Ich weiß, dass ich nichts weiß - S. I. Lerch - E-Book

Ich weiß, dass ich nichts weiß E-Book

S. I. Lerch

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Beschreibung

Scholar trifft im Internet auf Magister und Bakkalaureus, die ihn in ein erschütterndes Wissen einweihen... Der Essay vermittelt in Dialogform die wichtigsten Grundlagen der Erkenntnistheorie: Vermitteln die Naturgesetze uns Wissen? Haben wir einen freien Willen? Wie verarbeiten wir die Wirklichkeit? Gibt es Wirklichkeit überhaupt? Was ist Bewusstsein?

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Seitenzahl: 198

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Scholar trifft im Internet auf Magister und Bakkalaureus, die ihn in ein erschütterndes Wissen einweihen. Nur ... diesmal ist es keine Science-Fiction, diesmal ist es die Wahrheit ...

S. I. Lerch studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte, arbeitet als Journalistin und Autorin und hat diverse Essays zu Logik, Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie verfasst.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Prolog

Wir wissen nicht, sondern wir raten

Eine Leiche im Keller und wie man sie beseitigt

Mathematik – nichts für Ungläubige

Die Kunst des Denkens

Können wir unserem Schicksal entrinnen?

Das moderne Orakel

Die andere Seite

Wie ein Splitter in deinem Verstand

Die Idee des Kreises

Verstand kontra Erfahrung

Haben wir die Zeit erfunden?

Evolution

Den Löffel gibt es gar nicht

Die ganze Welt ist grün – vielleicht

Willkommen im Cyberspace!

Schein oder Sein?

Wirklichkeit wird erzeugt

Der Gedanke Gottes vor der Schöpfung

Je einfacher, desto wahrscheinlicher

Wer bin ich?

Die Illusion des Ich

Das unmittelbare Wissen

Eine Weise des Wissens

Die Angst vor dem Nichts

Epilog

Literatur

Daten und Erläuterungen

Anmerkungen

Vorwort

Diese neue Auflage des Essays „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ stellt keine Aktualisierung oder Korrektur der 2001 online veröffentlichten Fassung dar.

Es handelt sich lediglich um eine gedruckte Version der seinerzeit recht beliebten Arbeit, die damals allerdings einzig im HTML-Format sowie als PDF vorlag.

Ich bitte also, etwaige nach wie vor vorhandene Tipp-oder gar Rechtschreibfehler zu entschuldigen! ;-)

Zudem ist vieles heutzutage natürlich nicht mehr aktuell. So mutet es in Zeiten von Social Media und Emojis seltsam an, dass am Ende des Essays erklärt wird, was ASCII-Smileys „ :-) “ sind. Doch man muss bedenken, dass 2001 nicht einmal 40 Prozent der über 14-Jährigen das Internet nutzten, geschweige denn wussten, was Chatrooms sind! (www.ard-zdf-onlinestudie.de/files/2001/Online01_Nutzung.pdf)

Viel Spaß beim (erneuten) Lesen. :-)

S. I. Lerch, Juli 2023

Einleitung

Follow the white rabbit...

THE MATRIX

Scholar trifft im Internet auf Magister und Bakkalaureus, die ihn in ein erschütterndes Wissen einweihen. Nur ... diesmal ist es kein Science-Fiction, diesmal ist es die Wahrheit ...

Dieser Essay könnte auch den Titel tragen: „Matrix – Die wahre Geschichte“ und den Untertitel: „Erkenntnistheorie für SF-Fans“. Will sagen: dies ist eine Arbeit, die Nicht-Philosophen, die aber an Science-Fiction oder an Wissenschaft interessiert sind, einen Einblick in einen Bereich der Philosophie gibt, der in den letzten Jahrzehnten durch den Fortschritt der Neurobiologie und der Computertechnologie wieder an Aktualität gewonnen hat.

Vermitteln die Naturgesetze uns Wissen?

Haben wir einen freien Willen?

Wie verarbeiten wir die Wirklichkeit?

Gibt es Wirklichkeit überhaupt?

Was ist Bewusstsein?

