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Eigentlich wollten Marietta und Kevin Bloomdotf nur Urlaub in Regenhütte, einem winzigen Weiler mitten im Bayerischen Wald, machen und ihrem leidenschaftlichen Hobby, dem Trailrunning nachgehen. Doch dann häufen sich seltsame und unheimliche Vorfälle, die mit einem fast 200 Jahre zurückliegenden Mord in Zusammenhang zu stehen scheinen. Und so wird aus dem erholsamen Urlaub für die ein Nerven zerreißender Run durch eine Welt voller mystischer Tiere und Geister der Vergangenheit, die keine Ruhe finden können. Schauplatz dieses spannenden Romans ist das real existierende „Hüttendorf 49 Grad Nord“, eine kleinen Ferienhaussiedlung aus urgemütlichen Blockhütten, sowie weitere wirklich existierende Plätze in Regenhütte, einem Ortsteil von Bayerisch Eisenstein und rund um den Großen Arber.
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Seitenzahl: 122
Veröffentlichungsjahr: 2024
Geisterhafter Breitengrad 49
Die Legende vom goldenen Schlüssel
Eve Grass
Impressum
Copyright: Novo-Books im vss-verlag
Jahr: 2024
Lektorat/ Korrektorat: Annemarie Werner
Covergestaltung: Hermann Schladt
Coverbild:Evelyn Grass
Verlagsportal: www.novobooks.de
Gedruckt in Deutschland
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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Das Leben gestaltete sich anno 1850 nicht gerade einfach für die Dorfbewohner von Regenhütte, einem winzigen Weiler mitten im Bayerischen Wald. Nur vereinzelt hielten die Bauern Fleckvieh, da die Weideflächen rar gesät waren. Viele lebten vom Holz, von der Jägerei und dem Glashandwerk. In Regenhütte existierte diese Kunst, in Form der Neuhütte. Schneidige junge Männer arbeiteten dort, wagten sich an den über tausend Grad heißen Schmelzofen und bliesen mit ihren starken Lungen das flüssige Glas, bestehend aus Pottasche, Quarz, Kalk und Soda, zu Kölbeln auf. Aus dem Kölbel, wie man die Blase aus dem glänzenden Material noch heute nennt, werden in einem zweiten Arbeitsschritt Trinkgefäße, Vasen und sonstige edle Gegenstände hergestellt. Die Tätigkeit in der Glashütte war hart, aber einträglich. Die Burschen, die dort ihren Lohn erhielten, nagten nicht am Hungertuch. Dafür galt ihre Beschäftigung als gefährlich und extrem anstrengend.
Zu einem dieser Glasbläser zählte sich auch der junge Toni Simmerding aus Kötzting, der sich der Arbeit wegen hier angesiedelt hatte. Er hatte sich ein kleines Häuschen in Regenhütte gekauft und hoffte inständig, bald das Herz der Sieglinde zu gewinnen. Sieglinde war hübsch, trug lange blonde Zöpfe und kam jede Woche mit ihrer schweren Kirbe, so nannten die Einheimischen den Tragekorb aus geflochtener Weide, durchs Dorf gezogen. Sie verkaufte allerlei Tand an die Bewohner von Regenhütte. Toni würde sie heiraten und bald mit ihr zusammen Kinder aufziehen. Der Lohn von der Glashütte würde reichen. Ein bescheidenes, frommes und doch glückliches Familienleben schwebte dem Toni Simmerding vor. Wären da nicht die Gerüchte im Dorf, die von einem Balg sprachen, der Unglück über die Bewohner brachte. Erst letzte Woche standen bei den wenigen Bauersleuten plötzlich sämtliche Türen sperrangelweit offen, obwohl man zuvor alles verriegelt hatte. Danach waren die Hühner erkrankt. Ihre Schnäbel hatten sich blau verfärbt. Dem noch nicht genug. Kurz darauf öffneten sich die Haustüren der gerade mal siebzehn Gebäude im Weiler Regenhütte wie von Geisterhand und bald munkelte man, der komische Balg aus dem Forsthaus am Ortseingang, sei daran schuld. Man sprach über den zwanzigjährigen Vinzenz, einen zurückgebliebenen Buben, der nach dem frühen Tod seiner Eltern ganz allein dort hauste. Vinzenz war von kleinem Wuchs. Jedes Schulkind überragte ihn im Alter von zwölf Jahren. Er trug wirres, dunkles Haar und viel zu große Klamotten. Oft, wenn er durch Regenhütte humpelte, um nach Brot, Wurst und Käse zu betteln, rutschte ihm die Hose über den nackten Hintern hinab und man zeigte grölend mit den Fingern auf ihn. Bisher hatte man den Balg aus dem Forsthaus in Ruhe gelassen. Die gerade einmal zehn Dutzend Einwohner versorgten ihn sogar mit dem Nötigsten. Aber jetzt, nachdem solch seltsame Dinge in Regenhütte passierten, schob sich der Verdacht auf den kleinen Wicht, dem man am Biertisch schon oft dämonische Kräfte angedichtet hatte. Zu Gott beten hatte man den Zwergenmann noch nie gesehen. Stimmen, die den Wegzug von Vinzenz forderten, wurden immer lauter.
