Gegenlauschangriff - Christoph Hein - E-Book

Gegenlauschangriff E-Book

Christoph Hein

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Beschreibung

Er gilt als der Chronist deutsch-deutscher Verhältnisse, als präziser Sezierer einer einst geteilten Nation, die noch immer nicht richtig zusammengefunden hat – und als fulminanter Geschichtenerzähler. Bestsellerautor Christoph Hein, der bislang vorrangig die Geschichten anderer erzählt hat, erzählt nun, zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag, von seinen persönlichen Erlebnissen: davon, wie der Vater eines Freundes namens Thomas Brasch diesen verraten hat. Von einem Regisseur, der „das Leben der anderen“ verfilmt hat und dabei von Hein mehr über dieses Leben erfahren wollte. Von Zensur und Reise(un)freiheit, und schließlich davon, wie all das Geschichte wurde.

Hein nimmt die deutsch-deutschen Verhältnisse dieses Mal anders in den Blick: anhand persönlicher Erlebnisse, die mal komisch sind, mal bitter, und manchmal beides zugleich.

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Seitenzahl: 124

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Christoph Hein

Gegenlauschangriff

Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege

Suhrkamp

Inhalt

Gegenlauschangriff

Nach Moskau, nach Moskau!

Eine Entzweiung

Es war alles ganz anders

Ein gründlicher Verriss

Ein Machwerk

Prognosen und Prophezeiungen

Zwanzig Uhr fünfzehn

Metamorphosen

Gegenlauschangriff

Horns Anfang

Ein sehr kranker Mann

Ein Brückenkopf

Susanna

Absicherung der Linie Schriftsteller

Narren, Idioten und Verbrecher

Programmtreu

Leere Schubladen

Le Peuple

Einen fetten machen

Eine Schrotgewehr heirat

Die allerletzte Schlacht des Krieges

Auf Niveau bringen

Der Diakon unter den Bischöfen

Dass einer lächeln kann und lächeln

Mitleid und Schrecken

Mein Leben, leicht überarbeitet

Der Neger

Verwachsen

Gegenlauschangriff

Nach Moskau, nach Moskau!

Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, gegen Ende des letzten deutsch-deutschen Krieges, der seinerzeit als kalter geführt wurde, erhielt das Ensemble des Maxim Gorki Theaters in Ostberlin vom Düsseldorfer Intendanten die Einladung, mit seiner gerühmten Aufführung der Drei Schwestern von Anton Tschechow im Düsseldorfer Schauspielhaus zu gastieren, also mit jenem Stück, in dem die Schwestern Olga, Mascha und Irina in einer provinziellen Gouvernementsstadt verkümmern und lebenslang davon träumen, nach Moskau zu reisen. »Nach Moskau, nach Moskau!«

Es wurden drei Aufführungen innerhalb von vier Tagen vereinbart, der dritte Abend sollte spielfrei bleiben.

Ein Jahr nach diesem Gastspiel hatte eines meiner Stücke eine Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus, und meine Obrigkeit gestattete mir diesmal überraschend, das Land zu verlassen und nach Düsseldorf zur Premiere zu fahren. Bei einem Essen mit dem Chefdramaturgen des Theaters berichtete dieser von dem vorjährigen Gastspiel der Drei Schwestern, die Aufführung sei ein großer Erfolg gewesen. Am allerersten Tag, eine Stunde nach Ankunft der Ostberliner Schauspieler, sei die Darstellerin von Olga, der ältesten Schwester, in seinem Büro erschienen und habe ihn unter vier Augen gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe, an dem dritten, dem spielfreien Tag nach Paris zu fahren, ohne an der Grenze einen Pass vorweisen zu müssen.

An der Grenze zwischen Frankreich und der Bundesrepublik gab es zu jener Zeit noch immer, wenn auch sehr zwanglos, Ausweiskontrollen. Die Schauspielerin fürchtete, einem französischen Grenzer ihren Pass vorlegen zu müssen und von ihm einen Einreisestempel zu bekommen, den sie dann später bei der Heimreise zu erklären hätte. Der Chefdramaturg versprach ihr, sich nach einem Weg zu erkundigen.