Erkenntnistheorie ist eine philosophische Disziplin, die spannend und aufschlussreich zugleich ist, doch leider sind die meisten Werke zu diesem Thema aufgrund ihrer Komplexität für einen Einsteiger eher ungeeignet. Hier allerdings chatten drei Menschen im Internet über Wissen und Erkenntnis, und sie verwenden dabei eine Sprache, die jeder versteht.

Die Kapitel „Wir wissen nicht, sondern wir raten“ und „Können wir unserem Schicksal entrinnen?“ befassen sich mit den Themen der modernen Erkenntnistheorie (20. Jahrhundert), während in den Kapiteln „Wie ein Splitter in deinem Verstand“ und „Den Löffel gibt es gar nicht“ die historische Entwicklung der Epistemologie beleuchtet wird.

Obgleich der Text eher populärwissenschaftlich gehalten ist, könnte dem Einen oder Anderen das erste Kapitel „Wir wissen nicht, sondern wir raten“ (hier geht es um Naturwissenschaft, Mathematik und Logik) zu trocken erscheinen. Für dieses wie auch für das zweite Kapitel: „Können wir unserem Schicksal entrinnen?“ (In-/Determinismus, Fraktale und Quantentheorie) gilt: Wem dies alles zu (natur)wissenschaftlich ist, kann gerne bei Kapitel III „Wie ein Splitter in deinem Verstand“ einsteigen. Auch wenn sich einige Bemerkungen dann nur durch Kenntnis der vorangegangenen Kapitel erschließen, sollte im Großen und Ganzen der rote Faden trotzdem noch zu verfolgen sein.

Das Kapitel IV („Den Löffel gibt es gar nicht“) ist schließlich dasjenige, das sich am meisten der „Matrix“-Thematik annähert (und auch - gemeinsam mit Kapitel V („Wer bin ich?“) – am Buddhismus interessierte Leser ansprechen dürfte).

Diese Einführung erhebt natürlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, ganz im Gegenteil: die unterschiedlichen Bereiche der Erkenntnistheorie werden nur angerissen. Wer sich intensiver mit dem einen oder anderen Motiv der Epistemologie befassen möchte, sollte einen Blick auf die Literaturliste am Ende des Essays werfen.

Ich hoffe, dass niemandem der etwas „schulmeisterliche“ Ton unangenehm aufstößt, den Magister und Bakkalaureus Scholar gegenüber anschlagen; ich habe lediglich versucht, den Ton zu treffen, der im Spielfilm „The Matrix“ von Morpheus und Trinity gegenüber Neo verwendet wird, der von den beiden ja auch ziemlich rücksichtslos in die Enge getrieben wird ...

S. I. Lerch, 2001

Prolog

It’s the question that drives us mad. It’s the question that brought you here.

THE MATRIX

Magister

betritt den Chatroom

Bakkalaureus

betritt den Chatroom

Scholar

betritt den Chatroom

Scholar

Ist da jemand?

Scholar

Wenn eure Namen in diesem Chatroom stehen, seit ihr auch online, ... also, sprecht mit mir!

Magister

Was willst du?

Scholar

Wissen.

Magister

Was wissen?

Bakkalaureus

Verschwinde, lass uns allein!

Magister

Nein, lass ihn – lass ihn fragen!

Magister

Bist du verstummt? Was wolltest du wissen?

Scholar

Wer ihr seid?

Bakkalaureus

Wer bist du?

Scholar

Ich habe zuerst gefragt.

Bakkalaureus

Wir sind Wissende.

Magister

Ja, wir wissen, dass wir nichts wissen. ;-)

Scholar

Diesen dummen Spruch von Sokrates habe ich noch nie verstanden.

Magister

Wieso glaubst du, dass es ein „dummer“ Spruch ist?

Scholar

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ – Was soll der Scheiß?

Bakkalaureus

Unser holder Dichter :-) das reimt sich ja.

Magister

Die meisten Menschen glauben, so vieles zu wissen. Wir dagegen wissen, dass wir vieles nur glauben können.

Scholar

Oh nein, verschon’ mich mit so einem religiösen Mist.

Magister

Wer sagt dir, dass ich von Religion spreche?

Scholar

Du sprichst von Glauben, das ist doch dasselbe.

