Gegen die Spielregeln - Philea Baker - E-Book

Gegen die Spielregeln E-Book

Philea Baker

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Beschreibung

In den Londoner Docklands explodiert der Kessel eines Segeldampfers. Dabei kommen der Geschäftsführer der Schifffahrtslinie und ein amerikanischer Ingenieur ums Leben. Inspektor Orville Baker vermutet einen Konstruktionsfehler, aber dann wird Dynamit sichergestellt. Für den jungen Ermittler wird der Fall zur Odyssee: Es finden sich keine Beweise, dafür eine Vielzahl an Motiven. Zudem hat Baker Helfer, die er sich nicht ausgesucht hat: Ryon Buchanan, ein Halbindianer und Sohn des Ingenieurs, und die Nichte eines Verdächtigen, Alessa Arlington, die sich gegen die gesellschaftlichen Regeln auflehnt und von einem Studium träumt. Gemeinsam nehmen sie die Suche nach dem Täter auf.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2020

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PHILEA BAKER

Gegen die Spielregeln

Philea Baker

Gegen dieSpielregeln

Ein viktorianischer Krimi

Für Barbara Zellerhoffund Cora Strasdat

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

EPILOG

KAPITEL 1

Mittwoch, 10. Juni 1874, 14:44 UhrFenchurch Street, London

Regentropfen trommelten auf das Kutschendach. In dicken Rinnsalen bahnte sich das Wasser seinen Weg am Fenster hinab, sammelte sich an dessen unterem Rand, von wo aus es durch eine unsichtbare Ritze tröpfchenweise ins Innere des Wagens drang. Eine kleine Pfütze hatte sich auf dem Boden gebildet.

Er hob den Blick und sah hinaus. Häuserfronten zogen in bizarren Formen an seinen Augen vorbei. Die Hitze im Innenraum der Kutsche hatte sich aufgestaut und erschwerte ihm das Atmen. Von Zeit zu Zeit war das Grollen eines entfernten Gewitters zu vernehmen. Den Hut in seinen Händen drehend, gab er sich dem Rütteln der Kutsche hin. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er sein Ziel erreichen würde.

Der Pfiff des Kutschers, der die Pferde in eine langsamere Gangart fallen ließ, kündigte das Ende der Fahrt an. Kaum dass die Räder stillstanden, riss er die Tür auf. Er gierte nach Kühlung, nach einem Hauch von Wind, aber in der Fenchurch Street, inmitten der City of London, war es trotz des Regens kein bisschen besser als in Mayfair. Er setzte den Hut auf. Die Straße war erfüllt von regem Treiben. Menschen mit Regenschirmen in der Hand säumten die Trottoirs, die Kutschen fuhren dicht an dicht. Das Hufgeklapper der Pferde übertönte alle anderen Geräusche.

Er stand vor dem dreigeschossigen Bau des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping. Majestätisch hoben sich die Mauern von dem wolkenverhangenen Himmel ab. Regentropfen benetzten sein Gesicht, als er die Fassade hinaufblickte. Anhand der hohen Fenster ließ sich erahnen, dass man an der Deckenhöhe im Lloyd’s Register nicht gespart hatte, denn die angrenzenden Häuser hatten bei gleicher Gebäudehöhe ein Stockwerk mehr aufzuweisen.

Wie er aus Erzählungen wusste, verdankte das Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping seinen Namen einem Kaffeehaus: dem Kaffeehaus von Edward Lloyd. Einst war es ein bescheidener Ort gewesen, an dem man sich getroffen hatte, um über Schiffe zu sprechen. Nun war es die einzige Klassifikationsgesellschaft für Schiffe weltweit. Hier, in der Fenchurch Street, wurden die Namen der Schiffe registriert nebst Baujahr, Werft, Heimathafen, Kapazitäten, Besitzer, Kapitän und vielem Weiteren – bis hin zum Abwrackdatum. Seine Gedanken wurden vom Kutscher unterbrochen, der nach seinem Lohn fragte. Er reichte dem Mann die verlangten Münzen, dann nahm er geschwind die Stufen, um ins Trockene zu gelangen.

Der Raum war von beeindruckender Größe. Er mochte mehr als die Hälfte der Grundfläche des gesamten Gebäudes einnehmen. Die groben Holzplanken knarrten leise unter seinen Füßen. Zwei große Glaskuppeln im hinteren Bereich, die an Bullaugen erinnerten, spendeten reichlich Licht für eine Vielzahl von Pulten. Jeder Winkel, jedes Detail verdeutlichte, worum es sich in diesem Haus drehte: um Schiffe. Die Wände waren olivgrün gestrichen. Mit Decken- und Wandstuck war sparsam umgegangen worden. Vor einer großen Tafel an der rechten Seitenwand diskutierten ein Dutzend Männer lautstark. In den Mauern, die als Raumteiler dienten, befanden sich Kamine. Zu dieser Jahreszeit waren sie eine bloße Zierde, im Winter waren sie jedoch sicherlich mehr als notwendig, um den großen Raum zu wärmen. Die gesamte linke Seite des Raumes war mit Bänken und Tischen bestückt, die den Besuchern Gelegenheit gaben, sich niederzulassen und dem Informationsaustausch zu frönen. Im Eingangsbereich, zu seiner Linken, befand sich die Anmeldung. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Zwei riesige Wanduhren, die in etwa fünf, sechs Metern Höhe an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren, zeigten die Zeit Londons und seine Zeit an: die Zeit Neuenglands. Während er wartete, ließ er seinen Blick über die Besucher gleiten. Das Lloyd’s Register war ein Ort von internationalem Charakter – aus allen Teilen der Welt trafen hier Menschen aufeinander. Das gefiel ihm.

»Guten Tag.« Der Mann hinter dem Pult musterte ihn interessiert.

»Guten Tag. Ich möchte ein Schiff registrieren lassen.«

»Das Schiff ist wo gebaut worden?«

»In Maine.«

»Wenden Sie sich bitte an Schalter sieben.« Der Mann deutete auf den Bereich mit den Glaskuppeln. Der Mann am Schalter sieben hieß Peck, wie er dem kleinen Metallschild auf dem Pult entnehmen konnte.

»Guten Tag. Ryon Buchanan aus Kennebunkport, Maine. Ich möchte ein Schiff anmelden.«

T. C. Peck musterte ihn skeptisch. »Guten Tag. Zunächst benötige ich die Konstruktionspläne und die Schiffsdaten.«

Ryon beugte sich hinab, öffnete seine Tasche und holte ein Bündel Unterlagen hervor. »Hier sind die Konstruktionspläne und Schiffsdaten der Ocean King, signiert von Nathaniel Thompson, dem Eigentümer der Thompson Werft.« Er legte die Papiere auf das Pult. Als er den Kopf hob, sah er, dass der Blick des Schalterbeamten starr auf seinem Zopf haftete, der durch das Hinabbeugen zur Tasche auf seine Brust gerutscht war. Am Schalter nebenan scherzte man.

»Ich benötige ferner Ihre Ausweispapiere, Mr. Buchanan«, erklärte T. C. Peck kurzangebunden.

Ryon fasste in die Innenseite seines Jacketts, ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. Die Stirn in Falten gelegt, durchblätterte T. C. Peck seine Papiere und das Anschreiben von Nathaniel Thompson. Er atmete hörbar durch die Nase ein, während er den Lederumschlag öffnete, in dem sich die Unterlagen befanden. Um seine Mundwinkel zuckte es von Zeit zu Zeit, als er diese prüfte. »Die Dokumente werden hier verwahrt, damit die Daten im Greenbook aufgenommen werden können. Sie erhalten einen Beleg für die Aufnahme.« Er füllte ein Formular aus, setzte einen Stempel darauf, unterschrieb und reichte es ihm. »In zwei Tagen können Sie wiederkommen und Ihre Unterlagen abholen.« T. C. Peck hüstelte. »Die Konstruktionspläne sind nicht unterschrieben. Wenn Sie der Ingenieur dieses Schiffes sein wollen, unterzeichnen Sie sie jetzt.« Ryon nahm die Feder sowie die Unterlagen entgegen und signierte diese. »Das war es auch schon«, ließ der Schalterbeamte ihn wissen.

Die Verabschiedung erfolgte durch ein stummes Nicken.

Ryon schritt zurück zur Anmeldung, und nachdem er abermals gewartet hatte, bis er an der Reihe war, legte er einen Brief auf den Schalter. »Ich würde gern Mr. Bridgetown sprechen, sofern er im Hause ist.«

Der Mann hinter dem Schalter las das Schreiben und nickte schließlich. »Mr. Buchanan, wenn Sie bitte meinem Kollegen folgen möchten.« Er rief einen Bediensteten.

Im zweiten Stock des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping befanden sich der berühmte Committee Room und die Büros der Vorsitzenden. Auch hier waren Holzplanken ausgelegt, doch war die Einrichtung deutlich gehobener: Die Türrahmen waren von Marmorsäulen eingefasst, komplexe Mosaikmuster zierten die Decken. Der Geruch von Tabak und Holz, der im unteren Geschoss dominierte, war ebenfalls wahrnehmbar, jedoch schwächer.

