss stecken gelassen haben.

Ihr Handy begann zu klingeln. Maria drückte den Anruf weg, zog ihren Schlüssel aus der Tür und spurtete die Treppen hinunter. Während sie auf die Haustür zueilte, trat ihre Nachbarin in den Flur und sah sie mit einem argwöhnischen Blick an. Frau Rixen war eine alte Frau und Maria glaubte, dass sie jenseits der hundert Jahre angekommen sein müsste.

»Was machen Sie hier für einen Lärm?«, keifte sie gleich drauf los. »Nicht nur, dass Sie letzte Nacht schon den Eindruck hinterließen, als wenn sie eine Herde Kühe durch das Haus treiben, sie lassen uns nicht mal heute über Tag ruhen!«

»Ich habe keine Zeit Frau Rixen. Wir sprechen später.« Maria öffnete die Haustür und ließ die alte Dame einfach links liegen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Standpauke.

Sie lief über den Bürgersteig zu ihrem Auto, dass sie trotz ihres Zustandes aus der letzten Nacht sauber an den Straßenrand geparkt hatte. Sie nahm sich vor, nicht nochmal betrunken Auto zu fahren, immerhin war ein Führerschein Voraussetzung für ihren neuen Job.

Es waren nur zehn Meter von der Haustür bis zu ihrem alten Ford Fiesta, aber in der Sekunde, in der sie auf dem Fahrersitz Platz nahm, waren ihre Haare und ihre Jacke vom Regen durchnässt. Sie vermisste die Garage, in die sie direkt aus ihrem Haus gehen konnte.

Sie steckte den Schlüssel in das Schloss und startete den Motor. Sie stieß ein Stoßgebet in Richtung Himmel, denn sie hatte befürchtet, dass ihr alter Ford ihr heute auch noch einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Im Nachhinein würde sie sich ohrfeigen, dass sie die ganzen Anzeichen ignoriert hatte, wenn sie gewusst hätte, dass sie direkt in die Arme eines Killers rennt.

Er hatte den Kragen seines Mantels hochgestellt und vergrub sein Gesicht dahinter. Nicht, weil er fror. Er wollte nicht erkannt werden. Die schwarze Baseballcap mit dem roten Logo der New York Yankees, war bis tief in die Stirn gezogen.

Er blickte sich um, ob ihn jemand beobachtete. Seine Mission war wichtig und er musste sie zu Ende bringen. Komme, was wolle. Er würde nie mehr frei sein, wenn er jetzt scheiterte.

Leichte Stromschläge zogen durch seinen Körper, so dass er immer wieder zusammenzuckte. Er hatte seit Tagen kaum geschlafen, er war zu nervös. Wenn er seine Augen schloss, sah er seine Frau und seine kleine Tochter vor sich. Er hatte beide in Gefahr gebracht und jetzt musste er es zu Ende bringen, damit sie wieder frei waren. Aber er durfte nicht entdeckt werden. Er musste sich verstecken, weil man schon nach ihm suchte.

Seine Augen waren gezeichnet vom Schlafmangel, so dass sie unter der Mütze wie zwei bedrohliche schwarze Punkte aussahen. Sehr aufmerksam guckte er sich in der Gegend um, jede Person, die sich länger als nötig an einem Ort aufhielt, war verdächtig. Keiner würde sich ohne Grund bei diesem Regen und dem starken Wind freiwillig draußen herumtreiben. Er fühlte sich ohnehin schon verfolgt und an diesem Ort, zu dieser Zeit, würde man ein ganz besonderes Augenmerk auf die Personen legen, die sich um das zwölfstöckige Bürogebäude bewegten.

Im obersten Stockwerk gab es ein Restaurant, von dem man die gesamte Kieler Förde überblicken konnte. Es war ein wunderschönes Panorama und an Sommertagen konnte man sich dort ewig aufhalten. Er hatte dort oft mit seiner Familie gegessen, oder etwas mit Freunden getrunken.

Die Wassermassen drängten sich am Randstein entlang bis hin zu den zahlreichen Gullis, welche sich damit abmühten, die Unmengen an Flüssigkeit in sich aufzunehmen. Sein Augenmerk lag auf den vorbeifahrenden Fahrzeugen. Sie hätte schon längst hier sein sollen. Hatte man sie gewarnt? War sie misstrauisch geworden? Seine innere Unruhe wurde mit jeder Sekunde größer. Er hörte das Blut durch seine Ohren rauschen. Das Bild vor seinen Augen begann an den Rädern zu flackern. »Bitte nicht jetzt.«, flehte er innerlich.

Dann fuhr er vorbei. Er erkannte die markante Form des alten Ford Fiestas und das unverwechselbare Klappern und Klötern des Motors. Der Blinker wurde angeschaltet und zeigte an, dass der Wagen auf den Abbieger in ein Parkhaus zusteuerte. Er würde dort nicht hineinfahren können, da es direkt unter dem Hotel stand, welches durch Sicherheitskräfte umringt war. Es waren mächtige Staatsdiener zu einer Pressekonferenz in diesem Gebäude und sie würden niemanden durchlassen, der nicht angemeldet war.