Bakkalaureus

Du Ahnungsloser, geh, verkriech’ dich in dein Schneckenhaus und verschließe deine Augen weiterhin vor der Wahrheit.

Scholar

Welche Wahrheit?

Magister

Du denkst, Glauben und Religion ist das Gleiche?

Scholar

Ja!

Magister

Warum?

Scholar

Weil alles, was ich nicht beweisen kann, esoterischer Scheißdreck ist.

Bakkalaureus

Weißt du überhaupt, was dieses Wort bedeutet?

Scholar

Scheißdreck?

Bakkalaureus

„Esoterik“, du Blödmann!

Scholar

Na, so was wie „Abgehobener Unsinn“.

Magister

Der Begriff bezeichnet eine Lehre, die nur Eingeweihten zugänglich ist. – Eine Geheimlehre.

Scholar

Oho, „Geheimlehre“, wow! Was seid ihr? Die Freimaurer?

Bakkalaureus

Natürlich sind wir das nicht. Mach’ dich nicht lächerlich.

Magister

Wir machen kein Geheimnis aus unserem Wissen, Scholar.

Scholar

Warum weiht ihr mich dann nicht ein? Warum erzählt ihr es mir nicht?

Magister

Warum fragst du nicht danach?

Scholar

Ich frage die ganze Zeit!!!!

Bakkalaureus

Vielleicht stellst du die falschen Fragen.

Magister

Also, was ist, was willst Du wissen?

Scholar

verlässt den Chatroom

Bakkalaureus

Er hat sich ausgeklinkt, der Feigling.

Magister

Er kommt wieder, Bakkalaureus, glaube mir.

Wir wissen nicht, sondern wir raten

What you must learn is that these rules are no diffrent than the rules of a computer system. Some of them can be bent, others can be broken. Understand?

THE MATRIX

Scholar

Guten Morgen!

Bakkalaureus

Bei mir ist tiefste Nacht.

Scholar

Na, dann: Gute Nacht! :-)

Bakkalaureus

Nun? Doch neugierig geworden?

Scholar

Ja.

Bakkalaureus

Was willst du wissen?

Scholar

Was kann ich nur glauben und nicht wissen?

Bakkalaureus

Was glaubst du denn zu wissen?

Scholar

Lass doch die albernen Wortspielereien!

Magister

betritt den Chatroom

Bakkalaureus

Ich meine das ernst. – Also, was glaubst du zu wissen?

Scholar

Alles, was ich wissenschaftlich beweisen kann.

Bakkalaureus

Ist dir aufgefallen, wie oft wir das Wort „Wissen“ und verwandte Worte wie „beweisen“ und „wissenschaftlich“ in unserem Dialog bereits verwendet haben.

Scholar

Lenk’ nicht vom Thema ab.

Bakkalaureus

Ich lenke nicht ab, exakt darum geht es hier nämlich.

Magister

Hallo Bakkalaureus, hallo Scholar!

Scholar

Hi Magister!

Magister

Du hältst also alles für gewiss, was du wissenschaftlich beweisen kannst? Habe ich das richtig verstanden, Scholar?

Scholar

Ja, genau so ist es.

Magister

Was ist ein wissenschaftlicher Beweis?

Scholar

Warum beantwortet ihr meine Fragen immer mit Gegenfragen?

Magister

Weil wir dich durch Fragen zum Nachdenken bringen. – Also, was glaubst du, ist ein wissenschaftlicher Beweis?

Scholar

Na, wenn ich nachprüfe, ob etwas der Wahrheit entspricht.

Magister

Du befindest dich also tatsächlich im Besitz einer Messlatte für Wahrheit?

Scholar

Natürlich nicht. Du weißt schon, was ich meine.

Magister

Nein, weiß ich nicht. Erklär’s mir!

Scholar

Nun, ich probier’s eben aus.

Magister

Demonstratio ad oculos.

Scholar

Wie bitte?

Bakkalaureus

Das heißt in etwa: „Beweis durch Augenschein“. Wenn du allen Ernstes versuchst, etwas einfach nur durch praktische Nachprüfung zu beweisen, so ist das ein ziemlich vorwissenschaftliches Verständnis von Beweisen. – Und du wolltest uns etwas von wissenschaftlichen Beweisen erzählen!?