Es war an einem heißen Freitagnachmittag im August 1850, als Toni nach Hause eilte. Heute würde er die Sieglinde fragen, ob sie sein Weib werden wolle. Denn heute käme sie mit dem schweren Korb auf dem Rücken auch zu seiner Kate und böte Knöpfe, Schnürsenkel, Nähgarn oder Sockenwolle feil. Nichts davon würde er ihr abkaufen. Aber er würde sie küssen. Alle Gedanken um die harte Arbeit verdrängte er und schlenderte genüsslich die Straße entlang. Er kam an einer Baustelle vorbei. Hier sollte spätestens im nächsten Jahr ein Schulhaus entstehen für die Kinder der Regenhütter Bürger. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Darin konnte auch sein Nachwuchs unterrichtet werden, wenn er erst einmal mit der Sieglinde verheiratet wäre.
In diesem Moment huschte eine graue Hündin hinter einem Stapel Bauholz hervor und lief ihm direkt vor die Füße. Toni stolperte. »Mistvieh elendiges«, fluchte er laut. Da stoppte das Tier, glotzte ihn feindselig an und knurrte. Eilig verschwand es im Garten des Nachbarhauses. Sollte das ein böses Omen sein? Toni war kein allzu abergläubischer Mensch. Doch die Geschichten, die derzeit im Dorf kursierten, machten auch vor ihm nicht halt. Er lief weiter und ballte beide Hände zu Fäusten. Sein Glück ließe sich Glasbläser Simmerding von niemandem zerstören, nicht von räudigen Kötern und auch nicht von kleinwüchsigen Bälgern, die angeblich mit dem Teufel im Bund standen.
Bald erreichte er das kleine Haus, das über zwei Zimmer verfügte. Das Fundament war aus Bruchsteinen gemauert, während der komplette Aufbau aus Holz bestand. Das Dach hatte man, wie hier im Bayerischen Wald üblich, mit Blech eingedeckt. Wenn einmal Kinder da wären, würde Toni mit der Kraft seiner Hände anbauen. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Er öffnete das kleine Tor zum Garten, der die Kate umgab und lief auf die Haustür zu. Wild wuchernde Blumen links und rechts vom Kiesweg schmeichelten seinen Augen. Alles wirkte friedlich – doch was war das? Toni stutzte. Die Tür, die aus diagonal angebrachten Fichtenbrettern ein schönes Muster formte, stand offen. Er runzelte die Stirn. Was für ein Hallodri war hier eingebrochen? Das Schloss an der Tür wies keinerlei Einbruchschäden auf. Er betrat den Flur. Der Wind hatte Sägemehl von draußen hereingeweht, denn Toni sägte im Garten oft Feuerholz. Die Spur von Hundepfoten waren deutlich in den feinen Spänen zu erkennen. Toni fluchte, spuckte auf den Boden und drehte auf dem Absatz seiner groben Arbeitsschuhe um. Das kann nur das Werk dieses Balgs gewesen sein, fuhr ihm durch den Kopf. Wut brandete ihm durch jede Muskelfaser. Das ganze Dorf würde ihm letztendlich dankbar sein, wenn er endlich verschwunden wäre. Toni ließ die Tür offenstehen. Seine Schritte knirschten auf dem geschotterten Gartenweg. Jetzt hatte er es eilig.
