Gegen Vorurteil und Tradition - Britta Winckler - E-Book

Gegen Vorurteil und Tradition E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Mit energischen Schritten betrat Romana Tomalli das Bürgermeisteramt von Auefelden. Wenig später hatte sie gefunden, was sie suchte – das Büro des Bürgermeisters. Entschlossen klopfte sie an und betrat das Vorzimmer, in dem sie von einer Sekretärin nach ihren Wünschen gefragt wurde. »Ich möchte zum Bürgermeister.« Fordernd, ja, beinahe befehlend kam es über die Lippen der kräftig gebauten Frau. »In welcher Angelegenheit, bitte?« wollte die Sekretärin wissen. »Und wie ist Ihr Name?« »Tomalli ist mein Name«, erwiderte die Besucherin. »Ich bin die Chefin von Tomallis Vergnügungspark und möchte deswegen mit dem Bürgermeister reden.« Irritiert blickte die Sekretärin die Frau an, die vor ihrem Schreibtisch stand. »Ich verstehe nicht ganz«, entgegnete sie. »Von was für einem Ver­gnügungspark sprechen Sie? Hier in Auefelden haben wir so etwas nicht.« »Seit heute morgen schon, Verehrteste«, erwiderte Romana Tomalli und lächelte. Es war ein kaltes Lächeln. »Wo soll der sich denn befinden?« fragte die Sekretärin. »Auf der großen Wiese hinter der Siedlung neben der Aue«, kam die Antwort. »Davon weiß ich gar nichts«, entfuhr es der Sekretärin des Bürgermeisters, »obwohl ich es eigentlich wissen müßte, denn jene Wiese gehört der Gemeinde.« »Wir sind ja auch erst gestern am späten Abend angekommen und haben heute früh sofort aufgebaut.« Romana Tomalli blitzte die verdutzte Sekretärin an. »So, und darf ich Sie nun bitten, mich dem Bürgermeister zu melden?« verlangte sie. Die Sekretärin schien von dem autoritären Auftreten der Frau beeindruckt zu sein. Sie erhob sich zögernd. »Ich… ich… werde sehen, ob der Herr Bürgermeister Zeit hat«, sagte sie. »Warten Sie bitte!« Mit trippelnden Schritten verschwand sie hinter der

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Die Klinik am See – 5–

Gegen Vorurteil und Tradition

Eine werdende Mutter ist verzweifelt

Britta Winckler

Mit energischen Schritten betrat Romana Tomalli das Bürgermeisteramt von Auefelden. Wenig später hatte sie gefunden, was sie suchte – das Büro des Bürgermeisters. Entschlossen klopfte sie an und betrat das Vorzimmer, in dem sie von einer Sekretärin nach ihren Wünschen gefragt wurde.

»Ich möchte zum Bürgermeister.« Fordernd, ja, beinahe befehlend kam es über die Lippen der kräftig gebauten Frau.

»In welcher Angelegenheit, bitte?« wollte die Sekretärin wissen. »Und wie ist Ihr Name?«

»Tomalli ist mein Name«, erwiderte die Besucherin. »Ich bin die Chefin von Tomallis Vergnügungspark und möchte deswegen mit dem Bürgermeister reden.«

Irritiert blickte die Sekretärin die Frau an, die vor ihrem Schreibtisch stand. »Ich verstehe nicht ganz«, entgegnete sie. »Von was für einem Ver­gnügungspark sprechen Sie? Hier in Auefelden haben wir so etwas nicht.«

»Seit heute morgen schon, Verehrteste«, erwiderte Romana Tomalli und lächelte. Es war ein kaltes Lächeln.

»Wo soll der sich denn befinden?« fragte die Sekretärin.

»Auf der großen Wiese hinter der Siedlung neben der Aue«, kam die Antwort.

»Davon weiß ich gar nichts«, entfuhr es der Sekretärin des Bürgermeisters, »obwohl ich es eigentlich wissen müßte, denn jene Wiese gehört der Gemeinde.«

»Wir sind ja auch erst gestern am späten Abend angekommen und haben heute früh sofort aufgebaut.« Romana Tomalli blitzte die verdutzte Sekretärin an. »So, und darf ich Sie nun bitten, mich dem Bürgermeister zu melden?« verlangte sie.

Die Sekretärin schien von dem autoritären Auftreten der Frau beeindruckt zu sein.