Scholar

Ich habe eben noch nie so genau darüber nachgedacht.

Magister

Das ist dein Problem, Scholar.

Scholar

Was?

Magister

Dass du über Vieles noch nie nachgedacht hast.

Eine Leiche im Keller und wie man sie beseitigt

Bakkalaureus

Du willst also nur von Dingen wissen, die wissenschaftlich beweisbar sind, aber du weißt eigentlich gar nicht, was ein wissenschaftlicher Beweis ist? Sehe ich das richtig?

Scholar

O.k. o.k. … Ja.

Bakkalaureus

Du bist mir ja ein Held. ;-)

Magister

Verurteile ihn nicht, Bakkalaureus, er denkt nur wie die meisten Menschen.

Scholar

Was ist denn nun ein wissenschaftlicher Beweis?

Magister

Scholar, was versteht man unter Naturgesetzen?

Scholar

Manchmal nervst du echt, mit deinen Gegenfragen!

Bakkalaureus

Versuch’s mal mit einer Antwort.

Scholar

Na, die Gesetze der Natur, denke ich.

Bakkalaureus

Du hast wirklich eine geradezu entwaffnend naive Art zu antworten, manchmal.

Scholar

Ich bin nicht naiv!

Bakkalaureus

Neeeeiiin, natürlich nicht! ;-)

Scholar

>:-(

Bakkalaureus

Sorry.

Scholar

Is’ o.k.!

Magister

Seid ihr fertig?

Bakkalaureus

Ja.

Magister

Was sind Gesetze?

Scholar

Soll ich den Begriff jetzt definieren, oder was?

Magister

Ich will nur von dir wissen, ob du meinst, Gesetze für die Natur und Gesetzte für den Menschen beziehungsweise die Gesellschaft seien dasselbe?

Scholar

Nein, natürlich nicht!

Magister

Worin besteht der Unterschied?

Scholar

Die Menschen

sollten

sich an Gesetze halten,

müssen

es aber nicht.

Magister

Und die Natur muss?

Scholar

Ja, weil Naturgesetze unabänderlich sind, man kann Naturgesetze nicht verletzen, verbiegen oder brechen. Sie werden nicht vom Menschen geschaffen, wie unsere gesellschaftliche, staatliche Gesetzgebung.

Magister

Und wenn ich dir nun sage, dass auch die Naturgesetze vom Menschen geschaffen sind.

Scholar

Was? Du meinst, der Mensch schreibe der Natur ihre Gesetze vor? Wie soll das denn gehen? Wir erforschen die Naturgesetze, wir suchen nach ihnen. Wir erfinden sie nicht!

Bakkalaureus

Das denkst du!

Scholar

Klar denke ich das, weil es so ist.

Bakkalaureus

Nein, Scholar, ist es nicht.

Scholar

WAAAAS?

Magister

Wie erforschen wir deiner Meinung nach die Natur?

Scholar

Wir beobachten sie und erkennen dadurch die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten der Natur.

Magister

Nenn’ mir ein Beispiel.

Scholar

Wenn eine Kugel angestoßen wird und sie rollt weg, dann weiß ich, dass das Anstoßen Bewegungsenergie auf die Kugel überträgt.

Bakkalaureus

So, so, das weißt du?

Scholar

Ja!

Magister

Woher?

Scholar

Na, weil es immer wieder passiert, wenn ich eine Kugel anstoße.

Magister

Du glaubst also, wenn das Ereignis B wiederholt auf das Ereignis A folgt, sei A die Ursache und B die Wirkung?

Scholar

Genau!

Magister

Warum?

Scholar

Weil A eben nun mal die Ursache ist und B die Wirkung, wenn B immer wieder auf A folgt.

Magister

Wer sagt das?

Scholar

Das ist eben so!

Magister

Warst du es nicht, der zu Anfang nach wissenschaftlichen Beweisen geschrien hat?

Bakkalaureus

Mit einem „Das ist eben so!“, hättest

du

dich sicher nicht abspeisen lassen, oder?

Scholar

Ja, o.k., ich geb’s ja zu.

