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Wie gut kennst du dein Kind wirklich? In »Gejagt durch Brandenburg« erlebt Kriminalhauptkommissarin Carla Stach ihren ganz persönlichen Albtraum. Ein idyllischer Sonntag findet ein jähes Ende, als Kriminalhauptkommissarin Carla Stach zu einem Tatort gerufen wird: Ein junges Mädchen liegt erdrosselt in einer Laube. Zeugen haben einen Jugendlichen beobachtet, der vom Ort des Verbrechens geflohen ist und seitdem vermisst wird. Es verdichten sich die Hinweise, dass er das Mädchen ermordet hat. In Carla bricht eine Welt zusammen, denn sie kennt den Verdächtigen. Sein Name ist Toni – und er ist ihr Sohn. Wie gut kennen wir uns nahestehende Personen wirklich? Und was passiert, wenn sich eine unvermutete Seite an ihnen zeigt? Mit großem Einfühlungsvermögen und psychologischem Wissen beleuchtet Autor Richard Brandes diese Themen von verschiedenen Seiten, entwirft ebenso komplexe wie authentische und interessante Charaktere. »Gejagt durch Brandenburg« ist wendungsreicher und psychologisch tiefgründiger Kriminalroman, fesselndes Familiendrama und packender Thriller zugleich.
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2025
Richard Brandes ist Psychotherapeut mit eigener Praxis und arbeitet hauptsächlich mit Paaren und Jugendlichen. Er schrieb bereits zahlreiche Drehbücher für Krimiserien als Storyliner und Dialogautor. Er lebt in Berlin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Mark Owen
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd
ISBN 978-3-98707-300-7
Originalausgabe
Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Einander kennenlernen heißt lernen,wie fremd man einander ist.
Christian Morgenstern
Es regnete nicht, es schüttete.
Stefan Kattner parkte sein Auto vor der Justizvollzugsanstalt Wriezen und stellte den Motor aus, während es lautstark auf das Wagendach prasselte. Er zog die Keycard aus dem Schlitz und starrte auf das Wasser, das in Strömen die Frontscheibe hinablief. Die finsteren Wolken, die sich bis zum Horizont erstreckten, machten nicht gerade den Eindruck, als zögen sie bald fort. Er musste in die Nässe hinaus, ob er wollte oder nicht. Sein Termin war in einer halben Stunde, und vorher musste er noch den Sicherheitscheck durchlaufen. Wenn er zu spät kam, wurde es ihm von der Besuchszeit abgezogen – sofern man ihn überhaupt zu seinem Sohn vorließ. Hätte er doch den verfluchten Schirm mitgenommen!
Er öffnete die Wagentür und trat ins Freie. Im Nu waren seine Haare und die graue Kunstlederjacke klatschnass. Hektisch riss er die hintere Tür auf und holte die Tasche mit dem Kuchen von der Rücksitzbank. »Was für ein Scheißtag!«, fauchte er, warf die Tür zu und rannte auf die mächtige Gefängnismauer zu, während ihm die Tropfen ins Gesicht peitschten.
Als er die Pforte erreichte, schützte ihn ein Vordach vor weiterem Regen. Die Kleidung klebte an seinem Körper.
Er stellte die Tasche auf dem Boden ab, holte seinen Geldbeutel aus der Jacke, fingerte seinen Personalausweis hervor und reichte ihn durch ein kleines rundes Fenster in eine gläserne Kabine, in der ein Pförtner saß.
»Ich … ich hab um halb vier einen Termin bei meinem Sohn«, sagte er verunsichert, denn er befürchtete, abgewiesen zu werden. Zwar besaß er eine Dauerbesuchserlaubnis, die es ihm ermöglichte, Noah zu besuchen, ohne es jedes Mal zu beantragen. Zweimal im Monat kam er für je dreißig Minuten hierher. Doch am Morgen hatte ihn ein Gefängnismitarbeiter angerufen und ihm mitgeteilt, dass Noah ihn nicht sehen wolle. Angeblich ging es ihm nicht gut, eine präzisere Erklärung hatte Kattner nicht erhalten. Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war, und war äußerst besorgt. Dass ihn Noah nicht empfing, war noch nie passiert. Nun war er trotzdem gekommen in der Hoffnung, dass sich sein Sohn umentschied, wenn er erfuhr, dass sein Vater vor dem Tor stand.
Der Pförtner, ein junger, untersetzter Mann mit einem Bürstenhaarschnitt, sah sich die Papiere an und prüfte Kattners Daten im Computer. »Sie wollen zu Noah Kattner?«, fragte er mit hoher Stimme, die grell durch einen Lautsprecher schallte.
»Ja.«
»Es tut mir leid, aber Sie haben keine Erlaubnis.«
Kattner seufzte und schaute auf seine Armbanduhr. »Hören Sie, mein Sohn hat mir heute Morgen ausrichten lassen, dass ich nicht kommen soll. Aber inzwischen ist es fünfzehn Uhr. Er könnte seine Meinung geändert haben. Bitte fragen Sie noch einmal nach.«
»Wenn er seine Meinung geändert hätte, hätte ich es hier im Computer.«
»Bitte. Es geht ihm nicht gut, und ich mache mir Sorgen. Er ist … wie soll ich sagen … seelisch nicht auf der Höhe.«
Noah war schon immer ein sensibles Kind gewesen, in sich gekehrt und voller Selbstzweifel. Die Kinderärztin hatte einst gemutmaßt, dass er an Depressionen litt, da war er dreizehn gewesen. Außerdem bestand der Verdacht einer ASS, einer Autismus-Spektrum-Störung, die jedoch nicht eindeutig diagnostiziert worden war. Sein Zustand hatte sich verschlimmert, nachdem ihn das Gericht schuldig gesprochen hatte. Sieben Jahre und drei Monate hatte er bekommen.
»Bitte!«, wiederholte Kattner.
Der Pförtner zögerte einen Moment, dann nahm er den Telefonhörer in die Hand und ließ sich mit dem Zellentrakt verbinden.
Kattner wandte sich ab, sah zu seinem Auto hinüber und zündete sich eine Zigarette an. Durch den kurzen Wortwechsel hatte er Nässe und Kälte vergessen, aber nun bemerkte er sie wieder und begann am ganzen Körper zu zittern. Die Kälte kam von innen.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, sog den Rauch ein und wartete. Gelegentlich schaute er zum Pförtner, der ein langes Telefonat führte. Es ließ Kattner hoffen. Vielleicht machten sie sich die Mühe, Noah aufzusuchen und ihn zu überreden, seinen Vater doch noch zu empfangen.
Als er seine zweite Zigarette ausgetreten hatte und der Pförtner noch immer telefonierte, spürte er einen flauen Druck im Magen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Was gab es so ausführlich zu besprechen? Merkwürdig war auch die Mimik des Pförtners. Der Mann runzelte unentwegt die Stirn und warf Kattner manchmal einen Blick zu, der schwer zu deuten war.
»Was ist passiert?«, fragte Kattner, als der Pförtner endlich aufgelegt hatte.
»Ich lasse Sie jetzt rein«, klang es durch den Lautsprecher. »Sie werden am Tor abgeholt.«
»Hat mein Sohn zugesagt?«
»Bitte gehen Sie zum Tor. Alles Weitere erfahren Sie von den diensthabenden Beamten.«
Kattner war erleichtert und irritiert zugleich. Der Pförtner hatte seine Fragen nicht beantwortet.
Er nahm seinen Ausweis entgegen und steckte ihn zurück in die Brieftasche. Dann hob er die Tasche mit dem Kuchen vom Boden auf und begab sich zum Eisentor, das in die Gefängnismauer eingelassen war. Der Regen stürzte erneut auf ihn nieder.
Als sich das Tor öffnete, erstreckte sich vor ihm ein weitläufiger Platz, umsäumt von flachen Verwaltungsgebäuden. Vereinzelt standen Justizbeamte in Regenmontur herum.
Er betrat das Gebäude, in dem sich die Schleuse befand. Es tat gut, endlich im Trockenen und Warmen zu sein.
Eine uniformierte Beamtin stand hinter einer Theke und nahm seine Sachen entgegen; Handy, Schlüssel, Portemonnaie und die Armbanduhr. Auch den Gürtel musste er ausziehen, er hatte eine Metallschnalle und würde beim Körperscanner Alarm auslösen. Beruhigt nahm er zur Kenntnis, dass alles wie immer verlief. In wenigen Minuten säße er Noah gegenüber.