Sie erhob sich zögernd. »Ich… ich… werde sehen, ob der Herr Bürgermeister Zeit hat«, sagte sie. »Warten Sie bitte!« Mit trippelnden Schritten verschwand sie hinter der Tür zum Büro des Bürgermeisters.

Eine Minute dauerte es, bis sich diese Tür wieder öffnete und die Sekretärin mit einer Handbewegung und einem gemurmelten »Bitte« Romana Tomalli zu verstehen gab, daß der Bürgermeister zu sprechen sei.

Romana Tomalli nickte der Sekretärin, die sich wieder hinter ihren Schreibtisch zurückzog, nur hoheitsvoll zu und betrat das Büro des Bürgermeisters.

»Sie wollten mich sprechen?« Der Bürgermeister musterte die vor ihm stehende Frau, deren Alter schwer zu bestimmen war. Sie konnte ebenso fünfzig wie auch sechzig sein. Ihr Gesicht hatte einen herben, um nicht zu sagen, harten Ausdruck. Das hochgesteckte Haar war schwarz, zeigte aber an einigen Stellen graue Ansätze. Die dunklen Augen verrieten Energie und Entschlossenheit. »Meine Sekretärin berichtete mir etwas von einem Ver­gnügungspark«, fuhr der Bürgermeister fort. »Ich würde gern hören, was das zu bedeuten hat.« Auffordernd sah er die Besucherin an.

Romana Tomalli nickte. Sie hielt sich erst gar nicht bei weitschweifigen Einleitungen auf, sondern kam sofort zur Sache. Ihre Erklärungen dauerten nur wenige Minuten.

»Sie wollen also die Genehmigung zum Aufstellen Ihrer Schießbuden und was eben sonst noch alles zu Ihrem Schaustellergewerbe gehört…«

»Ich bin keine Schießbudenbesitzerin, sondern die Chefin eines Unterhaltungsbetriebes, Herr Bürgermeister«, unterbrach Romana Tomalli den obersten Stadtvater von Auefelden etwas unwillig. »Wir bringen Spaß, Freude, Unterhaltung und… dem, der Glück hat, auch manche nicht zu unterschätzenden Gewinne.«

»Ja, ich weiß – Teddybären, Puppen und ähnliches…« Der Bürgermeister winkte ab. »Mich interessiert, weshalb Sie gerade Auefelden damit beehren, Frau Tomalli.« Forschend sah er die Schausteller-Chefin an. »Auefelden ist keine große Stadt«, fügte er hinzu. »Lohnt sich denn der Aufwand für Sie?«

Romana Tomalli ignorierte diese letzte Frage. »Besondere Umstände haben uns veranlaßt, hier in Auefelden für ein paar Tage Halt zu machen«, erklärte sie. »Meine Schwiegertochter erwartet ein Baby – vielleicht heute schon oder morgen oder übermorgen und…«

»Verstehe«, fiel der Bürgermeister seiner Besucherin lächelnd ins Wort. »Unsere Klinik am See kann ich nur empfehlen.«

Erstaunt hob Romana Tomalli die Augenbrauen an. »Sie haben eine Klinik hier?« fragte sie.

»Wußten Sie das denn nicht?« wunderte sich der Bürgermeister.

»Nein, und es interessiert mich auch nicht sonderlich, denn alle Tomalli-Kinder kamen und kommen zu Hause zur Welt«, entgegnete die Chefin der Schausteller.

»Zu Hause? Sie meinen im Wohnwagen…«

»Wohnwagen sind unser Zuhause«, belehrte Romana Tomalli den Bürgermeister.

Der hatte zwar etwas andere Vorstellungen von einem Zuhause, verzichtete aber auf eine Bemerkung zu diesem Punkt. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er dieses Gespräch wegen anderer auf ihn wartenden Verpflichtungen zum Ende bringen mußte. »Kommen wir also zur Sache«, wurde er dienstlich. »Sie wollen die Genehmigung von mir, für ein paar Tage die von Ihnen genannte Wiese benutzen zu dürfen. Richtig?«

»So ist es«, bestätigte die Besucherin. »Selbstverständlich bezahle ich die Benutzungsgebühr.«

