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Nach dem Tod ihrer Großtante erbt Sophie eine Schatulle, die mit sonderbaren Symbolen verziert ist. Durch die Unterstützung ihrer Freunde Mia und Ben ist die Inschrift schnell entziffert und die Schatulle geöffnet, doch in ihrem Inneren finden die drei Teenager keinen Schatz, sondern ein weiteres Rätsel. Eine spannende Schnitzeljagd beginnt, die von einem Geheimnis zum nächsten führt. Sophie, Mia und Ben sind allerdings nicht die einzigen, die auf der Suche nach der Wahrheit hinter den mysteriösen Botschaften sind ... Bei ihrer temporeichen Suche, kommt Sophie nicht nur der Lösung des Rätsels immer näher, sondern lernt auch jede Menge über Codes, Verschlüsselungen und die hohe Kunst des Verbergens und Geheimhaltens. Jugendbuch ab 13 Jahren
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Sommerferien ohne Urlaubsreise? Für Sophie, Mia und Ben gar kein Problem. Die Zutaten für ihre ganz speziellen Ferien lauten nämlich: Mysteriöse Rätsel, spannende Expeditionen und zwei bedrohliche Verfolger. Da kommt garantiert keine Langeweile auf! Grund für das ganze Chaos: Sophie hat von ihrer Großtante eine Schatulle mit geheimnisvollen Inschriften geerbt, deren Inhalt sie auf eine Reise von einer Challenge zur nächsten schickt.
Bei ihrer turbulenten Schnitzeljagd erfahren die drei Teenager ganz nebenbei auch noch jede Menge über die Jahrtausende alte Kunst des Verbergens und Geheimhaltens.
S. I. Lerch studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte. Sie arbeitete als Journalistin und Autorin und hat Essays zu Logik, Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie verfasst, bevor sie sich der Belletristik zuwandte.
Interesse an Geheimschriften, unsichtbarer Tinte und versteckten Botschaften entwickelte S. I. Lerch bereits als Kind. Seit 2001 befasst sie sich intensiv mit Kryptologie, sowie populärwissenschaftlich mit Mathematik und Informatik.
Mit verschlüsselten und »verborgenen« Kapitel-Namen sowie einem ausführlichen Info-Teil mit Lösungen und Bastelvorlagen
Das Verschlüsseln von Mitteilungen gilt in einigen Regionen der Welt als illegal und steht unter Strafe. Falls ihr also im Ausland seid – zum Beispiel im Urlaub – prüft bitte die dortige Gesetzeslage dahingehend, ob die Verwendung kryptologischer Verfahren erlaubt ist, bevor ihr dort kodierte, verschlüsselte oder versteckte Nachrichten austauscht oder verschickt.
In Deutschland und in der EU ist das Kodieren und Verschlüsseln von Nachrichten erlaubt. (Stand: 2023)
Für Arne
Klartext-Überschrift
1 Die Schatulle
Monoalphabetische Substitution: Freimaurer-Chiffre
2 Im Keller
Steganographie, Text-im-Text-Semagramm: Kleine Punkte unter »Zwei merklich ungesellige Heuchler« verraten den Klartext-Titel
3 Codes
»Offener« Code: ASCII-Text im Binär-Code
4 Das Steganogramm
»Offener« Code: Morsecode
5 Digital Detox
Steganographie, Semagramm im Bild: Die hellen Stellen im Rahmen des Verbotsschildes ergeben Morsecode
6 Mathematische Erleuchtung
Steganographie, ein »Akrostichon«: Eine besondere Form der »Null-Chiffre«, bei der die Anfangsbuchstaben jeder Zeile den Klartext bilden
7 Geiß-Höhle
Spiel- und Spaß-Code: Beghilos
8 Die unentzifferbare Chiffre
Polyalphabetische Substitution: Eine »Running-Key-Chiffre«. Der Schlüsseltext ist der Anfang von Sophies Lieblingsbuch
9 Abstieg ins Ungewisse
Spiel- und Spaß-Code: Rückwärts geschrieben und einige Buchstaben gespiegelt
10 Des Rätsels Lösung
Transposition: »DA SUESSERE STOLLEN« ist ein Anagramm von »DES RAETSELS LOESUNG«
INHALT Krypto-Wissen
Kryptologie, Kryptographie und Kryptoanalyse
Klartext und Geheimtext
Code, Verschlüsselung und Chiffre
Beispiele für »offene« Codes:
Binärcode und ASCII
Winker-Alphabet
Morsecode
Brailleschrift (Blindenschrift)
Gebärdensprache und Fingeralphabet
Klopfzeichen
Steno
Pfeifsprachen
Knotenschrift
Rauchzeichen