Magister

Ist die Übertragung von kinetischer oder Bewegungsenergie für dich also ... wie nanntest du es? ... „esoterischer Scheißdreck“ oder „religiöser Mist“?

Scholar

Nein, natürlich nicht.

Magister

Sondern?

Scholar

Ein Naturgesetz vielleicht?

Magister

Warum?

Scholar

Weil man es wissenschaftlich beweisen kann!?

Magister

Wie?

Scholar

ICH WEISS ES NICHT! DEINE FRAGEREI MACHT MICH WAHNSINNIG!!!!

Magister

Scholar, weißt du, was man unter dem Kausalitätsprinzip versteht?

Scholar

Nein, was?

Magister

Das ist der Grundsatz, nach dem für jedes Geschehen notwendig eine Ursache angenommen wird.

Scholar

Na also, sag’ ich doch!

Magister

Angenommen, Scholar, „angenommen“!

Scholar

Ich verstehe dich nicht.

Magister

Wir nehmen die Ursache nur an, wir wissen es nicht.

Scholar

Das ist nicht dein Ernst, oder?

Magister

Doch, das ist mein Ernst. Oder meinst du, dass die Tatsache, dass auf A bisher immer wieder B folgte, ein

hinreichender Beweis für eine kausale Beziehung zwischen A und B ist?

Scholar

Ja, das dachte ich zumindest.

Magister

Woher willst du wissen, dass auch morgen und in Zukunft noch B auf A folgen wird?

Scholar

Gar nicht.

Magister

Nenne mir einen logischen Grund, warum die Zukunft der Vergangenheit ähnlich seien sollte.

Scholar

Ich weiß keinen.

Magister

Ist es nicht vielmehr so, dass du einfach das „Bedürfnis“ hast, eine kausale Beziehung zweier aufeinanderfolgender Ereignisse zu sehen.

Scholar

Vielleicht.

Bakkalaureus

Eine Beobachtung und deine Interpretation dieser Beobachtung ist keine logische Schlussfolgerung, oder siehst du das anders?

Scholar

Wohl nicht, nein.

Bakkalaureus

Ob, wenn B oft genug auf A folgt, dies auch in Zukunft zu erwarten ist, ist eine Frage der Psychologie, Scholar, nicht der Logik.

Scholar

So langsam sehe ich das ja ein ...

Magister

Was glaubst du, Scholar, war zuerst: das Huhn oder das Ei?

Scholar

Hä?!

Magister

Im Ernst: Was kommt in der Naturwissenschaft zuerst, die Beobachtung oder die Theorie?

Scholar

Die Beobachtung natürlich.

Magister

Denk noch einmal über das bisher Gesagte nach, Scholar!

Scholar

Du meinst, mein „Bedürfnis“, einen kausalen Zusammenhang zu sehen?

Magister

Genau.

Scholar

Ich habe also zuerst die Theorie, dass wenn B auf A folgt, A die Ursache von B ist. Du meinst, ich habe diese Theorie schon, bevor ich meine erste Beobachtung mache?

Magister

Ich meine, du hast die Theorie, dass es kausale Zusammenhänge gibt, bereits bevor du deine erste Beobachtung machst.

Scholar

Das ist doch Quatsch!

Magister

Wie kommst du sonst darauf, ohne den geringsten Hinweis, dass es morgen noch genauso sein wird?

Scholar

?:-(

Magister

Man könnte unser „Bedürfnis“, Zusammenhänge zu sehen und unsere Erwartungen in Bezug auf das, was unserer Meinung nach passieren soll, in die Worte fassen, der Mensch trage beim Betrachten der Welt sozusagen eine „Theorien-Brille“.

Bakkalaureus

Der Philosoph Karl Raimund Popper meinte, jede Beobachtung setze irgendeine Theorie bereits voraus, sei daher von vornherein theoriendurchtränkt. Er war der Auffassung, „dass Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen und über Versuchsergebnisse immer

Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind, und dass sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind.“

i

Magister

Verstehst du jetzt, Scholar, warum ich sagte, dass auch die Naturgesetze vom Menschen geschaffen sind.

Scholar

Ja, ich glaube, ich begreife was ihr mir zu sagen versucht... Aber es gibt doch auch Ausnahmen.