»Sein Lieblingskuchen«, sagte er, als er die Tasche mit dem Gugelhupf auf die Theke stellte, und der Beamtin huschte ein Lächeln übers Gesicht. Sie holte den Kuchen aus der klammen Tasche und schob ihn beiseite, damit er zur Überprüfung in dünne Scheiben geschnitten werden konnte.
Kattner wandte sich ab und durchschritt das Tor mit dem Scanner. Auf der anderen Seite nahm er seinen Gürtel entgegen – der Rest wurde bis zu seinem Verlassen des Gefängnisses aufbewahrt. Nachdem er sich den Gürtel umgeschnallt hatte, folgte er einem jungen Justizbeamten durch lange Gänge. Die Prozedur war stets die gleiche. Sachen abgeben, das Scanner-Tor durchschreiten und sich zum Besucherzimmer begleiten lassen – einem kahlen Raum mit weiß getünchten Wänden, vergitterten Fenstern und einem Tisch in der Mitte.
Als sie das Besucherzimmer erreichten, bemerkte Kattner, dass die Tür, die normalerweise offen stand, geschlossen war. Zu seiner Verwunderung gingen sie an dem Zimmer vorbei, passierten eine Gittertür, an der der Beamte einen Code eingab, und betraten einen Gang, den er noch nicht kannte. In der Ferne, hinter einer weiteren Gittertür, befand sich ein Zellentrakt. Er erkannte es an den orangefarbenen Stahltüren, die zu den Zellen führten. »Wohin gehen wir?«, fragte er.
Doch anstatt zu antworten, steuerte der Beamte ein kleines Zimmer an.
»Bitte warten Sie hier«, sagte er, ließ Kattner eintreten und schloss die Tür von außen.
Kattner war allein. Er blickte sich um. Der Raum war ähnlich karg wie das Besucherzimmer, nur wesentlich kleiner. In der Mitte standen drei Stühle um einen Holztisch herum, eine Deckenlampe verströmte ein kaltes Licht. Unter einem winzigen vergitterten Fenster war ein Heizkörper angebracht, der voll aufgedreht war. Kattner zog seine nasse Jacke aus und legte sie auf die Heizung, dann setzte er sich. Das weiße Hemd und die Jeans fühlten sich noch immer unangenehm klamm an. Er starrte an die kahle Wand und fragte sich, warum er in diesen Raum geleitet worden war. Vielleicht war das andere Besucherzimmer besetzt, sodass sie hierhin ausweichen mussten. Wahrscheinlich ginge jeden Moment die Tür auf, und Noah träte ein.
Die Zeit verrann, aber nichts geschah.
Er lehnte seinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Er dachte an Rita, seine Frau. Oder sollte er sie lieber als seine Ex-Frau bezeichnen? Getrennt waren sie, nicht geschieden. Noch nicht. Aber es war ihm zugetragen worden, dass sie die Scheidung wollte. Im Gegensatz zu ihm glaubte sie an Noahs Schuld. Daran war die Ehe zerbrochen.
Er musste eingeschlafen sein, denn als die Tür aufging und eine uniformierte Beamtin ins Zimmer trat, hatte er vergessen, wo er war.
Die Frau wirkte burschikos. »Herr Kattner?«, fragte sie mit einer sanften Stimme, die nicht zu ihrer äußeren Erscheinung passte. »Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Kommen Sie bitte mit.«
Kattner stand auf, nahm seine Jacke von der Heizung und zog sie sich an. Es wurde augenblicklich warm an seinen Schultern. Dann folgte er der Beamtin in ein Büro, das nur zwei Türen weiter lag. Es war freundlicher als das kleine Zimmer, in dem er gewartet hatte, was an der Palme liegen mochte, die neben einem vergitterten Fenster wuchs. Er setzte sich vor einen Schreibtisch, auf dem sich allerhand Papiere stapelten. Was geschah hier? Warum hatte man ihn in dieses Büro beordert?
Ihm wurde mulmig zumute, und er verspürte den Drang, zur Toilette zu gehen.
»Möchten Sie Wasser?«, fragte die Beamtin und holte ein Glas aus einem Büroschrank.
»Nein, danke. Ich möchte zu meinem Sohn. Bitte sagen Sie mir, was mit ihm los ist. Warum bin ich nicht wie sonst mit ihm im Besucherzimmer?«
»Der Schichtleiter muss jeden Moment kommen«, sagte die Frau mit ernster Miene. »Er wird Ihnen alles erklären.«
Sie füllte das Glas mit Wasser aus einer Karaffe und stellte es vor ihn auf den Schreibtisch. Kattner lag es auf der Zunge zu sagen, dass er das verdammte Wasser nicht haben wollte, verkniff es sich aber. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen, und ein großer, kräftiger Mann in Uniform streckte ihm die Hand entgegen.
Kattner wollte aufstehen, aber der Mann berührte ihn an der Schulter. »Bitte bleiben Sie sitzen. Müller mein Name. Ich bin der Schichtleiter.« Er hatte eine tiefe, klangvolle Stimme. »Sie können jetzt gehen, danke«, sagte er etwas gedämpfter zu der Beamtin. Sie huschte aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
Müller ließ sich in seinen Drehstuhl fallen, senkte den Kopf und schloss die Augen. Er schien sich auf das, was er mitzuteilen hatte, konzentrieren zu müssen.
Es machte Kattner noch nervöser. Er merkte, wie das Blut aus seinem Kopf wich.
»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass …«, sagte Müller und sah auf.
Kattner entzog sich seinem Blick und schaute zum Fenster. Der Hof, die Laternen und der düstere Himmel da draußen verschwammen, weil sich seine Augen mit Tränen füllten. Es rauschte und piepste in seinen Ohren, während die Stimme des Schichtleiters wie aus der Ferne klang. Nur Wortfetzen drangen zu ihm durch. Er verstand, dass Noah zu seiner eigenen Sicherheit seit Tagen Plastikbesteck bekommen hatte. Dass er am Morgen deprimiert gewirkt hatte, obwohl ihm die Ärztin ein neues Medikament verabreicht hatte. Dass sie ihn vor einer halben Stunde gefunden hatten, als sie Kattners Besuch hatten ankündigen wollen. Und dass er ein vorbildlicher Junge und bei seinen Mithäftlingen äußerst beliebt gewesen war.
Kattner holte ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen trocken. Zu seiner Verwunderung empfand er keine Trauer mehr, stattdessen breitete sich eine seltsame Leere in ihm aus. Er war wie betäubt, als wären alle Gefühle in ihm abgestorben.
Sonntag, Woche eins
Als Toni die Augen aufschlug, war er verwirrt. Das Zimmer, in dem er geschlafen hatte, kam ihm fremd vor. Er schaute durch ein bodentiefes Fenster in einen sattgrünen Garten, überall blühte und spross es. Die Morgensonne leuchtete über den Wipfeln der Bäume und blendete ihn. Vögel zwitscherten und machten einen solchen Lärm, dass er davon aufgewacht war.
Jemand lag mit dem Rücken zu ihm und schlief noch. An den lockigen Haaren erkannte er, dass es Annike war. Sie hatte die Decke bis zum Kopf hochgezogen.
Allmählich dämmerte es ihm. Sie waren in der Laube von Annikes Eltern. Es war ein modernes, kastenförmiges Gartenhaus aus Holz mit einer riesigen Glasfront, chic eingerichtet, sogar eine Spülmaschine gab es. Alles befand sich in einem einzigen Raum, nur das Bad mit einer Toilette und einer kleinen Dusche war durch eine Holzwand abgetrennt.
Langsam richtete er sich auf. Sein Kopf schmerzte von der Stirn bis zum Nacken, als hätte er Unmengen von Alkohol getrunken. Auch bemerkte er eine innere Unruhe. Er war nervös. Rührte es vom Alptraum her, der noch in ihm nachwirkte? Eine Gruppe von Männern hatte ihn verfolgt und töten wollen. Männer ohne Gesicht. Es schauderte ihn noch immer, wenn er daran dachte. Er versuchte, sich den gesamten Traum ins Gedächtnis zu rufen. Doch je intensiver er sich zu erinnern versuchte, desto rascher verblassten die Bilder.
Was beunruhigte ihn?
Er schaute an sich hinab. Bis auf die Unterhose war er nackt. Oberhalb des Bundes lugte ein Tattoo hervor, er hatte es sich in die Leiste stechen lassen. Es war das Om, das im Buddhismus die Einheit von Körper und Seele symbolisierte. Seine beiden Mas wussten nichts davon. Carla hätte es verboten, und Mam hätte sich mit Sicherheit auf ihre Seite geschlagen.