*
Vinzenz saß in der Küche des Forsthauses und betrachtete das Stück Schinken und das Brot, das ihm die nette Sieglinde mit den blonden Zöpfen umsonst überlassen hatte. Augenblicklich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Die junge Frau kam jede Woche mit dem schweren Korb auf dem Rücken durchs Dorf gezogen, und sie sah einem Mädel zum Verwechseln ähnlich, das vor Jahren den Haushalt der Eltern versorgt hatte. In der letzten Zeit hatte er von den Einwohnern von Regenhütte so gut wie keine Almosen mehr erhalten. Ganz im Gegenteil sogar. Man hatte ihn davongejagt, als er um Milch und Käse beim Bauern gebettelt hatte. Die Kühe seien krank, hatte man ihm erklärt, und er sei schuld daran. Er bringe Unglück über das Dorf. Dabei wäre das Glück längst durch die Häuser gezogen, wenn die Bewohner es nicht durch ihre Lügen und Intrigen gebannt hätten. Vinzenz liebte Tiere und würde ihnen nie etwas antun. Die Sieglinde, die ihn heimlich besuchte, glaubte ihm, hatte ihn aber gebeten, mit niemandem über die geschenkten Lebensmittel zu reden. Es handelte sich nämlich um Tauschwaren der Dorfbewohner, die sie oft gegen Schnürsenkel, Stricknadeln oder Hutbänder erhielt. Geld war knapp in den Beuteln der Regenhütter Bürger. Milch, Eier und Geräuchertes gab es im Überfluss. Trotzdem würde man ihr zürnen, wenn man davon erfuhr, dass sie die Schmankerl, also die feinen Lebensmittel, an den Balg weiterreichte.
Vinzenz seufzte, berührte flüchtig den glänzenden, goldenen Schlüssel, der an einem Nagel neben dem Fenster hing. Das handgefertigte Schmiedestück hatte einst der Vater im Fluss gefunden und ihm vererbt. Es sperrt die Tür zur Hölle auf, mit unerschöpflichen Schätzen dahinter, wenn man seine Seele dafür dem Teufel schenkt. Es konnte aber auch alle Türen der Welt öffnen, um das pure Glück hineinzulassen, sofern man dem Satan widerstand. Vinzenz hatte Letzteres schon einmal ausprobiert und sämtliche Haustüren in Regenhütte damit geöffnet. Glück war selten geworden im Dorf. Eifersucht, Neid, Missgunst und Betrügereien regierten in den Behausungen. Schlimme Lügen verbreiteten sich. Als Vinzenz sämtliche Türe und Tore vom Bauernhof am Waldrand geöffnet hatte, erzählte man sich nur einen Tag später, das Geflügel vom Bauern wäre blau angelaufen und etliche Viecher kämpften mit dem Tod. In Wirklichkeit, das hatte Vinzenz beobachtet, war das Federvieh seither dick und gesund. Die Hennen legten zweimal so viele Eier wie vorher. Ihre Schnäbel waren verfärbt, weil der Altbauer sie mit Blaubeeren fütterte, die im Sommer rund um die Regenhütte nur so wucherten. Der schlaue Landwirt nutzte das Getratsche, belog die Dorfbewohner und verlangte für die Eier nun das Doppelte. So konnte das nichts werden mit dem Glück.
Vinzenz nahm das große scharfe Messer aus der Schublade und säbelte ein saftiges Stück vom Schinken ab. Dasselbe tat er mit dem duftenden Brot. Herzhaft biss er abwechselnd in die Köstlichkeiten. Sieglinde hatte ihm erzählt, sie wolle den Toni Simmerding von der Glashütte heiraten und sie erhoffe sich Kinder und Wohlstand. Deswegen war er kurz darauf mit dem goldenen Schlüssel dorthin geeilt, hatte die Tür von Tonis Kate geöffnet und das Gebäude mit Glück geflutet.
Er hörte, dass sich jemand an der Haustür zu schaffen machte. Sie stand immer offen. Vinzenz sperrte sie niemals ab. Warum auch? Wer sollte ihm, dem zu klein gewachsenen Mann, der beide Eltern viel zu früh verloren hat, etwas wegnehmen? Seufzend verstaute er das scharfe Messer, das seiner Mutter gehört hatte, wieder in der Schublade, schob sich den Rest Schinken in den Mund und schlurfte hinaus in den Flur, um den Besucher zu empfangen. Im Zwielicht, das durch die Butzenscheibe des Fensters neben der Eingangstür hereindrang, sah Vinzenz die Kontur eines Mannes, der ein Blasrohr aus der Glashütte umklammerte.
»Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen«, sagte die Gestalt, die Vinzenz sofort erkannte. Es war Toni Simmerding. Aber er wirkte wütend. Das schwere Blasrohr wechselte blitzschnell zwischen dessen Hände hin und her.
