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Deutschlands bekanntester Kriminologe zieht Bilanz
Statistiken zeigen: Deutschland war selten so sicher wie heute. Mit der gefühlten Kriminalitätstemperatur stimmt das aber nicht überein.
Seit über vierzig Jahren beschäftigt sich der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer mit der Gewalt in Deutschland. Egal, ob es um Jugendkriminalität, häusliche Gewalt oder den vermeintlichen Anstieg der Straftaten durch Auslänger geht, Pfeiffer ist ein gefragter Experte. Sein Buch klärt auf: Er zeigt, wo wir im Kampf gegen die Gewalt schon Siege gewonnen haben, aber auch, wo wir uns neuen Herausforderungen stellen müssen. Anhand aktueller Forschungsergebnisse und persönlicher Erfahrungen erklärt Pfeiffer, wie wir diesen begegnen sollten: Mit einem neuen Gemeinsinn, mehr Liebe und Gerechtigkeit – zum Wohle aller.
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das Buch
Statistiken zeigen: Deutschland war selten so sicher wie heute. Mit der gefühlten Kriminalitätstemperatur stimmt das aber nicht überein.
Seit über vierzig Jahren beschäftigt sich der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer mit der Gewalt in Deutschland. Egal, ob es um Jugendkriminalität, häusliche Gewalt oder den vermeintlichen Anstieg der Straftaten durch Ausländer geht, Pfeiffer ist ein gefragter Experte. Sein Buch klärt auf: Er zeigt, wo wir im Kampf gegen die Gewalt schon Siege gewonnen haben, aber auch, wo wir uns neuen Herausforderungen stellen müssen. Anhand aktueller Forschungsergebnisse und persönlicher Erfahrungen erklärt Pfeiffer, wie wir diesen begegnen sollten: mit einem neuen Gemeinsinn, mehr Liebe und Gerechtigkeit – zum Wohle aller.
Deutschlands bekanntester Kriminologe zieht Bilanz.
Je schwerer die Gewalt – umso stärker hat sie abgenommen. Je jünger die Altersgruppe, umso deutlicher fällt der Rückgang aus. Beide Botschaften widersprechen unserer gefühlten Kriminalitätstemperatur. Pfeiffer erklärt wie es dazu kommt. Er zeigt auf, wie positiv sich in der Kindererziehung der Wandel zu mehr Liebe und weniger Hiebe ausgewirkt hat und wo Gerechtigkeit immer wieder Früchte trägt. Und gleichzeitig warnt er vor Fehlentwicklungen – angefangen von der Leistungskrise männlicher Jugendlicher über die Gefahren der Machokultur und die Mängel der Strafverfolgung sexueller Gewalt bis hin zu medialen Fehlinformationen von rechts und islamistischen Moscheekulturen.
Christian Pfeiffer, geboren 1944, ist Kriminologe und ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Von 2000 bis 2003 war Pfeiffer für die SPD niedersächsischer Justizminister. In den Medien ist er ein gefragter Experte, der mit seinen Thesen immer wieder Kontroversen auslöst.
Christian Pfeiffer
Gegen die Gewalt
Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind
Kösel
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Für Antonia und Robertmit Dank für Liebe, Verständnis und Widerstand.
Inhalt
Warum dieses Buch?
Wie wurde ich Kriminologe?
Der Rückgang der Sexualmorde – eine beispielhafte Geschichte
Wie wird man Sexualmörder?
Mögliche Ursachen für den Rückgang der Sexualmorde
Weniger Hiebe – mehr Liebe
Die Abschaffung des Züchtigungsrechts der Lehrer
Das Verbot des Schlagens von Kindern
Wer hat vom Wandel der Erziehung stärker profitiert – Mädchen oder Jungen?
Wie hat sich der Wandel der elterlichen Erziehung ausgewirkt?
Die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche
Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen
Je schwerer die Gewalt – umso stärker ihr Rückgang
Vergewaltigung
1992 und 2011: Zwei Repräsentativbefragungen dokumentieren den Rückgang
Die Strafverfolgung der Vergewaltigung – für viele Opfer das große Leiden
Wenn das Zuhause zum Tatort wird: Kindestötungen und schwere Gewalt gegen Frauen
Kindestötungen
Schwere Gewalt gegen Frauen
Ungerechtigkeit erzeugt Kriminalität. Gerechtigkeit und Fairness zahlen sich aus.
Haben »harte« Jugendrichter mehr Erfolg als »milde«?
Prozedurale Gerechtigkeit bei der Polizei und im Strafvollzug
Gewalt, Medien und die AfD Gefühlte Kriminalitätstemperatur und Realität
Gewalt und ihre mediale Darstellung
Die AfD und ihre Pressearbeit zur inneren Sicherheit
Migration, Flüchtlinge und Gewalt
Gefährdet die Dominanz der Männer das Überleben der Menschheit?
Religion und Gewalt
Religion und Gewalt bei einheimischen deutschen Jugendlichen
Religion und elterliche Gewalt bei freikirchlichen Familien
Religion, Gewalt und islamischer Extremismus bei jugendlichen Migranten
Sexuelle Gewalt gegen Kinder durch katholische Priester
Bürgerstiftungen als Motor für soziale Gerechtigkeit und Gewaltprävention
Gerechtigkeit und Zuwendung für Opfer der Gewalt
Danksagung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Warum dieses Buch?
17. September 2017 – ein Studio des Bayerischen Rundfunks. Mir gegenüber sitzt Norbert Joa, Redakteur der Sendung »Eins zu Eins. Der Talk«. 60 Minuten lang diskutiert er mit mir über meine Arbeit als Kriminologe und insbesondere über Gewalt. »Wovor haben die Menschen am meisten Angst?«, lautet eine Frage. »Die Frauen jedenfalls vor dem Sexualmord«, antworte ich und ergänze: »Aber der hat seit Mitte der Achtzigerjahree um 90 Prozent abgenommen.« Und schon sind wir mitten in den Themen gelandet, die mich in den letzten 40 Jahren beschäftigt haben. Wie wird man Täter (zur besseren Lesbarkeit verwende ich im Allgemeinen von Personen die männliche Form)? Was verringert unser Risiko, Opfer von Gewalt zu werden? Brauchen wir härtere Strafen? Wie kann verhindert werden, dass die Zuwanderung der Flüchtlinge zu einem Gewaltproblem wird? Ist die Zivilgesellschaft gefordert, die Prävention von Gewalt stärker voranzubringen?
In den 60 Minuten haben wir ein breites Spektrum von Themen erörtert. Zu vielen Punkten hätte ich allerdings gerne etwas gründlicher argumentiert. Doch dann geschieht etwas, womit ich nicht rechnen konnte: Während der gesamten Sendung hat uns der ehemalige Verlagsleiter des Kösel-Verlages, Tobias Winstel, zugehört. Er schreibt mir danach sofort eine Mail und fragt an, ob ich die Botschaften dieses Gesprächs in einem Buch darstellen möchte. Ich bin begeistert. So eine Chance kann ich mir nicht entgehen lassen. Wegen anderer Verpflichtungen dauert es dann zwar noch ein gutes Jahr, bis ich mit dem Schreiben beginnen kann. Nun jedoch ist es eine Freude, in die verschiedenen Themen weit gründlicher einzusteigen, als dies in einer Rundfunksendung möglich ist.