»Selbstverständlich.« Der Bürgermeister holte aus einem Fach seines Schreibtisches ein vorgedrucktes Formular und reichte es der Besucherin. »Bitte, füllen Sie das aus«, sagte er. »Sie kennen das ja sicher von früheren Standorten, an denen Sie waren. Anzahl der Wagen, Fahrzeuge und Buden und so weiter. Ich schicke Ihnen im Laufe des Tages einen Mitarbeiter, der die Sicherheitsvorschriften kontrolliert. Dem können Sie das ausgefüllte Formular dann mitgeben. Die Gebühren bezahlen Sie am Tag Ihrer Weiterreise.«

Romana Tomalli verstaute das Papier in ihrer Handtasche. »In Ordnung, Herr Bürgermeister und – danke.«

»Schon gut, Frau Tomalli«, winkte der Bürgermeister ab. »Mich entschuldigen Sie jetzt, denn ich habe noch andere Verpflichtungen.«

»Natürlich.« Verabschiedend neigte Romana Tomalli ein wenig den Kopf und verließ Sekunden später das Amtszimmer des Bürgermeisters von Auefelden. In ihrem dunkelblauen Fordwagen, auf dessen beiden Seiten TOMALLI’S VERGNÜGUNGSPARK zu lesen war, fuhr sie danach zurück zu jener Wiese, auf der ihre Söhne Petro und Carlo, unterstützt von Petros Frau Sophia und deren beiden neun- und elfjährigen Jungen gerade letzte Hand anlegten, damit TOMALLI’S VERGNÜGUNGSPARK noch in den späten Nachmittagsstunden eröffnet werden konnte.

Auch Jessica, mit ihren 23 Jahren das jüngste Kind von Romana Tomalli, trug ihren Teil beim Aufbau der Buden, des Karussells und der Schaukeln bei, während ihr dreieinhalbjähriger kleiner Sohn Guido in einem der Wohnwagen spielte.

Carlo, mit seinen 28 Jahren der älteste der Tomalli-Söhne, dirigierte die Arbeiten. Nicht zuletzt auch schon deshalb, weil er einige Zeit Maschinenbau studiert hatte und von Technik etwas verstand. Seine beiden Helfer, zwei junge Burschen, die seit Monaten schon als sogenannte Hilfsarbeiter mit den Tomallis von Ort zu Ort, quer durch Deutschland zogen, konnten das nur bestätigen und folgten seinen Anweisungen.

Ein einziger der Tomalli-Sippe beteiligte sich nicht an den Aufbauarbeiten – Karin, Carlos aus der Nähe von Stuttgart stammende Frau. Ihretwegen hatte Romana Tomalli überhaupt nur in Auefelden Halt gemacht. Sie war hochschwanger und mußte jeden Tag mit ihrer Niederkunft rechnen. Davor aber hatte sie Angst. Nicht so sehr vor dem Augenblick, an dem sie einem Kind das Leben schenken würde, sondern davor, daß es hier in dem Wohnwagen geschehen sollte. So hatte es ihre Schwiegermutter bestimmt.

»Etwas anderes kommt gar nicht in Frage«, waren deren energische Worte gewesen. »Die Tomallis kommen in heimischer Umgebung zur Welt.«

Karin war darüber erschrocken. Sie wünschte sich, ihr Kind in einer Klinik zur Welt zu bringen, betreut von erfahrenen Ärzten und nicht von ihrer Schwiegermutter. Die jedoch war bisher hart und unnachgiebig geblieben.

Die einzige, die Verständnis für Karins Wunsch hatte, war ihre Schwägerin Jessica. Es schmerzte Karin, daß sogar ihr Mann Carlo, den sie liebte und dessen Frau sie trotz der Vorhaltungen ihrer Eltern und vor allem den ihres Bruders geworden war, auf der Seite ihrer Schwiegermutter stand. Er vertrat wie seine Mutter die Ansicht, daß man einer Tradition zu folgen habe, wonach alle Tomalli-Kinder in heimischer Umgebung das Licht der Welt erblicken müßten.

Karins Angst vor einer Niederkunft unter der Regie ihrer Schwiegermutter hatte sich in den vergangenen Tagen mehr und mehr zu einer Art Verzweiflung verwandelt. So stark, daß sie, als sie gehört hatte, daß man ihretwegen nun in Auefelden ein paar Tage bleiben wollte, einen Brief an ihren Bruder Volker schrieb. Es war ein wenig wirr, was sie geschrieben hatte, doch der Hilferuf in ihren Zeilen war unverkennbar. Karin war Jessica dankbar, daß diese am Vortage den Brief unbemerkt von der Schwiegermutter und Carlo in einen Postkasten geworfen hatte.