Sein Blick fiel zum Nachttisch, wo eine offene Flasche Whiskey und zwei Gläser standen. Die Flasche war zu zwei Dritteln geleert, der Drehverschluss lag daneben. Wieso hatte er sich dazu hinreißen lassen, so viel Alkohol zu trinken? War er jemals so abgefüllt gewesen?
Seine Blase drückte. Mühsam schwang er die Beine aus dem Bett und stand auf. Ihm wurde schwindelig. Er taumelte, sammelte sich einen Moment, dann torkelte er zur Toilette. Beim Pinkeln musste er sich an der Wand abstützen, sonst wäre er umgekippt.
Als die Klospülung rauschte, schlurfte er zur Küchenzeile und trank eine halbe Flasche Mineralwasser in einem Zug. Dann ging er zurück zum Bett und ließ sich hineinfallen. Gott sei Dank ließen die Kopfschmerzen ein bisschen nach, zumindest bildete er es sich ein.
Sein Handy zeigte an, dass es sieben Uhr fünfunddreißig war.
Er versuchte sich zu erinnern, was am gestrigen Abend geschehen war, aber er hatte ein Blackout. Als klaffte ein riesiges schwarzes Loch in seinem Gehirn. Es fiel ihm nicht einmal mehr ein, wie sie hierhergekommen waren. Nur, dass sie sich am Nachmittag für die Laube verabredet hatten.
Doch ein dumpfes Gefühl deutete an, dass der Abend anders verlaufen war, als er es sich erhofft hatte. Er hatte einen Reinfall erlebt. Sie hatten miteinander schlafen wollen, zumindest hatte es schon Tage zuvor in der Luft gelegen. Er hatte sich wahnsinnig darauf gefreut. Aber es war nicht geschehen, irgendetwas war dazwischengekommen. Sie hatte einen Rückzieher gemacht. Er wusste es nicht, aber er fühlte es. Sie hatte ihn zurückgewiesen. Wenn er sie so anschaute, wie sie dalag und schlief, dann merkte er, dass sie ihn nicht gewollt hatte. Warum, was hatte er ihr getan?
Er rüttelte an ihrer Schulter. »Hey, Annike, aufwachen!«
Sie regte sich nicht.
Er beugte sich von hinten über sie und zog ihr die Decke vom Gesicht.
Was er dann sah, war so erschreckend, dass er mit einem Schrei aus dem Bett sprang. Er stolperte rückwärts und knallte gegen die Wand.
Reglos vor Entsetzen starrte er sie an.
Sie war tot, eindeutig tot!
Sie war erdrosselt worden, mit einem Halstuch, das noch immer fest um ihren Hals geschlungen war. Es war ein hässliches Stück Stoff mit Pferdeköpfen, das er am Abend zuvor noch an einem Haken neben dem Bett gesehen hatte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Zunge hing seitlich aus dem Mund. Kein Zweifel, sie war wirklich tot.
War er es gewesen? Hatte er sie umgebracht?
Er ging um das Bett herum, kniete sich vor sie und streichelte ihr Gesicht, während seine Augen feucht wurden. Es fühlte sich eiskalt an. Alles Leben war aus ihren Augen gewichen.
»Annike.«
Er musste die Polizei rufen, für den Notarzt war es zu spät.
Die Polizei.
»Fuck!«
Nein, das durfte er auf keinen Fall tun. Man würde ihn des Mordes verdächtigen und ins Gefängnis stecken. Er saß in der Falle. Überall waren seine Spuren. Früher oder später würden sie auf ihn kommen, denn Annike hatte bestimmt jemandem erzählt, dass sie hier waren; ihren Eltern oder Kris, ihrer besten Freundin. Er könnte Carla anrufen und behaupten, dass er einen Spaziergang gemacht hätte, um den Kopf vom vielen Alkohol freizubekommen. Als er zurückgekehrt war, hätte er sie gefunden.
Zögerlich berührte er ihre Finger. Sie waren steif. Von Carla wusste er, dass die Leichenstarre am Kiefergelenk begann und sich nach etwa sechs Stunden über den ganzen Körper ausbreitete. Annike musste also schon einige Zeit tot sein. Die Ausrede mit dem Spaziergang funktionierte nicht.
Und wenn er die Whiskeyflasche und alle anderen Spuren beseitigte? Wenn er die Laube so putzte, dass seine Fingerabdrücke und seine DNA nicht mehr zu finden wären? War es überhaupt möglich, DNA vollkommen zu entfernen? Carla hatte gesagt, dass es nahezu ausgeschlossen war. Da fiel ihm ein, dass sie sich geküsst hatten. Seine DNA war also auch an ihr!
»Hallo! Ist da jemand?«
Eine weibliche Stimme schreckte ihn auf, er fuhr herum. Durch das Tor betrat eine dicke alte Frau den Garten. Sie hielt zwei Pflanztöpfchen in den Händen und kam wankend auf die Laube zu.
Er hechtete zu seinen Klamotten, die auf dem Boden lagen, und zog hektisch seine Jeans an, wobei er mit dem Fuß in der Hose stecken blieb und fast hingefallen wäre. Dann streifte er die Socken über. Als er nach T-Shirt und Pullover griff und sich aufrichtete, sah er sie am Fenster. Sie hatte ihre Hände vor ihren Augen zu einem Tunnel geformt und starrte voller Entsetzen auf Annike. Ihn hatte sie noch nicht bemerkt.
Er stand wie angewurzelt da und hoffte, dass sie schnell wieder verschwände, sodass er ungesehen fliehen konnte. Doch plötzlich drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, und sie sahen sich an. Einige Sekunden verharrten sie in Schockstarre und schauten sich in die Augen. Er fühlte sich schuldig, als hätte sie ihn soeben auf frischer Tat ertappt. Zaghaft und ohne den Blick von ihr abzuwenden, trat er ein paar Schritte zurück und zog sich eilig das T-Shirt, den Pullover und seine Schuhe an. Seine Jacke hing über einem Stuhl. Er schnappte sie sich, riss die Tür auf und stürzte hinaus.
»Stehen bleiben!«, schrie die Alte mit einer versoffenen Stimme. »Bleib stehen, du Mistkerl!«
Mit einem Satz sprang er über einen Maschendrahtzaun, der hinter der Laube verlief, blieb mit einem Fuß hängen und knallte der Länge nach auf den Rasen des angrenzenden Grundstücks.
»Du sollst stehen bleiben, du Mörder!«, brüllte die Frau, die am Zaun angekommen war, und glotzte ihn an. Sie hatte ein rotes, aufgeschwemmtes Gesicht. Bestimmt würde sie ihn wiedererkennen und der Polizei eine hervorragende Beschreibung geben.
Er war so wütend, dass er ihr am liebsten an die Gurgel gegangen wäre.
Blitzschnell stand er auf und rannte davon.
Es war ein phantastischer Morgen, als Carla den Frühstückstisch deckte. Nachdem es in der Nacht kräftig geschüttet hatte, grünte und spross es im Garten, als explodiere die Natur. Auch waren die Temperaturen so mild, dass die Terrassentür weit offen stehen konnte.
Bruno lief über die Wiese und bellte Vögeln hinterher, während Glöckchen auf einem Stein lag und sich von der Sonne bescheinen ließ. Zu Carlas Verdruss hatte er in der Nacht eine lebende Maus angeschleppt. Sie hasste es, immer wieder ein solches Gemetzel im Haus zu haben. Erstaunlich war, dass noch niemand eine Katzenklappe erfunden hatte, die sich automatisch verriegelte, wenn der Kater eine Beute im Maul hatte! Mit einer Kamera und einem Sensor müsste so etwas doch möglich sein! Dieses Mal war es ihr gelungen, Glöckchen mit Trockenfutter abzulenken und die Maus ins rettende Gebüsch zu setzen.
Kathrin bereitete an der Küchenzeile eine große Schüssel Porridge zu. Sie trug ein weites Sommerkleid mit einem offenen Dekolleté, die dichten braunen Haare hatte sie hochgebunden. Dabei tanzte sie zu einem Siebziger-Jahre-Hit, der gerade im Radio lief. »Dancing Queen«. Sie schwang die Hüften und summte mit.
Leonie saß am Tisch, die Beine zu sich herangezogen, und war mit ihrem Handy beschäftigt. Sie trug nur ein T-Shirt und eine Unterhose. »Mam?«, sagte sie zu Kathrin, ohne aufzusehen. »Kannst du bitte einen anderen Sender einstellen? Die Musik ist voll krass. Und deine Moves auch.«
Kathrin bewegte sich tanzend zur Fernbedienung, schaltete um, und moderne Popmusik schallte durchs Zimmer. Sie musste eine hervorragende Laune haben, denn normalerweise reagierte sie nicht auf das Musik-Gemecker der Kinder. Vielleicht lag es daran, dass sie und Carla nach dem Aufwachen guten Sex gehabt hatten. Auch Carla ging es großartig. Sie fühlte sich wie frisch verliebt.