Wie wurde ich Kriminologe?
Ausgangspunkt sind für mich meine Kindheit und Jugend in einer Bauernfamilie. Ich bin das jüngste von vier Kindern (zwei Brüder, eine Schwester). Bis Oktober 1952 leben wir auf einem mittelgroßen Hof in Biegen in der Nähe von Frankfurt / Oder. Zu Hause erleben wir eine große Geborgenheit in der Familie. Sie ist von starken, sehr liebevollen Eltern geprägt und von einer wunderbaren Tante Dora, Schwester unserer Mutter, die immer bei uns lebte. Doch plötzlich ist Schluss mit dieser Idylle.
Unsere Eltern und Tante Dora entscheiden sich zur Flucht aus der DDR. Sie leiden unter den ständigen Übergriffen der Politikfunktionäre auf das bäuerliche Leben und auf die Schulbildung von uns Kindern. Sie sehen für sich und uns vier keine Zukunft in einem Land, das zu einer engstirnigen, kommunistischen Diktatur geworden ist. Im Oktober 1952 reisen wir ohne großes Gepäck in drei verschiedenen Zügen nach Berlin. Wir verlassen den Hof, der seit 1648 im Besitz der Familie war. Ich bin acht Jahre alt. Auf einmal sind wir arm, besitzen nur das, was wir am Leibe tragen und was in ein paar Päckchen im Westen angekommen war.
Diese Armut ist durchaus belastend. Aber als viel schlimmer habe ich etwas anderes empfunden – die Ausgrenzung als Flüchtling. In der dritten Grundschulklasse bin ich das einzige evangelische Kind. Ich spreche noch kein Bayrisch. Und so werde ich gehänselt, als Außenseiter behandelt, nicht zu Geburtstagen eingeladen. Ich gehöre einfach nicht dazu. Dazu eine kleine Geschichte:
Die Jungen meiner Klasse laden mich plötzlich dazu ein, beim Fangen auf dem Schulhof und dem angrenzenden Hofgelände eines Bauern mitzuspielen. Ich bin glücklich. In der Rolle des Jägers will ich einen schnellen Jungen erwischen. Der macht auf dem Weg zur Einfahrt des Hofes einen erstaunlichen Umweg. Das ist meine Chance. Ich nehme den kurzen, direkten Weg – und lande im Feuereifer des Jagens in der Jauchegrube. Sie ist nur von einer Strohschicht bedeckt. Alle anderen wissen das. Am Rande steht der Knecht, den die Jungen vorher informiert haben. Er zieht mich raus. Die anderen lachen und feixen. Vor mir liegt der Fußweg quer durch die Kleinstadt, weinend und von Kopf bis Fuß stinkend. Meine Außenseiterrolle verliere ich erst am Gymnasium im oberbayerischen Mühldorf am Inn. Alle Flüchtlingskinder meines Jahrgangs besuchen dieselbe Klasse. Das erleichtert es mir sehr, mich schrittweise auf meine neue Heimat einzulassen.
Nach Abitur und Bundeswehr entscheide ich mich dafür, an der Universität München Jura zu studieren. Streitfragen zur Gerechtigkeit haben mich schon in der Schulzeit stark interessiert. Mein Schwerpunkt liegt klar im Öffentlichen Recht. Vor allem das Verfassungsrecht fasziniert mich. Nach dem Examen will ich gestützt auf ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der London School of Economics and Political Science über zwei englische Staatsphilosophen recherchieren. Die Untersuchung soll meine verfassungsrechtliche Doktorarbeit vorbereiten. Doch auf einmal wird mir in der Einsamkeit der ersten Wochen in der fremden Welt Londons etwas richtig bewusst: Ich habe mich im Studium zu stark an den Erwartungshaltungen meiner Familie und Freunde, meiner Professoren und meines Doktorvaters orientiert. Meine Ziele haben sich dadurch von außen nach innen entwickelt. So will ich nicht weitermachen. Das Jahr in London nutze ich nun zur Befreiung von freundschaftlich-liebevoller Bevormundung. Ich begebe mich auf die Suche und lande plötzlich in der Vorlesung des Psychologieprofessors H. J. Eysenck.
Eysenck ist damals ziemlich berühmt. Er hat ein umstrittenes Buch über Kriminalität und Persönlichkeit geschrieben. Eine zentrale Aussage lautet, besonders die Gewaltkriminalität sei primär das Resultat von ererbten Einflussfaktoren. Was er zur Persönlichkeit von Straftätern schreibt, erscheint mir zu ideologisch und nicht hinreichend belegt. Ich entdecke in seiner Argumentation Lücken, Fehler und eine ausgeprägte Ignoranz gegenüber sozialen Einflussfaktoren. Das ärgert mich. Ich schreibe eine 35-seitige Kritik und schicke sie Eysenck zu. Er antwortet nicht. Doch die mich beratenden Hochschullehrer, der Kriminologe Hall-Williams und der Sozialpsychologe Sealey, sind begeistert. Und so lande ich einerseits in einem Master-Kurs Kriminologie und andererseits in der Sozialpsychologie. Das Jahr in England wird so zu einer intellektuellen Entdeckungsreise.
Nach der Rückkehr lerne ich während der juristischen Referendarzeit über einen Strafrichter die Bewährungshelferin Margot Wingruber kennen – eine sehr engagierte, warmherzige und kluge Frau. Bei ihr absolviere ich eine Art Lehrzeit in der Betreuung von Strafentlassenen und werde ehrenamtlicher Bewährungshelfer. Es gelingt mir, meine siebenköpfige Wohngemeinschaft davon zu überzeugen, dass wir unser Gästezimmer ab und zu jungen Männern anbieten, die Urlaub aus der Haft bekommen haben oder nach der Entlassung zunächst eine Bleibe benötigen.
Einmal wohnt ein 20-Jähriger vier Monate bei uns, weil er nach der Entlassung aus dem Jugendgefängnis eine Heroin-Entziehungskur machen will. Für den Fall, dass das gelingt, versprechen wir ihm eine gemeinsame Reise nach Paris. Auch dank der Unterstützung durch eine bei uns wohnende Medizinerin schafft er es. Und so fahren wir dann in meinem kleinen Auto zu viert für ein paar Tage in die französische Hauptstadt. Daneben darf ich bei einer Anwaltskanzlei erste Erfahrungen als Strafverteidiger sammeln. Das Spektrum reicht vom Alkoholiker, der ständig Schnapsflaschen klaut, bis hin zu einem Jugendlichen, der einen versuchten Totschlag begangen hat. Erst anhand der Biografien dieser Strafentlassenen und Angeklagten begreife ich schrittweise, wie Menschen zu Straftätern werden und was dazu beitragen kann, das Hineinwachsen in eine kriminelle Karriere zu fördern oder zu vermeiden. Rückblickend haben mich diese drei Jahre der praktischen Erfahrungen im Hinblick auf meine spätere berufliche Laufbahn sehr geprägt.