Schnellen Schrittes steuerte er auf das Auto zu, welches jetzt mit laufendem Motor vor der geschlossenen Schranke stand und etwas trotzig wirkte, so als würde es darauf warten, dass man es doch hineinließ. Die Bremslichter leuchteten in einem grellen Rot durch die dunkle nasse Luft. Er erreichte die Beifahrertür, riss sie auf und mit einer eleganten Bewegung schwang er sich auf den Beifahrersitz.

»Losfahren.«, bellte er. Dabei guckte er direkt in die weit aufgerissenen Augen der eingeschüchterten Fahrerin. »Haben Sie mich nicht verstanden? Losfahren!«

»W...w...wohin denn?«, entgegnete sie stotternd.

»Erstmal einfach geradeaus. Ich sage dann, wo Sie abbiegen sollen.«

»Ich kenne Sie. Sie sind...« Ihr Gehirn suchte fieberhaft nach dem Namen. Sie erkannte ihn. Sie hatte ihn schon oft gesehen, aber wie er hieß, das war ihr entfallen.

»Leider bin ich mittlerweile so etwas wie ein Prominenter. Glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, dass ich es nicht freiwillig zu diesem Bekanntheitsgrad geschafft habe. Und es tut mir sehr leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen.« Ihr Gefühl sagte ihr, dass er die Worte ernst meinte, auch wenn er eine Pistole auf sie richtete. Sie setzte den Blinker nach links und fädelte in den fließenden Verkehr ein. Direkt in die Richtung der B76. In die Richtung ihres Endes.

Ein paar Minuten später fuhr der Fiesta auf den Parkplatz am alten Kieler Güterbahnhof. Ein paar Geschäfte hatten hier ihren neuen Standort gefunden, waren zu dieser Zeit jedoch geschlossen. Die Schilder leuchteten grell in die Dunkelheit, spendeten aber nicht genug Licht. Er deutete auf eine der Parkflächen und Maria fuhr in die Lücke. Sie drehte den Schlüssel um und der Motor wurde ausgestellt. Sie ließ die Zündung eingeschaltet, so dass das trübe Licht von oben das Innere des Fahrzeugs leicht beleuchtete. Das Radio trällerte leise vor sich hin. Die Regentropfen hämmerten von außen gegen die Frontscheibe und die Scheibenwischer warfen sich mutig gegen die Wassermassen, um sie zur Seite zu schieben.

»Holen Sie bitte ihr Handy heraus und wählen Sie die Nummer des NDR. Verlangen Sie dort nach der Sendeleitung. Erzählen Sie ihnen, wen Sie im Auto haben und sie werden mit Sicherheit zur Regie durchgestellt.« Er blickte ihr tief in die Augen. Sie zögerte. »Na los, machen Sie schon.« Er hob die Waffe etwas höher, damit sie in ihrem Sichtfeld noch besser zu erkennen war. Maria öffnete ihren Webbrowser und googelte die Nummer des NDR. Es klingelte. Eine Stimme meldete sich und Maria schilderte ihr, weshalb sie anrief. Er konnte hören, wie es auf der anderen Seite des Telefons hektisch wurde und kurze Zeit später hörte er eine tiefe männliche Stimme.

»Er will mit Ihnen sprechen.« Maria hielt ihm das Handy hin.

»Nein.« Er drückte das Handy behutsam zu ihr zurück. »Er soll bitte auf Videotelefonie umstellen und uns live in die aktuelle Sendung schalten. Sollte er diesem Wunsch nicht nachkommen, dann legen Sie bitte auf.«

Sie wiederholte seine Worte, obwohl sie sich denken konnte, dass der Regisseur mitgehört hatte.

»Es dauert einen Moment.«, sagte sie. »Er informiert die Aufnahmeleitung.«

Der Bildschirm des Handys wurde schwarz und dann erschien das Bild einer blonden, gutaussehenden Frau. Ihre Haare waren geglättet und schulterlang. Sie war Mitte vierzig, hatte roten Lippenstift aufgelegt und trug einen blauen Blazer.

»Hallo, mein Name ist Christina Duggen. Ich bin die Aufnahmeleiterin. Mit wem spreche ich?«

»Ich bin...« Marias Augen füllten sich mit Tränen und sie begann leise zu schluchzen. Dann räusperte sie sich, atmete einmal sichtbar tief durch. »Mein Name ist Maria Wulff und ich werde heute sterben.«

Das Lächeln der Leiterin verschwand augenblicklich und wich einem entsetzten Gesichtsausdruck. »Wie bitte? Sagten Sie, dass Sie sterben werden?« Hilfesuchend blickte Sie sich nach links und rechts um.

»Ja, das sagte ich. Er wird mich umbringen.«

»Wer wird Sie umbringen Maria?«

»Der Mann in meinem Auto.« Sie blickte nach rechts auf den Beifahrer. Der nickte ihr zu. Sie hatte mit ihrem Schicksal abgeschlossen. Sein Name war ihr wieder eingefallen und auch das, was er getan hatte. Ihr Blick wurde finster und ernst. Entschlossen drehte sie sich wieder zum Bildschirm des Handys und guckte direkt in die Augen von Christina Duggen. »Er wird mich erschießen. Michael Logat wird mich erschießen.«

6 Monate früher

»Das ist echt der Hammer.« IceT sprang auf dem großen Bett des Hotelzimmers auf und ab. Er versuchte mit seinem Kopf die Zimmerdecke zu erreichen.