»Wo ist eigentlich Toni?«, fragte Leonie und schaute von ihrem Handy auf.
»Bei Titus«, sagte Carla und setzte sich, nachdem sie alles aufgetischt hatte. »Da gab’s eine Party gestern Abend.«
Bruno kam herein und stürzte sich auf seinen Napf, den Carla vor wenigen Minuten mit Futter gefüllt hatte. Sein silberbraunes Rauhaardackelfell glänzte.
»Und Mam hat erlaubt, dass er die ganze Nacht wegbleibt?«, flüsterte Leonie Carla zu.
»Ich musste etwas nachhelfen«, flüsterte Carla zurück und goss sich Kaffee ein.
Leonie grinste und legte ihr Handy beiseite. Dann rief sie in Kathrins Richtung: »Vielleicht hat Toni eine Freundin. Und die Party war nur eine Ausrede. Bestimmt hatten sie Sex. Da ging voll die Luzie ab, wetten?«
»Ha, das wüsste ich aber«, sagte Kathrin und verrührte das Porridge in einem Topf auf dem Herd. »Wenn Toni eine Freundin hätte, hätte ich das längst mitgekriegt.«
»Na logo!«, rief Leonie. »Du wärst die Erste. Träum weiter!«
Carla musste schmunzeln. Glaubte Kathrin im Ernst, dass ihr kleiner Kronprinz ihr noch immer alles anvertraute?
»Ich verscheißere euch doch nur«, sagte Kathrin und stellte die Schüssel mit heißem Porridge auf den Tisch, dann setzte auch sie sich. »Weil ihr mal wieder meint, ich wäre eine Helikopter-Mama. Aber da täuscht ihr euch. Ich bin die lockerste Mutter ever.« Sie riss die Arme hoch. »Yeah!«
Leonie hielt sich den Mund zu, um nicht loszuprusten, und Carla schüttelte grinsend den Kopf. Was für ein Unsinn, den Kathrin da gerade verzapfte!
»Ja, wirklich!«, sagte Kathrin. »Ihr braucht gar nicht so blöd zu gucken. Ob Toni eine Freundin hat oder nicht, ist mir völlig wurscht. Alt genug ist er ja.«
Carla und Leonie lächelten sich zu. Beide wussten, dass Kathrin mit Tonis Abnabelung mehr Probleme hatte, als es ihr lieb war. Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn war schon immer sehr eng gewesen.
Carla wollte sich gerade etwas Porridge nehmen, als ihr Handy klingelte. Es war Maik, sein Profilbild flimmerte ihr entgegen. Das Foto hatte sie einst im Büro geschossen, als er ihr gerade so gut gefallen hatte. Er hatte ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und Bartstoppeln, dazu eine gestylte Stehfrisur; ein Typ wie aus einem Modemagazin. Nur leider bedeutete es nichts Gutes, wenn er an einem Sonntag um diese Uhrzeit anrief.
Carla ließ den Löffel fallen und zischte: »Mist!« Alles in ihr sträubte sich. Die ganze Woche hatte sie sich darauf gefreut, mit Kathrin und Leonie im Garten zu arbeiten. Es gab so viel zu tun. Die Beete mussten von Laub befreit, der Rasen musste gelüftet, Gemüse gepflanzt werden. Das Wetter hätte nicht schöner sein können. Außerdem täte ihr Bewegung gut, um ein bisschen von diesem verdammten Übergewicht herunterzukommen. Sie hatte sich lange nicht gewogen und schätzte, dass sie inzwischen mehr als neunzig Kilo auf die Waage brachte – bei einer Körpergröße von einem Meter dreiundsechzig.
Sie reichte Leonie das Telefon. »Sag, dass ich mit hohem Fieber im Bett liege.«
Leonie nahm das Gespräch an. »Hallo, Maik. Ich soll dir von Carla sagen, dass sie mit hohem Fieber im Bett liegt. Sie sitzt neben mir. Willst du sie sprechen? Warte.«
Carla warf Leonie einen zornigen Blick zu, als sie das Handy entgegennahm. »Hallo, mein Engel. Was gibt’s so früh?« Sollte es um ein Verbrechen gehen, hatte es die Leitstelle wahrscheinlich auch schon bei ihr probiert. Sie war die Leiterin der Mordkommission; ihr Diensthandy lag im Arbeitszimmer.
»Guten Morgen«, krächzte Maik, als hätte er die Nacht durchgezecht. »Schlechte Nachricht. Eine Tote in einer Laube.«
»Du klingst ja furchtbar.«
»War mit einem Kumpel versackt und bin gerade aufgestanden. Kleingartensparte Sonneneck, falls dir das was sagt.«
Carla kannte die Anlage, sie befand sich in Neuruppin und war Teil eines großen Gebiets von Schrebergärten. »Und wenn ich wirklich krank wäre? Dann müsstest du ohne mich klarkommen.«
»Das Gleiche könnte ich auch sagen. Bin noch im Alkoholkoma. Also hör auf zu diskutieren, schwing deinen Hintern ins Auto und komm.«
Carla seufzte laut und drückte das Gespräch weg.
Sie musste ihren Wagen am Straßenrand abstellen, denn das Kleingartengelände samt Parkplatz war mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Es herrschte reges Treiben. Vor dem Eingang, der von einem Schild mit der Aufschrift »Sonneneck« überspannt war, hatten sich zahlreiche Schaulustige versammelt und spähten zu den Gärten. Uniformierte passten auf, dass niemand die Absperrung übertrat. Auf der Straße parkten Fahrzeuge der Polizei und ein Notarztwagen.
Carla zwängte sich durch die Menge. Sie trug eine leichte Sommerjacke mit offenem Reißverschluss und eine Sonnenbrille, weil das grelle Frühlingslicht blendete. »Kripo«, rief sie den Schaulustigen zu. »Bitte lassen Sie mich durch.«
Die Leute traten respektvoll zur Seite, sodass eine Gasse entstand.
Als sie am Eingang ankam, wurde sie von einem älteren Schutzpolizisten empfangen. Sein Name war Jens Wildfang. »Hallo, Frau Stach«, sagte er und blinzelte durch seine Brille gegen die Sonne an. »Den freien Sonntag können wir uns ja wohl abschminken.«
»Ja, leider. Ich hab schon ins Kissen geweint vor Frust. Ist mein Kollege da?«
»Sie meinen Herrn Maik Frosch? Eben gekommen. Gehen Sie etwa fünfzig Meter geradeaus, dann rechts in einen schmalen Weg. Nicht zu verfehlen.«
Carla hob dankend die Hand und marschierte los. Auf dem matschigen Hauptweg hatten sich vom nächtlichen Regen Pfützen gebildet. Zu beiden Seiten ragten sorgfältig geschnittene Hecken in die Höhe, über die sie wegen ihrer geringen Körpergröße nur mit Mühe schauen konnte.
Nach einem kurzen Marsch erreichte sie den Tatort, ein idyllisches Grundstück, naturbelassen und nicht so penibel gepflegt wie viele der anderen Gärten in der Anlage. Die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung waren bereits zugange, das Gartentor stand weit offen. Maik tauchte an der Hecke auf und hielt Carla einen eingepackten weißen Schutzanzug entgegen. Er selbst trug auch einen.
»Eintritt nur als Gespenst«, sagte er und klang genauso grauenvoll wie vorhin am Telefon. Seine Augen waren glasig, und das bisschen Gesichtshaut, das nicht vom Mundschutz verdeckt war, sah blass aus.
Carla nahm ihre Sonnenbrille ab und steckte sie in die Jackentasche. »Du könntest mir schon mal eine Einführung geben«, sagte sie und griff nach dem Schutzanzug. »Sofern deine Stimme nicht unterwegs den Geist aufgibt.«
»Die Stimme ist nicht das Problem, sondern der Schädel. Hab eine Packung Ibus mit literweise Leitungswasser runtergespült, aber es will einfach nicht helfen. Die Tote heißt übrigens Annike Arning und ist sechzehn Jahre alt.«
Carla zog sich den Schutzanzug über.
»Arning? Die Tochter von Dr. Arning, dem Kinderarzt?« Toni und Leonie waren Patienten seiner Kollegin, die in denselben Räumen praktizierte.