Verschlüsselungen: Transposition und Substitution
Die »Gartenzaun«-Chiffre
Weitere Beispiele für Transposition:
Skytale
Fleißnersche Schablone
Spaltentransposition
Doppelte Spaltentransposition (»Doppelwürfel«)
Substitution: Monoalphabetische und polyalphabetische Verschlüsselung
Verschlüsselungsmaschinen
Beispiele für monoalphabetische Substituion:
Die »Cäsar-Chiffre«
Die »Playfair-Chiffre«
Chiffrier-Scheibe: Einmalige Rotation um einen festen Wert
Beispiele für polyalphabetische Substitutionen:
Chiffrier-Scheibe: Mehrfache Rotation mit wechselndem Wert
Die »Vigenère-Chiffre«
Die »Running-Key-Chiffre«
Das »One-Time-Pad«
Das Problem mit dem Pseudozufall
Buch-Verschlüsselung (Substitution)
Verschlüsseln mit dem Computer
Stromchiffre und Blockchiffre
Symmetrische und asymmetrische Verschlüsselung
Diffie-Hellman-Merkle-Schlüsselaustausch
RSA – das verbreitetste Public-Key-Verfahren
Kryptographische Hashfunktionen
RSA und Post-Quanten-Kryptographie
Quanten-Kryptographie
Der Quantencomputer
Mathematik-Exkurs: Ein vereinfachtes Beispiel für die RSA-Chiffre
»Salt« und »Pepper«
Diffusion und Konfusion
Blockchain und Kryptowährung
Steganographie
Beispiele für Steganographie im engeren Sinn:
Unsichtbare Tinte
Texte in Texten verstecken
Bilder in Bildern verstecken
Semagramme
Der Mikropunkt
Historisches
Beispiele für Steganographie im weitesten Sinn:
Doppelter Boden
Geheimgänge
Toter Briefkasten
Blumensprache
Erkennungszeichen
Parolen
Die Tricks der Vagabunden und Gauner:
Jargon-Code und Slang
Gauner-Zinken
Gezinkte Karten
Die »Bacon-Chiffre«
Codes für Spiel und Spaß
Beghilos
Leetspeak
Rebus
Rückwärts-Botschaften
Spiegelschrift
Spielsprachen
Mysteriös und trotzdem sicher?
Systematische Übersicht
Verwendete Abkürzungen
Anmerkungen
Kopiervorlagen zum Basteln
»Vigenère-Quadrat«
Anleitung: Cardan-Gitter (Schablonen-Chiffre)
Chiffrier-Scheibe
Fleißnersche Schablone 6x6, 9 freie Zellen
Fleißnersche Schablone 6x6, 8 freie Zellen
Literaturverzeichnis
Gedankenverloren betrachtete Sophie Bergmann die hölzerne Schatulle in ihren Händen. Sie hatte die Größe eines Aquarell-Malkastens und ein seltsames Muster war auf der Oberseite eingelassen worden. Sanft strich sie mit ihrem Zeigefinger über die geometrische Dekoration. Zuerst hatte sie geglaubt, es wäre eine Art Mäander, dieses Ornament, das man oft auf Abbildungen aus dem antiken Griechenland sieht, aber es waren nur rechte Winkel, einige davon mit einem Punkt verziert, und zwei der Symbole sahen aus wie ein Dach. Oder ein auf dem Kopf stehendes Dach, je nachdem wie herum man die Kassette hielt. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Dann sah sie sich noch einmal genau die winzige Öffnung auf der Längsseite an. War das ein Schlüsselloch? Womöglich, denn auf der gegenüberliegenden Seite waren Scharniere zum Öffnen des Klappdeckels angebracht. »Wer«, fragte sie sich, »vererbt denn seiner Familie ein verschlossenes Schmuckkästchen ohne Schlüssel.« Das war so typisch für Großtante Sibylla! Um alles hatte sie ein großes Geheimnis gemacht.
»Du liebst doch Rätsel«, hatte Papa gesagt, als er Sophie die kleine Kassette überreichte, die Sibylla ausdrücklich ihr zugedacht hatte. Die ganze Familie hatte schon versucht, das Ding zu öffnen – vergeblich. Schließlich hatten alle bis auf Sophie aufgegeben. »Was soll auch schon Kostbares in so einem kleinen Behälter sein? Noch dazu, wenn er einem Kind vermacht wird«, dachten sie sich wahrscheinlich.
Andererseits können ja auch die kleinsten Dinge wertvoll sein, und Sibylla war eine sehr wohlhabende Frau gewesen. Immerhin hatte sie Sophies Eltern zu ihrer Hochzeit ihr großes Haus mit dem riesigen, parkartigen Garten überlassen, in dem die kleine Familie seither lebte. Sibylla selbst war danach eine Weile als Rucksack-Touristin um die Welt gereist und hatte nach ihrer Rückkehr mit diversen Katzen in einem Loftappartement in der Stadt gewohnt.