Richard Bridgetown saß hinter einem riesigen Schreibtisch in einem Ledersessel und studierte Papiere, als Ryon Buchanan eintrat. Jeder Winkel des Raumes strahlte Macht und Eleganz aus: Orientalische Teppiche bedeckten den Boden des großen Büros, beeindruckende Gemälde mit Schiffsmotiven schmückten die Wände. Er wurde von dem Bediensteten vorgestellt. Bridgetown reagierte im ersten Moment irritiert, doch dann blitzten seine Augen auf. Er erhob sich und kam ihm entgegen.»Mr. Buchanan, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ryon ergriff die ihm dargebotene Hand. »Mr. Bridgetown, es ist mir eine Ehre.«

Bridgetowns Blick durchbohrte ihn förmlich. »Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Brandy anbieten? Oder einen Gin Fizz?«

»Ich bevorzuge ein Glas Wasser.«

Bridgetown hob die Brauen, wies dann auf den Sessel vor seinem Schreibtisch und schritt zu einem Buffet, auf dem einige Flaschen standen. Ryon nahm in dem ihm offerierten Sessel Platz und betrachtete den muskulösen Mann, der Wasser aus einer Karaffe in ein Glas füllte und einen der oberen Schränke öffnete, um daraus eine Flasche zu entnehmen und sich aus dieser ein Glas einzugießen. Bridgetown war schlank und von stattlicher Größe. Seine halblangen, grauen Haare waren nach hinten gestrichen und hingen teilweise über die Ohren. Die Koteletten waren ebenfalls grau, nur der Schnurrbart schwarz. Er hatte eine gerade, kurze Nase und buschige Brauen. Obwohl sich seine Mundwinkel hinabneigten, wirkte dies weder abschätzig noch bitter, sondern vielmehr entschlossen. Der Vorsitzende des Lloyd’s Register strahlte Stärke aus.

Bridgetown durchquerte den Raum und reichte ihm das Glas Wasser. Nachdem er sich gesetzt und sein Glas auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, lehnte er sich zurück und musterte ihn aufmerksam. »Juni 1851 ist es gewesen, als Ihr Vater hier das erste Mal in diesem Sessel saß, in dem Sie nun sitzen. Er erzählte mir damals, dass er sehr bald Vater werden würde. Ich erinnere mich an dieses Zusammentreffen mit Ihrem Vater noch sehr genau. Ich weiß, dass er seinen Aufenthalt in London verkürzte, um rechtzeitig zu Ihrer Geburt daheim zu sein.«

»Ich kam am Tag seiner Rückkehr abends auf die Welt.«

»Ich weiß.« Bridgetown beugte sich über den Schreibtisch. »Lassen Sie uns auf unsere Zusammenkunft anstoßen.« Sie stießen an. Bridgetown lehnte sich wieder zurück. Einen Moment lang war nur das Plätschern der Regentropfen gegen die Fensterscheiben zu hören. »Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass ich soeben einen Moment benötigte, Sie mit Ihrem Vater in Verbindung zu bringen.«

»Sie sind nicht der Einzige, dem es schwerfällt, eine Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir zu entdecken. Mein Bruder und ich sind nach der Mutter geraten.«

Bridgetown sah ihn nachdenklich an. »Ja, es ist offensichtlich, dass Ihr Vater Ihnen nichts von seiner weißen Haut vererbt hat. Dafür aber hat er Ihnen etwas anderes mitgegeben: die Leidenschaft für den Schiffsbau.«

»Ich habe sehr viel von meinem Vater über Schiffsbau gelernt, das ist richtig.«

Bridgetown hob die Brauen, verzichtete jedoch auf einen Kommentar hierzu. »Wie lange sind Sie schon in London?«

»Vier Tage. Ich hätte Sie gern früher aufgesucht, aber mein Weg hat mich zunächst zu Palmer’s Shipbuilding nach Jarrow geführt, da ich Charles und George Palmer sprechen wollte, bevor sie nach Liverpool reisen.«

»Nathaniel Thompson interessiert sich für den Bau doppelbödiger Schiffe?«

»Nein. Ich bin für eine Zusammenarbeit mit der Harland Werft diesbezüglich angefragt worden. Heute morgen traf ich mich mit Alexander Carlisle, um ihn über meine jüngsten Erkenntnisse zu informieren und die weiteren Schritte zu besprechen.«

»Davon hat er mir gar nichts erzählt! Ich traf Alexander Carlisle im Zuge der Registrierung seiner Britannic kürzlich hier im Hause. Die White Star Line kann sich glücklich schätzen, einen Ingenieur wie ihn in ihren Reihen zu haben. Das dürfte eine spannende Zusammenarbeit für Sie werden.«

»Das denke ich auch. Man kann nur von ihm lernen.«

»Dasselbe sagte er über Sie.«

Ryon sah verblüfft auf.

»Carlisle sagte mir, Sie hätten nicht nur das Know-how, sondern auch die Weitsichtigkeit eines Brunels. Er beschrieb Sie mir als einen Mann mit Fantasie, reich an unkonventionellen Ideen.«

Ryon nahm einen Schluck Wasser. »Ich weiß dieses Lob sehr zu schätzen«, erwiderte er.

Ein greller Blitz ließ den Raum hell aufleuchten, ein tiefer Donnerschlag folgte.

»Das ist England«, kommentierte Bridgetown mit Blick zum Fenster.

»Für die einen ist es England, für die anderen Wakinyan, der Donnervogel.«

Bridgetown lachte auf und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Diesen Samstag findet der alljährliche Ball des Llyod’s im Claridge’s statt. Ich würde Sie gern mit einigen Leuten bekannt machen.«

»Vielen Dank für die Einladung. Ich komme ihr gerne nach.«

Es klopfte an der Tür und gleich darauf stürzte ein junger Mann in das Büro.

»Mr. Bridgetown«, stieß dieser mit aufgelöster Miene aus, »auf der Bothnia gab es eine Explosion. Möglicherweise ist der Geschäftsführer der Cunard Line, Charles MacIver, tot oder unter den Verletzten. Es wurde übermittelt, dass er sich just zum Zeitpunkt der Explosion im Maschinenraum befand.«

Bridgetowns Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Wann ist das passiert?«

»Vor etwa einer Stunde.«

»Lassen Sie meine Kutsche vorfahren und sagen Sie meine Termine für heute Mittag ab.«

Bridgetown fasste die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen und legte sie in eine Schublade, richtete einen kleinen, silber eingefassten Bilderrahmen auf, der zwischen diesen lag und sah schließlich Ryon mit ernster Miene an. »Die Bothnia wurde vor vier Tagen in unserem Haus registriert. Ein bemerkenswertes Schiff. Das Beste, das die Cunard Line seit langer Zeit gebaut hat. Charles MacIver«, Bridgetown hielt kurz inne, bevor er weitersprach, »ist mir seit vielen Jahren bekannt.« Er verharrte abermals einen Moment. »Ich traf Ihren Vater gestern Abend im White’s Club, als er gerade mit Charles MacIver sprach. Er tat sein Interesse kund, die Bothnia zu besichtigen. Möglicherweise ist er auch auf dem Schiff.«

Ryons Wangenmuskeln spannten sich an. »Ich komme mit«, sagte er.

Bereits von Weitem war die Unglücksstelle zu erkennen: Eine riesige schwarze Rauchwolke stieg unheilversprechend von dieser in den Himmel auf. Aufgeregte Stimmen drangen vom Schiff zu ihnen herüber, während sie den Steg passierten. Die Luft war von einem beißenden Gestank erfüllt. William McMickan, der Kapitän der Bothnia, stand auf dem oberen Deck und blickte mit versteinertem Gesichtsausdruck hinab auf die Geschehnisse unter ihm. Ein Dutzend Policemen war damit beschäftigt, Ordnung ins Chaos zu bringen, die Mannschaft zu vernehmen und dafür zu sorgen, dass niemand das Schiff verließ. Ein Verbrechen könne bislang nicht ausgeschlossen werden, hieß es. Schmerzensschreie ertönten vom Achterdeck, auf das man offenbar die Verletzten gebracht hatte. Ein kurzer Seitenblick verriet Ryon, dass Bridgetown ihn besorgt ansah.

Das Unwetter hatte sich gelegt, die Sonne sandte bereits wieder ihre Strahlen aus. Es war nach wie vor unerträglich heiß, die Luft strotzte vor Feuchtigkeit. Alles wirkte scharf, grell und bunt. Alles, bis auf den Rauch, der dem Maschinenraum der Bothnia entstieg. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurden sie von einem Constable auf das Schiff gelassen. Ohne Umschweife steuerte Ryon auf die Unglücksstelle zu. Bridgetown begleitete ihn ein Stück, entschied sich dann aber, auf das obere Deck zu gehen, um mit Kapitän William McMickan zu sprechen.

Ryon sprang die Stufen zum unteren Deck hinab. Wenige Schritte von der Tür entfernt, aus der der Qualm aufstieg, stand ein junger Mann der Fire Brigade, der seinen Helm unter dem Arm geklemmt hielt und angespannt auf die Tür blickte.