»Exakt. Wir sind mit der kleinen Maus bei ihm.«
Die kleine Maus hieß Anna und war Maiks achtjährige Tochter.
»Das Kind der Arnings, das ist ja furchtbar«, sagte Carla, als sie Schutzanzug und Mundschutz übergestreift hatte, und betrat den Garten. »Wie ist sie umgekommen?«
Sie gingen über eine Wiese auf eine moderne Laube zu, die aus verwittertem Lärchenholz bestand und zu drei Seiten verglaste Wände hatte.
»Erdrosselt«, sagte Maik. »Kein schöner Anblick. Aber zum Glück gibt es eine Zeugin.«
»Eine Zeugin?«
»Eine Gartennachbarin. Sie hat heute früh einen jungen Mann gesehen, wie er aus der Laube kam und abgehauen ist. Wahrscheinlich der Täter.«
Carla bemerkte eine füllige ältere Frau, die bei einem Schutzpolizisten stand und darauf wartete, befragt zu werden. »Kann sie ihn beschreiben?«
»Ziemlich genau. Behauptet sie zumindest. Ich rede gleich noch mit ihr.«
Carla und Maik traten in die Laube und gingen zu einem Doppelbett, in dem die Tote lag. Sie hatte ein pausbäckiges Gesicht und schulterlange lockige Haare. Ihr Blick fiel starr ins Leere, die Zunge ragte aus dem Mundwinkel. Um den Hals war ein Tuch geschlungen, bei dem es sich offensichtlich um die Tatwaffe handelte.
»Sie muss einige Stunden tot sein«, sagte Maik. »Die Totenstarre hat sich schon über den gesamten Körper ausgebreitet.«
Die Ermordete stimmte Carla traurig. Das Mädchen war nur etwas älter als Leonie. Mit Grausen dachte sie an die Eltern und dass sie ihnen im Laufe des Vormittags die Todesnachricht überbringen musste.
»Wem gehört das Tuch?«, fragte sie und zeigte auf die mutmaßliche Tatwaffe. »Sieht mir nicht so aus, als würde ein junges Mädchen so etwas tragen.«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat es hier irgendwo rumgelegen. Auf jeden Fall wurde viel Alkohol getrunken.« Maik deutete auf die Whiskeyflasche und zwei Gläser auf dem Nachttisch. Dann hielt er sich eine Hand an die Stirn. »Mir wird schlecht, scheiß Alkohol. Schon vom Anblick könnt ich kotzen. Ich muss einen Moment an die frische Luft.«
»Geh ruhig, ich komm allein klar.«
Während Maik nach draußen stürzte, nahm Carla vorsichtig die Decke zurück, sodass die Tote frei lag. Sie war nur mit einer Unterhose bekleidet. Auf den ersten Blick wies der Körper keine Verletzungen auf. Die andere Betthälfte sah benutzt aus, als hätte jemand neben Annike geschlafen.
Carla lüpfte die Unterhose der Toten, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Ob Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte, war nicht ersichtlich. Es musste bei der Obduktion geklärt werden.
Im Bett lag ein Kondom, das noch eingepackt war. Als hätten Annike und ein Unbekannter miteinander schlafen wollen. Vielleicht hatten sie es auch getan und auf das Kondom verzichtet. Spermaspuren jedoch waren nicht zu erkennen.
Carla wollte die Decke wieder in ihre ursprüngliche Position zurückschlagen, da fiel ihr etwas Silbernes auf Höhe des Knies der Toten auf. Es war eine Kette.
Sie nahm sie in die Hand und erstarrte.
Bei dem Anhänger handelte es sich um das Dharmachakra, ein Rad mit acht Speichen. Es stammte aus dem Buddhismus und symbolisierte die acht Pfade, die ein Gläubiger zu beschreiten hatte. Carla konnte nicht alle acht Pfade benennen, ihr fielen nur die rechte Erkenntnis, das rechte Handeln und die rechte Achtsamkeit ein.
Sie traute sich kaum, auf die Rückseite zu schauen. Doch sie musste es tun. Mit zitternder Hand drehte sie den Anhänger um. Dort stand: In Liebe, Carla.
In ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Es war Tonis Kette. Sie hatte sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt, weil er sich neuerdings dem Buddhismus verschrieben hatte. Nun gab es keine Zweifel mehr. Die Kette, die sie in der Hand hielt, gehörte ihrem Sohn, der eigentlich Kathrins leiblicher war!
Was hatte es zu bedeuten, wie kam dieses Schmuckstück hierher? Sie konnte es sich nicht erklären, in ihrem Kopf herrschte Chaos. Kannten sich Toni und Annike Arning? Natürlich kannten sie sich, schließlich hatten sie dieselbe Schule besucht, wenn auch in getrennten Klassen. Bis Annike nach dem Mittleren Schulabschluss abgegangen war. War es Toni gewesen, der auf der anderen Seite des Bettes geschlafen hatte? Hatten die beiden etwas miteinander gehabt, eine lose Affäre, eine Beziehung? Carla erinnerte sich nicht, dass Toni jemals von Annike gesprochen hatte. Doch Teenager redeten nicht über ihr Liebesleben, zumindest nicht mit den eigenen Eltern. Vorhin hatte Leonie noch Kathrin damit aufgezogen.
Sie wollte gerade ihr Telefon herausholen und Kathrin fragen, ob Toni inzwischen nach Hause gekommen war, als Maik benommen zurück in die Laube schlich, eine Hand noch immer an der Stirn. Sein Befinden schien sich nicht wesentlich gebessert zu haben.
Blitzschnell schlug sie die Decke zurück über die Tote.
»Geht es wieder?«, fragte sie mit dünner Stimme und presste eine Faust um die Kette. Sie war gerade im Begriff, ein Beweismittel verschwinden zu lassen.
»Ein bisschen«, sagte Maik. »Und bei dir? Alles okay?«
»Wieso?«
»Weiß nicht. Du wirkst irgendwie … wie soll ich sagen? … verstört.«
»Ja … die Sache hier geht mir ziemlich an die Nieren.« Es war nicht gelogen.
In diesem Moment kam eine junge Kollegin von der Spurensicherung herein. Sie hieß Anja Schlüter und richtete eine Kamera mit einem langen Objektiv auf die Tote. »Bitte mal einen Schritt zurücktreten«, sagte sie und schoss ein paar Bilder. Vor allem das Halstuch als Tatwaffe zoomte sie heran. Dann schob sie die Decke zur Seite, um weitere Fotos zu machen. »Habt ihr was an der Auffindesituation verändert?«, fragte sie, während sie knipste.
»Nein«, sagte Carla und kämpfte gegen eine aufkommende Übelkeit an.
»Das war’s«, sagte Anja Schlüter, nachdem sie die Whiskeyflasche und die Gläser abgelichtet hatte. Anschließend wandte sie sich ab, um den restlichen Raum zu fotografieren, unter anderem einen Stuhl, über dem Kleidung hing, die wahrscheinlich der Toten gehörte.
»Hab die frische Luft genutzt, um mit der Zeugin zu sprechen«, sagte Maik. »Die Frau hat den Täter ziemlich genau beschrieben. Soll ich sie fortschicken?«
Carla bekam weiche Knie bei der Vorstellung, dass die Zeugin Toni gesehen hatte, sofern dies hier nicht alles ein furchtbarer Albtraum war. »Nein, ich will auch noch mit ihr reden. Aber vorher muss ich kurz mit Kathrin telefonieren.«
Carla ging nach draußen und suchte nach einem ruhigen Ort, der schwer zu finden war. Überall wimmelte es von Beamten, auch vor dem Garten. Neben einer weiß-rosa blühenden Magnolie war es einigermaßen still. Nervös kramte sie ihr Handy hervor und rief Toni an. Die Kette hatte sie kurz zuvor in ihre Hosentasche gesteckt.
Es ertönte kein Freizeichen, stattdessen meldete sich sofort die Mailbox. »Hey, Leute, chille gerade. Versucht’s später noch mal oder quatscht mir was drauf.« – Piep. Das Handy war ausgeschaltet, was Carla befürchtet hatte. Sie wählte Kathrins Nummer.
»Was gibt’s, mein Herz?«, meldete sich Kathrin sofort nach dem ersten Klingeln. »Willst du mir sagen, dass du mich liebst?«
»Ist Toni inzwischen zu Hause?«, fragte Carla leise.