Sophie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kästchen zu. »Vielleicht ist ja ein Goldbarren drin?«, überlegte sie. Gold hat ein außergewöhnlich hohes Gewicht, das wusste sie aus dem Chemieunterricht. Sie legte das Kästchen auf ihre flach ausgestreckte Hand, um besser das Gewicht abschätzen zu können. Tatsächlich war es relativ schwer. Aber auch schwer genug für einen Goldbarren? Nein, eher so, als ob das Holz, aus dem die Schatulle gefertigt worden war, besonders dick war!
Sophie hatte eine andere Idee. Behutsam schüttelte sie das Kästchen, während sie es neben ihr Ohr hielt. Ja, eindeutig: Es bewegte sich etwas darin. Aber dem Klang nach zu urteilen, ganz sicher kein Goldbarren. Im Gegenteil: Etwas sehr Leichtes … wie Papier.
Ob ein Schatzplan darin verborgen war? Sophie wusste nämlich, dass ihre Großtante Rätsel und Mysterien genauso geliebt hatte wie sie selbst. Sibyllas ganzes Leben war umwittert gewesen von Geheimnissen und Spekulationen. Sie war allen stets sehr eigenbrötlerisch und verschlossen vorgekommen, einzig Sophie hatte immer einen guten Draht zu ihr gehabt. Ja, Sibylla war wohl ein wenig so etwas wie das schwarze Schaf der Familie gewesen, aber gerade das hatte sie für Sophie so besonders interessant gemacht! Gerade deshalb hatte sie Sibylla so unheimlich gern gehabt.
Als eine Träne auf die Oberfläche der Schatulle tropfte und langsam in eine der rätselhaften Vertiefungen floss, wurde Sophie bewusst, dass sie weinte. »Ach Tati Billa, warum bist du gestorben?«, flüsterte sie und drückte das verzierte Kästchen fest an ihre Brust.
»Tati Billa« – so nannte Sophie ihre Großtante schon seit ihrer frühesten Kindheit, weil sie damals weder »Großtante«, noch »Tante« oder gar »Sibylla« aussprechen konnte. Und bei diesem Kosenamen war es dann geblieben.
Ein leises Lächeln huschte über Sophies tränenfeuchtes Gesicht, als sie sich an alte Zeiten erinnerte. An die vielen Briefe, die sie einander geschrieben hatten – richtig auf edlem Briefpapier, nicht per Mail oder Chat –, an die kleinen Geschenke von Sibylla, die oft etwas mit Büchern, Filmen, Video-Games oder Katzen zu tun gehabt hatten und natürlich an die vielen Momente, in denen sie miteinander geblödelt und gelacht hatten.
Es war dunkel geworden. Sophie hatte die ganze Zeit über im Schneidersitz auf ihrem Bett gesessen und merkte nun, dass ihr die Beine eingeschlafen waren. Sie stand auf und streckte sich, womit sie sofort die Aufmerksamkeit von Katze Malou auf sich zog. Die schwarze Schönheit hatte auch zur Erbschaft von Großtante Sibylla gehört und verbrachte seither viel Zeit schlafend auf Sophies Bett. Nun reckte auch sie sich, maunzte kurz und drehte sich im Kreis, um eine neue Schlafposition zu finden.
»Schade, dass du nicht sprechen kannst«, sagte Sophie und kraulte dem Kätzchen sanft den Kopf. »Du weißt doch bestimmt, was Sibylla sich dabei gedacht hat, oder?« Wie zur Bestätigung begann Malou leise zu schnurren.
Sophie gähnte. »Tüfteln macht wohl müde«, dachte sie, während sie ihre langen dunkelblonden Haare zu einem losen Zopf flocht und nach ihrem Pyjama griff. Morgen früh würden ihre beiden besten Freunde – Mia und Ben – vorbeikommen. Sophie beschloss, gemeinsam mit ihnen dem Mysterium der verschlossenen Schatulle auf den Grund zu gehen. Zu dritt rätselt es sich einfach besser. Sie schnappte sich eines ihrer T-Shirts, wickelte es behutsam um die Schatulle und schob das Bündel unter ihr Bett.
Am kommenden Morgen trafen Sophies Freunde bereits ein, als sie gerade mit dem Frühstück fertig war. Sie zeigte beiden die Schatulle und sie beschlossen, dem Geheimnis im Garten auf den Grund zu gehen.
»Vielleicht ist es doch einfach nur ein schönes Muster und nichts weiter«, meinte Ben, während er das Kästchen schräg gegen das Licht hielt und ein Auge zukniff, um besser sehen zu können, ob auf der Oberfläche neben den geometrischen Einkerbungen vielleicht noch weitere kryptische Ornamente zu erkennen waren.
»Aber dann müsste es doch symmetrisch sein oder sich zumindest regelmäßig wiederholen«, sagte Mia, warf mit einer schwungvollen Kopfbewegung ihre dunklen Locken in den Nacken und machte es sich auf der Decke gemütlich, die die drei Schatzsucher im Garten ausgebreitet hatten.