»Komm schon IceT, zeig uns, was in der Minibar ist.« Dylan stand in der Ecke des Zimmers, direkt neben der Tür. Von hier aus hatte er den besten Winkel, um den ganzen Raum mit seiner Handykamera einzufangen.

IceT blinzelte zu Dylan hinüber und versuchte ihn hinter dem grellen weißen Licht seines Handys zu erkennen. Er sprang aus dem Bett und landete auf dem flauschigen Läufer, der direkt davor lag. Er blickte sich im Zimmer um und bemerkte ein winziges rotes Lämpchen, das aus der Kommode unter dem riesigen Flachbildfernseher heraus blinkte. Zielstrebig ging er darauf zu, öffnete die schmale Tür und blickte auf eine Ansammlung von kleinen Schnapsflaschen, Knabberkram und Softgetränken.

»Was möchtest du trinken?«, fragte IceT in Richtung Dylan. Der machte einen Schritt auf seinen Freund zu und hielt mit der Kamera auf die offene Kühlschranktür.

»Ich weiß nicht, was möchtet ihr denn, was wir als Erstes trinken?« Dylan drehte die Kamera so, dass sein Gesicht im Bild war und wartete darauf, dass sich unter dem Video die ersten Kommentare ansammelten.

IceT und Dylan waren zwei Jungs, die zusammen in einem Jugendheim aufgewachsen waren. Sie teilten das gemeinsame Schicksal, dass das Jugendamt sie als Kinder von ihren Eltern geholt hatten, um sie zu schützen.

Brian, der sich selbst IceT nannte, wurde halbtot aus einem Auto gerettet. Er saß in seinem Kindersitz, während sich seine Mutter, mitten auf dem Parkplatz eines großen Einkaufscenters in Rendsburg, einen Schuss setzte. Sie nahm versehentlich eine Überdosis, so dass sie in ihrem Sitz zusammensackte und nicht mitbekam, dass die Sonne das Auto bereits auf etwa fünfundvierzig Grad aufgeheizt hatte. Ein Mann, der gerade mit seiner Familie zum Einkaufen gehen wollte, hörte das Kind schreien und schlug die Scheibe des Autos ein.

Er alarmierte sofort einen Krankenwagen und als dieser eintraf, stellte man bei seiner Mutter die Drogenabhängigkeit fest und alarmierte das Jugendamt. Die Mutter überlebte es zwar, dennoch war das Risiko, dass Brian eines Tages etwas zustoßen könnte zu groß.

Sein Vater hatte ihn und seine Mutter bereits verlassen, als sie noch mit ihm schwanger war. Das Amt versuchte einen Kontakt zu ihm herzustellen. Aber als das misslang, wurde er in ein Kinderheim gebracht.

Seine Mutter hatte ihn am Anfang noch einmal die Woche besucht und versuchte auch das Sorgerecht wieder zurückzuerlangen. Sie scheiterte aber daran, dass sie es nicht schaffte, clean zu werden.

Eines Tages hörten die Besuche plötzlich auf und irgendwann überbrachte eine der Kindermädchen ihm die traurige Nachricht, dass seine Mutter gestorben sei. Sie erzählten ihm nicht woran, aber als er älter wurde, ahnte er, dass es eine erneute Überdosis gewesen sein musste.

Nachdem er die Zeit im Kinderheim hinter sich gebracht hatte und in ein Jugendheim überstellt worden war, lernte er Dylan kennen.

Dylan wurde von seinem Vater missbraucht und geschlagen, während seine Mutter die Nachtschichten in einem Fast-Food-Restaurant übernahm. Als Dylan sechs wurde, erzählte er seiner Mutter, dass er nachts von seinem Papa angefasst wurde. Aber sie glaubte ihm nicht.

Sie erzählte es seinem Vater und als sie schließlich das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, schritt er in sein Zimmer und schlug so fest in Dylans Gesicht, dass er auf den Boden stürzte und das Bewusstsein verlor. Er setzte sich auf das Bett seines Sohnes und schrie Dylan unentwegt an, dass er aufstehen sollte. Es dauerte einige Minuten, bis er begriff, dass sein Sohn bewusstlos war und er rief einen Krankenwagen.

Als die Rettungskräfte eintrafen und sahen, dass Dylan nicht nur gestürzt sein konnte, riefen sie die Polizei und sein Vater wurde verhaftet.

Natürlich stritt er alles ab, aber da der Handabdruck in Dylans Gesicht sehr deutlich zu der Hand seines Vaters passte, wurde er später verurteilt und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Ein halbes Jahr später starb seine Mutter an Lungenkrebs und da es keine näheren Verwandten gab, wurde er ebenfalls ins Kinderheim und anschließend ins Jugendheim gebracht.

Die zwei Jungs waren sich auf Anhieb sympathisch und verbrachten ihre gesamte Zeit miteinander.

Als sie sechzehn wurden, erlaubte ihnen das Amt, dass sie sich Handys besorgen durften und seitdem brachen sie nachts in irgendwelche Gebäude ein und streamten ihre Aktionen live bei Facebook und YouTube.

Sie hatten sich in einem Jahr eine beachtliche Anzahl an Fans erobert und wurden auch an diesem Tag von über dreitausend Menschen live dabei beobachtet, wie sie in ein Hotel einbrachen.