In einem bequemen Sessel sitzend beobachtete Karin durch das kleine Fenster des Wohnwagens, den sie zusammen mit Carlo bewohnte, das Treiben draußen auf der Wiese. Sie sah die Buden, das fertig aufgebaute Karussell und die Luftschaukeln. Wenn sie sich etwas vorneigte, kamen die anderen Wohnwagen – der von ihrer Schwiegermutter, in dem auch Jessica mit ihrem Kind wohnte, und der von Petro und seiner Familie – in ihr Blickfeld. Dahinter konnte sie die Zugmaschine mit den beiden Anhängern, auf denen alle Gerätschaften transportiert wurden, und auch den winzigkleinen Wohnwagen der beiden jungen Hilfsarbeiter erkennen.

Das ist nun mein Leben, dachte sie. Und wieder begann sie, wie in den vergangenen Wochen schon öfter, zu grübeln. War dieses Herumzigeunern von einem Ort zum anderen wirklich das Leben, das sie sich gewünscht hatte? Gewiß, sie liebte Carlo und wußte, daß sie von ihm auch geliebt wurde. Auf eine Weise war sie sogar glücklich, weil sie ihm nun ein Kind schenken konnte, so daß sie bald eine kleine Familie sein würden. Die ersten Monate, nachdem sie alle Warnungen der Eltern und des Bruders in den Wind geschlagen hatte und mit Carlo mitgezogen war, wollte sie nicht missen. Es waren Monate voller Freude und Glück gewesen, ein Leben voll Abwechslung und immer neuer Eindrücke. Sie hatte so etwas wie einen Hauch von Freiheit gespürt und war sogar erstaunt gewesen, daß sie es jahrelang in einem Büro hinter einer Schreibmaschine ausgehalten hatte.

Doch je länger sie mit den Tomallis von einem Ort zum andern zog, da eine Woche blieb und dort die nächste, desto schwächer wurde dieses anfängliche Glücksgefühl. Nun war sie fast so weit, sich zu wünschen, irgendwo seßhaft zu werden, zusammen mit Carlo an einem Ort zu bleiben und ihrem Kind, von dem sie hoffte, daß es ein Junge würde, eine feste Heimat zu geben.

»Hallo, Karin, träumst du?«

Karin fuhr herum. Sie hatte Jessica nicht kommen gehört. Sie lächelte der jungen Frau mit den langen schwarzen Haaren freundlich zu. Jessica war für sie mehr als nur die Schwägerin. Sie betrachtete sie als enge Freundin und wußte, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Im Gegensatz zu Petro und Carlo, die beide unter dem Einfluß der Seniorin der Tomalli-Sippe standen, war Jessica nicht so traditionsvernarrt und fühlte sich auch nicht besonders stark mit dem Familienunternehmen verbunden. Karin wußte, daß Jessica nur zu gern irgendwo seßhaft geworden wäre, daß sie liebend gern einen Mann gehabt hätte, der die Vaterstelle an ihrem kleinen Guido übernehmen würde. Jessica hatte kein Geheimnis daraus gemacht, daß man ihr damals, vor nunmehr über drei Jahren, Gewalt angetan hatte. Nach einem Diskobesuch in einer kleinen Stadt in Norddeutschland war das gewesen. Zu dritt waren sie über sie hergefallen. Erst Monate danach, als die Tomallis schon wieder in einer ganz anderen Gegend waren, hatte sie gemerkt, daß sie Mutterfreuden entgegensah, ohne einen Vater für ihr kommendes Baby zu haben. Im Wohnwagen war es dann unter der Regie von Mutter Tomalli zur Welt gekommen.

»Brauchst du etwas?« ergriff Jessica wieder das Wort, als Karin schwieg. »Ich fahre mit dem Fahrrad eine kleine Tour durch die nähere Umgebung des Ortes.«

»Allein?« fragte Karin.

»Ich nehme Guido mit«, erwiderte Jessica.