Sophie kam mit einem Tablett mit gefüllten Limonaden-Gläsern aus dem Haus. »Selbstgemacht!«, verkündete sie. »Mit wenig Zucker und trotzdem lecker.«
Sie stellte das Tablett auf die Decke und setzte sich im Schneidersitz zu den anderen. »Zumindest haben wir genug Zeit, um das Rätsel zu lösen, da ja keiner von uns in die Sommerferien fährt. Ehrlich gesagt finde ich es toll, sechs Wochen lang mit euch verbringen zu können.«
Mias Mütter hatten die Eltern von Sophie überredet, dem Klima zuliebe dieses Jahr ebenfalls auf Urlaubsreisen zu verzichten, und auch Ben, der mit seinen Eltern im Sommer bisher immer die Familie in Kenia besucht hatte, blieb dieses Jahr daheim. Nach dem Tod seiner Urgroßmutter Zuri, die versucht hatte, die Familie zusammen zu halten, hatten die wenigen Verwandten die noch in Afrika leben, sich in alle Winde verstreut.
»Vermisst du deine Familie?«, fragte Sophie, während sie ihm eines der Limonaden-Gläser reichte.
»Eigentlich nicht«, meinte Ben. »Bis auf meine Urgroßeltern kannte ich sowieso kaum jemanden dort. Alle, die mir nahestehen, wohnen hier. Wir leben ja schon seit drei Generationen in Deutschland.«
Mia schwieg, sie war nach wie vor völlig hin und weg von der geheimnisvollen Schatulle, die sie nachdenklich betrachtete. »Sag mal, Phie«, sagte sie dann endlich zu Sophie, »was weiß man denn über diese Sibylla? Was hat sie beruflich gemacht? Was waren ihre Hobbys? Je mehr wir wissen, desto mehr Hinweise haben wir.«
»Hm, lass mal überlegen … sie war Informatikerin, aber wo oder für wen sie gearbeitet hat, weiß ich gar nicht – das hat mich nie so richtig interessiert. Allerdings hat sie öfter mal ein Universitätsinstitut erwähnt. Aber was sie da gemacht hat, weiß ich wirklich nicht … hm, was noch? … Sie mochte Sciencefiction – Bücher und Filme … Oh, und sie liebte Tiere und hat immer Katzen gehabt. Hach, die waren so süß …« Sophie geriet ins Schwärmen.
»Hallo?«, unterbrach Mia grinsend. »Glaubst du die Schatulle öffnet sich durch Katzen?«
Sophie musste lachen. »Vermutlich nicht. Also weiter: Es gab über Sibylla so einiges an Gerede in unserer Familie: Dass sie früher mal eine berühmte Hackerin gewesen sei und daher auch ihr angeblich unermesslicher Reichtum stamme. Oder sogar, dass sie Geheimagentin war. Und Opa – also ihr Bruder – hat mal erzählt, sie hätte sich sehr für die Freimaurer interessiert. Aber das sind alles nur Spekulationen und Gerüchte.«
»Informatiker und Maurer? – Wie passt das denn zusammen?«
»Nee, warte mal«, mischte Ben sich ein, »ich glaube, das war so eine Art Geheimbund.«
»Stimmt!«, bestätigte Sophie. »Papa hat gesagt, das wäre eine Gruppe von Leuten, die sich für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität einsetzen. Und Mama hat daraufhin gemeint, ihr Einsatz für Toleranz wär’ allerdings nicht so weit gegangen, dass sie Frauen in ihren Reihen zugelassen hätten. Aber Papa erklärte dann, dass es mittlerweile auch Frauen-Logen und gemischte Logen gibt.«
»Logen?«
»Ja, so heißen die Vereinigungen der Freimaurer. Die Bezeichnung wurde, glaube ich, von dem Ort abgeleitet, an dem ihre Versammlungen stattfinden. Na ja, vielleicht kommt es ja von ›lodge‹, dem englischen Wort für Hütte.«
»Ich glaub’ nicht, dass die sich in einer ›Hütte‹ getroffen haben«, meinte Ben schmunzelnd, »bestimmt in einem ›Tempel‹ oder so was.«
»Wow«, sagte Mia »Geheimbündnisse, verborgene Versammlungsorte, Hacking und Spionage – also wenn das nicht nach einer echt mysteriösen Frau klingt … Kein Wunder, dass du sie so toll fandest.«
»Ja schon, aber wir sind total vom Thema abgekommen.« Sophie schnappte sich die Schatulle. »Was bedeuten die rätselhaften Zeichen?«
»Vielleicht gar nix«, meinte Ben, »nach Informatik sieht es jedenfalls nicht aus. Dann wären das nämlich lauter Nullen und Einsen. Ist vielleicht doch einfach nur Deko.«
»Das glaube ich nicht«, beharrte Mia, kramte ihr Smartphone hervor und begann wie wild zu tippen und zu wischen.