Dieser Einbruch war etwas Besonderes, da es dieses Mal kein verlassenes Gebäude am Rande der Stadt war, sondern ein gut besuchtes Hotel an der Strandpromenade vom Timmendorfer Strand. Um hier eine Nacht zu verbringen, musste man eine stattliche Summe bezahlen. IceT und Dylan würden jedoch keinen Cent dafür hinlegen und dennoch den gesamten Luxus einer Nacht genießen. Am liebsten hätten sie erwähnt, um welches Hotel es sich handelte, aber das wären zu viele Informationen gewesen. Irgendjemand vom Hotelpersonal, der den Stream vielleicht verfolgte, hätte das Zimmer erkannt und sie wären aufgeflogen.

Es war Juni und zu dieser Zeit war das Hotel normalerweise ausgebucht. An diesem Tag jedoch nicht. Es war wie leergefegt. Die einzigen Zimmer, die belegt waren, wurden von den zwölf Mitgliedern einer Tagung bezogen, welche sich in diesem Moment im Erdgeschoss in ihrer Sitzung befanden.

»Wodka mit Cola. Sehr kreativ, aber bitte, ihr habt entschieden.« Dylan drehte das Handy wieder so, dass sein Freund im Bild war. »Also T, zieh`s dir rein.«

IceT drehte den Deckel der kleinen Vodkaflasche auf und kippte den Inhalt zusammen mit der Cola in das glänzende Kristallglas, welches auf der Kommode stand. Er trank es in einem Zug aus.

Er stand auf und ging so nah an die Kamera heran, dass sein Gesicht gerade noch zu erkennen war. »Und jetzt meine Freunde kommt der ultimative Kick!« IceT war wie elektrisiert.

»Was hast du vor T?«, Dylan wurde nervös. Normalerweise entschieden sie gemeinsam, was sie als Nächstes machten.

»Unser Publikum hat es verdient zu erfahren, was so wichtig ist, dass sie diesen teuren Schuppen mitten in der Saison für einen Tag schließen.« Er ging auf die Tür zu. »Komm schon du Schisser oder hast du Angst?«

»Was soll der Scheiß, Mann?« Während sie die Treppen zum Erdgeschoss hinuntergingen, guckte Dylan immer wieder auf das Display seines Handys, um die Reaktionen zu beobachten. Er war verwundert, dass sich innerhalb der letzten Minuten die Followerzahl verdoppelt hatte.

»Sei nicht so ´ne Pussy!« oder »Lass dir mal Eier wachsen!«, waren die Kommentare und dass er ein ängstliches Gesicht machte, während er in die Kamera guckte, trug nicht unbedingt dazu bei, dass es weniger wurden.

Das Treppenhaus war nur schwach beleuchtet. Die Wände sahen aus, als wären sie aus grauen Klinkersteinen gemauert worden. Dylan berührte sie vorsichtig, stellte dabei jedoch fest, dass es sich um Relief-Tapeten handelte. In Kombination mit dem dicken roten Teppich, der auf die Stufen aufgebracht war, wirkte es fast so, als wenn man in einem alten Weinkeller stünde. Jedes Geräusch, das ihre Schritte hinterließ, wurde vom Teppich absorbiert. Sie bewegten sich völlig lautlos die Treppen hinunter und dass, obwohl IceT drei Stufen vor jeder Etage zu einem Sprung ansetzte.

Er war der Star dieser Show und auch wenn er es Dylan gegenüber nicht raushängen ließ, war es beiden klar.

Sie erreichten die Tür zum Erdgeschoss und IceT winkte Dylan heran, damit er mit der Kamera durch das Bullauge in der Tür filmen konnte.

Das Foyer lag vor ihnen und zu ihrer Verwunderung war es wie leergefegt. Es war dunkel. IceT öffnete langsam die Tür und guckte vorsichtig um die Ecke.

»Nichts. Keiner da.«, sagte er.

Dylan folgte seinem Freund und kurze Zeit später standen sie in der Lobby. Das einzige Geräusch, was zu hören war, war das Summen der Klimaanlage, die den Raum auf eine angenehme Temperatur herunterkühlte. Draußen herrschte eine Bullenhitze und durch die Fenster konnten die beiden die Menschen an der Fassade des Hotels vorbeigehen sehen. Die meisten hatten ein Eis oder kleine Flaschen mit kalten Getränken in der Hand. Er konnte deutlich die Wassertropfen erkennen, die außen daran, von der Kälte des Inhaltes herunterglitten. Die fliegenden Händler machten an diesem Tag mit Sicherheit ein riesiges Geschäft.

Vor der Tür standen zwei Männer in schwarzen Anzügen, die jede Bewegung der vorbeigehenden Menschen beobachteten. Zweifellos waren es die Sicherheitsleute.

»Warum sind da nur zwei?«, flüsterte Dylan.

»Keine Ahnung, ich hätte auch gedacht, dass eine so wichtige Konferenz besser bewacht werden würde.«

IceT ging ein wenig näher an die Tür heran, um die Männer besser beobachten zu können.

»Bist du verrückt? Wenn die uns sehen, sperren die uns ein.«

»Wir müssen es für die Community etwas interessanter machen, wenn hier drinnen schon nichts passiert. Außerdem können die uns nicht sehen, die Fenster sind von außen verspiegelt.«

Dylan ging vorsichtig hinterher. In seinem Augenwinkel sah er das Flackern eines Lichtes und guckte instinktiv in die Richtung.