»Nein, wieso? Ich dachte, dass du bei einer Toten ermittelst. Ist was passiert?«
Carla biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es schmerzte. »Tu mir einen Gefallen. Ruf bei Titus’ Eltern an und frag, ob Toni da ist. Er soll sich sofort bei mir melden.«
»Aber warum sollte er nicht bei Titus sein?«
»Bitte tu es einfach. Ich erkläre dir alles später.«
»Was willst du mir erklären?«
»Ich weiß es noch nicht. Lass uns nachher darüber sprechen.«
»Erst will ich wissen, was los ist. Das klingt alles total beunruhigend.«
»Kathrin, bitte. Ich kann jetzt nicht reden.«
Carla drückte das Gespräch weg, als Maik auf sie zukam. »Wir haben das Handy der Toten gefunden«, sagte er. »Leider ist der Sperrcode aktiviert, aber für die KTU dürfte es kein Problem sein, den zu knacken.«
Das Handy, natürlich! Carla hatte es völlig vergessen, wahrscheinlich wegen des Schocks. Mit Sicherheit hatten sich Toni und Annike Textnachrichten geschrieben, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis Toni zum Hauptverdächtigen wurde. Die Kette hätte sie gar nicht mitnehmen müssen.
»Die Zeugin würde gerne gehen«, sagte Maik. »Ich habe ihre Aussage notiert. Brauchst du sie denn wirklich noch?«
In Carlas Kopf drehte sich alles. Wollte sie tatsächlich mit der Zeugin sprechen, und war sie überhaupt in der Lage dazu?
Da kam die Frau in Begleitung eines Uniformierten auf Carla und Maik zu. Sie trug einen weiten, schmuddeligen Pullover und eine ausgeblichene Jeans. »Guten Tag, Frau Kommissarin. Mein Name ist Schwab, Elke Schwab. Ihr Kollege sagte, dass Sie noch mit mir reden wollen. Nun ist es aber so, dass meine Tochter gleich zum Frühstück kommt und …«
Carla versuchte, sich zu konzentrieren, während der Uniformierte wieder ging. »Natürlich, Frau Schwab, wir können sofort mit der Befragung beginnen. Vielleicht erzählen Sie mir noch einmal ganz genau, was Sie beobachtet haben.«
»Frau Stach!« Ein Beamter von der Spurensicherung, Kevin Rust, eilte herbei. Er trug einen Schutzanzug. »Wir haben frische Schuhabdruckspuren in einem Beet gefunden«, sagte er, als er bei Carla angekommen war. »Sie sind von heute Nacht. Wollen Sie sie sich ansehen?«
»Später. Woher wissen Sie, dass sie von heute Nacht sind?«
»Weil das Profil deutlich zu erkennen ist. Sonst wäre es verwischt worden, so wie es geschüttet hat.«
»Ich komme mit Ihnen«, sagte Maik zu Rust, und die beiden gingen zum Beet.
»Warten Sie«, rief ihnen Carla hinterher. »Haben Sie die Spuren schon ausgemessen? Welche Schuhgröße?«
»Circa 46«, rief der Beamte.
»Danke.« Es war die erste positive Nachricht, seit sie mit der Ermittlung begonnen hatten. Toni hatte 43. Wenn die Spuren etwas zu bedeuten hatten, dann hatte Toni zumindest damit nichts zu tun.
Plötzlich fiel ihr ein, dass er am Vortag mit dem Fahrrad losgefahren war, als er angeblich zu Titus gewollt hatte. Carla hatte es vom Küchenfenster aus beobachtet. Die Zeugin jedoch hatte ausgesagt, dass der Täter zu Fuß geflüchtet war. Wo war dann Tonis Fahrrad? Er musste es irgendwo im Garten abgestellt haben, aber Carla sah es nirgends. Auch vor dem Grundstück stand es nicht. Wenn sie doch nur ein paar Minuten in Ruhe nachdenken könnte! All die Leute um sie herum machten sie verrückt.
Maik kam zurück und stellte sich zu Carla und der Zeugin. »Die Fußabdrücke sind deutlich zu erkennen«, sagte er. »Da können wir leicht die Schuhmarke sowie Größe und Gewicht der entsprechenden Person herausfinden.«
Carla wollte sich der Zeugin widmen, als ihr Handy klingelte. Es war Kathrin. Auf dem Display war deutlich ihr Profilbild zu erkennen, auch Maik sah es.
»Einen Moment, bitte«, sagte sie und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sie von Maik irritiert angestarrt wurde. Natürlich verstand er nicht, warum sie während der Ermittlung mit Kathrin telefonierte. Es war noch nie passiert in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit.
Sie trat einen Schritt zur Seite und nahm das Gespräch an. »Ja?«
»Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was hier abgeht! Sofort!« Kathrin sprach nicht, sie schrie.
»Hast du die Eltern erreicht?«, flüsterte Carla. »Und bitte brüll nicht so. Es brauchen ja nicht alle mitzuhören.« Maik und Elke Schwab konnten wahrscheinlich jedes Wort verstehen.
»Und ob ich die Eltern erreicht habe«, fuhr Kathrin lauthals fort. »Toni ist nicht bei Titus, und er ist auch niemals da gewesen. Es hat überhaupt keine Party gegeben! Der Kerl hat uns angelogen. Und du bist an einem Tatort und fragst mich, wo Toni ist. Da soll ich nicht ausflippen? Wer ist denn die Tote?«
Carla versuchte, den Ton leiser zu stellen, aber sie wusste nicht, wie. Diese verfluchte Technik! Warum musste das immer alles so kompliziert sein!
Sie drückte das Gespräch weg und hätte das Handy am liebsten vor Wut ins Gebüsch geworfen. Aber sie steckte es in die Hosentasche und wandte sich Maik und der Zeugin zu.
Ihr Handy summte erneut. Wahrscheinlich rief Kathrin wieder an.
»Bitte noch einmal von vorne«, sagte sie zu Elke Schwab, während es in ihrer Hose vibrierte, als würde das Telefon jeden Moment explodieren. »Was haben Sie gesehen?«
»Also das war so. Ich kam am frühen Morgen hierher, weil ich den Arnings ein paar Gemüsepflanzen bringen wollte.«
»Haben Sie einen Schlüssel zum Grundstück?«
»Ja. Ich kümmere mich ein bisschen um den Garten. Die Arnings sind ja beruflich sehr eingespannt, vor allem er. Sie wissen, dass er eine Praxis –«
»Ja, das weiß ich. Bitte weiter, was geschah dann?«
»Als ich am Gartentor ankam, habe ich mich gewundert, dass nicht abgeschlossen war. Also ging ich auf das Haus zu. ›Ist da jemand?‹, habe ich gerufen, aber es antwortete niemand. Dann schaute ich in die Laube, und was soll ich sagen? Da lag sie …«
Elke Schwab senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen.
»Das war bestimmt schrecklich für Sie«, sagte Carla. »Es tut mir sehr leid, dass Sie das erleben mussten. Mein Kollege sagt, dass noch eine weitere Person im Raum gewesen ist.«
Die Zeugin sah auf, ihre Augen funkelten. »Ja, der Kerl, der ihr das angetan hat. Ich hab ihn genau gesehen. Dieser Fiesling! Nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Wie der mich angesehen hat! Diesen ausgefuchsten, verschlagenen Blick werde ich nie vergessen.«
Carla spürte Ärger in sich aufsteigen. Toni war nicht verschlagen. Die Zeugin hatte nicht das Recht, so über ihn zu sprechen.
»Glauben Sie, dass wir mit Ihrer Hilfe eine Phantomzeichnung anfertigen können?«, fragte Maik, der seinen kleinen Block gezückt hatte und die Aussage der Zeugin mit seiner Befragung von vorhin verglich.
»Und ob Sie das können. Das Gesicht würde ich auf hundert Meter wiedererkennen.«
Carla grauste. Hoffentlich tauchte Toni bald wieder auf, ansonsten erschien sein Phantombild in allen Medien.
»Dann beschreiben Sie ihn bitte«, sagte Carla.
»Aber das habe ich doch schon bei Ihrem Kollegen getan.«
»Dann tun Sie es eben noch mal, Herrgott!«
»Also gut. Als ich die Tote entdeckte, war er obenrum nackt. Er trug nur eine Jeans und Socken.«
»Was für einen Körper hatte er? Dick oder dünn, muskulös, Akne?«
»Wie halt Jungs in dem Alter so aussehen. Schlank, sportlich, drahtig, würde ich sagen. Nein, Akne hatte er nicht.«
Toni hatte eine reine, feinporige Haut, wie seine Mutter. »Und das Gesicht? Können Sie sein Gesicht beschreiben?«
»Er sah feminin aus, hatte etwas längere braune Haare bis zur Schulter, die Augen waren auch braun. Ein recht hübscher Kerl eigentlich.«
Die Beschreibung passte zu Toni.