»Ha!«, rief sie nach einer Weile so laut, dass Ben und Sophie beinahe vor Schreck ihre Limos verschüttet hätten. »Es gibt eine Freimaurer-Geheimschrift! Auch ›Freimaurer-Alphabet‹ genannt. Ist aber schon viel älter als die Freimaurerei. Die Freimaurer-Typen haben sie wohl nur im 18. Jahrhundert so ausgiebig verwendet, dass sie am Ende nach ihnen benannt wurde – zumindest hier in Deutschland. In englischsprachigen Ländern heißt sie auch: ›Pigpen Cipher‹ – das heißt ›Schweinestall-Chiffre‹!« Mia lachte und zeigte Sophie und Ben die Abbildung auf dem Display. »Da, bitte! Sieht gar nicht nach ›Schweinestall‹ aus, sondern genauso aus wie die Ornamente auf deinem Kasten!«
Sophie starrte auf das Smartphone. Sie brauchte zuerst einen Moment, um zu verstehen, was Mia meinte. Doch dann war alles klar:
Das Dach musste ein S oder ein V sein. Je nachdem, wie herum sie die Schatulle hielt. Sophie drehte sie in verschiedene Richtungen und blickte immer wieder zwischen Kästchen und Mias Phone hin und her. Oder doch ein T oder U? »Warte mal«, sagte sie schlussendlich und rannte ins Haus.
Eine Minute später kam sie mit einem Block Papier und einem Bleistift bewaffnet wieder zurück. Zuerst zeichnete sie das Bild aus dem Internet ab, dann nahm sie die Schatulle und betrachtete sie aus verschiedenen Perspektiven.
»Egal, wie herum man es dreht, man könnte immer Buchstaben herauslesen – nur jedes Mal andere.«
Ben kam ihr zu Hilfe. »Wenn da hinten Scharniere sind und da vorne so was wie ein Schlüsselloch, sollten wir es vielleicht so herum halten.« Er nahm ihr das Kästchen aus der Hand und legte es mit den Scharnieren nach hinten auf die Decke. Sophie zeichnete:
»Also, wenn das umgedrehte Dach ein S ist, dann steht das Symbol daneben für ein O.« Sie malte die echten Buchstaben in der gleichen Reihenfolge wie die Symbole auf das Papier:
»Da!«, rief Mia aufgeregt, »Da steht dein Name!«
Tatsächlich! Sophie konnte es kaum glauben. Hatte ihre Großtante die Botschaft wirklich an sie persönlich gerichtet? Doch dann wurde sie stutzig.
»Aber was bedeutet ›EGNEAHN‹? Und wofür stehen das R und das A an den Rändern?«
»Vielleicht muss man es rückwärts lesen«, überlegte Mia.
»›NHAENGE‹?«, Sophie schüttelte den Kopf. »Also ich weiß nicht … Außerdem steht da nicht ›SOPHIE‹, sondern ›SOPHIES‹. Vielleicht ist das mit meinem Namen ja doch nur ein blöder Zufall und hat gar nichts mit mir zu tun … vielleicht müssen wir die Symbole doch anders herum lesen.«
Mia schnappte sich den Stift, drehte das Kästchen um 180 Grad und schrieb:
»Also das ergibt ja mal überhaupt keinen Sinn – weder vorwärts noch rückwärts«, stellte Ben fest.
»Und wenn wir die Schatulle hochkant hinlegen?« Sophie war noch nicht bereit aufzugeben. Verbissen kritzelte sie die beiden neuen Varianten auf das Papier.
»Nee«, sagte sie enttäuscht, »das ist auch nur Kauderwelsch.«
»Vielleicht fehlt ja in der Mitte was«, sagte Mia grübelnd, »zwischen den zwei einzelnen Buchstaben am Rand könnte ja auch noch was stehen. Da ist Platz für weitere fünf Symbole, vielleicht wurden die vergessen oder es war keine Zeit mehr dafür oder so was.«
Ben überlegte: »Also Wörter mit sieben Buchstaben, die mit R anfangen und mit A aufhören. ›Roberta‹ – ›Regatta‹ – ›Riviera‹ … oder rückwärts, also A am Anfang und R am Ende, da fällt mir mehr ein: ›Ansager‹ – ›Adapter‹ – ›Atelier‹ – ›Amateur‹ – ›Autotür‹ – ›Atomuhr‹ – ›Anbeter‹ …«
»Hör auf«, unterbrach Sophie ihn lachend, »›Sophies Autotür‹? Nee, das ist doch Unsinn, so kommen wir nicht weiter.«
Stumm betrachteten die drei Freunde die Schatulle und ihre Notizen. Bens Lippen formten lautlos Wörter, so als suche er immer noch nach einem fehlenden Sieben-Buchstaben-Wort, Mia wickelte grübelnd eine Locke um den Zeigefinger und Sophie kaute gedankenversunken auf ihrer Unterlippe. Sie war so konzentriert, dass sie noch nicht einmal merkte, wie eine sanfte Brise ihr kleine Blütenblätter ins Haar wehte, dass der neue Nachbar mit einem Kuchen an ihr vorbeiging, um ihre Eltern zu besuchen, oder dass Katze Malou des Weges kam und im Vorbeispazieren Sophies Bein anschmuste.