Es war der Konferenzraum, in dem die Sitzung stattfand, die über die zukünftigen Anti-Terror-Pläne beraten sollte. Im Vorfeld war nicht sehr viel an Informationen über diese Konferenz aus der Presse zu entnehmen. Nicht einmal, wo es stattfand. Das wurde es kurz vor Beginn des Treffens der Teilnehmer angekündigt, da man das Hotel dafür extra schloss und niemanden hineinließ. Das fiel natürlich zu dieser Jahreszeit auf. Auch das zahlreiche Vorhandensein von Sicherheitskräften rund um das Gebäude ließ die Menschen aufhorchen.

Dylan und IceT waren bereits eine Nacht vorher in das Hotel gegangen. Sie betraten es über den Haupteingang und wie selbstverständlich gingen sie zu den Fahrstühlen, um in eine der höheren Etagen zu gelangen. Dort entwendeten sie eine Zugangskarte aus einem der Wagen, der Putzkolonne. Nachdem sie sich ein Zimmer ausgesucht hatten, hingen sie das Bittenicht-stören-Schild von außen an die Tür und begannen ihren Stream. Bei einer Sicherheitsdurchsuchung am nächsten Morgen, versteckten sie sich in einer Besenkammer. Ihr Zimmer wurde lange überprüft, da das Bitte-nicht-stören-Schild an der Tür auffiel und das Zimmer trotz der Tatsache, dass es nicht belegt war, völlig verwüstet aussah.

Die beiden fühlten sich wie elektrisiert, als die Tür aufsprang und sie sich, während das Zimmer von zwei Sicherheitsleuten durchsucht wurde, an ihnen vorbeischlichen und sich ein Versteck suchten.

Unten im Hotel versammelten sich am nächsten Tag zwölf, von der Europäischen Union ausgewählte Repräsentanten, um über ein übergreifendes System zu beraten. In den Nachrichten wurden die Namen und auch die Fotos der Personen eingeblendet. Niemand sah sie hineingehen, da die Damen und Herren über die Tiefgarage ins Hotel gebracht wurden.

Mehr als diese spärlichen Informationen gab es nicht. Weder der Zweck des Treffens, noch eine Agenda sowie einen Grund für die Geheimhaltung wurden an die Öffentlichkeit weitergegeben. Auch eine Google Suche über die einzelnen Namen der Personen ergab nichts. So als wenn sie nicht existierten. Es zeigte jedoch, wie wichtig die Geheimhaltung dieser Angelegenheit war.

Der Umstand, dass IceT und Dylan zum Greifen nah dran waren, gab dem ganzen noch einen extra Kick und erhöhte die Zuschauerzahl des Streams erheblich.

Doch etwas war seltsam an diesem Raum und die Neugier zog Dylan an wie einen Magneten. Bevor er sich versah, stand er zwischen den geöffneten schweren Holztüren und starrte in den Raum. Sein Puls fing an zu rasen und er spürte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel.

»Dylan? Wo bist du Mann?«, IceT rief leise durch den Raum. »Wozu mach ich den Scheiß hier, wenn du die Kamera nicht auf mich richtest?«

Dylan stand mit herabgesenkten Armen im Durchgang zum Konferenzzimmer. IceT guckte ihn für einen Moment lang an und als sich dieser noch immer nicht bewegte ging er auf ihn zu.

Er packte ihn an der Schulter und Dylan entglitt vor Schreck ein spitzer Schrei.

»Was stimmt denn nicht mit dir?«, fragte IceT.

»Wir müssen hier raus, schnell!« Brüllte Dylan. Er packte seinen Freund am Arm und zog ihn in Richtung Ausgang.

IceT wollte protestieren, aber als er die blanke Angst in den Augen von Dylan sah, ließ er sich ohne Widerstand mitziehen. Sie rannten auf die Tür zu, die sich trotz der hohen Sicherheitsstufe, die diese Konferenz haben sollte, sofort öffnete.

Als sich die Glastüren zur Seite schoben, wirbelten die Sicherheitsleute herum und blickten etwas irritiert auf die beiden Jungen, die nach draußen traten.

»Bitte, sie müssen ihnen helfen. Schnell!« Dylan packte einen der Sicherheitsmänner am Arm.

»Wer seid ihr zwei? Und was macht ihr hier?«, fragte der Mann auf der rechten Seite.

IceT hörte einen ohrenbetäubenden Knall, und noch bevor Dylan erklären konnte, was er gesehen hatte, ging alles in einem Schleier aus roten und orangefarbenen Flammen, gemischt mit dem Grau der zerborstenen Steine unter.

Sie spürten noch die Hitze und die Druckwelle, die sie erfasste, doch dann wurde alles um sie herum schwarz.

Blickstedter Burger, Juni 2016

Die Woche, in der sich mein Leben für immer veränderte, begann mit einer herben Niederlage. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt. Ich war mir meiner Sache so sicher, doch anstatt heute voller Freude durch die Straßen zu laufen, hatte ich einen tierischen Kater.