»Seid ihr denn mit allem fertig?«

»Es ist alles bereit für die Besucher«, antwortete Jessica. »Neugierige haben sich bereits eingefunden«, fügte sie hinzu. »Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Mich interessiert mehr, wie es bei dir aussieht.«

Karin verstand. Liebevoll strich sie mit der Rechten über ihren gewölbten Bauch. »Die Stunde rückt immer näher«, sagte sie leise. »Vielleicht morgen schon oder übermorgen, oder…«

»Ist es nicht etwas verfrüht?« fiel Jessica der Schwägerin fragend ins Wort. »Wenn ich mich richtig erinnere, sollte es doch erst in frühestens einer Woche sein.«

Karin zwang sich zu einem Lächeln. »Manche haben es eben eiliger«, meinte sie. »Aber ob früher oder später – Jessica, ich habe Angst.«

Jessica verstand. »Du möchtest dein Baby lieber in einer Klinik zur Welt bringen«, sagte sie ernst. »Das begreife ich. Damals wollte ich das auch.«

»Du hast es aber hier in einem Wohnwagen…«

»Ja«, unterbrach Jessica die Schwägerin. »Mama hat dabei geholfen, und es ging glücklicherweise gut.«

Über Karins Züge huschte ein Schatten. Glücklicherweise, dachte sie, und wieder stieg Bangigkeit in ihr hoch. Wenn es nun bei ihr nicht gutging? Was dann?

»Karin, ich werde versuchen, noch einmal mit Mama und mit Carlo zu reden«, unterbrach Jessica die kurzen Überlegungen Karins. »Vielleicht kann ich sie doch noch überzeugen, daß es besser ist, wenn du in eine Klinik kommst. Hier in der Nähe soll es übrigens eine Frauenklinik geben, hörte ich.«

»Wirklich?« fragte Karin interessiert. »Wo denn?«

»Irgendwo hier an einem See, mehr weiß ich auch nicht«, erwiderte Jessica. »Ich werde mich jetzt gleich auf meiner Fahrradtour ein wenig umsehen«, erklärte sie. »Vielleicht…« Sie sprach nicht weiter, neigte sich zu Karin und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange.

»Danke«, flüsterte Karin. Mit einem undefinierbaren Ausdruck in den grünlich schimmernden Augen blickte sie der sich entfernenden Jessica nach. Zwei Minuten später sah sie sie mit ihrem kleinen Guido auf dem Fahrrad davonfahren. In der gleichen Sekunde aber durchzog ein langanhaltender Schmerz ihren Unterleib. »O Gott«, stöhnte sie, »es geht schon wieder los.« Es war innerhalb der beiden vergangenen Tage bereits das zweite Mal, daß sie diese ziehenden Schmerzen verspürte. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Mit einem leisen Ächzen erhob sich Karin, wankte zum Bett und ließ sich darauf niedersinken. Mit Angst in den Augen starrte sie an die Decke des Wohnwagens.

*

Das Auto, das sich von Norden her auf der Landstraße Auefelden näherte, fuhr verhältnismäßig langsam. Der Fahrer schien keine Eile zu haben. Eine leise Melodie vor sich hin summend betrachtete er die an ihm vorbeiziehende Landschaft. In seinen dunkelblauen Augen war ein frohes Strahlen.

Dr. Alexander Mertens – er war der Fahrer dieses Wagens – hatte aber auch Grund zum Strahlen. Mit dem heutigen Tag begann für ihn ein vollkommen neuer Lebensabschnitt. Seit dem gestrigen Tag war er an keinen Vertrag mehr mit der Klinik in München gebunden. Seine Tätigkeit dort hatte ihr Ende gefunden, und eine neue Arbeit erwartete ihn in Auefelden in der Klinik am See. Er freute sich schon darauf. Nicht nur auf der Kinderstation in der Klinik seines zukünftigen Schwiegervaters, sondern vor allem auf die Zusammenarbeit in eben dieser Klinik mit dem Mädchen, das in allerkürzester Zeit seine angetraute Frau sein würde. Der Hochzeitstermin war bereits festgelegt. Astrid, die Tochter seines Schwiegervaters in spe, Dr. Hendrik Lindau, der ab morgen schon sein Chef war, konnte es kaum noch erwarten. Gestern abend war sie noch bei ihm in München gewesen und hatte ihm beim Packen der letzten Sachen geholfen. Einige seiner Möbel, an denen er hing, waren schon vorgestern nach Auefelden geschafft worden – ins Doktorhaus, dessen untere Etage, das frühere Sprechzimmer, Wartezimmer, Büro, Laborraum und zwei weitere kleine Räume, inzwischen schon von Handwerkern in eine Wohnung umfunktioniert worden war. In diese Wohnung würden er und Astrid in vier Wochen als jungverheiratetes Ehepaar einziehen.