»Wissen Sie, wie viele Männer schon herausgeholt wurden?«, fragte Ryon ihn ohne Umschweife. Der junge Mann wandte sich ihm zu und blickte auf seinen Zopf, als sähe er einen Geist. »Sieben. Bis jetzt sind es sieben.«

»War darunter ein Mann von etwa vierzig Jahren? Ein Amerikaner? Braune Haare, mittelgroß?«

»Alle, die herausgeholt wurden, sind Maschinisten der Bothnia. Zwei von uns sind noch drin und suchen. Es heißt, der Geschäftsführer der Cunard Line sei noch im Maschinenraum, zusammen mit einem Ingenieur, der sich den Motor ansehen wollte. Ist das der Mann, den Sie suchen?«

»Ich glaube, ja. Würden Sie mir Ihren Helm und Ihre Uniform leihen?«

»Es sind zwei Leute von unseren Jungs drin, Mister. Und wenn Sie mich fragen, die hätte unser Chef gar nicht reinschicken sollen. Meine Kollegen riskieren ihr Leben für nichts. Da drin lebt keiner mehr, da bin ich sicher.«

Ryon blickte ihn mit eisiger Miene an. »Es ist mein Vater, nach dem ich suche.«

Der Brigadist sog die Luft laut durch die Nasenflügel ein. »Sie sind doch gar kein Weißer. Das soll Ihr Vater sein, da drin?«

»Mein Vater ist Amerikaner. Meine Mutter Lakota. Genügt Ihnen das als Erklärung?«

Der Brigadist betrachtete ihn skeptisch, reichte ihm jedoch den Helm und zog seine Uniform aus. »Das ist die Hölle da drin«, meinte er.

Ryon zog sein Jackett aus, stieg in die Uniform und setzte sich den Helm auf. »Das glaube ich Ihnen. Aber ich muss gehen. Haben Sie vielen Dank.«

Die Hitze schlug ihm wie ein Peitschenhieb ins Gesicht. Durch die Augenschlitze erkannte er verschwommen Feuer am Ende des Ganges. Entschlossen ging er darauf zu, doch mit jedem Schritt wurde die Hitze unerträglicher. Lautes Prasseln und Zischen betäubte seine Ohren. Plötzlich wurde er aus dem Nichts heraus grob angestoßen. Er stützte sich mit seiner Rechten an der Wand ab. Ein blitzartiger Schmerz schoss in seine Hand: Die Wand glühte. Schwach meinte er die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der einen anderen schulterte. Er blickte noch einmal den Gang hinunter zum Maschinenraum. Alles war orange, verzerrt. Eine weitere Gestalt tauchte plötzlich auf, fasste ihn grob an der Schulter und zog ihn mit sich zum Ausgang. Er besaß kein Quäntchen Luft mehr in den Lungen. Das Gefühl, zu ersticken, war alles bestimmend.

Kaum dass sie draußen waren, sog er gierig die frische Luft in seine Lungen. Er beugte sich vornüber, der Helm fiel hinab. Seine Haut glühte. Als er die Augen aufschlug, besah er sich seine Hand, auf der sich gerade Brandblasen bildeten. Er sah sich nach Wasser um, fand einen Eimer und ließ die Hand darin versinken. Er öffnete die Uniform und strich sie von sich ab. Ihm war heiß, unfassbar heiß. Mit der linken Hand krempelte er die Ärmel hoch, öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig von der Anstrengung. Die gebräunte Haut und das große Tattoo auf seiner Brust, welches durch sein offenes Hemd zutage trat, glänzten von Hitze und Schweiß. Unweit von ihm entfernt standen die beiden Männern der Fire Brigade, die mit ihm im Maschinenraum gewesen waren. Sie wurden von Kollegen und Krankenschwestern versorgt. Auf dem Boden lag der Mann, den sie herausgeholt hatten. Es war sein Vater. Ein Arzt saß kniend vornübergebeugt vor diesem. In der nächsten Sekunde war er bei ihm. Schwere Verbrennungen und Verletzungen, vermischt mit Blut, waren sichtbar. Der Brustkorb seines Vaters hob und senkte sich kaum wahrnehmbar, die Augen waren geschlossen. Sein Vater bewegte die Lippen, sie formten ein Wort, ohne jedoch einen Laut zu bilden. Unversehens zog er deutlich hörbar die Luft ein, dann sank sein Oberkörper zusammen und regte sich nicht mehr.

»Für diesen Mann kommt jede Hilfe zu spät«, sprach der Arzt. Er atmete tief ein. »Sie kannten ihn?«, fragte er Ryon zugewandt.

»Er ist mein Vater.« Ryon ergriff die Hand seines Vaters und murmelte leise Worte in seiner Muttersprache. Kaum dass er gesagt hatte, was er seinem Vater hatte sagen wollen, erklang eine helle Frauenstimme.

»Dr. Croft?« Eine Krankenschwester trat zu ihnen. »Wir bräuchten Ihre Hilfe auf dem Achterdeck. Wenn Sie Zeit hätten …«

Ryon musterte sie. Die Krankenschwester war größer als die meisten Frauen. Ihre schwarze Schwesterntracht war durchnässt und klebte an ihr. Sie blickte abwechselnd auf seinen Vater und ihn, Traurigkeit und Überraschung spiegelte sich in ihren bernsteinfarbenen Augen.

»Ich komme«, sprach der Arzt. »Mein Beileid«, sagte er zu Ryon, während er aufstand.

Dieser nickte und sah den beiden nach, als sie gingen. Die Krankenschwester drehte sich noch einmal um, wandte sich aber sogleich abrupt ab, als sie gewahr wurde, dass er sie ansah. Der Arzt schritt mit ihr zu einem Policeman, der Ryon aus der Ferne taxierte. Sofort hatte er das Gefühl, dieser habe ihn schon länger im Visier. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung wirkte der Mann abgebrüht. Das Chaos an Deck schien ihn nicht im Geringsten zu erschüttern. Ryon stand auf und schritt wieder zum Eimer, um seine Hand zu kühlen. Er atmete tief durch, betrachtete seinen Vater, der nun von zwei Männer der Fire Brigade auf eine Trage gelegt wurde.

»Wer sind Sie? Was hatten Sie da drinnen zu suchen?«, wurde er barsch zur Rede gestellt. Er blickte in kühle, graue Augen. Es war der Policeman. Sein Blick durchbohrte ihn förmlich.

»Mein Name ist Ryon Buchanan. Ich wollte meinen Vater aus dem Feuer retten.« Ryon wies mit dem Kopf auf seinen toten Vater. »Und wer sind Sie?«

»Das können Sie irgendwem erzählen, aber nicht mir! Halten Sie sich aus unserer Arbeit raus. England ist nicht Amerika. Wir befinden uns nicht in der Prärie. Hier macht nicht jeder, was er will.«

Ryons Miene verfinsterte sich. »Offenbar schon.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, aus der noch immer schwarzer Rauch drang.

»Ein Dampfkessel ist explodiert. Offenbar ein technischer Defekt.«

»Warum sind Sie dann hier, Mister …?«

»Baker. Inspector Orville Baker. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass kein Verbrechen vorliegt, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht der Fall ist. Die Bothnia ist ein brandneuer Segeldampfer. Sie wäre nicht das erste Schiff, das aufgrund eines technischen Defekts ein Unglück ereilt.«

Ryon beugte sich vor und seine Augen verengten sich zu engen Schlitzen. »Mein Vater ist tot.« Er nahm die Hand aus dem Eimer und betrachtete die Verbrennung, bevor er wieder anhob zu sprechen und sich dem Inspector zuwandte. »Im Maschinenraum riecht es nach Dynamit.«

»Haben Sie auch Geister gesehen da drinnen, die uns Hinweise geben könnten?« Der Inspector lachte spöttisch auf. »Wir untersuchen die Unglücksstelle und prüfen jeden Mann. So arbeitet man in England, nicht mit der Nase.«

»Das ist der Blick eines Wasicu. Der Schuldige befindet sich möglicherweise gar nicht mehr auf dem Schiff, Inspector Baker. Sie sind später eingetroffen als die Krankenschwester – ihre Kleidung ist nass, die Ihrige trocken.«

Der Inspector rümpfte die Nase. »Wie sind Sie überhaupt auf dieses Schiff gekommen? Und wann?«

»Ich bin mit Mr. Bridgetown auf dieses Schiff gekommen. Nach dem Regen, wie Sie sehen.«

»Ich werde das prüfen.«

»Machen Sie das. Ich werde jetzt Mr. Bridgetown aufsuchen.« Mit diesen Worten wandte Ryon sich ab.

Unwillkürlich rückte der Schmerz wieder in den Vordergrund, vertrieb jeden anderen Gedanken. Eine leichte Brise zog über das Schiff und ließ ihn innehalten, spontan den Kopf in den Nacken werfen und die Augen schließen. Das Bild seines sterbenden Vaters war sogleich da. All das Blut. All die Verletzungen. Sein Brustkorb, der sich hob und zum letzten Mal senkte. Er hatte den Namen seiner Mutter ausgesprochen, ohne einen Laut.

Ryon öffnete die Augen wieder und sah in den blauen Himmel. Er musste Bridgetown finden.

Auf dem oberen Deck war dieser nicht mehr. Auch der Kapitän war nirgends zu sehen. Die erhöhte Position erlaubte ihm jedoch, das Schiff zu überblicken. Schließlich fand er Bridgetown auf dem Achterdeck stehend, bei den Verletzten und den Krankenschwestern.