Wie konnte das bloß passieren? Frankreich, ausgerechnet Frankreich! Die Jungs hatten bis dahin ein fast perfektes Turnier gespielt, doch dann scheitert man am Gastgeber, der bis dahin nur ein einziges gutes Spiel gemacht hat. Fußball kann so grausam sein.

Weil ich aber masochistische Wesenszüge an mir habe, saß ich im Blickstedter Burger, meinem Lieblingsrestaurant, und sah mir die Wiederholung des Spiels an. Selbst nüchtern war es nicht nachvollziehbar, wie es zu dem Blackout von unserem Starverteidiger kommen konnte.

Ich schüttete mir bereits den fünften Kaffee hinein. Ich hatte die Niederlage nicht ganz so gut verdaut wie meine Freunde, die zum Mitgucken bei mir zu Hause gewesen waren. Sie ließen mich jetzt mit meinem Kummer alleine. Zum Glück sind meine letzten beiden Freunde Jack und Jim geblieben. Wobei Glück vielleicht das falsche Wort dafür ist? Ich musste in einer Stunde beim Dienst sein und fühlte mich noch immer, als wenn ich drei Promille hätte.

Ich überlegte, ob ich mich krankmelden sollte. Aber mein Chef durchschaute solche Dinge sehr schnell und er wusste, wie begeistert ich bei großen Fußballturnieren dabei war.

Aber was sollte er tun? Mich zu Hause besuchen? Zugegeben, das würde ich ihm sogar zutrauen, aber es war mir egal. Wenn ich in einer halben Stunde nicht wieder klar werden würde, dann bliebe mir eh nichts anderes über, als Timo anzurufen und für heute blau zu machen.

Zack. Drin. 1:0 für Frankreich. Beim Anblick von Griezmann, der gerade den Elfmeter verwandelt hatte, hätte ich mir am liebsten wieder einen Drink bestellt.

Mein Frühstück bestand aus Rühreiern mit krossem Speck, dazu Toastbrot und einer Waffel. Typisch amerikanisch in einem typisch amerikanisch angehauchtem Lokal... gut passend für einen Kater.

»Schmeckt es dir nicht, Tiger?« Trisch, die Bedienung, tauchte plötzlich am Tresen der Bar auf und blickte mich besorgt an. Sie hatte schulterlange braune Haare, die sie nicht wie sonst zu einem Zopf gebunden hatte. Heute trug sie sie offen. Ihre Wangenknochen hatten etwas Osteuropäisches und die tiefblauen Augen strahlten aus ihrem leichtblassen Gesicht regelrecht heraus. Sie war eine von den Menschen, die mit einem einfachen Lächeln jedem ein gutes Gefühl gab.

»Du weißt, dass ich dieses Essen liebe, Trisch, aber heute ist nicht so mein Tag. Außerdem habe ich es gestern ein wenig übertrieben.«

»Ein wenig? Was bedeutet das?«

»Wenn ich hier gewesen wäre, würden du oder Happy jetzt im Grundbuch für mein Haus stehen.« Ich schob den Teller ein bisschen in ihre Richtung. »Du darfst dich gerne bedienen, wenn du möchtest.«

»Nein, danke.« Sie lächelte mich an und mir ging es schlagartig ein wenig besser. Ich überlegte kurz, ob ich ein Foto von ihr mit meinem Handy machen sollte, aber das wäre bei meiner Frau bestimmt nicht ganz so gut angekommen. Sie würde mir sicherlich glauben, dass ich nichts mit Trisch hätte. Aber dass ich ein Foto von einer Bedienung brauchte, um gute Laune zu bekommen und nicht von meiner Frau, würde ganz bestimmt Probleme hervorrufen. Das schlechte Gewissen, das bei diesem Gedanken mitschwang, verpasste mir einen zusätzlichen Schlag in die Magengrube.

»Du solltest etwas essen, Süße. Der Köter vor der Tür fängt schon an, Löcher zu graben, wenn er dich sieht.« Sie schlank zu nennen wäre untertrieben. Sie hatte den Umfang eines Kleiderständers, jedoch mit einer beachtlichen Oberweite. Es war erstaunlich, dass sie nicht in der Mitte durchbrach oder vornüberkippte.

»Das ist lieb von dir. Glaube ich. Freitag hat es dich jedoch nicht gestört.« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Nimm es nicht so schwer, du hast das Spiel ja nicht verloren.«

Das stimmte, aber es fühlte sich so an.

Ich war wild entschlossen, zu Hause zu bleiben und nahm mir mein Handy zur Hand. Ich strich über das Display und in dem Moment, in dem ich das Telefonbuch öffnen wollte, klingelte es. »Timo Haberland« stand auf dem Display. Das war ein bisschen unheimlich. Ich drückte auf den grünen Knopf und nahm das Gespräch an.

»Moin Chef.«

»Fahren Sie sofort ins »Intercontinental Hotel« am Timmendorfer Strand.«

»Urlaub? Danke Chef.«

»Lassen Sie die Sprüche sein. Es ist etwas passiert. Gucken Sie keine Nachrichten?«

Ich winkte Trisch zu, die dann herüberkam. Ich hielt das Telefon zur Seite. »Kannst du bitte auf einen Nachrichtensender umschalten?«, bat ich sie.

Sie nahm die Fernbedienung in die Hand und der Beamer wechselte das Bild vom grünen Rasen auf der Leinwand in eine graue Wolke, die über einem Trümmerhaufen hing. Im ersten Moment dachte ich, dass es in Bagdad wieder einen Anschlag gegeben hatte.