Eine Stunde später sei die Darstellerin der zweiten Schwester erschienen, und kurz darauf auch die der dritten Schwester. Sie hatten alle den gleichen Wunsch: nach Paris, nach Paris!

Der Chefdramaturg war von den Bitten der drei Aktricen gerührt, erkundigte sich bei den Bühnenarbeitern nach einem sicheren Grenzübergang, einem Schleichweg, und stand am spielfreien Tag um sieben Uhr morgens, also zu einer für Schauspieler nachtschlafenden Zeit, mit seinem Wagen vor dem Quartier der Gäste, um die drei Schauspielerinnen nach Paris zu chauffieren.

Die drei Damen standen bereits sorgfältig geschminkt und in ihrer feinsten Garderobe vor dem Hoteleingang, strahlten wie Himmelsköniginnen und stiegen in seinen Wagen.

Sie gelangten gänzlich unbehelligt über die Grenze, und der Chefdramaturg ließ es sich nicht nehmen, den Ostberliner Schauspielerinnen die Attraktionen der französischen Hauptstadt zu zeigen, wobei die drei Besucherinnen kein Auge für die Pariser Bettler oder die algerischen und marokkanischen Straßenhändler hatten, sie wollten vielmehr die berühmten Cafés sehen, in denen an jedem Nachmittag die von aller Welt verehrten Pariser Philosophen und Literaten sitzen, und die prächtigen Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte in der Avenue des Champs-Élysées bewundern.

Auch bei der Rückfahrt zu später Stunde behelligte sie kein Zöllner oder Grenzpolizist, die ostdeutschen Reisepässe blieben jungfräulich rein und ohne verräterischen französischen Stempel. Die Damen verabschiedeten sich – erschöpft, aber glücklich – von ihrem Fahrer, dem Düsseldorfer Chefdramaturgen.

Am darauffolgenden Tag, in der letzten Aufführung der Drei Schwestern, hätten die Schauspielerinnen ihr »Nach Moskau, nach Moskau!« viel inniger, eindringlicher und ergreifender geseufzt als in den ersten beiden Aufführungen, erzählte mir der Chefdramaturg, hatten sie doch endlich die Stadt ihrer Träume und ihrer Sehnsucht gesehen.

Eine Entzweiung

Nach der kriegsbedingten Aussiedlung aus Schlesien lebte ich mit meiner Familie für dreizehn Jahre in einer sächsischen Kleinstadt, bevor ich im Alter von vierzehn die Stadt und den Staat verlassen musste, da ich als Pfarrerssohn keinesfalls auf eine Oberschule des sozialistischen deutschen Imperiums gehen durfte.

Ich ging über die Grenze, haute ab, wie das damals hieß, wurde Westberliner, wohnte in einem Schülerheim im Grunewald und besuchte ein Gymnasium. In den Ferien fuhr ich illegal zu den Eltern, die Grenzen waren zwar bewacht, aber noch offen, es drohte immer die Festnahme, doch der Halbwüchsige hatte Sehnsucht nach der Familie.

Dann kam der Sommer 1961. Mitten in den Schulferien baute der ostdeutsche Staat eine Mauer um sein Territorium.

Für mich war damit der Schulbesuch beendet, und da ich mich nun zwei schwerer Sünden schuldig gemacht hatte – neben der grässlichen Untat, Sohn eines Pfarrers zu sein, war ich auch mit dem höchst strafbaren Staatsverbrechen einer Republikflucht belastet –, hatte ich zu büßen. Mir wurde der Besuch einer Abendschule verweigert, obwohl ich die Jahresgebühr bezahlt hatte. Eine Ausbildung in den von mir gewählten Berufen – ich hatte mich, da mir ein weiterer Schulbesuch verwehrt war, für eine Tischler- oder Schlosserlehre beworben – wurde abgelehnt, die Behörde teilte mir eine Arbeitsstelle in einer Buchhandlung zu. Es sollte Jahre dauern, ehe mir erlaubt wurde, die Hochschulreife an einer Abendschule zu erwerben und einen Studienplatz zu erlangen.