»Sophie! Essen!«, schallte es irgendwann aus dem Haus.
»Ach je, schon so spät?«, fragte Sophie.
Mia lachte. »Wenn man sich amüsiert, vergeht die Zeit eben schneller.«
»Oder wenn man geheime Botschaften entziffert«, fügte Ben breit grinsend hinzu.
Sophies Eltern streckten die Köpfe zur Terrassentür heraus. »Bleibt ihr zum Essen?«, fragte Papa. »Es ist genug für alle da.«
»Nein, meine Mums wären sauer, wenn ich mir hier den Bauch vollschlage und dann zuhause nichts mehr essen will«, erklärte Mia und packte ihr Smartphone in die Tasche.
Ben entschuldigte sich auch. »Geht mir wie Mia. Unangekündigt woanders essen kommt gar nicht gut. Aber andermal gerne. – Bis später, Phie! Treffen wir uns um drei Uhr im Nest?«
»Klar«, sagte Mia.
»Machen wir«, bestätigte auch Sophie und trottete in Richtung Terrasse, in Gedanken immer noch bei Großtante Sibyllas rätselhaftem Code.
Das »Nest« war ein Baumhaus; allerdings nicht – wie der Spitzname vermuten ließ – nur ein paar Bretter zwischen den Zweigen, sondern eine richtige kleine Holzhütte, mit einem gedeckten Dach, einem kleinen Balkon, Fenstern aus Glas und einem Mini-Holzofen. Auch sie stammte von noch von Großtante Sibylla und stand auf dem Grundstück, das zum Wohnhaus gehörte. Die Hütte war auf stabilen Pfählen errichtet worden, und zwar in die Mitte zwischen drei Bäumen, so dass sie aussah wie ein echtes Baumhaus, obwohl sie die Bäume kaum berührte. Und – wie es sich für ein Baumhaus gehört – man brauchte eine Leiter, um es zu betreten. Sophies Eltern hatten es gemütlich mit Second-Hand-Möbeln eingerichtet: Stühle, ein Schlafsofa, zwei Sessel, ein Tisch, ein Schränkchen und allerlei Deko-Kram wie Gardinen, Tischdecke, Decken, Teppich und Windlichter.
In diesem Häuschen hatten Sophie, Mia und Ben schon jede Menge Unsinn ausgeheckt und Pläne für Unternehmungen geschmiedet. Doch nichts davon war auch nur annähernd so spannend gewesen wie das Knacken eines raffinierten Freimaurer-Codes.
»Also, wir sind uns einig, dass es die Version sein muss, in der dein Name vorkommt«, fasste Ben die bisherigen Erkenntnisse zusammen, während die drei angehenden Codeknacker es sich auf den Sesseln und dem Sofa gemütlich machten.
»Ja, aber was hat es dann mit dem ›EGNEAHN‹ und den Buchstaben R und A auf sich?«, grübelte Sophie, während Mia in dem Versuch, das Rätsel zu lösen, ständig die Schatulle auf dem Tisch rotieren lies.
»Boah, Mia! Du machst mich ganz schwindelig«, jammerte Ben, »Hör doch auf, den Kasten dauernd im Kreis zu drehen!«
Das war es! Im Kreis!
»Gib mal her«, sagte Sophie und nahm Mia das Kästchen aus der Hand. »Ich glaube, wir müssen es im Kreis lesen, im Uhrzeigersinn. Beginnend bei ›SOPHIE‹!«
»Ach? Und was steht dann da?«, fragte Ben neugierig.
»S-O-P-H-I-E-S-A-N-H-A-E-N-G-E-R«
»Hä? Was?«
»Sophies Anhänger! – Da steht: ›Sophies Anhänger‹. Das Freimaurer-Alphabet kennt ja kein Ä deshalb wurde ›Anhänger‹ mit AE geschrieben.«
»Wow«, sagte Mia, »aber was verrät uns das jetzt?«
»Meine Großtante hat mir vor zwei Jahren zu meinem zwölften Geburtstag eine Halskette mit einem Anhänger geschenkt!«
Zurück in ihrem Zimmer machte sich Sophie sofort auf die Suche nach dem Schmuckstück.
»Eine Frage habe ich noch«, sagte Ben während Sophie nach ihrem Schmuck kramte. »Diese Sibylla war doch Informatikerin. Sie verstand ja wohl was vom Chiffrieren oder Verschlüsseln oder wie man das nennt. Warum wählt sie dann einen Code, den man so leicht knacken kann? Ich meine, wir haben ja noch nicht einmal einen Tag gebraucht.«
»Ich denke, das war Absicht«, ließ Sophie aus dem Wandschrank verlauten, »Wir sollten den Code knacken. Wenn es ein Rätsel ist, muss man es auch lösen können. Sie wollte, dass wir herausfinden, was dahintersteckt!«
Sophie kroch auf allen Vieren aus ihrem Schrank. Sie schob eine Metallbox mit Deckel vor sich her, die wie eine kleine Schatztruhe aussah und auf deren Vorderseite ein Piratensymbol prangte. »Liegt ganz unten im Schrank. Ich trag’ nicht so oft Schmuck.«
»Dein Schmuckkästchen ist ein Piratenschatz?«, fragte Mia mit ungläubigem Grinsen.