Ein Schreckensszenario bot sich seinen Augen, als er die Treppen zu diesem hinabstieg. Fünf verletzte Männer zählte er. Weiter rechts, in einigem Abstand, registrierte er drei mit Tüchern zugedeckte Körper. Die Verletzten wimmerten und stöhnten, während die Krankenschwestern sich mühten, sie mit sauberem Wasser, frischen Tüchern und Verbänden soweit zu versorgen, dass sie für den Transport ins Krankenhaus bereit waren. Auf dem Boden neben ihm lagen zu eben diesem Zweck Tragen bereit. Bridgetown stand einige Meter entfernt vor einem der Verletzten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ins Gespräch mit einer der Schwestern vertieft, von der er nur den Rocksaum und die Schuhe sehen konnte, da Bridgetown die Sicht auf sie versperrte.

»Onkel Richard«, hörte er eine energische Frauenstimme, »ich weiß es nicht! Und nun lass mich meine Arbeit machen …«

»Mr. Bridgetown …« Alles in ihm spannte sich an, als er neben Bridgetown die Krankenschwester wiedererkannte, die zuvor zu ihm und dem Arzt getreten war. Es lag eine Entschlossenheit in ihrem Blick, in ihren dunkelbraunen Augen, die er noch nie zuvor bei einer anderen Frau gesehen hatte.

»Mr. Buchanan.« Bridgetown holte tief Luft, während er irritiert auf Ryons offenes Hemd blickte und das Tattoo auf seiner Brust wahrnahm. »Kapitän McMickan sagte mir, dass Ihr Vater an Bord war. Dass es keine Hoffnung gibt, noch Lebende aus dem Maschinenraum zu bergen. Er steht unter Schock, konnte mir nicht sagen, ob Ihr Vater unter den Verletzten ist … Sagen Sie, waren Sie etwa im Maschinenraum?«

»Ja, doch ich kam zu spät. Einer der Männer der Fire Brigade hat meinen Vater geborgen. Er ist tot.«

Bridgetown zuckte zusammen und blickte ihn erschüttert an. »Es tut mir leid …«

»Mein herzliches Beileid, Mr. Buchanan.« Bridgetowns Nichte senkte den Kopf.

Eine Pause entstand.

»Was ist das?« Sie ergriff sein Handgelenk und betrachtete die Verbrennung.

»Ich wurde angerempelt und stützte mich an einer heißen Wand ab.«

Sie hob die Brauen und schüttelte missmutig den Kopf. »Das muss behandelt werden.« Rasch wandte sie sich um, schritt zu ihrem Koffer und entnahm eine Dose. »Dies ist eine Brandsalbe, Mr. Buchanan.« Sie schraubte die Dose auf und nickte ihm aufmunternd zu. »Kommen Sie, lassen Sie sich versorgen.« Sein Herz begann zu rasen. Ihre Hand fühlte sich weich an. Er sah, dass ihre Finger gerötet waren, sie trug keinen Ring. Als er aufsah, gewahrte er, dass sie seine Tätowierung in Augenschein nahm. Er wandte den Blick ab, sah einen Mann, der trotz der schwerwiegenden Verletzung, die er von dem Unglück davongetragen hatte, bei Bewusstsein war. Ein großes Holzstück ragte aus seinem Bein heraus. Der Fremdkörper war mit einem Verband fixiert worden. Eine derartig hässliche Verwundung hatte er schon einmal gesehen. Damals war der Verletzte auf die gleiche Weise versorgt worden. Sein Blick schweifte weiter. Ein Koffer mit Tüchern, Verbänden und Medikamenten stand offen neben diesem, ebenso eine Schale mit Wasser, das rot gefärbt war. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt dem Verband, den sie ihm, nachdem sie seine Hand eingesalbt hatte, anlegte.

»Mr. Buchanan, ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht. Dies ist meine Nichte Alessa Arlington.«

»Bitte treten Sie zur Seite.« Ein paar Schiffsleute hatten sich eine der Tragen gegriffen und bahnten sich einen Weg zu den Verletzten. Voran schritt eine junge Schwester. »Wen sollen wir zuerst mitnehmen?«, fragte diese Bridgetowns Nichte.

Alessa deutete mit dem Kopf auf einen der Verletzten. »Den hier zuerst. Jack heißt er, so viel habe ich aus ihm herausbringen können. Mary, lass ihn nicht aus den Augen. Pass auf, dass er nichts macht. Das Holzstück darf auf keinen Fall bewegt werden.«

Mary nickte. »In Ordnung.«

Alessa trat zur Seite, um den Männern Platz zu machen, ebenso Ryon und Bridgetown.

»Vielen Dank für die Versorgung, Ms. Arlington.«

Alessa schraubte den Verschluss der Dose zu und reichte sie ihm, wobei sie ihm tief in die Augen sah. Sie wirkte mit einem Mal streng. »Tragen Sie die Salbe jede Stunde auf, Mr. Buchanan. Das lindert die Schmerzen und fördert den Heilungsprozess. Wenn die Blasen aufgehen, legen Sie besser wieder einen Verband an, um einer Infektion vorzubeugen.«

Er bedankte sich.

Bridgetown drängte zum Aufbruch und sie verabschiedeten sich voneinander. Bevor er Bridgetown folgend das Deck verließ, sah er sich nochmals nach ihr um. Sie stand noch immer am selben Platz. Irgendwie schien sie sich ertappt zu fühlen, als ihre Blicke aufeinandertrafen, denn sie senkte unwillkürlich die Lider und wandte sich ab.

In der Kutsche kreiste ihr Gespräch um die Explosion auf der Bothnia und den Tod seines Vaters. Sie trafen eine Verabredung für den nächsten Tag; Ryon wollte einen Blick in das Greenbook werfen, um mehr über die technischen Details der Bothnia in Erfahrung zu bringen. Für ihn stand fest, dass es sich nicht um ein Unglück, sondern um Sabotage handelte. Ryon versäumte es auch nicht, mit Bridgetown über Inspector Baker zu sprechen. »Ich bin skeptisch, ob er den Aufgaben eines Inspectors gewachsen ist. Er ist viel zu jung, besitzt vermutlich keine Erfahrung«, tat Ryon seine Zweifel kund.

Doch Bridgetown wischte seine Bedenken beiseite. »Kapitän McMickan sagte mir, er habe direkt nach der Explosion The Met, das ist der Metropolitan Police Service, verständigt. Der Leiter, Garrick Bowie, habe gesagt, er schicke einen seiner besten Männer. Möglicherweise täuscht der erste Eindruck. Warten Sie ab.«

Ryon beschloss, Bridgetowns Rat zu folgen und abzuwarten. Vielleicht hatte der junge Inspector entgegen seiner Annahme doch einiges in petto. Sein abweisendes Verhalten ihm gegenüber stand auf einem anderen Blatt.

Inzwischen war es später Nachmittag. Die Kutsche bog in die Fenchurch Street ein. Bridgetown stieg aus, verweilte aber mit einem Fuß auf der letzten Stufe, während er sich Ryon zuwandte. Auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. »Mir ist aufgefallen, dass meine Nichte Eindruck auf Sie gemacht hat. Deshalb möchte ich Ihnen etwas über sie sagen: Alessa hat ihren Vater vor einem Jahr verloren. Er ist bei einem Brand auf einer Baumwollplantage in North Carolina ums Leben gekommen, als er diese für seine Kleidermanufaktur besichtigte. Meine Schwester, Alessas Stiefmutter, ist in großer Sorge, denn Alessa hat vielerlei Flausen im Kopf. Seit ein paar Jahren arbeitet sie in diesem Krankenhaus von Florence Nightingale, aber das scheint ihr nicht zu genügen. Sie spielt mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, zu studieren, redet von Selbstverwirklichung und Emanzipation … Ja, sie hat so ihren eigenen Kopf.« Bridgetown presste die Lippen aufeinander. »Meine Schwester ist der Ansicht, dass sie bald heiraten sollte. Und tatsächlich gibt es da auch einen Anwärter. Ich möchte, dass Sie das wissen.«

»Mr. Bridgetown, Ihre Nichte ist nicht nur eine hübsche, sondern auch eine in jeder Hinsicht wunderbare Frau, davon bin ich überzeugt. Ich schätze es zudem überaus, wenn eine Frau weiß, was sie will.«

Verwirrt blickte Bridgetown ihn an. Dann schien er zu begreifen, was Ryon ihm sagen wollte. Er nickte. »Wir sehen uns dann morgen.«

»Bis morgen, Mr. Bridgetown.«

Bridgetown schloss die Kutschentür und die Pferde trabten langsam an.

Ryons Blick wanderte zu seiner verbundenen Hand. Es gibt da einen Anwärter … Wieso gruben diese Worte sich derart verletzend in seine Gedanken? Wer war diese Frau, dass sie solche Gefühle in ihm auslöste?

KAPITEL 2

Donnerstag, 11. Juni 1874, 2:22 UhrMayfair Hotel

Wie auch in den Nächten zuvor schreckte Ryon plötzlich auf und war hellwach. Es mussten die Kirchenglocken sein, ihr Läuten war von durchdringender Lautstärke.