»Haben Sie ihn schon einmal gesehen?«, fragte Maik. »Vielleicht, als er mit Annike hier im Garten war?«
»Ach wissen Sie, hier sind öfter junge Leute zu Besuch. Ich kann mir nicht alle merken. An ihn erinnere ich mich jedenfalls nicht.«
Maik nickte. »Und was geschah dann?«
»Dann sah er mich. Er wusste genau, was er getan hatte, und er wusste auch, dass ich es wusste.«
»Dass er sie getötet hat, haben Sie nicht beobachtet«, sagte Carla.
»Nein.«
»Dann halten Sie sich bitte mit Spekulationen zurück. Es ist nicht Ihre Aufgabe, Schlüsse zu ziehen.«
»Aber er hat sie umgebracht! Ich habe es ihm angesehen. Er hatte den Blick eines Kriminellen, eines gemeinen und hinterhältigen Verbrechers.«
Carla atmete tief durch. Sie wurde rasend vor Wut, riss sich jedoch zusammen.
»Anschließend zog er sich T-Shirt, Pullover und Schuhe an«, fuhr Elke Schwab fort.
»Was für Klamotten trug er?«, fragte Carla, die sich die Antwort auch selbst geben konnte. Jeans, weißes Shirt, roter Pulli.
»Er hatte eine Jeans, ein weißes T-Shirt und einen dunkelroten Pullover an. Ach ja, eine Jacke hatte er auch dabei, so eine braune.«
Carla glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Gesuchte war Toni. »Danke, Sie müssten Ihre Aussage nachher noch zu Protokoll geben.« Ihr wurde schwindelig. Auf ihrer Stirn perlte kalter Schweiß, und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
»Wie gerne ich das tue, Frau Kommissarin«, sagte Elke Schwab und blinzelte Carla giftig an. »Dieses Gesindel gehört eingesperrt. In Amerika, da weiß man, was man mit solchen Leuten macht.« Sie deutete einen Kehlschnitt an. »Bei uns gehen sie immer so sanft mit denen um. Das muss sich ändern, wenn Sie mich fragen.«
»Ich frage Sie aber nicht«, blaffte Carla. »Ob der junge Mann das Mädchen umgebracht hat, wissen wir nicht. Sie haben sich verdammt noch mal mit Ihrem dummen Geschwätz zurückzuhalten. Und jetzt tun Sie mir einen Gefallen und verschwinden Sie!«
Maik sah Carla entsetzt an. »Was ist denn in dich gefahren?«, fragte er leise und nahm sie zur Seite, während Carla von der Zeugin fassungslos angestarrt wurde. »So habe ich dich ja noch nie erlebt.«
Carla war sich selbst fremd. Normalerweise hatte sie sich im Griff, aber die Umstände waren nicht normal. »Diese Frau macht mich wahnsinnig«, sagte sie. »Woher will sie wissen, dass der Verdächtige das Mädchen umgebracht hat? So wie es aussieht, ist Annike Arning seit Stunden tot. Der Jugendliche kann also nicht von dieser blöden Zeugin auf frischer Tat ertappt worden sein. Wenn er es gewesen ist, dann muss er es in der Nacht getan haben. Und ist danach seelenruhig neben ihr eingeschlafen? Das glaubst du doch nicht im Ernst!«
»Denk an die leere Whiskeyflasche«, sagte Maik. »Er kann es im Alkoholrausch getan haben und anschließend in einen Tiefschlaf gefallen sein. Das passiert, wie du weißt. Hier ist es sogar naheliegend. Wieso kommst du nicht selbst darauf?«
Carla sah Maik verwirrt an. Ihr fehlten die Worte.
»Irgendetwas stimmt nicht mit dir«, sagte Maik. »Ich fange langsam an, mir Sorgen zu machen.«
Carla wandte sich ab. Sie hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Das Schlimmste stand ihr noch bevor. Sie musste mit den Eltern der Toten reden. Wenn jemand wusste, dass sich Annike und Toni letzte Nacht getroffen hatten, dann womöglich die Arnings.
Carla ließ ihren Wagen vor der Kleingartenanlage stehen und stieg bei Maik ins Auto. Sie fühlte sich wie in Trance, als würde sie ferngesteuert. Es wäre verantwortungslos, in diesem Zustand einen Wagen zu lenken.
Sie konnte noch immer nicht glauben, dass Toni einen Menschen ermordet hatte, auch wenn die Kette und die Aussage der Zeugin dafürsprachen. Doch es musste eine andere Erklärung geben. Immerhin existierten diese Fußabdrücke im Beet, die anzusehen sie im Übrigen völlig vergessen hatte. Sie waren ein Indiz, dass noch eine weitere Person vergangene Nacht im Garten der Arnings gewesen sein musste. Der Schuhgröße nach zu urteilen ein Mann.
Auf der Fahrt war es ungewöhnlich still im Auto, auch Maik schwieg. Er schien zu spüren, dass Carla nicht ganz beieinander war. Normalerweise unterhielten sie sich nach einer Tatortbegehung äußerst lebhaft miteinander, diskutierten über die Indizien, zogen erste Schlüsse und scherzten manchmal auch zusammen. Doch Carla war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht sprechen wollte.
Sie stellte sich vor, wie sie und Maik im Wohnzimmer der Arnings saßen, die Eltern noch ganz benommen von der Todesnachricht, die sie soeben erhalten hatten. Maik würde fragen: Wissen Sie, mit wem sich Ihre Tochter gestern Abend getroffen hat? Frau Arning würde sich die Tränen aus den Augen wischen und mit Blick zu Carla antworten: Natürlich, mit Ihrem Sohn, Frau Stach. Wussten Sie das denn nicht? Und Maik würde entgeistert dreinschauen. In diesem Moment würde ihm klar werden, dass die Täterbeschreibung, die diese Elke Soundso abgeliefert hatte, exakt auf Toni zutraf. Allen im Raum würde bewusst werden, dass Carlas Sohn Toni mit hoher Wahrscheinlichkeit Annike Arning ermordet hatte.
Vielleicht sollte Carla offen mit Maik sprechen. Sie konnte sich ihm guten Gewissens anvertrauen, denn er war nicht irgendein Kollege, sondern er stand ihr nah. Von da an würde alles sehr schnell gehen. Ein anderer Beamter übernähme an Carlas Stelle die Ermittlung, und dann wäre sie raus aus der Sache. Sie wäre dann nur noch Zeugin in einem Ermittlungsverfahren. Es war ohnehin eine Frage der Zeit, bis man ihr den Fall entzog. Spätestens wenn herauskam, dass Toni und das Mordopfer miteinander befreundet gewesen waren, geriete Toni in den Fokus.
Dass Carla ein Beweismittel unterschlagen hatte, machte alles nur noch schlimmer. Vorsichtig und möglichst unbemerkt von Maik tastete sie ihre Hosentasche ab, wo die Kette als Verhärtung zu fühlen war. Sie hätte sie nicht einstecken sollen. Noch heute würde man den Sperrcode in Annikes Handy knacken, und dann war es offensichtlich, dass sich Toni und Annike für den Abend verabredet hatten. Wenn Toni später vernommen würde, konnte es passieren, dass er den Verlust der Kette unbedacht ausplauderte. Und allen wäre klar, dass Carla sie vom Tatort entfernt hatte. Sie war in einen Strudel geraten, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
Maik parkte seinen Wagen in einer noblen Neubausiedlung am Ruppiner See. Es war die letzte Gelegenheit für Carla, mit der Wahrheit herauszurücken, bevor es für sie unangenehm zu werden drohte. Doch sie schaffte es nicht. Sie brachte es nicht über die Lippen, Maik zu sagen, dass der junge Mann, den die Zeugin bei der Toten gesehen hatte, Toni gewesen war. Wenn sie es täte, müsste sie augenblicklich aus der Ermittlung aussteigen. Maik müsste sich sofort um einen Ersatz kümmern – und dann wäre sie bei der Überbringung der Todesnachricht nicht mehr dabei. Sie bekäme die Ermittlung nicht hautnah mit, würde keine Details mehr erfahren, wäre außen vor.
Insgeheim hoffte sie, dass sich alles als ein böser Traum entpuppte. Dass die Arnings irgendetwas zu Tonis Entlastung sagten. Und dass Carla, wenn sie weiter ermittelte, seine Unschuld beweisen konnte. Ein Teil des Teams zu sein war besser, als mit gebundenen Händen dazusitzen und zu erleben, wie die Phantasie mit ihr durchging.