»Was denn? Meine Eltern haben mir das geschenkt, als ich acht Jahre alt war. Damals fand ich Piraten toll!«
Vorsichtig stellte sie die Kiste auf ihren Schreibtisch und öffnete den Deckel. Sie hob die oberste Ebene mit den Ohrringen heraus und blickte ratlos auf den Boden der Truhe. »Da sind nur Fingerringe und eine Armbanduhr, wo sind denn die Ketten und Anhänger?«, murmelte sie verwirrt.
Ben deutete auf die Frontseite der Kiste. »Da, unter dem Totenkopfsymbol ist ein kleiner Knauf«, sagte er.
»Ach ja, natürlich! Die Schublade! Ich bin vor Aufregung schon ganz durcheinander.«
Sophie zog bedächtig das hohe untere Fach heraus. Da lagen ein Blümchen-Armband, eines mit kleinen Buchstaben, die ihrem Namen bildeten, Malous Halsband mit einer großen Schelle daran, die aber nicht funktionierte, ein Hippie-Makramee-Choker und eine schlichte, silberne Kette mit einem Katzen-Anhänger aus schwarzem Metall. Sie nahm sie heraus und sah sich den Anhänger ganz genau an. Eine flach gestaltete, sitzende Katze mit einem unregelmäßigen Umriss, wie eine Langhaarkatze, die schon lange keine Bürste mehr gesehen hatte. Ihr Schwanz war ganz gerade, aber ebenso struppig.
»Und jetzt?«, fragte Sophie. »Das verstehe ich nicht. Was soll das?«
»Ist das das Geschenk von deiner Großtante?«, wollte Mia wissen.
»Ja schon … hm … aber ich verstehe nicht, wozu es gut sein soll.«
»Ist doch klar: Das ist der Schlüssel.«
Sophie blickte Mia verständnislos an.
»Da!«, Mia zeigte auf den Schwanz der Katze. »Das ist der Schlüssel!«
Tatsächlich! Im Gegensatz zur restlichen Katze war der Schwanz nicht flach sondern rund und auch der struppige Umriss war dreidimensional.
»Aha«, rief Sophie triumphierend, »die Schatulle öffnet sich also doch durch Katzen.«
Alle drei brachen in Gelächter aus. Als sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatten, holte Sophie die hölzerne Box. Der Schlüssel passte perfekt. Vorsichtig drehte sie ihn herum, bis ein deutliches Klicken verriet, dass der Schließmechanismus aufgesprungen war. Alle drei beugten sich über das Kästchen als Sophie den Deckel öffnete. Darin lag ein zusammengefaltetes Blatt Papier, verziert mit einer roten Schleife.
»Was ist das? Ist es eine Schatzkarte?«, fragte Mia während Sophie das Papier auseinander faltete. »Bitte sag, dass es eine Schatzkarte ist.«
»Nein, es ist ein Brief.«
Liebe Sophie,
ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, herauszufinden, wie man die Kassette öffnet. Ich weiß ja schon seit längerem, dass das Lösen von Rätseln dir genau so viel Freude bereitet wie mir. Deshalb muss ich dir nun auch leider – oder glücklicherweise? – mitteilen, dass dies erst der Anfang ist.
Denn wenn du erfahren willst, was des Rätsels Lösung ist, warten noch viele weitere Mysterien darauf, von dir aufgedeckt zu werden.
Ist dir aufgefallen, dass ich mir dies schon vor einiger Zeit ausgedacht habe? Denn ich habe dir den Anhänger ja schon zu deinem zwölften Geburtstag geschenkt. Damals hattest du mir nämlich verraten, dass du gerne Rätsel löst.
Viel Glück beim Rätseln und Tüfteln wünscht dir deine dich liebende Großtante
Sibylla
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Sophie lag auf ihrem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Beine lang ausgestreckt, und Malou hatte es sich, angelehnt an ihren Oberschenkel, bei ihr bequem gemacht.
Sophies Blick ruhte versonnen auf dem Sternenhimmel an ihrer Zimmerdecke. Genaugenommen stellte das Bild – etwas vereinfacht und natürlich nicht maßstabsgetreu – das Sonnensystem und einige der Fixsterne dar. Das Kunstwerk war schon dagewesen, seit sie denken konnte. Als sie etwa vier Jahre alt war und ihre Eltern ihr die Entscheidung überlassen hatten, welchen der vielen Räume im Haus sie für sich haben möchte, hatte sie sich wegen dieses Deckengemäldes für das Zimmer entschieden. Sie liebte das Bild immer noch.