Sein nackter Oberkörper glänzte im Halbdunkel des Zimmers. Er schwitzte. Die Decke lag feucht und schwer auf seinem Unterleib und seinen Beinen. Er richtete das Knie auf. Durch das halboffene Fenster drang das Prasseln von Regentropfen an seine Ohren. Es roch nach Pflastersteinen und ein bisschen nach Alessa, obwohl sie nicht da war und der Wind nur einen Hauch ihres Duftes auf dem Schiff zu ihm hinübergetragen hatte – und er ihn eigentlich nicht wirklich kannte. Er streifte die Decke mit den Füßen von sich und richtete sich auf. Beim Versuch, sich die Haare aus der Stirn zu streichen, wurde er unsanft an seine malträtierte Hand erinnert. Die Geschehnisse auf der Bothnia waren ebenfalls mit einem Mal wieder da: der Qualm, die Hitze auf seinem Gesicht, die Beklemmung in seiner Brust, der Brandgeruch und die Panik, die auf einmal von ihm Besitz ergriffen hatte. Das Bild seines Vaters …

Er sank zurück in das Kissen und legte seine Hand weit von sich ab. Seine Schwermut rührte nicht nur vom Tod seines Vaters, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und den Geschehnissen im Maschinenraum her. Vielmehr entsprang sein Unbehagen einem Gefühl, das er nicht einzuordnen vermochte, das ihn verwirrte und ihn, was er sich noch weniger eingestehen wollte, auch irgendwie in Sorge versetzte: Er hatte von ihr geträumt. Alessa hatte Besitz von ihm ergriffen.

Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig, als einzelne Bruchstücke seines Traums wieder in sein Bewusstsein drangen. Er fragte sich, ob sein Gefühl, auch etwas in ihr ausgelöst zu haben, ein Hirngespinst sein mochte oder aber der Wirklichkeit entsprach. Er dachte darüber nach, wie sie sich bewegt, wie ihre Stimme geklungen hatte, und letztlich sann er darüber nach, was er über sie von Bridgetown erfahren hatte. Die Tatsache, dass Alessa eine Waise war, ließ ihn nicht los. Irgendwie fühlte sich das nach Nähe an, als wisse er etwas über ihr Leben oder sie vielleicht über seines. Dass sie nach Amerika auswandern wollte, um zu studieren und sich selbst zu verwirklichen, beschäftigte ihn ebenfalls.

Was war bloß passiert? Seine Welt stand Kopf. Er sollte besser seine Sinne beisammenhalten. Sein Vater war Opfer eines Verbrechens geworden, davon war er überzeugt. Er sollte in London bleiben, bis geklärt war, was auf der Bothnia geschehen war. Sich nicht auf einen jungen Inspector verlassen, der sich wichtigtat. Oder seine Zeit damit zuzubringen, an eine Frau zu denken. Egal, wie beeindruckend sie war.

Ryon stöhnte leise. Sie war hübsch. Die hübscheste Frau, die er jemals gesehen hatte. Aber das war es nicht, was dieses Gefühl in ihm auslöste. Es war mehr das, was er in Alessa zu sehen geglaubt hatte, das dieses Gefühl auslöste. Hinzu kam, dass er glaubte, es würde nicht weggehen. Nicht einfach so. Vielleicht niemals.

Der Gedanke schnürte ihm die Luft ab. Er richtete sich auf und stieg aus dem Bett, ging zur Anrichte, griff nach der Karaffe und füllte Wasser in eine Schüssel. Wieder und wieder tunkte er den Lappen hinein, fuhr sich damit über Brust, Hals und Gesicht. Dann nahm er Alessas Dose, schraubte sie auf und salbte seine Hand ein. Sein Blick fiel auf den Koffer, den er neben der Anrichte abgestellt hatte. Der Koffer seines Vaters. Dieser war noch am Abend eingetroffen. Bridgetown hatte sich darum gekümmert, dass der Besitz seines Vaters von dessen Hotel zu ihm gebracht wurde. Er hatte den Koffer auf der Stelle durchgesehen. Schon beim Öffnen war ihm der altbekannte Geruch seines Vaters in die Nase gestiegen. Er hatte sich schlagartig mit der Vergangenheit konfrontiert gesehen, der gemeinsamen Zeit, die noch immer schmerzhaft auf ihm lastete. Außer Kleidungsstücken und den Ausweispapieren hatte er ein Buch mit technischen Notizen gefunden, mehr nicht.

Er schraubte die Dose zu und stellte sie zurück auf ihren Platz. Anschließend richtete er den Blick auf seinen Wahukeza, der ebenfalls auf der Anrichte lag. In den nächsten Tagen würde er auf seine Übungen mit der Oglala-Waffe, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, verzichten müssen. Seine Finger glitten kaum merklich über den messerscharfen Obsidian. Wann hatte er das letzte Mal ohne das tägliche Training auskommen müssen? Es musste Jahre her sein. Irgendwie war alles aus den Fugen geraten.

Er schritt zum halbgeöffneten Fenster. Nacheinander öffnete er beide Flügel zur Gänze, dann stützte er sich mit der gesunden Hand auf dem Sims ab und sog die frische Nachtluft tief in die Lungen ein. Auf seinem nach wie vor heißen Körper bildete sich eine Gänsehaut. Die Pflastersteine unterhalb seines Fensters reflektierten das Licht der Laternen. In den Pfützen am Straßenrand kräuselte sich das Wasser. Es plätscherte – nicht stark, doch so, als wolle es niemals aufhören. Seitdem er in England war, hatte es mehr geregnet als in einem ganzen Monat in Maine. Jäh und unerwartet überkam ihn das Gefühl der Fremde. Was mochte sein Vater empfunden haben in dieser Stadt? Oft war er hier gewesen, über viele Wochen hinweg, Jahr für Jahr, das wusste er. Auch wenn er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatte, hieß das nicht, dass er nicht über ihn Bescheid wusste. Er wusste so einiges. Nun war sein Vater tot. Die Möglichkeit, sich noch einmal auszusprechen, war für immer erloschen. Seine Aufgabe war es, dies zu akzeptieren, anzunehmen, dass es so war.

KAPITEL 3

Samstag, 13. Juni 1874, 20:00 UhrClaridge’s

Der 14. Ball des Lloyd’s Register of Shipping fand wie jedes Jahr im Claridge’s statt. Das berühmte Hotel in Mayfair bot alles, was für dieses Ereignis vonnöten war: die richtige Lage sowie luxuriös ausgestattete, architektonisch beeindruckende und ausreichend große Räume für rund dreihundert Gäste. Alessa kannte das Claridge’s gut, da sie ihren Onkel und ihre Tante bereits zum dritten Mal begleitete. Es war einer der letzten Bälle in London, bevor die Saison sich dem Ende zuneigte. Alles, was Rang und Namen besaß, verschwand die Sommermonate über in die See-Regionen nach Bath, Clacton-on-Sea und andere renommierte Kurorte. Die Stadt war bereits jetzt angenehm leergefegt, wie Alessa es spitzbübisch auszudrücken pflegte.

Der Ball hatte einen völlig anderen Charakter als alle anderen Bälle. Mitarbeiter des Lloyd’s Register, Schiffseigentümer, Schiffsoffiziere und Kapitäne, Ingenieure, Investoren, Versicherer, schlicht alle, die mit Schiffen zu tun hatten, trafen sich hier. Die Veranstaltung wurde von Männern dominiert, und diese waren nicht etwa aufgrund ihrer Abstammung hier, sondern aufgrund ihres Könnens. Diese Tatsache und der Umstand, dass sie aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt kamen, fesselten Alessa. Sie interessierte sich für fremde Sitten und Gebräuche, für all die fernen Länder, deren Namen in ihren Ohren bisweilen so seltsam klangen, als handle es sich um fiktive Welten. Ein weiterer Grund, warum Alessa diesen Ball liebte, war, dass ihre Stiefmutter Fiodora bei dieser speziellen Veranstaltung nie zugegen war. Auch wenn Richard Bridgetown seine Schwester immer wieder einlud, sagte sie jedes Mal ab. Das viele Gerede über Schiffe, das Meer und ferne Länder langweile sie: »Was ist an einem Schiff so besonders? Es schwimmt auf dem Wasser wie jedes andere Stück Holz auch!« und »Was interessiert mich die Unkultiviertheit anderer Länder? Sieh sie dir doch alle nur an, Richard: Sie kommen nach London! Hier spielt die Musik!« waren ihre Kommentare. Außerdem waren ihr die Gattinnen der Kapitäne oder Ingenieure, sofern vorhanden, zu simpel. »In dieser Gesellschaft, lieber Bruder, bin ich sicherlich völlig fehl am Platz.«

Darin steckte tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit.

Als Alessa mit ihrem Onkel und ihrer Tante den weitläufigen Eingangsbereich des Claridge’s betrat, war es kurz nach acht Uhr. Obwohl sie all das kannte, verschlug es ihr wieder den Atem. Der Raum erstrahlte in goldgelbem Glanz. Gewaltige Kronleuchter glitzerten von der Decke und ihr Licht sprühte einen Reigen schillernder Punkte auf die Wände und den schwarz-weiß gefliesten Boden. Einige Gäste verweilten in Gespräche vertieft vor dem Kaminsims, unter den Arkaden oder vor der schwungvollen Treppe, die zum Ballsaal in den ersten Stock führte. Schwerer Moschusduft lag in der Luft.

Ihr Ankommen blieb nicht unbemerkt. Überall nickte man ihnen zu und hier und dort wurden sie in ein kurzweiliges Gespräch verwickelt. Die Blicke der Damen hafteten auf Alessas Robe.