Aber noch bin ich kein Kriminologe und lebe weit entfernt von der universitären Wissenschaft. Doch dann ereignet sich im Oktober 1973 ein Zufall – der ja angeblich das Fällige ist, was einem zufällt. Ich bin an einer jungen Bajuwarin sehr interessiert. Sie hat mich zum Abendessen eingeladen. Mir gegenüber sitzt ihr Freund Jochen Kölsch. Wir bemühen uns nach Kräften, uns gegenseitig rhetorisch zu übertrumpfen und schlagen intellektuelle Pfauenräder. Doch ich merke bald: Mein Rivale ist richtig gut, arbeitet als Redakteur beim Bayerischen Fernsehen, hat eine eigene Büchersendung und konnte gerade Heinrich Böll und Günter Grass zu Interviews einladen. Da kann ich nicht mithalten. Doch dann verschwindet die schöne Christiane wegen Kopfweh vorzeitig in ihr Schlafzimmer. Jochen und ich bleiben in der Küche übrig und entdecken, dass wir uns eigentlich anfreunden könnten.
So entsteht in dieser Nacht bei gutem Wein die Idee, eine soziale Initiative in Gang zu bringen. Ausgangspunkt hierfür ist mein Bericht über das isolierte Leben der Strafgefangenen. Damals sind Häftlinge von Informationen über das, was außerhalb der Gefängnismauern passiert, weitgehend ausgeschlossen. Für sie gibt es weder Fernsehen noch Zeitungen. Der Radiolautsprecher in der Zelle spielt primär Musik. Einem meiner Schützlinge hatte ich deshalb gerade zum Geburtstag für ein Jahr ein Abonnement der Süddeutschen Zeitung geschenkt. Also spinnen Jochen und ich den Plan, mithilfe von Prominenten eine Bürgerinitiative »Zeitungsabonnements für Gefangene« ins Leben zu rufen. Beflügelt vom Spirit des Abends sage ich zu bei Bundespräsident Heinemann anzufragen. Jochen will Heinrich Böll und Günter Grass ansprechen.
Und so rufe ich am nächsten Morgen im Bundespräsidialamt an. Ich gerate an einen jungen Beamten, Herrn Spath, der mir mitteilt, dass ich mein Anliegen schon schriftlich vortragen müsse. Trotzdem dränge ich ihm meine Telefonnummer auf, was sich später als sehr hilfreich erweist.
Der Bundespräsident möchte an diesem Vormittag nämlich plötzlich Herrn Spath sprechen. Und so steht der sichtlich aufgeregt vor dem Bundespräsidenten. Heinemann will ihn etwas auflockern und fragt, ob es irgendetwas Neues zu berichten gäbe. So erfährt Herr Heinemann von unserer Idee, findet sie großartig, lässt sich mit mir verbinden und sagt seine Mitwirkung zu. Parallel dazu gelingt es meinem neuen Freund Jochen Kölsch tatsächlich, seine beiden Top-Schriftsteller für die Initiative zu gewinnen. Schließlich folgt auf eine Zusage die nächste. Der Bundestagsabgeordnete Richard von Weizsäcker macht ebenso mit wie Außenminister Scheel und weitere Prominente. Über 120 Zeitungen erklären sich bereit, die große Anzeige mehrfach kostenlos zu veröffentlichen. Bis Weihnachten werden ca. 4000 Abos für Gefangene gespendet. Die Mehrheit der Spender ist zusätzlich bereit, dem Empfänger zu schreiben. Die ZEIT bringt über den Erfolg unserer Initiative einen freundlichen Artikel.
Einer der Zeitungsspender ist Prof. Dr. Schüler-Springorum, ein hochangesehener Strafrechtler und Kriminologe der Universität München. Wir lernen uns durch Zufall kennen. Als ich mich vorstelle, fragt er, ob ich etwa einer der beiden Initiatoren der Bürgerinitiative sei, über die die ZEIT gerade berichtet. Wenig später bietet er mir eine Assistentenstelle an. Das wird der berufliche Glückstreffer meines Lebens. Acht Jahre lang arbeite ich bei ihm, profitiere von seinen vielfältigen Anregungen, seinen breiten Erfahrungen, seiner Offenheit und Wärme und der großen Freiheit, die er mir in der wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht. Danach verhilft er mir zu einem Heisenberg-Stipendium. Ich kann die Flügel ausbreiten und nach dem besten Landeplatz suchen. Den entdecke ich 1985 in Hannover am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, das ich dann bis 2015 leiten darf.
Der Rückgang der Sexualmorde – eine beispielhafte Geschichte
Wie wird man Sexualmörder?
Meine Vorträge zum Thema der Gewaltkriminalität beginne ich oft mit einer Frage an das Publikum: Welche ist für Sie die schlimmste aller Gewalttaten? Die meisten Frauen und ein großer Teil der Männer nennen dann den Sexualmord. Sie begründen dies meist damit, dass die Opfer vor ihrem Tod Schreckliches zu erleiden haben. Anschließend erbitte ich eine Einschätzung dazu, wie sich wohl die Zahl solcher Opfer im Laufe der letzten 40 bis 50 Jahre verändert hat. Als Anhaltspunkt informiere ich zunächst über den Fünfjahreszeitraum 1976 bis einschließlich 1980: Damals zählte man 223 vollendete Morde, bei denen das Opfer entweder zur Befriedigung des Geschlechtstriebes oder zur Verdeckung einer vorangegangenen Sexualstraftat getötet wurden. Meine anschließende Frage lautet, wie viele Sexualmorde es wohl in den letzten fünf Jahren – von 2014 bis einschließlich 2018 – gegeben hat.
Die große Mehrheit des Publikums unterstellt stets, die Zahl der Sexualmorde sei seit den Siebzigerjahren leicht oder stark angestiegen. Nur etwa ein Fünftel geht von konstanten bis leicht sinkenden Zahlen aus. Ähnliche Einschätzungen hatten wir am KFN zwischen 2004 und 2014 im Rahmen von vier bundesweiten Repräsentativbefragungen erhalten1.
Die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) lösen deshalb jedes Mal großes Erstaunen aus. Im Verlauf der letzten fünf Jahre registrierte die Polizei 34 vollendete Sexualmorde. Im Vergleich zu den 223 Fällen, die von 1976 bis einschließlich 1980 registriert wurden, ist das ein Rückgang um 85 Prozent. Pro 100 000 der Bevölkerung gerechnet, ist das Risiko, Opfer eines Sexualmordes zu werden, daher insgesamt seit Mitte der Siebzigerjahre um 89 Prozent gesunken.