Bestimmt war Großtante Sibylla für die Malerei verantwortlich. Auch Teile der Hausfassade waren mit skurrilen, teils abstrakten, teils mysteriösen Motiven verziert. Es war schon ein sehr besonderes Haus, in dem Sophie mit ihrer Familie leben durfte. Sie fragte sich, ob ihre Großtante selbst den Pinsel geschwungen oder es in Auftrag gegeben hatte. »Verbirgt sich hier vielleicht auch eine rätselhafte Botschaft? Was meinst du, Malou?«, flüsterte sie der Katze zu und musste wieder an den Brief denken. Sie hatte sich über Sibyllas liebe Worte mächtig gefreut, und sofort wurden Erinnerungen an die wenigen kostbaren Momente wach, die sie mit ihr verbringen durfte.
Wie schade, dass sie nicht mehr Zeit füreinander gehabt hatten. Oft war Sibylla zu Weihnachten zu Besuch gekommen, zu Sophies Geburtstagen so gut wie immer – nur wenn etwas wirklich Wichtiges dazwischen kam, hatte sie absagen müssen. Aber dann hatte sie Sophie einen langen Brief geschrieben und die Feier mit ihr einfach später nachgeholt.
Manchmal hatte Sophie ihre Großtante auch besucht und das Wochenende in ihrer unordentlichen Wohnung verbracht. Für Sophie war von dem Chaos in Sibyllas Zuhause immer ein ganz besonderer Zauber ausgegangen: die vielen Bücher, die nur zum Teil in Regalen standen und hauptsächlich auf Tischen, Sesseln, ja sogar auf dem Boden herumlagen. Am aufregendsten war es immer im Arbeitszimmer gewesen. Dort standen gleich mehrere Schreibtische, weil Sibylla drei oder vier Computer besaß, die manchmal gleichzeitig liefen. Auch hier lagen Bücher, Zettel mit Notizen und Stifte kreuz und quer auf den Schreibtischen und Stühlen herum. Dazwischen gab es Kartons in verschiedenen Größen, die ihre Katzen als Schlafplatz benutzen. »Ich kaufe ihnen teure Kuschel-Körbchen und sie schlafen lieber in der Box, in der sie verpackt waren«, hatte Sibylla lachend erzählt.
Sie hatten viel zusammen gelacht, gemeinsam Filme geguckt und mit den Katzen gespielt. Aber jetzt, da sie so darüber nachdachte, wurde Sophie schmerzlich bewusst, wie wenig sie trotz dieser liebevollen Beziehung über ihre Großtante wusste – eigentlich gar nichts! Warum hatte Sophie ihr nicht mehr Fragen über ihr Leben und ihre Vergangenheit gestellt? Sie wusste ja noch nicht einmal, ob Sibylla jemals verliebt gewesen war, ob sie einen Freund oder eine Freundin gehabt hatte, oder warum sie nie geheiratet hatte.
Nachdem Sophie von Sibyllas Autounfall erfahren hatte, war es ihr vorgekommen, als ob man ihr etwas Wertvolles, etwas Lebenswichtiges weggenommen hätte. Es hatte sich angefühlt, als wenn ihr jemand einen Teil ihres eigenen Körpers gewaltsam herausgerissen und nur Leere hinterlassen hätte. Ein großes leeres Loch, mitten in ihrer Brust.
Ihre Großtante war nun so weit weg. Unerreichbar! Für immer! Sophie war sich so hilflos und ohnmächtig vorgekommen. Es war so unfair. Sibylla war doch noch gar nicht so alt gewesen: erst Anfang 50, fast 15 Jahre jünger als Sophies Opa – Sibyllas Bruder. Sophie und ihre Großtante hätten noch so viele gemeinsame Erlebnisse miteinander haben können. Ach, hätte sie doch nur öfter Zeit mit ihr verbracht …
Als Sophie dann erfahren hatte, dass ihre Großtante ihr etwas vererbt hatte, gab ihr das zum ersten Mal seit Sibyllas Tod, wieder das Gefühl, ihr nahe zu sein. Vermutlich hatte keiner in der Familie verstanden, was diese kleine Schatulle wirklich für Sophie bedeutete. »Ach Sibylla, ich vermisse dich so!«, dachte sie, »Es war so schön, noch einmal einen Brief von dir zu bekommen«.
Doch wie ging es nun weiter? Sibylla hatte noch mehr Rätsel und Mysterien angekündigt, aber nicht erwähnt, wo Sophie danach suchen sollte. Zwei volle Tage hatte Sophie mit ihren Freunden über dem Brief gegrübelt. Mia hatte überlegt, ob die Schatulle vielleicht einen doppelten Boden enthielt. Gemeinsam hatten sie das Kästchen auf der Suche danach inspiziert, betastet und geschüttelt. – Ohne Erfolg.