Sie trug ein blassrotes Kleid aus Tussahseide, welche von einer floralen Struktur durchsetzt war. Der runde Ausschnitt des Dekolletés und auch der des Rückens waren mit Brüsseler Spitze versehen. Die Rückenpartie des Kleides war geschnürt, die schmalen Ärmel, die über die Ellenbogen reichten, schlossen ebenfalls mit der Spitze ab. Fast ein Jahr lang hatte das Kleid im Schrank gehangen, sie hatte es explizit für diesen Ball aufgehoben. Viele Frauen hatten ihre Haare nur teilweise hochgesteckt, wie es der neue Schick war. Sie hingegen hatte sich von Laura, dem Dienstmädchen, überzeugen lassen, dass ihr die klassische Hochfrisur am besten zu Gesicht stand. Eine mit kleinen, tiefblauen Saphir-Steinen bestückte Kette zierte ihren schlanken Hals. Das kostbare Schmuckstück war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. ›Aus Montana, mein Schatz.‹ Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem er ihr die Kette überreicht hatte. Die Erinnerung schmerzte. Nichts war mehr, wie es war. Er fehlte.

Sie schritten an einem großen Spiegel vorbei und für einen kurzen Moment erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie war kein kleines Mädchen mehr: Sie war eine Frau mit einem Lebensplan. Sie würde die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wenn sie es nicht tat, würden es andere für sie tun. Fiodora machte keinen Hehl daraus, dass sie sie verheiraten wollte – und zwar bald. Nun, gegen das Heiraten hatte sie ja gar nichts einzuwenden. Es musste nur der Richtige sein. Und wer das war, das wusste sie, Alessa, besser als Fiodora. Er war heute Abend nicht zugegen. Aber das minderte ihre gute Laune nicht.

Der Saal war bereits übervoll, ein deutliches Zeichen, dass sie recht spät dran waren. Die großen runden Tische waren mit feinstem Porzellan und Silber gedeckt, in denen sich das Licht der pompösen Kronleuchter spiegelte. Gebinde aus roten Rosen verströmten einen betörend sinnlichen Duft. Im hinteren Teil des Raumes spielte ein Orchester einen Walzer von Strauß. Die Töne schwebten leise über dem Murmeln der Menge dahin. Noch war das Spiel der Musiker verhalten, bald schon aber, nach dem Essen, würde die Musik den Abend dominieren. Die Abendsonne warf ihre Strahlen durch die großen Balkonfenster und ließ das Kirschholzparkett feurig aufleuchten.

»Mr. Bridgetown, Mrs. Bridgetown.« Ein junger Mann trat auf sie zu. Der blassen, sommersprossigen Haut nach zu urteilen, ein Ire. Alessa schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre. Interessiert betrachtete sie ihn. Auch er warf ihr einen neugierigen Blick zu.

»Mr. Carlisle!« Ihr Onkel lächelte erfreut auf, während er ihm die Hand schüttelte. »Meine Frau Beth und meine Nichte Alessa Arlington, wenn ich vorstellen darf.«

Alexander Carlisle! Verblüfft hielt Alessa die Luft an. Natürlich hatte sie von dem Ausnahme-Ingenieur gehört, der für die White Star Line arbeitete. Carlisle nahm ihre Hand. Formvollendet verbeugte er sich, einen Kuss andeutend, wie es sich schickte. Als er sie wieder anblickte, lächelte er.

»Wo sitzen Sie, Mr. Carlisle?«, nahm Richard Bridgetown den Faden wieder auf, nachdem Carlisle auch Beth seine Aufwartung gemacht hatte.

»Ich sitze in der Mitte.« Carlisle deutete auf die erste Reihe. Sie verabredeten sich für ein späteres Gespräch und Carlisle erbat sich von Alessa und Beth die Erlaubnis, sie später zum Tanz auffordern zu dürfen. Einer der Diener führte sie zu ihrem Tisch. Das freudige Gefühl, das sie bis eben erfüllt hatte, schwand schnell, als sie sah, wer sie dort erwartete. Natürlich hatte sie gewusst, dass er dem Ball beiwohnen würde. Aber sie hatte es bis auf die letzte Sekunde verdrängt. Wieder wurde ihr bewusst, wie sehr er sie anwiderte.

»Alessa! Onkel Richard, Tante Beth!« Gerald Bonniers stand sogleich auf, um sie zu begrüßen. Er war von mittelgroßer Statur und somit fast mit ihr auf Augenhöhe. Sein Gesicht, das unterhalb der Wangenknochen leicht eingefallen war, erinnerte ein wenig an einen Vogel, was durch die eng beieinanderstehenden Augen und die leicht gekrümmte Nase noch unterstützt wurde. Als Franzose trug er ausschließlich Haute Couture de Paris. Die braunen Haare teilte ein weit seitlich gezogener Scheitel. Alles an ihm wirkte seltsam übertrieben. Sie zuckte heftig zusammen als er seine feuchten Lippen auf ihren Handrücken drückte. Über seinen gebeugten Rücken hinweg warf sie ihrem Onkel einen verzweifelten Blick zu. Aber dieser zeigte sich unbeteiligt. Weil Bonniers ihre Hand länger als nötig für sich beanspruchte, zog sie sie schließlich entschlossen zurück. Gerald Bonniers sah sie einen Moment lang überrascht an, fasste sich aber schnell wieder und wandte sich Richard und Beth zu.

Das Essen an Bonniers Seite schien Alessa schier endlos und gestaltete sich umso unerträglicher, als dieser die Unterhaltung mit Selbstkomplimenten zu spicken verstand. Sie entfernte sich schließlich von der Tischrunde, um ein wenig mit Eliza Berett zu plaudern, die mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Nachbartisch saß. Gespannt blickte sie sich während des Gespräches um. Von ihrem Onkel hatte sie in Erfahrung bringen können, dass einige spanische Schiffsoffiziere anwesend sein würden. Gerade die Spanier hatten sich beim letztjährigen Ball als die besten Tänzer erwiesen. Außerdem gab es noch eine andere Person, nach der sie Ausschau hielt. Aber er war nirgends zu sehen. Ihren Onkel hatte sie nicht zu fragen gewagt, ob dieser Jemand kommen würde. Auch wenn es irrational war, so befürchtete sie doch, allein das Aussprechen seines Namens könne etwas in ihr verfestigen, was sich auf keinen Fall verfestigen sollte.

»Suchst du die spanischen Schiffsoffiziere?«, fragte Eliza augenzwinkernd.

»Erwischt!« Sie lachte. Eliza war ihre engste Vertraute; sie kannten sich seit Kindertagen. Sie hatte Esprit, Witz und Charme. Zudem war sie sehr attraktiv. Stets wurde sie von Männern umschwärmt. An diesem Abend würde es genauso sein, spätestens, wenn die Tanzfläche freigegeben würde. Ihr Blick glitt bewundernd über ihre Freundin. Eliza hatte ihre dunkle Haarpracht zu einem mit Zöpfen durchwobenen Dutt aufgesteckt. Ihr lindgrünes Satinkleid bestach durch seine Schlichtheit und brachte ihre perfekte Figur deutlich zur Geltung. Eliza war schlank, ihre Haut weiß wie Schnee – ganz im Gegensatz zu der ihren.