Damit stehen zwei Fragen im Raum. Erstens: Wie ist es zu erklären, dass offenbar die große Mehrheit der Menschen gerade bei diesem schweren Delikt zu einer derart falschen Einschätzung gelangt? Zweitens: Wo liegen die Ursachen des überraschend starken Rückgangs der Sexualmorde? Zur ersten Frage werde ich im zehnten Kapitel über die vier erwähnten Repräsentativbefragungen zur »gefühlten Kriminalitätstemperatur« der Menschen berichten. Zur Abnahme der Sexualmorde möchte ich als Einstieg die persönliche Geschichte eines einzelnen Täters darstellen.
Am 21. Juni 1966 wird über die Medien die Festnahme des 19-jährigen Jürgen Bartsch bekannt. Die Polizei beschuldigt ihn, vier 8- bis 13-jährige Jungen aus sexuellen Motiven getötet zu haben. Hinzu kommt die versuchte Tötung an einem 14-Jährigen.
31. März 1962: Opfer Klaus Jung, acht Jahre; Jürgen Bartsch ist 15 Jahre alt.6. August 1965: Opfer Peter Fuchs, 13; Jürgen Bartsch ist 18 Jahre alt.14. August 1965: Opfer Ulrich Kahlweiß, 12; Jürgen Bartsch ist 18 Jahre alt.6. Mai 1966: Opfer Manfred Graßmann, 11; Jürgen Bartsch ist 18 Jahre alt.18. Juni 1966: Opfer Peter F., (überlebt); Jürgen Bartsch ist 19 Jahre alt.Die Taten von Jürgen Bartsch folgen einem Grundmuster: Bartsch spricht einen Jungen an und lockt ihn in einen ehemaligen Luftschutzbunker unweit seines Elternhauses. Dort macht er sein Opfer durch Schläge und Fesselungen wehrlos. Die Tötung selbst erfolgt durch Erwürgen oder Erschlagen. Anschließend öffnet und zerschneidet Bartsch den Körper des Jungen, entnimmt die Organe. Die menschlichen Überreste seiner Opfer vergräbt er innerhalb des Bunkers. Nachdem er im Juni 1966 den 14-jährigen Peter F. in sein Versteck gelockt hat, gelingt es diesem, bei zeitweiliger Abwesenheit Bartschs zu fliehen. Dadurch kommt es zur Verhaftung von Jürgen Bartsch2.
Am 15. Dezember 1967 wird Bartsch von der Jugendkammer des Landgerichts Wuppertal als »gefährlicher Gewohnheitsverbrecher« zu viermal lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Bei den Taten, die er im Alter zwischen 15 und 19 begangen habe, sei er stets frei entscheidungsfähig und voll verantwortlich gewesen. Die Verteidigung von Jürgen Bartsch geht in Revision.
Am 21. November 1969 hebt der Bundesgerichtshof das Wuppertaler Urteil gegen Bartsch mit der Begründung auf, ein Sachverständiger mit besonderer Expertise aus dem Bereich der Forschung zu Sexualität und Triebabnormitäten hätte hinzugezogen werden müssen. Eine Jugendkammer des Landgerichts Düsseldorf verurteilt Bartsch am 6. April 1971 nach erneutem Prozess zu zehn Jahren Jugendhaft und anschließender Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt. 1974 beantragt Bartsch seine Kastration. Nach jahrelangen Bemühungen um Heilung von seinen sexuell-sadistischen Trieben sieht er keine andere Möglichkeit mehr, um einem dauerhaften Leben in der Psychiatrie zu entgehen. Die Kastration wird am 28. April 1976 durchgeführt. Bartsch stirbt dabei aufgrund eines Narkosefehlers.
Das sind die Fakten der Geschichte von Jürgen Bartsch. Doch das Entscheidende fehlt. Richard Kaufmann hat es 1967 in »Christ und Welt« angesprochen: »Es ist ein bemerkenswertes Faktum, dass weder Richter noch medizinische Gutachter der Frage, wie es zu diesem Drang gekommen ist, besondere Beachtung schenken – fast, als wollten sie die Gesellschaft, die sie vertreten, vor der Erkenntnis schützen, dass irgendwas bei uns faul ist. Denn dieser Bartsch ist ja nicht als ein fertiger Unhold in die idyllische Landschaft von Langenberg getreten.« Wie konnte Jürgen Bartsch also zum Sexualmörder werden?
Alice Miller hat zu seiner Biografie eine sehr sorgfältige Recherche durchgeführt.3 Danach beginnt sein Leben damit, dass er seine Mutter wenige Tage nach seiner Geburt verliert. Sie stirbt an Tuberkulose. Sein Vater bemüht sich anschließend vergeblich darum, ihn aufziehen zu dürfen. Das ist damals weder beim Jugendamt noch beim Familiengericht eine ernsthaft geprüfte Option. Und so wächst er zunächst mit ständig wechselnden Bezugspersonen im Krankenhaus auf, bis ihn nach etwa einem Jahr das Ehepaar Bartsch adoptiert4. Seine Stiefmutter wird später von den Gutachtern Manfred Rasch und Elisabeth Müller-Luckmann als eine extrem auf Sauberkeit und Ordnung fixierte Frau beschrieben. Den Jungen hat sie danach sehr häufig geschlagen und nicht selten auch massiv mit Gegenständen misshandelt5. Ihr Mann wird von Freunden wie folgt zitiert: »Ich muss nach Hause, sonst schlägt sie mir das Kind tot«.6
Ergänzend hierzu ein Zitat von Jürgen Bartsch aus einem Brief an Paul Moor7: »Im Hause in Langenberg, als ich mal irgendetwas gegen ihre Ordnung tat, warf sie mit einer Bierflasche plötzlich nach mir. Als ich noch etwas älter und mit ihr im Geschäft war, passierte auch mal so etwas, was gegen ihre Ordnung ging. Da warf sie auf einmal mit einem spitzen Fleischermesser nach mir. Es verfehlte mich nur knapp. Ich konnte nur stammeln ›Ach, so ist das …‹. ›Ja‹, schrie sie, ›so ist das‹ und spuckte mir ins Gesicht. Ich sagte nichts mehr. Sie lief aus dem Laden, suchte das Telefon und rief, sodass die Angestellten es hören konnten: ›Jetzt rufe ich Herrn Bitter (Leiter des Essener Jugendamtes) an, der soll heute noch dafür sorgen, dass du Schwein dahin kommst, wo du herkamst, denn da gehörst du hin‹. Ich ging auf die Toilette und weinte.«
Jürgen Bartsch soll möglichst nicht mit anderen Kindern spielen, um nichts von seiner Adoption zu erfahren. Zudem hätte er sich ja draußen schmutzig machen können. Die Mutter sperrt ihn deshalb oft im Keller ein, fernab von Spielkameraden und natürlichem Tageslicht. Als er dann in die Grundschule kommt, wird er nach eigenen Angaben als der Kleinste der Klasse zum Prügelknaben. Aufgrund seiner Rolle als isolierter Außenseiter hat Bartsch keine Freunde. Im Alter von zehn Jahren schicken die Eltern ihn in ein Heim. Als sie die dortigen Erziehungsmaßnahmen nicht für streng genug erachten, sorgen sie für seine Verlegung in das Don-Bosco-Internat, welches für seine harten Disziplinierungsmaßnahmen bekannt ist. Dort wird er erneut massiv geschlagen. Nach seinen Berichten geschieht dies oft willkürlich. In der späteren Gerichtsverhandlung gegen Jürgen Bartsch stellt Gerhard Bartsch – angesprochen auf die Brutalität innerhalb des Don-Bosco-Internats – nüchtern fest: »Na, schließlich ist er nicht totgeschlagen worden«.