Dr. Alexander Mertens unterbrach sich in seinen Gedanken und lauschte. Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster war etwas an sein Ohr gedrungen, was fast wie ein Hilfeschrei geklungen hatte. Mechanisch nahm er noch etwas mehr Gas weg. Der Wagen fuhr nun fast im Schrittempo die Straße entlang.

Da – wieder diese Schreie. Alexander Mertens neigte sich dem offenen Seitenfenster zu. Jetzt vernahm er das Rufen deutlich.

»Hilfe… Mama mia… zu Hilfe…« Eine Frauenstimme rief es. Dazwischen aber war das schmerzliche Schreien eines Kindes zu vernehmen, jedenfalls der kläglichen Stimme nach schien es sich um ein Kind zu handeln. Die Rufe und das Schreien kamen hinter der fast mannshohen Gebüschreihe hervor, die sich links der Straße hinzog.

Alexander Mertens trat auf das Bremspedal, hielt den Wagen an und sprang heraus. Das erste, was ihm in die Augen fiel, war ein Fahrrad. Keine fünf Meter von ihm entfernt lag es im Straßengraben. Ehe er sich einen Reim darauf machen konnte, drängte plötzlich etwas aus der Gebüschreihe hervor. Er erkannte eine Frau, die einen kleinen jammernden Jungen mit der einen Hand dicht an sich gepreßt hielt und mit der anderen Hand wild in der Luft herumfuchtelte. Auch der Junge schlug mit beiden Händen um sich, während er dabei immer wieder abgehackte spitze Schreie ausstieß.

Aber noch etwas sah Alexander Mertens – eine dunkle Wolke um den Oberkörper der Frau und um den Kopf des Kindes. Eine sich in sich bewegende Wolke, gegen die sich die Frau und das Kind mit beiden Händen zur Wehr setzten. Blitzschnell erfaßte Alexander die Lage. Ebenso blitzartig aber wurde ihm klar, was das alles bedeutete. Die sich bewegende Wolke war nichts anderes als ein Schwarm Wespen oder vielleicht auch Bienen, die dem Kind und der Frau zusetzten. Die wilden Handbewegungen, mit denen sich die Frau zur Wehr setzte, schienen die kleinen Tierchen nur noch aggressiver zu machen.

Als Arzt wußte Alexander Mertens, wie gefährlich, ja, sogar tödlich, Wespen- oder Bienenstiche sein konnten. Zum langen Überlegen hatte er keine Zeit, wenn er helfen wollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend griff er in das Handschuhfach seines Wagens. Im nächsten Augenblick hatte er eine Sprühdose in der Hand. Es war ein Reinigungsmittel für die Scheiben seines Fahrzeuges, das er ab und zu gebrauchte. Mit einigen Schritten war er bei der Frau und dem Kind.

»Machen Sie die Augen zu!« rief er. »Schnell! Und drücken sie den Jungen mit dem Gesicht fest an sich!« Ohne noch länger zu zögern, richtete er die Öffnung der Sprühdose auf den summenden Schwarm. Er sah jetzt, daß es sich nicht um Wespen, sondern um Bienen handelte. Energisch drückte er auf den Knopf der Dose. Zischend entlud sich der Inhalt auf die Bienen, die einer solchen kompakten Gegenwehr anscheinend nicht gewachsen waren. Sie zogen es vor, von ihren Opfern abzulassen. Sekunden später war der ganze Schwarm verschwunden.

Dr. Mertens steckte die Dose weg und kümmerte sich um das weinende Kind und um die junge Frau, der die Angst noch immer im Gesicht stand. Es genügte ihm ein Blick, um zu erkennen, daß Gesicht und Halspartie der beiden von unzähligen Stichen getroffen worden waren.Wie viele es waren, konnte er jetzt nicht zählen, wußte aber sehr gut, daß knapp 200 tödlich für den Betroffenen waren.

»Das war höchste Zeit«, sagte er zu der jungen Frau. »Sie müssen sofort in die Klinik, damit die Stacheln schnellstens entfernt werden. Bei Ihnen ebenso wie bei dem Jungen. Sind Sie die Mutter des Kleinen?«