»Dort drüben, sieh nur! Das ist ja der reinste Augenschmaus.« Eliza deutete mit dem Kinn auf den hinteren Bereich des Raumes. Ja, sie sahen wirklich hinreißend aus, diese Spanier. Wenn auch nicht so gut wie John. Oder Ryon Buchanan. Augenblicklich verkrampfte sie sich. Ryon Buchanan hatte nichts in ihrem Leben verloren. Dennoch hatte er ihr Herz berührt und sich in ihren Gedanken verankert – sie konnte die Begegnung auf der Bothnia nicht vergessen. Ohne Unterlass spukte er in ihrem Kopf herum. Die letzten zwei Tage war sie mit Florence zu einem Informationsaustausch zum Thema Gesundheitswesen in einem anderen Krankenhaus gewesen. Die Gedanken wieder einmal bei den Geschehnissen auf der Bothnia, hatte sie dem Fachgespräch kaum zu folgen vermocht. Als Florence sich schließlich zu ihr gebeugt und gefragt hatte, ob ihr der Kaffee schmecke, war sie überhaupt nicht in der Lage gewesen, zu verstehen, was diese von ihr wollte. »Er schmeckt vorzüglich«, hatte sie deshalb geantwortet. Florence hatte daraufhin mit säuerlichem Blick erwidert: »Dann ist es ja gut, Alessa. Die Schülerinnen werden sich in der nächsten Stunde sicherlich freuen, wenn du über die Kaffeequalität berichten wirst.« Sie hatte sich über Florences sarkastische Art geärgert, obwohl sie deren Unmut in jenem Moment nachvollziehen konnte. Florence nahm sie nicht mit, damit sie träumend dabeisaß, wenn es galt, etwas zu lernen. Ryon Buchanan bestimmte ihr Denken und sie ließ es geschehen. Wieder und wieder. Am vorangegangenen Abend hatte sie die Skizzen überarbeitet, die sie im Kreißsaal angefertigt hatte. Auch hier hatte er sich in ihre Gedanken gedrängt, denn sie hatte die Skizzen beiseitegeschoben, um ihn zu zeichnen. Sie hatte ihn so klar vor sich gesehen, als stünde er vor ihr. Dabei war ihr wieder bewusst geworden, wie groß er war: Er überragte sie um Kopfeslänge – und sie war keineswegs klein. Sein Körperbau war feingliedrig und schlank. Anders als bei den meisten Männern war sein Kehlkopf nur eine schwache Andeutung. Das verlieh seiner Erscheinung zusammen mit dem streng geflochtenen, hüftlangen Zopf sowie der vollen, wie von Meisterhand geschaffenen Oberlippe und den nach oben hinauslaufenden Mundwinkeln etwas Feminines. Die melancholisch wirkenden schwarzen Augen, umrahmt von dichten Wimpern, hatten etwas Magisches an sich, als bärgen sie das Leben aller vorangegangenen Generationen, eine verborgene Geschichte in sich. Überhaupt war alles an ihm sehr eigen. Seine Hand in der ihren zu fühlen war wie ein Schock gewesen, und sie erinnerte sich genau, wie bemüht sie gewesen war, konzentriert seine Brandblasen zu versorgen, sich abzulenken. Fast hatte es sie gefreut, dass sie einen Makel an ihm gefunden hatte: die wilde Braue über seinem linken Auge. Vermutlich lag eine Narbe unter dieser verborgen. Nein, er war nicht perfekt, kein außerirdisches Wesen, sondern ein Mensch wie jeder andere auch! Diese Erkenntnis hatte jedoch nicht ausgereicht, ihn aus ihren Träumen zu bannen. Dabei war sie doch in John verliebt! Ihr zukünftiger Mann konnte nichts anderes sein als ein Mediziner. Sie blickte sich erneut um. Ryon war wirklich nicht hier. Vielleicht blieb er dem Ball fern, weil er in Trauer war. Es gab so viele Menschen um sie herum: Wer brauchte ausgerechnet ihn? Sie spürte, wie sich ihre Unterlippe vorschob, auf die Fiodora zu gerne starrte, wenn sie wütend auf sie war. Vor Jahren hatte sie einmal den Satz »Ihr steht der Trotz ins Gesicht geschrieben – immer diese vorgeschobene Unterlippe!« fallen lassen. Seitdem kam ihr diese Bemerkung stets in den Sinn, wenn ihr bewusst wurde, dass ihre Lippen einen Schmollmund formten. Es ärgerte sie. Fiodora war nicht da. Sie hatte nichts in ihren Gedanken zu suchen. Nicht heute Abend.

Endlich war es soweit und die Musik spielte zum Tanz auf. Alessa sah, wie Onkel Richard Tante Beth zur Tanzfläche führte. Die beiden gaben ein bemerkenswertes Paar ab. Ein beklemmendes Gefühl legte sich um ihre Brust.

»Alessa? Was ist?« Eliza kniff sie in den Unterarm.

Alessa schüttelte den Kopf, als könne sie damit die Gedanken und Gefühle, die gerade in ihr aufstiegen, abschütteln. »Nichts. Es ist gar nichts.«

Eliza lächelte sie aufmunternd an. Vermutlich wusste ihre Freundin, was in ihr vorging. Es war nicht nötig, darüber zu sprechen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn ihre Mutter und ihr Vater noch lebten und sie es wären, die dort tanzten. Und die glücklich miteinander wären.

»Alessa?« Versonnen drehte sie sich um. Bonniers! Er besaß die Frechheit, einfach ihre Hand zu ergreifen und siegessicher daran zu zerren. Ausgerechnet er sollte ihr erster Tanzpartner sein an diesem Abend? Alles in ihr schrie nein! »Ich habe gehört, Tanzen sei dein Steckenpferd? Jetzt will ich mich höchstpersönlich davon überzeugen …«

Alessa biss die Zähne zusammen und schlug die Augen nieder. Sie konnte ihn nicht abweisen, denn damit würde sie ihren Onkel und ihre Tante verärgern. Sie musste das Spiel mitspielen.

»Ich kann mir nichts Vergnüglicheres vorstellen, Gerald, als mit dir zu tanzen …« Es war ironisch gemeint, aber er bemerkte es nicht. Bonniers grinste schräg. »Teuerste Alessa …«, stieß er aus, aber sein Satz wurde jäh unterbrochen.

»Ms. Berett? Darf ich um diesen Tanz bitten?« Ryon Buchanan, in bester Garderobe, war zu ihnen an den Tisch getreten. Er sah umwerfend aus. Ihr war heiß. Sollte sie etwas sagen? Wieso forderte er nicht sie zum Tanz auf, sondern ihre Freundin?

Ryons Augen wanderten zu ihr. »Ms. Arlington. Wie schön, Sie heute Abend zu sehen.«

Sie nickte nervös. »Mr. Buchanan …« Sie verschluckte sich und musste husten. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte sie endlich wieder ein Wort heraus, wobei sie hätte schwören können, dass ihre Stimme wie die einer Zwölfjährigen klang, die die falsche Mahlzeit serviert bekommen hatte, dies aber nicht zugeben wollte. »Es freut mich ebenfalls, Sie wiederzusehen. Aber … entschuldigen Sie … ich wurde gerade zum Tanz aufgefordert.«

Sie wechselte einen Blick mit Eliza. Ihre Freundin schien sich zu amüsieren, ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Eliza stand schließlich auf und reichte Ryon Buchanan ihre Hand. »Nun, Mr. Buchanan, da Sie bereits meinen Namen kennen und ich nun auch den Ihren, müssen wir nicht unnütz Zeit vergeuden, uns bekannt zu machen. Lassen Sie uns tanzen gehen!« Ryon lachte auf, ein tiefes, warmes Lachen, und reichte Eliza galant seinen Arm.

Alessa kochte innerlich vor Wut als sie an Bonniers’ Seite den beiden zur Tanzfläche folgte. Es ärgerte sie maßlos, dass Buchanan nicht sie, sondern Eliza als Partnerin ausgewählt hatte. Und dass er ganz locker mit ihrer Freundin lachte. Als würden sie sich kennen. Eliza war ihre Freundin.

Der Tanz dauerte viel zu lang. Immer wieder sah sie Eliza mit Ryon Buchanan vorbeiziehen, graziös, geschmeidig und voller Elan. Beide trugen ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie nicht gerade angeregt miteinander plauderten. Ihre Füße hingegen schmerzten, denn Bonniers verstand vom Tanzen genauso wenig wie von allem anderen. Immerhin sprach er nicht, da er sich aufs Tanzen zu konzentrieren schien. Als die Musik endlich endete, bedankte sie sich kurzangebunden bei ihm. Sie entzog sich ihm, obwohl sie damit seinen Satz unterbrach, in welchem er sie gerade auf ein Glas Champagner hatte einladen wollen. Sie sah seinen irritierten Blick, als sie ihre Röcke raffte und den Ausgang des Saals ansteuerte. Genaugenommen steuerte sie die Damentoilette an. Nicht etwa, weil sie sich frisch machen wollte, sondern weil es schlicht und ergreifend keinen anderen Ort gab, der sie vor Gerald Bonniers bewahren konnte. Keinen besseren Ort, an dem sie ihre Gedanken sortieren und nachsehen konnte, wie rot sie war. Dass sie rot war, bezweifelte sie keineswegs.

Die Toilette im Claridge’s war neben ihrer eigentlichen Funktion nicht nur eine überaus luxuriöse Rückzugsmöglichkeit, sondern auch ein viel besuchter Ort, an dem recht freizügig über dies und das gesprochen wurde. So auch in dem Moment, als sie diese betrat.

»… unverschämt!«

»Aber er hat.«

»Hm. Mit mir hätte er das nicht machen dürfen.«

»Ach, Marly, tu nicht so. Dir hätte das doch gefallen!«

»Nein, Julie. So etwas darfst du nicht sagen. Ich bin eine Dame.«

»Aber ja doch. Wir sind alle Damen.« Gelächter.

Sie blieb abrupt stehen. An den Waschbecken standen Mrs. Lovett, Mrs. Duprey und Mrs. Donut. Ihr eigenes Spiegelbild strahlte ihr zwischen beiden letzteren wie eine überreife Erdbeere entgegen. Das eben geführte Gespräch fand ein jähes Ende, als die Damen von ihr Notiz nahmen. Sie grüßte kurz und verschwand in einer der Kabinen. Gott, war sie rot! Das durfte einfach nicht wahr sein. Und über wen hatten die Damen wohl gesprochen? Sie hörte, wie eine Tür aufging.

»Habt ihr diesen Mann gesehen? Diesen … Indianer?«

»Das ist der Sohn von Helt Buchanan!«

Es war die Stimme von Cynthia Bonham. Natürlich!

»Mein Gott! Jetzt wissen wir, warum er nie etwas über seine Familie erzählt hat.«

»Ich weiß nicht …«

»Oh. Ich denke, das erklärt so einiges. Auch, warum er hier in London ein derart wildes Leben geführt hat. Ist ja kein Geheimnis. Wahrscheinlich hat er sich von ihr getrennt, weil er eingesehen hat, dass eine Verbindung mit einer Indianerin nicht gesellschaftstauglich ist.«

»Aber die Zeiten ändern sich.« Das war wieder Cynthia Bonhams Stimme, sie klang zögerlich.