Jürgen Bartsch läuft zweimal aus dem Don-Bosco-Heim davon, um dem Elend zu entgehen. Er wird stets ins Heim zurückgebracht. Als er als 13-Jähriger in einem Zeltlager erkrankt, nimmt der mitgereiste Pater den fiebergeplagten Jungen mit in sein Bett und vergeht sich an ihm. Zwei Jahre später begeht Jürgen Bartsch als 15-Jähriger seinen ersten Sexualmord. Bartschs prägende Erfahrungen sind zum einen ein eklatanter Mangel an Geborgenheit und elterlicher Liebe, zum anderen eine täglich erfahrene, ihn demütigende Ohnmacht gegenüber der Gewalt von Eltern und Erziehern. Hinzu kommt, dass er die sexuelle Gewalt einer kirchlichen Autoritätsperson ertragen muss, ohne sich zur Wehr setzen zu können. So wächst er als ein isolierter Außenseiter auf, ohne Freunde und ohne positive soziale Erfahrungen.
Aus der Sicht der beiden oben genannten Gutachter resultiert aus dieser sich ständig wiederholenden und ihn zutiefst demütigenden Leidenserfahrung, gepaart mit seinem extrem niedrigen Selbstwertgefühl, der Wunsch nach der totalen Machtausübung gegenüber kleinen Jungen, zu denen er sich sexuell hingezogen fühlt8. Tobias Brocher kommentiert die Taten wie folgt: »Der Täter sucht eigentlich in seinem Opfer gleichsam ein Abbild seiner selbst als Kind, das er dann so verderben und zerstören will, wie er selbst auch als Kind zerstört wurde. Dies ist der unbewusste Racheinhalt, den Bartsch in seinem ersten Prozess als ›unheimlichen Trieb‹ bezeichnete, ohne ihn tatsächlich zu kennen«9.
In der deutschen Kriminalgeschichte gibt es keinen ähnlich gelagerten Fall eines derart jungen Sexualmörders. Und trotzdem zeigen die systematischen Analysen zur Biografie anderer Sexualmörder vielfältige Parallelen. Ich hatte häufig die Gelegenheit, hierzu die Gutachterin Elisabeth Müller-Luckmann, Psychologieprofessorin der TU Braunschweig, zu befragen. Aufgrund einer über Jahrzehnte gewachsenen, sehr engen Freundschaft war es ihr ein persönliches Anliegen, mit mir intensiv über die Erfahrungen zu sprechen, die sie in mehr als 30 Verfahren gegen Sexualmörder gesammelt hatte. Ihre Einschätzungen deckten sich dabei mit den Erkenntnissen anderer Sexualwissenschaftler und Psychiater.
Als einen zentralen Ansatzpunkt ihrer Gutachten über die Täter nannte Müller-Luckmann deren Grundgefühl erniedrigender Ohnmacht, die sie in ihrer Kindheit als Opfer von körperlicher und meist auch sexueller Gewalt immer wieder erlebt hatten, sowie eine tiefgreifende emotionale Vernachlässigung. Aus einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl würden sich dann machtvolle Omnipotenzwünsche entwickeln. Beides zusammen entfalte eine gefährliche Eigendynamik. Wer darunter zu leiden hatte, strebe später häufig selbst nach brutaler Machtausübung – und die ultimative Macht sei nun einmal die, Herr über Leben und Tod zu sein und die Panik in den Augen des Opfers zu erleben. Hinzu kämen als weitere Belastungsfaktoren der Täter oft ihre soziale Isolation und eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung. Müller-Luckmanns Folgerung lautete: »Zum Sexualmörder wird man nicht geboren, dazu wird man gemacht.«
Mich haben diese Argumente von Elisabeth Müller-Luckmann sehr überzeugt. Wären solche Taten primär genetisch bedingt, könnte nicht erklärt werden, weshalb die Zahl der Sexualmorde seit den Siebzigerjahren so drastisch zurückgegangen ist. Erbanlagen werden nun einmal von Generation zu Generation relativ konstant weitergegeben. Eines muss allerdings angemerkt werden: Sowohl Elisabeth Müller-Luckmann als auch ihre Kollegen haben in ihren Fallanalysen keineswegs die These aufgestellt, die von ihnen festgestellten Leidensgeschichten hätten die Betroffenen gleichsam zwangsläufig zu Sexualmördern werden lassen. Sie haben damit lediglich spezifische Merkmale der Täterbiografien hervorgehoben, die in Verbindung miteinander offenbar das Tatrisiko deutlich erhöhen. Wenn aber die Belastungsfaktoren der Täter in derart vielen Punkten weitgehend übereinstimmen, liegt eine Frage sehr nahe: Hat sich möglicherweise der Anteil der Kinder, die in Deutschland unter solchen Leidensbedingungen aufwachsen, im Laufe der letzten Jahrzehnte drastisch verringert? Könnte dies den oben dargestellten Rückgang der Sexualmorde zumindest teilweise erklären?
Mögliche Ursachen für den Rückgang der Sexualmorde
Bei der Untersuchung dieser Frage ist zunächst zu beachten, dass sich der Rückgang der Sexualmorde nicht gleichmäßig entwickelt hat. Allein in den letzten zehn Jahren schwankten die Zahlen zwischen den zwei vollendeten Sexualmorden des Jahres 2013 bis zu 21 im Jahr 2011. Deshalb wurden für die nachfolgende Längsschnittbetrachtung erneut jeweils die Zahlen von fünf aufeinanderfolgenden Jahren addiert. Den oben bereits erwähnten 223 Fällen der Jahre 1976 bis einschließlich 1980 standen in den vorausgegangenen und nachfolgenden Fünfjahreszeiträumen 211 und 220 Sexualmorde gegenüber. Erst für die beiden nächsten Zeiträume 1986 bis 1990 und 1991 bis einschließlich 1995 zeichnet sich erstmals mit Fallzahlen von 163 und 138 ein deutlicher Rückgang ab, der sich dann bis zu den 34 Fällen der letzten fünf Jahre schrittweise fortsetzt. Angesichts dieser Längsschnittentwicklung der Zahlen stellt sich die Frage, ob sich auch zu den oben skizzierten Einflussfaktoren entsprechende Trends abzeichnen.