Bakkalaureus

Welche sollen das sein?

Scholar

Manchmal entdecken Wissenschaftler, zum Beispiel während eines Versuchs, doch etwas Neues, etwas völlig Unerwartetes. In diesem Fall kommt doch die Beobachtung vor der Theorie.

Bakkalaureus

Nicht unbedingt.

Scholar

Warum?

Bakkalaureus

Das Unerwartete bemerken sie überhaupt nur, weil sie entweder auch dafür bereits eine Theorie im Hinterkopf haben, oder weil der Versuch ihre ursprüngliche Theorie widerlegt hat. Und auch in letzterem Fall – das garantiere ich dir – können sie ganz schnell mit einer neuen Theorie aufwarten: einer These, die entweder die ursprüngliche Theorie irgendwie retten soll, oder einer alternativen Theorie, die das Unerwartete erklären könnte und sicher auch bereits vor dem Versuch schon einmal in Betracht gezogen wurde.

Scholar

Wahrscheinlich hast du recht ...

Bakkalaureus

Wir sind uns also einig, dass die Sätze, die man uns in der Schule und in Lehrbüchern als „Naturgesetze“ und somit als gesichertes Wissen verkauft, in Wirklichkeit nur Hypothesen sind, die ihrerseits Teil einer übergeordneten Theorie sind.

Scholar

Nein, eigentlich hatten wir uns auf eine so detaillierte Begriffsbestimmung noch nicht geeinigt, aber wenn du es sagst, wird es schon stimmen.

Magister

Nun haben Hypothesen und Theorien es leider an sich, nicht als absolute Wahrheit zu gelten und auch nicht gesichertes Wissen zu vermitteln, denn es sind ja nur Annahmen, Vermutungen und Behauptungen.

Bakkalaureus

Wenn du ein Wissenschaftler mit einer Theorie wärst, von der du selbst absolut überzeugt wärst, was tätest du?

Scholar

Ich würde versuchen, meine Theorie zu beweisen.

Bakkalaureus

Womit wir wieder beim Thema wären.

Magister

Wie würdest du deine Theorie beweisen, Scholar?

Scholar

Ich wiederhole mich ja ungern, aber: ICH WEISS ES NICHT!

Magister

Kommen wir nochmals auf deine ursprüngliche Annahme zurück, die ja so falsch nun auch wieder nicht ist.

Scholar

Welche?

Magister

Dass wir nach Naturgesetzen suchen.

Scholar

Also was denn nun, suchen wir nach ihnen oder schreiben wir sie der Natur vor.

Bakkalaureus

Da wir von Anfang an erwarten, es müsse so etwas wie Naturgesetze geben, meinen wir wohl, nach ihnen suchen zu müssen. Aber da sie uns nicht anspringen und sagen: „Da bin ich!“, bleibt uns nur, uns zuerst einmal etwas auszudenken: Eine Theorie!

Scholar

Ja, aber was, wenn die nun falsch ist?

Magister

Ja, Scholar, was dann?

Bakkalaureus

Womit wir wieder bei unserer ursprünglichen Fragestellung wären: Wie würdest du deine Theorie beweisen?

Scholar

Ich mag nicht mehr antworten.

Bakkalaureus

Sollen wir dir ein wenig helfen bei der Antwort?

Scholar

Ja, bitte!

Bakkalaureus

Tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass die wissenschaftliche Methode vom siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert so beschrieben wurde, wie du es zu Anfang dargestellt hast?

Scholar

Und ob mich das tröstet, ich habe ja schon an meinem Verstand gezweifelt.

Bakkalaureus

Der englische Philosoph Francis Bacon hat die Vorgehensweise eines Wissenschaftlers folgendermaßen definiert: Wir beobachten die Natur und halten unsere Ergebnisse fest. Daraus leiten wir durch den Schluss vom Einzelfall auf das Allgemeine (auch Induktion genannt) eine

Hypothese ab. Wenn wir diese Hypothese beweisen können, gelangen wir zu sicherem Wissen, nämlich zu einem Naturgesetz.

Scholar

Na also, was ist so falsch daran?