»Fühlst du dich fit für die Arnings?«, fragte Maik und zog die Schlüsselkarte aus dem Schlitz. Es waren die ersten Worte seit zehn Minuten. »Oder soll besser ich die Leitung übernehmen?«
»Warum fragst du?«
»Weil am Tatort irgendetwas mit dir passiert ist. Und ich hab nicht den blassesten Schimmer, was. Warum hast du zwei Mal mit Kathrin telefoniert? Vielleicht kanntest du Annike Arning persönlich. Aber was wäre so schlimm daran, es mir zu sagen? Du weißt, dass ich vollstes Verständnis hätte.«
»Ja, das weiß ich.« Carla wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster, ohne die Gegend wahrzunehmen. Sie war noch zu verwirrt, um sich Maik anzuvertrauen. »Gib mir noch etwas Zeit. Im Moment fühle ich mich fit und in der Lage, die Befragung zu leiten.«
»Und wann reden wir?«
Carla zögerte. Plötzlich begriff sie, warum sie Maik gegenüber so zurückhaltend war. Sie wollte zuerst mit Kathrin sprechen, bevor es andere erfuhren. Unmittelbar danach war Maik an der Reihe.
Die Arnings wohnten im dritten und obersten Stock eines modernen mehrstöckigen Hauses, das zum Seetorviertel gehörte, einer Residenz in bester Seelage.
Nachdem Carla und Maik aus dem Fahrstuhl gestiegen waren, betätigte Maik eine Klingel, auf der die Namen der Arnings standen: Edgar und Wiebke als die Eltern sowie Annike und Mala Arning, die Kinder. Ein Dreiklang ertönte. Kurz darauf öffnete ein etwa zehnjähriges Mädchen, das vermutlich Mala war und die Kommissare erstaunt anstarrte. Es ähnelte seiner älteren Schwester, hatte das gleiche rundliche Gesicht und eine ähnlich lockige Frisur.
»Wir sind von der Polizei«, sagte Carla und hielt ihre Marke hoch. »Sind deine Eltern zu Hause?«
Das Mädchen verschwand in der Wohnung, wenig später erschien Dr. Arning in der Tür. Er war untersetzt, hatte nur noch an den Seiten Haare und trug ein weißes T-Shirt zu einer beigen Leinenhose. »Ja, bitte?«
»Carla Stach, Kriminalpolizei, das ist mein Kollege Maik Frosch. Könnten wir bitte für einen Moment hereinkommen?«
Carla fragte sich, ob Dr. Arning Maik erkannte, schließlich war dessen Tochter bei ihm in Behandlung. Aber es machte nicht den Eindruck.
Der Arzt führte Carla und Maik ins Wohnzimmer, wo noch die Reste eines Frühstücks auf dem Tisch standen. Eine riesige Fensterfront zeigte zu einer Terrasse mit Blick auf den Ruppiner See. Die Terrassentür war weit geöffnet, frische Luft und Stimmengewirr drangen herein.
»Bitte nehmen Sie Platz, ich hole nur rasch meine Frau«, sagte Dr. Arning.
Carla und Maik setzten sich in eine Wohnlandschaft, während Dr. Arning seine Tochter an die Hand nahm und aus dem Raum führte. Ein paar Sekunden später kam er ohne Mala und in Begleitung seiner Frau zurück.
Wiebke Arning war recht klein und trug ein enges Top zu einer Jeans. Die Haare waren kurz geschnitten und schwarz gefärbt, auf dem Unterarm prangte ein Tattoo. »Was ist passiert?«, fragte sie besorgt, die Stirn in Falten gelegt.
Sie und ihr Mann setzten sich ebenfalls.
»Wir haben eine traurige Nachricht«, sagte Carla und senkte den Blick. »Es geht um Ihre Tochter Annike. Sie ist tot.«
Carla traute sich kaum, aufzuschauen. Als sie es dennoch tat, sah sie in die versteinerten Gesichter der Arnings. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Sie wurde tot aufgefunden«, sagte Maik betreten. »In Ihrer Laube. Heute früh.«
Plötzlich schrie Frau Arning so laut auf, dass Carla zusammenzuckte, dann schossen ihr Tränen in die Augen.
Dr. Arning sackte schluchzend in sich zusammen.
Die Mutter weinte so verzweifelt, dass die kleine Mala aus dem Zimmer nebenan gestürzt kam, sich an die Mutter kuschelte und ebenfalls herzzerreißend weinte.
Maik stand auf, holte aus einer offenen Küche drei Gläser mit Wasser und stellte sie auf den Wohnzimmertisch.
Carla war so mitgenommen von der Trauer, dass auch ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. Normalerweise reagierte sie bei der Überbringung der Todesnachricht nicht derartig betroffen. Doch dass Toni ein solches Leid über die kleine Familie gebracht haben sollte, bestürzte sie.
Maik bemerkte ihren Schmerz und berührte sie tröstend an der Schulter, als er sich wieder setzte.
Dr. Arning fand seine Fassung noch vor seiner Frau wieder. »Was ist denn passiert?«, fragte er mit tränenerstickter Stimme.
Carla wischte sich die Augen mit einem Taschentuch trocken. »Annike wurde erdrosselt«, sagte sie.
»Um Gottes willen … Wurde sie …?« Wahrscheinlich wollte der Vater wissen, ob Annike vergewaltigt worden war.
»Es sieht nicht danach aus«, sagte Carla. Eigentlich hätte sie antworten müssen: Wir wissen es nicht, nur die rechtsmedizinische Untersuchung kann eine Vergewaltigung feststellen. Aber Carla hatte nicht den Mut, ehrlich zu sein. Sie wollte den Vater beruhigen – und vor allem sich selbst. Die Vorstellung, dass sich Toni womöglich an Annike Arning vergangen hatte, war so entsetzlich, so abscheulich, dass Carla den Gedanken sofort beiseiteschieben musste.
»Wir haben in der Laube ein Halstuch mit einem Pferdemotiv gefunden«, sagte Maik, ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um die Tatwaffe handelte. Je weniger Informationen nach außen drangen, desto besser.
»Das gehört meiner Frau«, sagte Dr. Arning, während Wiebke Arning noch immer laut weinte. »Es hängt neben dem Bett.«
Dann musste es sich der Täter gegriffen haben, um Annike damit umzubringen, dachte Carla. Womöglich im Affekt.
Wiebke Arning fasste sich allmählich. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch, dann wurde es ruhiger im Zimmer.
Carla wünschte sich, dass es Maik wäre, der fragte, mit wem Annike Arning den gestrigen Abend verbracht hatte. Sie befürchtete, dass Angst, Sorge und Scham aus ihrer Stimme herauszuhören wären. Doch Maik machte keine Anstalten. Schließlich hatte sie noch eben im Auto darauf bestanden, die Befragung leiten zu wollen.
»Wissen Sie, mit wem Ihre Tochter gestern Abend zusammen war?«, fragte sie, darum bemüht, ihre Worte selbstsicher klingen zu lassen. Es hatte einigermaßen funktioniert.
»Mir hat sie erzählt, dass sie zu Kris wollte, ihrer besten Freundin«, sagte Wiebke Arning. »Es hat wohl eine Party gegeben, und Annike hat dort übernachten wollen. Deshalb verstehe ich gar nicht, was sie in der Laube zu suchen hatte.«
Es war die gleiche Ausrede, die auch Toni benutzt hatte, dachte Carla.
»Hatte Ihre Tochter einen Freund?«, fragte Maik, und zu Carlas Erleichterung schüttelten die Eltern den Kopf.
»Jedenfalls nicht dass wir wüssten«, sagte die Mutter. »Annike erzählt uns nicht mehr viel, leider.«
»Es gibt eine Zeugin«, fuhr Maik fort, und Carla spürte wieder dieses flaue Gefühl im Magen. »Sie will einen jungen Mann beobachtet haben, der die Laube am Morgen verlassen hat. Er ist circa sechzehn, siebzehn Jahre alt, hat eine sportliche Figur, schulterlange dunkle Haare und braune Augen. Fällt Ihnen dazu jemand ein? Wahrscheinlich haben Annike und er die Nacht zusammen verbracht.«
Carla blickte nach unten. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass sich die Eltern ratlos anschauten.
»Nein, dazu fällt mir niemand ein«, sagte Wiebke Arning, und Carla atmete auf.
Zugleich fragte sie sich, wie es sein konnte, dass die Eltern rein gar nichts von Toni und Annike wussten. Doch Carla und Kathrin waren ja auch nicht über die beiden im Bilde gewesen.