»Cynthia. Indianer skalpieren Menschen. Im Häuten sind sie gut, sagt mein Mann.«

»Ich finde eigentlich, dass er zivilisiert aussieht.«

»Er muss sich anpassen. Etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig. Wie in England, so auf Erden.«

Alessa spürte, wie der Zorn ihre Halsschlagader anschwellen ließ.

»So etwas hat hier nichts zu suchen. So etwas gehört zurück zu seinesgleichen. Da hilft auch die beste englische Garderobe nichts. Als Mann hier mit einem Zopf aufzutreten, der bis zur Hüfte reicht, ist eine Provokation sondergleichen. Ich mache ja vielerlei Zugeständnisse bei diesem Ball, doch das geht entschieden zu weit. Aber was soll man da erwarten? Indianer denken nicht wie wir. Wenn sie überhaupt denken können. Sie sind primitiv wie Tiere. Leben von der Hand in den Mund. Sie sind ohne Reflexion, ohne Ziele, ohne Zukunft. Denn: Wenn es morgen keine Büffel mehr gibt, verhungern sie.«

Alessa stieß die Tür mit einem Schlag auf. Wutentbrannt trat sie hinaus. Die Frauen starrten sie entgeistert an. Eigentlich hatte sie den Frauen das Schlimmste entgegenschleudern wollen, was sie jemals würde sagen können. Aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Sie war in ihrem eigenen Körper gefangen. Nichts, rein gar nichts, brachte sie hervor. Sie stob einfach nur hinaus. Mit rasendem Herzen.

Sie konnte sich überhaupt nicht beruhigen. Das Gehörte wollte nicht aus ihrem Kopf, nicht aus ihrem Herzen. Immer wieder fragte sie sich, warum sie nichts gesagt hatte. Wieso war sie völlig tatenlos, wortlos an den Frauen vorbeigegangen? Es fehlte ihr doch sonst nicht an Mumm, Dinge auszusprechen, die ihr am Herzen lagen. Ohne nachzudenken hatte sie sich ein Glas Champagner geholt und binnen weniger Sekunden leer getrunken. Und sich gefragt, was sie selbst über Indianer wusste. Herzlich wenig. Gar nichts, im Grunde genommen. Alles, was sie wusste, war, dass Ryon Buchanan es nicht verdient hatte, dass man so über ihn sprach. Schließlich entschloss sie sich, alle Gedanken zu diesem Thema beiseite zu schieben, denn das hier war ihr Abend. Auf den sie sich seit Monaten gefreut hatte. Zum Teufel mit Merryl Vaughn & Co.!

Es war ein Glück, dass der weitere Abend, zumindest was das Tanzen betraf, nicht so verlief, wie er begonnen hatte. Die spanischen Offiziere erwiesen sich als überaus charmant und waren ausgezeichnete Tänzer. Sie flog mit ihnen regelrecht über die Tanzfläche und es gelang ihr sogar, ihre Gedanken auf John zu lenken. Das Orchester stimmte gerade ein langsames Stück an, als Alessa sich bei ihrem Tanzpartner entschuldigte, um ein wenig zu verschnaufen. Sie lehnte sich an eine der Säulen und betrachtete die Gäste, als ihr Blick an Ryon Buchanan hängen blieb. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Saales bei Alexander Carlisle und diskutierte angeregt mit ihm. Wie gerne wäre sie an Carlisles Stelle und würde sich so lebhaft mit ihm unterhalten! Anderen Menschen gegenüber zeigte er sich aufmerksam und interessiert. Ihr gegenüber nicht. Warum war das so? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Ryon Buchanan ganz bewusst Eliza zum Tanz aufgefordert hatte statt ihrer. Er wollte nicht mit ihr tanzen! Sonst hätte er doch später die Gelegenheit ergreifen können sie aufzufordern – aber das hatte er nicht. Sah er vielleicht auf sie hinab, weil sie als Krankenschwester arbeitete?

Ryon gestikulierte energisch, während er sprach. Es war etwas Wildes, Ungezähmtes an ihm. Er hatte sich auf der Bothnia mir nichts, dir nichts, in die Feuerbrunst begeben, offenbar ohne eine Sekunde über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Allerdings hatte er es getan, um seinen Vater zu retten. Ihre Augen tasteten unverhohlen seine Gestalt ab. Seine Kleidung sprach von gutem Geschmack, wer könnte das besser beurteilen als sie, Tochter eines Kleidermanufakturbesitzers. Langsam wanderten ihre Augen wieder hinauf. Sie schrak augenblicklich zusammen, als ihre Blicke aufeinandertrafen. Rasch wandte sie sich um – und stieß mit Gerald Bonniers zusammen. »Alessa. Bist du am Träumen? Ich wollte dich zu einem Glas …«

»Besten Dank, Gerald, aber ich habe bereits einiges getrunken. Außerdem hatte ich gerade etwas vor …« Sie schob sich an ihm vorbei, ließ ihn einfach stehen. Aufgelöst sah sie sich um: Eliza war nirgends zu sehen. An ihrem Tisch saß Onkel Richard mit einem Mann, den sie nicht kannte. Beth war ebenfalls nirgends zu sehen. Sie durchquerte rastlos den Raum. Bis ihr eine Idee kam.

Ryon Buchanan schien ihr übergroß, als sie sich durch die Menschenmenge schob und sein Rücken in ihr Blickfeld kam. Einen winzigen Augenblick lang wankte sie, ob sie ihr Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen sollte. Aber in diesem Moment wandte er sich um. Überraschung spiegelte sich in seinen Augen, als er sich ihr plötzlich gegenübersah. »Ms. Arlington.« Er deutete eine Verbeugung an und wollte an ihr vorbeigehen. Fast erschien es ihr, als wolle er flüchten, aber sie vereitelte sein Vorhaben, indem sie ihm in den Weg trat. Die Augen fest auf ihn gerichtet, lächelte sie ihn charmant an. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Mr. Buchanan?«

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Dann jedoch formte sich sein Mund zu einem Lächeln. Er beugte sich zu ihrem Ohr vor, sodass seine Worte nur von ihr wahrgenommen werden konnten. In diesem Moment roch sie ihn zum ersten Mal. Es war wie ein Rausch, wie eine Droge, die sich ihrer bemächtigte und sie augenblicklich schwindeln ließ. Seine Stimme, tief und weich, klang fern, obwohl er ihr ganz nah war. »Ja. Aber nur, wenn Sie versprechen, mir einige Fragen zu beantworten.«

Bestürzt riss sie die Augen auf. Was meinte er damit?

»Ms. Arlington? Was ist?«, drängte er.

»Natürlich«, erwiderte sie, um Gelassenheit bemüht, »fragen Sie nur.«

Er reichte ihr den Arm, um sie zur Tanzfläche zu führen. War es ein Fehler gewesen, ihn um einen Tanz zu bitten? Wieso suchte sie seine Nähe? Um ihm zu zeigen, dass sie selbstbewusst war? Um ihm zu zeigen, dass er sie längst zum Tanz hätte auffordern sollen? Fatalerweise hatte sie bereits mehrere Gläser Champagner getrunken. Die von ihren Freundinnen oft beschriebenen Folgen des Alkohols traten unglücklicherweise alle zugleich auf: Die Musik klang mit einem Male anders, die Menschen um sie herum verschmolzen zu einer undeutlichen Masse, ihr schwindelte und der einzige ruhige Punkt, den sie fixieren konnte, war ausgerechnet Ryon Buchanan, der sie den ganzen Abend wie Luft behandelt hatte. Sie hatte sich einen Spaß erlauben, ihm eine Lektion erteilen wollen, weil es sie verletzt hatte, dass er sie nicht zum Tanz aufgefordert hatte. Aber nun, als sie vor ihm stand und zu ihm aufsah, schwand aller mädchenhafter Schalk, der sie zu diesem Unternehmen angetrieben hatte. Ryon betrachtete sie intensiv. Und sie war sich nicht sicher, was er sah. Er streckte den linken Arm aus und lächelte. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie er ihre Hand sanft aufnahm und er seine rechte Hand, die in einem Verband steckte, auf ihrer Taille platzierte. Hitze durchflutete ihren Körper.

Ryon war ein ausgezeichneter Tänzer. Die Musik schien geradewegs durch seinen Körper zu fließen und sich auf den ihren zu übertragen. Sie schloss die Augen, hörte, fühlte und roch. Ryon verströmte einen herben Duft von Holz und Kräutern, Ferne, Freiheit und Meer … Als sie wieder aufsah, ruhte sein Blick auf ihr. Es war, als sähe er direkt in sie hinein. »Schwindelig?«

»Oh ja«, gab sie zu.

»Tanzen Sie trotzdem mit mir weiter?«

»Ja. Sie tanzen hervorragend.« Sie spreizte die Finger weit über seine Schulter. In ihrem Bauch kribbelte es. Ihre Nase streifte seinen Hals, als sie sich drehten. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. »Wie geht es Ihrer Hand, Mr. Buchanan?«

»Die Brandblasen sind aufgegangen.« Er schmunzelte. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen. »Ich habe Ihre Anweisung befolgt, Ms. Arlington, und die Salbe regelmäßig aufgetragen. Es hat sich nichts entzündet.«

»Das ist gut.« Sie nickte zufrieden.

Nach einer kurzen Pause hob er wieder an zu sprechen. »Ihr Onkel sagte mir, dass Sie darüber nachdenken, auszuwandern. Ist das wahr?«