Bakkalaureus

So ziemlich alles. Zuerst einmal die Voraussetzung: Kein Mensch rennt durch die Gegend und notiert sich wie wild einfach eine Unzahl von Beobachtungen, in der Hoffnung, daraus irgendwann einmal ein Naturgesetz ableiten zu können.

Scholar

Man darf sich eben nur die wichtigsten Beobachtungen notieren.

Bakkalaureus

Und woher wissen wir, welche wichtig sind und welche nicht?

Scholar

O.k., o.k., ich weiß schon: Weil eben doch die Theorie der Beobachtung vorausgeht und nicht umgekehrt.

Bakkalaureus

Genau.

Magister

Interessant an deiner Antwort ist, dass du die vermeintliche wissenschaftliche Beweismethode angesprochen hast, nach der wir zuvor gefragt hatten.

Scholar

Was? Wie meinst du das? Und wieso „vermeintlich“?

Magister

Wenn deine Theorie ohnehin bereits

vor

dem Sammeln und Notieren von Beobachtungen existiert, können wir die Induktion, also den Rückschluss vom Einzelfall auf das Allgemeine, um zu einer Hypothese zu gelangen, ja getrost weglassen.

Scholar

Ja, können wir wohl.

Magister

Du sagst aber, du sammelst trotzdem Beobachtungen. Wenngleich nur die wichtigsten, nämlich welche?

Scholar

Die, die zu meiner Theorie passen.

Magister

Könntest du dir vielleicht eine Methode vorstellen, die weniger zeitaufwendig ist, als das Sammeln von zufälligen Beobachtungen.

Scholar

Ich führe die Beobachtungen absichtlich herbei.

Magister

Wie?

Scholar

Durch ein Experiment, zum Beispiel.

Magister

So ist es. Die Wissenschaft versucht, ihre Hypothesen und Theorien im Experiment zu beweisen.

Bakkalaureus

Das heißt, ein Wissenschaftler versucht, die für die Hypothese relevanten Rahmenbedingungen immer wieder neu zu erzeugen, um immer wieder das gleiche Ergebnis zu erhalten, nämlich das, welches seine Theorie voraussagt.

Magister

Wenn dieser angebliche Beweis gelingt, so meint die Wissenschaft, ein neues naturwissenschaftliches Gesetz, ein Naturgesetz entdeckt zu haben.

Scholar

„Vermeintlich“, „angeblich“ ... mir scheint, ihr könnt euch mit dieser Arbeitsweise nicht so recht anfreunden. Was habt ihr an dieser Beweismethode auszusetzen?

Bakkalaureus

Dass es kein Beweis ist!

Scholar

Wieso denn nicht??!

Bakkalaureus

Erinnerst du dich an die Geschichte mit der Kausalität?

Scholar

Ja. – Und?

Bakkalaureus

Dass auf das Ereignis A das Ereignis B folgt, ergibt sich weder aus einer noch aus zwei noch aus zwanzigtausend Beobachtungen. Es ist keine logische Folgerung zu behaupten, dass auf das Ereignis A

immer

das Ereignis B folgen wird.

Scholar

Ja, das hatten wir doch schon.

Bakkalaureus

Dann ahnst du ja auch, was ich dir sagen will, Scholar.

Scholar

Selbst wenn ich noch so oft mit bestimmten Rahmenbedingungen das gleiche Ergebnis erzeuge, so heißt das nicht, das es

immer

so ist?

Bakkalaureus

Genau! Und was sagt das über den sogenannten wissenschaftlichen Beweis der Hypothese?

Scholar

Es ist überhaupt kein Beweis.

Bakkalaureus

So ist es! Denn du musst bedenken, dass eine wissenschaftliche Hypothese grundsätzlich beansprucht,

immer

wahr zu sein. Ein solcher Satz soll schließlich zu einem Naturgesetz führen, und ein Naturgesetz ist prinzipiell wie eine allgemeingültige Aussage formuliert. Es behauptet also, dass etwas

immer

so ist, wie dieses Gesetz es beschreibt; ohne Ausnahme!

Scholar

Soll das heißen, wir wissen eigentlich gar nichts über die Gesetze der Natur?

Bakkalaureus

Nein, Scholar, wir wissen nichts, wir raten nur!!!!

ii

Scholar

Scheiße!