Hierzu sollen drei Fragen erörtert werden:
Wie hat sich seit den Dreißigerjahren die Erziehung von Kindern verändert?Wie hat sich die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern entwickelt?Haben sich Qualität und Häufigkeit der therapeutischen Angebote für junge Menschen mit erheblichen Persönlichkeitsstörungen in den letzten Jahrzehnten verbessert?Der Wandel der elterlichen Erziehung
Zu der Frage, wie sich die Kindererziehung in den letzten sieben Jahrzehnten verändert hat, konnten wir am KFN seit 1992 größere Untersuchungen durchführen. Ein Forschungsansatz hat sich dabei als besonders ergiebig erwiesen. Zwischen 2004 und 2014 hatten wir in vier Repräsentativbefragungen insgesamt 9445 ab 16-Jährige erreicht. Hauptzweck der Untersuchung war, sie um konkrete Einschätzung zur aktuellen Kriminalitätsentwicklung zu bitten10. Die Gelegenheit nutzten wir jedoch auch dazu, den Menschen Fragen über Ausmaß und Intensität elterlicher Gewalt sowie elterlicher Zuwendung zu stellen. Dadurch waren wir in der Lage, die Antworten von sieben Geburtskohorten zu vergleichen – angefangen bei jenen, die in den Dreißigerjahren geboren wurden, bis hin zu den Befragten, deren Geburtsjahr frühestens das Jahr 1990 war. Der Vergleich der sieben Geburtskohorten lässt zwei klare Trends erkennen, die in der nachfolgenden Abbildung dargestellt werden.
Abb. 1: Elterliche Erziehung im Vergleich von sieben Geburtskohorten (Dreißigerjahre bis Neunzigerjahre)11
In der linken Hälfte sind Befragungsergebnisse zur elterlichen Zuwendung erfasst. Ein Beispiel ist die Aussage: »Meine Eltern haben mich gelobt, wenn ich etwas besonders gut gemacht habe.« In der rechten Hälfte folgen die Daten zum Einsatz schwerer elterlicher Gewalt. Diese wurde wie folgt beschrieben: »Meine Eltern haben mich stark verprügelt.« Die Abbildung zeigt, wie häufig die Befragten der Geburtskohorten von den verschiedenen Erziehungserfahrungen berichteten. In der linken Hälfte wird deutlich, dass der Anteil der Personen, die von ihren Eltern hohe Zuwendung erfahren haben, über drei Jahrzehnte auf einem relativ niedrigen Niveau von 29,4 Prozent bis 28,2 Prozent weitgehend stagnierte. Erst ab den Sechzigerjahren zeigt sich eine schrittweise Wende der Erziehungskultur. Innerhalb von vier Jahrzehnten steigt der Anteil derjenigen, die von ihren Eltern viel Zuwendung erhalten haben, von 28,2 Prozent auf 61,5 Prozent. Eine im Jahr 2011 entsprechend durchgeführte Befragung von 2583 16- bis 20-Jährigen belegt darüber hinaus einen weiteren Anstieg auf 74,8 Prozent.12
Bei den Befragten, die in der Kindheit von ihren Eltern schwere Gewalt erfuhren, zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Quote liegt bei den in den Dreißigerjahren Geborenen mit 20,4 Prozent am höchsten und reduziert sich dann bis zur Geburtskohorte der Fünfzigerjahre lediglich auf 18,4 Prozent. Erst für die letzten vier Jahrzehnte zeichnet sich dann auch hier ein deutlicher Wandel der Erziehungskultur ab. Die ab 1990 Geborenen erlebten schwere Gewalt nur noch zu vier Prozent. Seit den Dreißigerjahren hat sich damit der Anteil der massiv geschlagenen Kinder um etwa vier Fünftel verringert.
Der Vergleich der Daten aus den sieben Geburtskohorten bietet damit eine erstaunlich klare Parallele zu den Daten der Sexualmordentwicklung. Der seit den Neunzigerjahren besonders drastische Rückgang dieser Tötungsdelikte ist daher mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf den beschriebenen Wandel der elterlichen Erziehungskultur zurückzuführen, der etwa 30 Jahre zuvor seinen Ursprung hatte.
Der Rückgang des sexuellen Kindesmissbrauchs
Bereits die Geschichte von Jürgen Bartsch und die ergänzend herangezogenen Untersuchungen haben allerdings eines deutlich gezeigt: Zum Sexualmörder sind viele auch dadurch geworden, dass sie als Kind selbst sexuelle Gewalt erfuhren. Auch insoweit gilt: Erst ist man Opfer, dann wird man Täter. Deshalb ist hier eines zu beachten: Der sexuelle Kindesmissbrauch hat im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich abgenommen. Dies zeigt zunächst eine vom KFN im Jahre 2011 im Auftrag des Bundesforschungsministeriums durchgeführte Repräsentativbefragung von ca. 10 000 Personen der Altersgruppe 16 – 40 Jahre.
Die große Zahl der Befragten ermöglichte uns die getrennte Auswertung dreier Altersgruppen: die damals 31- bis 40-Jährigen, deren Kindheit primär in den Siebziger bis Achtzigerjahren lag und spätestens 1995 endete; die 21- bis 30-Jährigen, die ihre Missbrauchserfahrungen vor allem in den 80er bis 90er Jahren hatten, und schließlich die 16- bis 20-Jährigen, deren Kindheit bei der im Jahr 2011 durchgeführten Befragung erst fünf bis zehn Jahre zurücklag. Vergleicht man die Opferdaten, die sich zu diesen drei Kindheitsphasen ergaben, so zeigt sich ein klarer Befund: Die im Jahr 2011 31- bis 40-jährigen Frauen hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr zu 9,5 Prozent Missbrauch mit Körperkontakt erlitten, die 21- bis 30-Jährigen zu 7,2 Prozent und die 16- bis 20-Jährigen nur zu 3,0 Prozent. Zu den männlichen Befragten lauten die Vergleichszahlen: 1,8 Prozent, 1,4 Prozent und 0,9 Prozent13.
Doch womit ist der starke Rückgang des Kindesmissbrauchs zu erklären? Ein Faktor ist möglicherweise die Tatsache, dass sich für die Täter derartiger Delikte seit Mitte der Siebzigerjahre das Risiko beträchtlich erhöht hat, für ihre Missbrauchstaten zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Anzeigebereitschaft der Opfer ist nämlich beträchtlich angestiegen. Während ab Mitte der Achtzigerjahre im Durchschnitt nur etwa jeder zwölfte Täter mit einem Strafverfahren rechnen musste, galt dies 2011 bereits für jeden dritten.14 Das dürfte zumindest bei einem Teil der potenziellen Missbrauchstäter den Tatendrang gebremst haben. Doch was hat wiederum dazu beigetragen, dass die Opfer bereits 2011 wesentlich anzeigefreudiger waren als früher?