Der Kleinwüchsige kämmte mit den Fingern durchs wirre Haar, dann antwortete er, ohne auf die unmissverständliche Drohung einzugehen: »Hast du das Glück bereits gefunden, Toni? Es ist in dein Haus eingezogen. Jetzt kannst du die Sieglinde zum Traualtar führen. Denn die heißt in Wirklichkeit Kreszenz und hat schon mal ein Kind zur Welt gebracht. Vielleicht bringt sie es mit in deine Kate, wenn sie dich heiratet?«
Das Blasrohr tanzte von links nach rechts, von rechts nach links, in immer kürzeren Abständen. »Was erzählst du da für Schauermärchen? Und was hast du mit der Sieglinde zu schaffen? Lass bloß deine hässlichen Pratzen von meiner Zukünftigen.«
Vinzenz verstand die Aufregung des Glasbläsers nicht. Er wollte nie einem Menschen Böses. Er hatte zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf und den wertvollen goldenen Schlüssel. Das war ihm genug.
»Die Sieglinde hat ein gutes Herz. Ich kenne sie von früher, als sie meinen Eltern zur Hand ging. Sie kommt gerne zu mir, bringt mir immer etwas Feines mit, damit ich keinen Hunger leide. Dafür erzähle ich ihr Geschichten. Sie liebt Geschichten, zum Beispiel die von der Tür zur Hölle …«
Das schwere Rohr sauste mit unvorstellbarer Wucht auf ihn herab. Ein greller Schmerz durchzuckte Vinzenz‘ Kopf, und er spürte warmes Blut, das aus den Haaren lief, beide Wangen überzog und zu Boden tropfte. Trotzdem stand er noch aufrecht. Er hatte die Mordlust in Tonis Augen noch immer nicht realisiert. »In ferner Zukunft wird … einst ein D … Dorf aus wu … wunderschönen Holzhütten auf den Mauern des Forsthauses stehen, d … das hab ich der Sieglinde heute erzählt«, brabbelte der Schwerverletzte mühevoll. Trotzdem versuchte er zu lächeln. »Und w … weißt du was, T … Toni? I … Irgendwann in ferner Zukunft werden z … zwei Menschen erreichen, dass der goldene Schlüssel das pure Glück genau über diesem Ort ausgießt. D … denn du tust das Falsche. Du … lädst … große … Schuld auf dich.« Gleich darauf gaben die Knie des Balgs nach. Mit einem dumpfen Geräusch sackte der kleinwüchsige Körper zu Boden. Ein paar Mal noch öffnete und schloss Vinzenz stumm den Mund, dann brachen seine gütigen, braunen Augen. Er war tot.
*
Toni rannte aus dem Haus. Das Blasrohr aus der Glashütte schleuderte er in die Brombeerhecke, die das Forsthaus wie eine stachlige Mauer umgab. Den tödlichen Schlag, den er gegen den Balg geführt hatte, spürte er auf der Seele, wie einen zentnerschweren Sack. Hier, auf dem Grund des Forsthauses sollte in ferner Zukunft ein Hüttendorf entstehen, in welchem das pure Glück zu Hause wäre? Das kann ihm nur der Leibhaftige eingeflüstert haben. Also war die Tat nötig gewesen. Von nun an würde der Spuk in Regenhütte ein Ende haben. Aber da hatte sich Toni Simmerding getäuscht.
Keuchend erreichte er seine Kate, schlüpfte durch die Gartentür und rannte den gekiesten Weg zur Haustür. Friedlich begrüßten ihn die bunten Wildblumen. Sie neigten ihre Köpfe im leichten Sommerwind. Doch Toni nahm sie nicht wahr. Er stoppte abrupt. Jetzt war die Tür zu, obwohl er sie offengelassen hatte. Er streckte die rechte Hand nach der Klinke aus, zögerte kurz, dann umfasste er sie. Das Metallteil bewegte sich keinen Millimeter, aber Toni erkannte den feinen Rauch, der zwischen seinen Fingern hervorkroch. Schon fuhr ihm der Schmerz durch Mark und Bein. Hastig zog er die Hand zurück, doch es war zu spät. Brandblasen bildeten sich auf der feuerroten Haut. Toni fluchte. Es tat mörderisch weh. Wütend trat er mit dem Bein gegen die Haustür, aber ihm wurde schnell klar, dass er sie nicht öffnen konnte. Zuerst einmal benötigte er kaltes Wasser, um die verbrannte Haut zu kühlen. Er dreht sich um, rannte wieder los, durch den Garten auf die Straße hinaus und runter zum Fluss Regen. Die Qualen der Verletzung an seiner Hand wurde immer stärker. Schwindel erfasste ihn. Mühselig schleppte er sich weiter, die Böschung hinab, wo er bereits das Rauschen des Gewässers vernahm. Er hatte sich den Tag wahrlich anders vorgestellt.