In dem Jahr, in dem die Mauer gebaut wurde und ich gezwungenermaßen den Besuch des Westberliner Gymnasiums aufgeben musste, lernte ich Thomas Brasch kennen, einen gleichaltrigen Freund mit demselben literarischen Interesse. Wir verbrachten, allein oder mit unseren Freundinnen, unsere freie Zeit gemeinsam, zeigten uns gegenseitig unsere ersten literarischen Arbeiten und waren überzeugt, dass wir beide die neuen Adler der deutschen Literatur seien, die bald die Welt in Erstaunen versetzen würden.

Thomas’ Mutter und Geschwister nahmen mich freundlich und herzlich auf, sein Vater dagegen verhielt sich mir gegenüber reserviert und feindselig. Ihn störte meine Herkunft aus einem Pfarrhaus und, mehr noch, dass ich, um eine weiterführende Schule besuchen zu können, nach Westberlin gegangen war, in seinen Augen also die Republik verraten hatte. Er war als stellvertretender Kulturminister für alle Kunsthochschulen des Landes zuständig und hatte als überzeugter Kommunist den zwölfjährigen Sohn Thomas gegen dessen Willen für vier Jahre in eine Kadettenanstalt in Naumburg gesteckt. Auf die flehentlichen Klagebriefe des Halbwüchsigen reagierte er nicht, gab diese Briefe vielmehr dem militärischen Vorgesetzten seines Sohns in der Kadettenanstalt.

Ich war über dieses Verhalten entsetzt, zumal ich eine Kadettenanstalt für veraltet und für ein Zeugnis des preußischen Militarismus hielt. Thomas’ Vater dagegen war überzeugt, dass ich, ein Pfarrerssohn und ›Republikflüchtling‹, seinen Sohn vom rechten Weg abgebracht hätte, was er an dessen zunehmend provokanteren Äußerungen festmachte. Wenn ich Thomas besuchte und dabei seinen Vater traf, wurde ich nur mit einem knurrigen Gruß bedacht und ansonsten von ihm ignoriert.

Aber was kümmerte die jungen Adler schon das Knurren eines verknöcherten Stalinisten!

An der Filmhochschule in Babelsberg gab es einen Studiengang für Szenaristen, der ein hohes Ansehen genoss, da unter den Absolventen bekannte Drehbuchautoren waren. Als jungem Autor schien mir dieses Studium mehr als erstrebenswert. Ich bewarb mich um einen der wenigen Studienplätze – in jedem Jahr wurden nur drei bis vier Studenten neu aufgenommen –, und nach mehreren Prüfungen und dem Einreichen verschiedener Texte wurde ich tatsächlich immatrikuliert.

Bald nach Studienbeginn wurde meine Frau schwanger. Sie studierte bereits seit mehr als einem Jahr in Leipzig, und wir entschieden gemeinsam, dass ich die Universität wechsle, damit ich zusammen mit ihr unser Kind versorgen könnte. Ich schickte die entsprechenden Unterlagen an eine Leipziger Hochschule, und während wir auf den Bescheid warteten, bemühten wir uns in der sächsischen Messestadt um eine kleine Wohnung.

Thomas kam eines Tages zu mir und sagte, er habe seinem Vater erzählt, dass wir ein Kind bekommen und ich deswegen nach Leipzig wechseln wolle. Sein Vater habe daraufhin angeboten, ich möge ihm, dem zuständigen Minister, einen Brief schreiben und ihn um einen Hochschulwechsel bitten.

Mir war das nicht recht, ich wollte von diesem Privileg keinen Gebrauch machen, zumal Thomas’ Vater mich nie als Freund seines Sohnes akzeptiert hatte und mir gegenüber erkennbar feindselig eingestellt war. Aber nach längerem Überlegen schrieb ich ihm dann doch einen Brief, da ich fürchtete, dass ich ihn – wenn ich seiner Aufforderung nicht nachkäme – verärgern würde und er mir schaden könnte.

Noch bevor ich zu meiner Frau nach Leipzig zog, erhielt ich einen ablehnenden Bescheid der Leipziger Kunsthochschule, man habe keine freien Studienplätze, ich könne mich im Jahr darauf erneut bewerben.