Ein Erklärungsansatz liegt auf der Hand: Die Schamgrenzen haben sich im Verlauf der betrachteten Jahrzehnte verschoben. Es fiel und fällt den Menschen zunehmend leichter, über Sexualität zu sprechen. Zweitens kommt hier die engagierte Arbeit von zahlreichen Organisationen der Opferhilfe sehr zum Tragen. Seit mehreren Jahrzehnten bieten sie mit ihren Anlaufstellen den von sexualisierter Gewalt Betroffenen kompetente Beratung und Hilfe an. Das hat die Folge, dass mehr angezeigt wird und sich damit das Risiko der Täter erhöht hat, sich vor Gericht verantworten zu müssen. Und schließlich haben sich die öffentliche Aufmerksamkeit und die Anteilnahme für die Leiden der Betroffenen im Laufe der letzten vier Jahrzehnte deutlich erhöht. Die Massenmedien haben redebereiten Missbrauchsopfern die Möglichkeit eröffnet, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren ist. Dies wiederum kann anderen Betroffenen Mut machen und Anstoß geben, ihr eigenes Schweigen zu brechen und sich Hilfe zu suchen.
Zum Rückgang des Missbrauchs dürften noch andere Faktoren erheblich beigetragen haben. So sind die Anstellungsträger potenzieller Täter (z. B. Internate, Schulen, Sportvereine, kirchliche Einrichtungen) durch die öffentliche Diskussion dafür sensibilisiert worden, dass Kinder durch präventive Maßnahmen besser geschützt werden sollten, und haben dies zu einem beachtlichen Teil tatsächlich umgesetzt. Hierdurch verringern sich die Tatgelegenheiten.
Besonders verdient ein Aspekt Beachtung, dessen große Bedeutung Peter Wetzels am KFN bereits in den Neunzigerjahren im Zuge der ersten bundesweiten Repräsentativbefragung zum Missbrauchsthema ermittelt hatte. Er konnte in seiner exzellenten Dissertation aufzeigen, dass häufig geschlagene und emotional vernachlässigte Kinder, die in einem konfliktbeladenen Milieu aufwachsen, ein um das Vierfache erhöhtes Missbrauchsrisiko haben15. Wer nicht satt an elterlicher Liebe wird, ist in Gefahr, dass er auf der Suche nach Zuwendung an die falsche Person gerät. Wie oben gezeigt, hat jedoch der Anteil der Kinder, die mit wenig Liebe und vielen Schlägen aufwachsen, im Laufe der letzten drei Jahrzehnte deutlich abgenommen. Auch dadurch ist der sexuelle Missbrauch von Kindern erheblich seltener geworden.
Der Rückgang des sexuellen Kindesmissbrauchs wird auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und der Strafverfolgungsstatistik dokumentiert. Die höchste Zahl von insgesamt 16 888 Fällen des Missbrauchs von Kindern registrierte die Polizei im Jahr 1997. Seitdem ist bis 2018 eine weitgehend kontinuierliche Abnahme um 27 Prozent festzustellen – und dies, obgleich sich die Anzeigebereitschaft der Missbrauchsopfer wie oben gezeigt – zwischen 1992 und 2011 um zwei Drittel erhöht hat. In der Realität dürfte der Rückgang folglich noch um einiges stärker ausgefallen sein, als dies die polizeilichen Daten zeigen. Beachtung verdienen ferner die entsprechenden Daten der Strafverfolgungsstatistik: Zwischen 2007 – seitdem stehen gesamtdeutsche Zahlen zur Verfügung – und 2017 hat sich die Zahl der Verurteilten von 2484 auf 1866 um ein Viertel reduziert.
Schließlich bleibt die Frage zu klären, ob es seit den Achtzigerjahren einen Anstieg von Therapieangeboten für hoch belastete junge Menschen gegeben hat, der zum Rückgang der Sexualmorde beigetragen haben kann.
Gab es eine Zunahme wirksamer Therapien?
2014: In einer Rundfunksendung des NDR darf ich darüber sprechen, ob jemand, der Frauen vergewaltigt hat, durch eine Therapie hinter Gittern davon abgebracht werden kann. Ich bejahe das und berichte von positiven Forschungsergebnissen. Am selben Tag werde ich von einem Herrn X angerufen, der die Sendung gehört hat. Er spricht aus Erfahrung. Wegen sechs Vergewaltigungen hat er knapp zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Vor zehn Jahren war er entlassen worden. Er berichtet mir, er sei inzwischen beruflich erfolgreich, habe geheiratet, freue sich über zwei höchst lebendige Söhne. Und das alles habe er einem großartigen Therapeuten, Herrn T, zu verdanken, der ihm im Gefängnis zu einem Neuanfang in seinem Leben verholfen habe. Daraufhin frage ich Herrn X, ob er bereit wäre, gemeinsam mit Herrn T vor allen Mitarbeitern des KFN darüber zu berichten, wie er zum Vergewaltiger wurde und was ihn dazu gebracht hat, nach der Entlassung ein völlig neues, straffreies Leben zu beginnen. Er stimmt zu und auch Herr T macht mit.
Bei dem Termin im KFN steht zunächst eine Rückblende von Herrn X in die Neunzigerjahre im Vordergrund. Von außen betrachtet, lebt er damals als angepasster Mensch – Handwerker, verheiratet, ein Sohn. Aber von Zeit zu Zeit wächst in ihm die Spannung. Er giert dann richtig nach exzessiver Gewalt gegen irgendeine Frau. Es handelt sich dabei nicht um einen überbordenden Sexualwunsch, der ihn zur Tat animiert. Vielmehr ist es nach seinem Bekunden immer wieder die Lust daran, totale Macht über eine Frau auszuüben, sie zu demütigen, ihre Panik und Verzweiflung zu erleben. Doch woher kommt das? Herr X wusste es nach seiner Verurteilung zunächst selber nicht. Fünf Jahre lang saß er im Gefängnis, ohne dass er aus seiner Sackgasse von angestauter Aggressivität herauskam. Erst die sensiblen Fragen des Therapeuten bringen ihn dazu, sich schrittweise auf seine Kindheit und Jugend einzulassen und damit auf die Quelle seiner Aggressivität gegen Frauen. Zum ersten Mal redete er über das, was ihm damals Angst gemacht hatte – über brutale Leidenserfahrungen, über die tiefsitzende Ohnmachtserfahrung, sich gegen die ihm zugefügten Verletzungen nicht wehren zu können, und über seine Enttäuschung darüber, dass ihm niemand hilft.