In der oberen rechten Ecke war in schwarzen Buchstaben auf einem roten Hintergrund der Schriftzug »Terror in Deutschland - Anschlag am Timmendorfer Strand« zu lesen. Es war surreal. Die Menschen in dem Beitrag irrten durch die Straße. Sie bluteten an Armen, Beinen oder am Kopf. Das Rot in ihren Wunden vermischte sich mit dem Grau des Staubes. Rettungskräfte stiegen auf einem Berg von Schutt herum, der einmal ein Gebäude gewesen war und gruben nach Verschütteten. Die Reporterin, die natürlich wie geleckt aussah, wirkte wie ein Fremdkörper in dem Bild. So als hätte man einen Farbklecks in einem ansonsten schwarz-weißen Film gemacht. Am Fußboden kauerten Menschen und weinten. Der Anblick war der blanke Horror.

Ich fühlte mich, als hätte mir einer einen Schlag ins Gesicht verpasst und auch Trisch stand mit offenem Mund vor der Leinwand und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie war blass, noch blasser als sonst.

»Das ist bei uns.« Ihre Stimme zitterte und klang panisch.

»Ich bin unterwegs, Chef. Ich melde mich, wenn ich da bin.« Ich sprang von meinem Hocker auf und wandte mich zur Tür.

»Ruf jemanden an, Trisch! Du solltest nicht alleine sein.« Ich riss die Tür auf. »Und iss etwas!«

B76 Richtung Timmendorfer Strand

Der Weg zum Timmendorfer Strand führte zum größten Teil über die Dörfer. Was es nicht unbedingt einfacher macht, schnell zu einem Notfall zu gelangen. Und normalerweise wäre es unmöglich, an so einem schönen Sommertag wie heute dorthin zu gelangen, ohne stundenlang im Stau zu stehen. Die Straßen sind nicht besonders breit, so dass mir dann auch mein Blaulicht nichts geholfen hätte.

Ich hatte das blinkende Ding auf dem Dach und raste mit einem Höllenlärm Richtung Timmendorf. In meine Richtung fuhr nicht ein Auto, dafür war die Gegenfahrbahn überfüllt und ich kam mir komisch dabei vor, dass ich der Einzige war, der versuchte in das Dorf hineinzukommen, während alle Anderen raus wollten.

Je näher ich meinem Ziel kam, desto mulmiger wurde mir. Ich war jetzt seit eineinhalb Jahren bei der Anti-Terror-Einheit und bin bei diversen Schulungen gewesen, aber wenn so etwas dann wirklich passiert, ist es etwas ganz anderes. Ich fuhr mit hundertzwanzig Kilometern pro Stunde auf der B76. Eigentlich wäre es angebracht gewesen, wenn ich alles aus meinem BMW rausgeholt hätte, aber es kamen mir immer wieder Autos entgegen, die vor lauter Panik die Verkehrsregeln ignorierten und auf der falschen Straßenseite versuchten zu fliehen.

Ich lehnte mich ein Stück nach vorne und guckte nach oben. Über mir breitete sich der tiefblaue Himmel aus, an dem nicht eine Wolke hing. Der einzige Makel war, dass sich in der Ferne ein großer grauer Trichter aus Staub und Asche in den Himmel zog.

Ich hatte das Radio eingeschaltet und natürlich gab es nur ein Thema, über das die ganze Zeit gesprochen wurde. Olli, der Moderator, diskutierte bereits mit Experten darüber, wer den Anschlag verübt haben konnte. Außerdem ging es um die Frage, ob es mit der geheimen Konferenz zu tun hatte, die dort stattgefunden haben soll.

Bis heute Morgen hatten noch andere Themen die Medienwelt im Griff. Natürlich ging es zum größten Teil um die Fußball-Europameisterschaft. Das Spiel der deutschen Mannschaft und seit gestern um das Ausscheiden des DFB-Teams. Außerdem gab es im Nordirak einen Mord an einer Millionärsgattin aus München. Die Frau des Besitzers einer großen Autohauskette wurde dort auf offener Straße ermordet. Es wurde ein riesiges Brimborium darum gemacht. Ich fand es jetzt nicht ganz so verwunderlich, dass man als Frau im Irak den Tod finden konnte, wenn man sich auf offener Straße zeigte. Vermutlich wird sie sich auch auf Grund ihres Reichtums nicht unbedingt an die landestypischen Gepflogenheiten gehalten haben. Und das störte dann jemanden, der kurzerhand beschloss, das Problem selbst zu lösen. Den Täter hatte man nicht fassen können.

Dieser Mord war so in den Vordergrund gerückt, dass man den Erfolg der Antiterrorbekämpfung, die zufälligerweise ebenfalls im Nordirak stattgefunden hat, nicht mehr erwähnte. Es war der amerikanischen Luftwaffe gelungen ein hochrangiges Mitglied der Krieger Allahs oder kurz ALKRI zu töten. Er feierte dort seine Hochzeit, mit der weiß der Gott wievielten Frau und fand dort sein schnelles Ende. Es hätte keine Kollateralschäden gegeben, hieß es aus Regierungskreisen. Was stark angezweifelt wird. Er hat seine Hochzeit bestimmt nicht alleine gefeiert und seine Frau wird ebenfalls anwesend gewesen sein. Aber egal, Hauptsache war, dass wir im Antiterrorkampf vorankamen.