Bakkalaureus

Ganz ruhig!

Scholar

Ganz ruhig?! – Mann, ich habe gerade erfahren, dass wir alle von der Welt gar keine Ahnung haben, dass wir nichts wirklich beweisen können ... und du sagst nur: „Ganz ruhig!“? Du hast ja vielleicht Nerven.

Bakkalaureus

Scholar, ich bitte dich: davon, dass du dich aufregst, wird es doch auch nicht besser.

Scholar

Seit wann weiß man das eigentlich?

Bakkalaureus

Was?

Scholar

Dass naturwissenschaftliche Sätze nicht bewiesen werden können.

Magister

Es war der Philosoph David Hume, der im achtzehnten Jahrhundert erstmals diese unbequemen Tatsachen aufdeckte und damit die gesamte wissenschaftliche Methode in Frage stellte.

Scholar

Und was ist dann passiert?

Magister

Nicht viel. Man empfand es natürlich als ausgesprochen peinlich, dass die gesamte Wissenschaft auf Grundlagen beruht, die sich genaugenommen nicht beweisen lassen. Aber was sollte man schon dagegen unternehmen?

Bakkalaureus

Das Induktionsproblem, das Hume aufgeworfen hatte, nämlich, dass der Schluss von Einzelfällen auf ein allgemeingültiges Gesetz kein logischer Beweis ist, erhielt den Namen „Humesches Problem“ und beschäftigte die Philosophen nach

Hume Jahrhunderte lang, ohne dass sie es hätten lösen können. Man bezeichnete es schließlich als „die Leiche im Keller der Philosophie“.

iii

Scholar

WAS? Wieso das denn? Wieso denn im Keller der Philosophie??! Es ist doch wohl eher die Leiche im Keller der Wissenschaft!!!!

Bakkalaureus

Die Philosophie hatte das Problem aufgeworfen, nun sollte sie es auch lösen. Die Wissenschaftler dagegen vertraten die Meinung: Wissenschaftliche Gesetze seien zwar nicht sicher, aber doch hoch wahrscheinlich und daher so gut wie sicher; zwar nicht nach den Prinzipien der Logik, aber doch in der Praxis. Und das genügte ihnen.

Scholar

Das ist ja ’ne tolle Haltung! Die machen es sich einfach.

Bakkalaureus

Die Wissenschaft will eben Ergebnisse, keine Grundsatz-Diskussionen!

Scholar

Aber in diesem Fall sind die Grundsatz-Diskussionen doch vielleicht die Voraussetzung für die Ergebnisse.

Bakkalaureus

Das sieht die Wissenschaft wohl anders.

Scholar

Offensichtlich. – Wurde das „Humesche Problem“ denn noch gelöst?

Bakkalaureus

Gewissermaßen.

Scholar

Was heißt denn bitte „gewissermaßen“? Wurde es nun gelöst oder nicht?

Bakkalaureus

Es wurde sozusagen eine „negative“ Lösung gefunden ...

Scholar

Von wem?

Bakkalaureus

Von Popper.

Scholar

Der mit der „Theorien-Brille“?

Bakkalaureus

Genau der!

Scholar

Wie hat er es gelöst? Und warum „negativ“?

Magister

Bist du bereit, mit uns einen kleinen Ausflug zu unternehmen, Scholar?

Scholar

Wohin?

Magister

In die Welt der Logik.

Scholar

Oh je, muss das sein?

Magister

Wenn du wissen willst, wie Popper das Problem gelöst hat, ja!

Scholar

Also gut.

Magister

Nur zur Wiederholung: Ein sogenanntes Naturgesetz ist eine Aussage mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sind wir uns da einig?

Scholar

Ja.

Magister

Was bedeutet Allgemeingültigkeit?

Scholar

Dass etwas

immer

zutrifft.

Magister

Genau.

Bakkalaureus

Nimm doch einmal eine Aussage ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Scholar

Zum Beispiel?

Bakkalaureus

Was weiß ich? Zum Beispiel: „Es regnet.“

Scholar

Ja. – Und?

Bakkalaureus

Diese Aussage ist entweder wahr oder falsch.

Scholar