Vierzehn Tage später bat mich meine Schwiegermutter zu sich und forderte mich auf, die Freundschaft mit Thomas unverzüglich aufzugeben, da ich andernfalls mich und meine Familie gefährden würde. Ich wies ihre Forderung empört zurück. Sie berichtete mir daraufhin, eine Freundin von ihr, die eine wichtige Position im Kulturministerium innehabe, habe sie gewarnt. Die Freundin verwaltete und archivierte dort vertrauliche Dokumente und Briefe und hätte daher nicht nur mein Schreiben an den Minister in den Händen gehabt, sondern auch einen Brief von ihm an die Leipziger Hochschule. Darin teilte er dem Rektor mit, dass ich der Republik gegenüber feindlich eingestellt sei und »ideologisches Gift« unter Gleichaltrigen verbreite. Er, der Minister, wünsche nicht, dass »dieser Hein« an irgendeiner Kunsthochschule des Landes studiere.

Ich hatte keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit der Freundin meiner Schwiegermutter zu zweifeln, war mir doch bisher völlig schleierhaft geblieben, wieso sich eine Hochschule der Bitte des für sie zuständigen Ministers, mir bei einem Universitätswechsel behilflich zu sein, verweigert haben sollte. Ich war über das Ausmaß der Infamie von Herrn Brasch erschrocken.

Der Minister hätte schwerlich von sich aus gegen mich tätig werden können, denn es hätte mehr als Verwunderung erregt, wenn er von sich aus den Hochschulwechsel eines Studenten zu verhindern versucht hätte. Aber da ich mich schriftlich an ihn gewandt hatte, war sein Schreiben an die Hochschule vollkommen legitim. Er hatte mich in die Zwickmühle gebracht: Schrieb ich ihm nicht, hätte das seinen Groll erregt, und ihm zu schreiben wiederum lieferte ihm eine Steilvorlage, um mir zu schaden.

Ich machte mich eilig auf den Weg zu Thomas, um ihm alles zu erzählen. Doch unterwegs dachte ich darüber nach, wie es weitergehen würde. Thomas würde am Abend den Vater empört zur Rede stellen, der Vater würde wiederum in die Offensive gehen, gegen den Sohn, vor allem aber gegen mich. Und mir einen Schlag versetzen, der mich heftiger als sein erster aus dem Gleichgewicht bringen würde. Ein Studium an einer der Kunsthochschulen des Landes konnte ich allerdings ohnehin in den Wind schreiben, da sie sämtlich diesem Mann unterstanden und die Rektoren seinen Anordnungen und Wünschen zu folgen hatten.

Ich verlangsamte meinen Schritt, blieb schließlich stehen und kehrte um.

Ich habe meinem Freund Thomas nichts von dem Brief seines Vaters erzählt, jedenfalls damals nicht. Und ich begann darüber nachzudenken, was ich ihm künftig überhaupt erzählen könnte, ohne unsere Freundschaft und ohne uns selbst zu gefährden.

Erst Jahrzehnte später, als sein Vater mitsamt seinem Staat das Zeitliche gesegnet hatte, konnte ich Thomas davon berichten.

Damals aber, wenige Jahre nach dem Bau der Mauer, verschwieg ich dem Freund eine wichtige, für mich geradezu existenzielle Wahrheit. Das war der Freundschaft nicht zuträglich – denn das Verschwiegene steht unüberwindbarer zwischen zwei Menschen als jedes böse Wort. Wer schweigt, spricht mit einem Menschen härter, als es Worte je könnten.

Langsam, sehr langsam löste sich eine brüderliche Verbindung auf, nach zehn Jahren hatte sein Vater es geschafft, unsere Freundschaft zu zerstören.

Es war alles ganz anders

In der Deutschen Bücherei in Leipzig stieß ich auf Dokumente über den Weltkongress der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens, der im August 1948 in Wrocław stattfand und an dem bedeutende Künstler aus aller Welt teilnahmen. Picasso war angereist und Andersen-Nexö, Fernand Léger, Ivo Andrić, Max Frisch, Pablo Neruda, Louis Aragon, Georg Lukács, Hanns Eisler, Ernst Fischer, Friedrich Wolf, Irène Joliot-Curie, Ilja Ehrenburg, Hans Mayer, insgesamt mehr als fünfhundert Schriftsteller, Künstler und Gelehrte aus fünfundzwanzig Nationen waren in die größte Stadt der Woiwodschaft Niederschlesien gekommen.