Olli und seine Experten orakelten natürlich darüber, worum es bei dem Treffen ging und ob der Anschlag eine Vergeltung für die Aktion im Irak gewesen sein könnte. Es musste etwas furchtbar Wichtiges gewesen sein, wenn man sich ausgerechnet den Timmendorfer Strand als Anschlagsziel aussuchte. Einen Ort, der sonst international keine große Bedeutung hatte. Dort ist ja keine Großstadt und es weniger geeignet für Botschaften an die restliche Welt.

Meiner Meinung nach hat jeder Ort, der einer Katastrophe zum Opfer fällt, internationale Bedeutung. Deshalb musste natürlich darüber gesprochen werden, da es nur sehr wenige Informationen gab. Und wenn es irgendetwas war.

Während sich die Herren im Radio von einer Vermutung in die Nächste hangelten, kam ich meinem Ziel immer näher. Die B76 machte eine scharfe Rechtskurve. Eigentlich wollte ich auf die Strandallee fahren, die geradewegs von der Bundesstraße abging, aber die panischen Massen hatten die komplette Straße blockiert, so dass ich dort nicht einen Meter vorangekommen wäre. Ich raste noch ein paar hundert Meter weiter und bog dann mit einem sehenswerten Manöver in den Möwenberg ab. Die Straße war beidseitig befahrbar, so dass ich mit Hilfe meiner Lichthupe und dem Blaulicht auf dem Dach schnell bis zur Seestraße kam, wo ich links abbog und schließlich auf das Hotel zufuhr.

In dem Moment, als ich auf die Seestraße kam, stieg mir ein Kloß in den Hals. Vor mir erstreckte sich ein Chaos, wie ich es noch nie gesehen hatte. Natürlich kennt man die ganzen Bilder aus dem Fernsehen, vom World Trade Center in New York vom 09. September 2001 oder dem Anschlag in Suruç 2015, bei dem 34 Menschen starben. Aber so etwas in seinem ganzen Ausmaß in natura zu sehen, hatte eine erdrückende Wirkung. Der Weg zum Hotel war übersäht mit Trümmern. Die Autos, die links und rechts an der Straße standen, waren mit einem dicken grauen Schleier überzogen. Es ist erstaunlich, welche Details man wahrnimmt in so einer Situation. In den Bäumen hingen Nachttischlampen, zerfetzte Bettlaken oder Kissen.

Die Blaulichter der Rettungskräfte flackerten durch die Staubwolke hindurch und ich fuhr rechts auf den Gehweg, um den kommenden und abfahrenden Krankenwagen nicht im Weg zu stehen. Ich öffnete meine Tür und stieg aus. Die Luft war warm, roch aber nach Asche und Schutt. Ich ging zum Kofferraum und holte mir eines meiner Ersatz-T-Shirts heraus und schüttete eine ganze Flasche Wasser darüber. Ich schloss meinen Wagen ab und hielt mir das Shirt vor den Mund, während ich auf den Ort des Geschehens zuging. Reporter, die mit ihrem Mundschutz vor der Polizeiabsperrung standen, bemerkten mich und kamen in einer Traube auf mich zugestürmt. Entweder hatte ich diesen typischen der-sieht-wie-ein-Bulle-aus-Look oder sie dachten, wer so bekloppt ist und auf die Katastrophe zugeht, anstatt sich zu verkrümeln, konnte nur jemand sein, der ihnen ein Interview geben wollte.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Mikrofone und Kameras und kletterte unter der Absperrung hindurch. Ich fummelte mit meiner rechten Hand im Jackett herum und holte meine Dienstmarke heraus, um sie dem Kollegen zu zeigen, der mich davon abhalten wollte, den Tatort zu betreten.

Ich guckte mich um und kam mir vollkommen hilflos vor. Unter den herumliegenden Trümmern und auch in dem Schutthaufen, der einmal ein Hotel gewesen war, konnten noch Menschen liegen, nach denen die zahlreichen Helfer, die in weiße Overalls gekleidet waren, teilweise mit den Händen gruben.

Ich war hier, um zu ermitteln, fühlte mich aber unwohl bei dem Gedanken, herumzuschnüffeln, während unter mir noch Leute sein könnten, die auf jede Hilfe angewiesen waren.

Das Hotel hatte sieben Stockwerke und war eines der größten Gebäude in diesem Dorf. Es war in weiß gestrichen und die Fenster lagen in einem blauen Rahmen. Das Gebäude wurde in regelmäßigen Abständen modernisiert und bekam jedes Jahr einen frischen Anstrich. Es war über Jahre hinweg ausgebucht. Von den riesigen Balkonen aus konnte man direkt auf den langen weißen Sandstrand und das blaue Meer Blicken. Jeder davon war gleich ausgestattet: Eine Sitzecke mit vier braunen Rattan Sesseln und einem Glastisch. Und eine große Liegefläche in Form einer Muschel. Purer Luxus.

Doch damit war es jetzt vorbei. Der Strand war übersäht mit Trümmerteilen. Der weiße Sand, der von der Stadtverwaltung beinahe täglich gereinigt wurde,