Die Basis dafür, dass Herr X sich auf Herrn T einließ, war dessen respektvoller Umgang mit ihm, seine Empathie, seine Geduld. Herr T bedrängte ihn nicht. Aber er vermittelte ihm immer wieder die Hoffnung darauf, dass er ein anderer werden könne. Herr T ergänzt, dass er ständig die Grenzen davon auslotete, was er seinem Gegenüber an schmerzhafter Konfrontation mit seinen Problemen zumuten kann. Und Herr X berichtet, wie wichtig es für ihn war, dass er in der parallel laufenden Gruppentherapie mit anderen Gewalttätern auf einmal die Rolle des Fragenden übernehmen und damit Herrn T unterstützen konnte. Herr T erinnert ihn daran, wie wichtig diese Mitwirkung an der Therapie anderer war, weil sie ihm positive Selbstwirksamkeit vermitteln konnten. Herr X zieht abschließend Bilanz dieser Therapie: Sie habe ihn dazu befähigt, nach der Entlassung ohne die destruktive Lust auf sexuelle Gewalt zu leben und er bedauert, dass niemand in seinem Umfeld ihm als jungem Menschen eine derartige Therapie vermittelt habe. Seine immer wieder ausbrechende Aggressivität hätte hierzu allen Anlass gegeben. Aus seiner Sicht wäre dann vielen Menschen schreckliches Leid erspart geblieben.
Wenn man versucht, anhand der Fachliteratur nachzuvollziehen, welches die entscheidenden Wirkfaktoren sind, gelangt man schnell in den Meinungsstreit der verschiedenen Therapierichtungen.16 Für Außenstehende ist deshalb hilfreich, dass es hierzu eine vermittelnde Position gibt: Von vielen wird nämlich die These vertreten, dass spezifische methodische Vorgehensweisen der einzelnen psychotherapeutischen Ansätze nicht der eigentliche Schlüssel zur therapeutischen Veränderung seien. Die heilende Wirkung schreiben sie vielmehr dem psychotherapeutischen Setting an sich zu – und hier insbesondere der Heilkraft der Beziehung des Therapeuten zum Patienten.17 Im Mittelpunkt stehen also seine glaubhafte Zuwendung und seine Menschenliebe. Unstreitig ist zudem angesichts der überzeugenden Forschungsbefunde von vielen Meta-Analysen der Umstand, dass Psychotherapie bei den meisten psychischen Störungen schneller, stärker und nachhaltiger wirkt als der natürliche Heilungsprozess oder ein stützendes Umfeld.18
Zwar werden die Wirkfaktoren einer gelungenen Therapie durchaus unterschiedlich formuliert, bei genauer Betrachtung gewinnt man aber den Eindruck, dass es hier doch vielfältige Überschneidungen gibt. Mich hat insbesondere das 1995 von Weinberger postulierte Konzept von fünf Wirkfaktoren überzeugt, da es nachvollziehbar werden lässt, was zwischen Herrn X und Herrn T abgelaufen ist und uns gegenüber so anschaulich beschrieben wurde:
eine vertrauensvolle Therapiebeziehungpositive Therapieerwartungen aufseiten des PatientenKonfrontation des Patienten mit seinen ProblemenVermittlung von Bewältigungserfahrungen und die kognitive Kontrolle über die problematischen Aspekte des Verhaltensdie Zuschreibung des Therapieerfolges durch Patienten auf sich selber.Offen ist allerdings, seit wann Therapieangebote mit der erforderlichen Qualität für die belasteten Menschen zur Verfügung stehen. Anfragen bei den in Betracht kommenden Organisationen vermitteln hierzu ein übereinstimmendes Bild: In den Achtzigerjahren hat sich in Deutschland eine schnell wachsende und breit aufgefächerte Therapieszene entwickelt.
Dies belegt beispielsweise eine für den Zeitraum von 1985 bis 2018 geführte Tabelle der kassenärztlichen Bundesvereinigung. Danach hat die Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte, die sich entweder auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert haben oder als Ärzte eine Zusatzausbildung in Kinder- und Jugendpsychotherapie vorweisen können, im Verlauf der 33 Jahre von 750 um etwa das Neunfache auf 6782 erhöht. Eine noch stärkere Zunahme vermitteln die Daten, die mir vom Bundesverband der Psychologischen Psychotherapie (DPPV) zur Verfügung gestellt wurden – danach hat sich die Zahl dieser Therapeuten zwischen 1982 und 2018 von 2750 auf 34 071 erhöht. Sie ist damit um das 12,3-Fache gestiegen.19
Als Beispiel dafür, wie sich die starke Erweiterung der therapeutischen Angebote ausgewirkt hat, gelten die Zahlen zum Selbstmord.20 Die Zahl der Suizide ist zwischen 1975 und 2017 von 18 998 auf 9241 zurückgegangen. Pro 100 000 der Bevölkerung ist das eine Abnahme um 64 Prozent. Generell ist davon auszugehen, dass gerade junge Menschen, die aufgrund schwerster Erziehungsmängel und defizitärer elterlicher Zuwendung in gravierende Probleme geraten sind, in einem hohen Maß von der Ausweitung der therapeutischen Angebote profitiert haben. Deshalb dürfte auch der Rückgang der Sexualmorde damit zusammenhängen, dass die ihm zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörungen seit den 80er Jahren zunehmend therapeutisch behandelt werden konnten.
Weniger Hiebe – mehr Liebe
Joachimfritz Staeter und Astrid Lindgren als Pioniere des Wandels
Die Abschaffung des Züchtigungsrechts der Lehrer
Neben den Eltern hatten früher auch die Lehrer das Recht, Kinder zu schlagen. Der Bundesgerichtshof begründete dies in seinen Entscheidungen BGHSt 6, 263 und BGHSt 11, 218 mit einem den Lehrern zustehenden Gewohnheitsrecht. In den Fünfzigerjahren blieb das weitgehend unbestritten. Doch in den Sechzigerjahren entwickelte sich zunächst bei einzelnen Amtsrichtern hiergegen Widerstand. 1981 traf ich dann zufällig bei einem Besuch der Staatsanwaltschaft Braunschweig auf einen Juristen, der zu diesem Thema als Pionier der Veränderung aufgetreten war: Joachimfritz Staeter.
Er berichtete mir von einem Strafprozess, in dem er Anfang 1962 als junger Strafrichter einen Lehrer wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt hatte. Dieser habe damals einen 13-jährigen Schüler aus disziplinarischen Gründen massiv geschlagen und sich dabei wie üblich auf Gewohnheitsrecht berufen. Doch Joachimfritz Staeter beeindruckte das offenkundig nicht. Sein erstes Gegenargument lautete, in die grundrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit dürfe nur durch ein vom Bundestag verabschiedetes, förmliches Gesetz eingegriffen werden – Gewohnheitsrecht reiche da nicht aus. Vor allem aber störte ihn an der üblichen Praxis der erniedrigende Zwang, sich vor den Augen der Klasse der Prügelstrafe des Lehrers zu stellen. Das bewertete er als Verletzung der in Artikel 1 des Grundgesetzes geschützten Menschenwürde.