Angesichts der zerstörten Stadt, der Ruinenlandschaft Wrocław, zeichnete Picasso jene Friedenstaube, die weltweit zum Symbol für den Frieden und die Friedensbewegung wurde.

Auf jenem Kongress allerdings ging es weniger friedlich zu. Der Kalte Krieg hatte begonnen und viele Redner befleißigten sich der Verteufelung der politischen Gegner. Hans Mayer nannte den Kongress später Das Große Religionsgespräch, denn die Ideologiegläubigen übertrafen sich gegenseitig in wortreichen Bekenntnissen zu ihrer Glaubensgemeinschaft und verbanden dies mit einer vernichtenden Verurteilung aller ›Andersgläubigen‹.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich in einer Zeitschrift jenes Jahres einen Artikel, in dem darüber berichtet wird, dass der Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, sich weigere, zu besagtem Kongress zu reisen, weil er nicht in ein polnisches Schlesien fahren wolle, in das okkupierte Breslau.

Ich war überrascht und fassungslos, als ich das las.

Ich wurde in Schlesien geboren, und viele in meiner Familie und unter den Freunden meiner Eltern trauerten ihrer Heimat nach, hatten viele Jahre gehofft, in die Städte und Dörfer zurückkehren zu dürfen, in denen sie einst gelebt hatten. Doch die Regierung der DDR hatte die Vertreibung durch Russen und Polen sanktioniert, bezeichnete die Grenze zu Polen als Oder-Neiße-Friedensgrenze und die aus Pommern und Schlesien Vertriebenen wurden unter der neutraleren Bezeichnung Umsiedler registriert. Von Vertreibung zu sprechen, war verpönt und galt als revanchistisch.

Und nun musste ich lesen, dass der Kulturminister von der deutschen Stadt Breslau sprach, in die er nicht reisen wolle, solange sie von Polen »okkupiert« sei.

Der geborene Münchner Becher war ein bekannter Lyriker. Kein Geringerer als Jorge Luis Borges hatte seine Werke einst ins Spanische übersetzt und verehrte ihn damals als den besten deutschen Dichter seiner Zeit, befand ihn gar als bedeutsamer als Kafka. Und dieser bewunderte Lyriker Becher war nun Kulturminister der DDR geworden und hatte sich 1948 geweigert, in das »polnisch okkupierte Breslau« zu fahren.

Ich versuchte vergeblich, mir vorzustellen, wie er diese Haltung gegenüber einem Walter Ulbricht und dem allmächtigen ZK der SED hatte begründen und durchsetzen können. Dieser Mann musste einen unglaublichen Mut und ein erstaunliches Rückgrat besessen haben.

Es dauerte einige Jahre, bevor ich meinen Irrtum aufklären konnte.

Keineswegs dissidierte Becher damals, seine Haltung entsprach vielmehr vollkommen der Politik der ostdeutschen Regierung und allmächtigen Staatspartei. Ulbricht wollte die verlorenen deutschen Gebiete zurückhaben. Er wollte Pommern und Schlesien, denn dann wären vermutlich Millionen Pommern und Schlesier in ihre Heimat zurückgekehrt, die DDR wäre sehr viel größer geworden, ihr Territorium und ihre Einwohnerzahl wären denen der westlichen Bundesrepublik nahegekommen. Ulbricht weigerte sich, den Anweisungen Stalins bezüglich der deutschen Ostgebiete nachzukommen, und beharrte fünf Jahre lang auf der Rückgabe dieser deutschen Länder.

1951 war Stalin dieses Widerstands überdrüssig, zumal er den östlichen Teil Polens der Sowjetunion einverleibt hatte und keineswegs den aus Ostpolen in die ostdeutschen Provinzen vertriebenen Polen ihr früheres Land zurückgeben wollte. Er schlug auf den Tisch und stellte Ulbricht ein Ultimatum, das dieser nicht zurückweisen konnte.

Und von diesem Jahr an wurde Ulbricht zum folgsamen Schüler und Befehlsempfänger Stalins. Über die verlorenen Ostgebiete durfte im ostdeutschen Staat nicht mehr gesprochen werden. Die Vertriebenen hießen ab sofort nur noch Umsiedler, und die fünf Jahre lang nicht akzeptierte Grenze wurde nun als Oder-Neiße-Friedensgrenze