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Der Krieg mit Pirinkar scheint kaum noch aufhaltbar zu sein, und dem Orden steht nach 3 Jahrhunderten des Friedens die erste Bewährungsprobe bevor. Das Versprechen, den Westlichen Territorien gegen den nördlichen Nachbarn beizustehen, wird zeigen, ob die abgeschiedenen Bemühungen zur Erhaltung von militärischem Können der Realität tatsächlich standhalten können. Wenngleich der Feind kaum über magische Angriffsmöglichkeiten verfügt, birgt sein technischer Fortschritt doch eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Eryn ringt unterdessen mit sich, ob sie es über sich bringen wird, in einer Auseinandersetzung Leben zu vernichten und damit alles zu verraten, wofür sie ausgebildet wurde. Und auch Enric, dessen Loyalität noch nie so stark auf die Probe gestellt wurde wie bei der Aussicht darauf, seine Gefährtin in einen Krieg führen zu müssen, kämpft mit seinen Dämonen.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum
Kapitel Eins - Wieder Zuhause
Kapitel Zwei - Erste Vorbereitungen
Kapitel Drei - Ein Exempel
Kapitel Vier - Ein Test
Kapitel Fünf - Täuschung der Massen
Kapitel Sechs - Die Gebirgsbarriere
Kapitel Sieben - Feindesland
Kapitel Acht - Verwüstung
Kapitel Neun - Experimente
Kapitel Zehn - Ruf zu den Waffen
Kapitel Elf - Takhan
Kapitel Zwölf - Gefahr aus der Wüste
Kapitel Dreizehn - Feindkontakt
Kapitel Vierzehn - Köder und Fallen
Kapitel Fünfzehn - Ein schwerer Schlag
Kapitel Sechzehn - Nach der Schlacht
Kapitel Siebzehn - Ein mächtiger Schutzwall
Kapitel Achtzehn - Verschollen
Kapitel Neunzehn - Durch die Wüste
Kapitel Zwanzig - Wiedersehen in der Wüste
Kapitel Einundzwanzig - Im Angesicht des Feindes
Kapitel Zweiundzwanzig - Alles umsonst
Kapitel Dreiundzwanzig - Eine unangenehme Rückkehr
Kapitel Vierundzwanzig - Schlacht um Takhan
Kapitel Fünfundzwanzig - Das Ende einer langen Nacht
Erstveröffentlichung Juli 2022
1. Auflage
Copyright © 2022
Astrid Donaubauer-Grobner
Waltenhofengasse 3/3/3302
1100 Vienna, Austria
Die Autorin online:
www.ac-donaubauer.com
www.facebook.com/acdonaubauer
Cover: Biserka Design
Originaltitel: Crossing Swords - The Order: Book 8
Aus dem Englischen übersetzt von Astrid Donaubauer-Grobner
Lektorat: Jürgen Donaubauer
Korrekturen: Hilde Ohrlinger
ISBN 978-3-904142-27-4
KAPITEL EINS
Sobald das Schiff am Pier der königlichen Stadt Anyueel vertäut und der Landungssteg positioniert war, ging König Folrin ohne viel Aufhebens von Bord. Sein Ärger jedoch, der seinen Schritten eine gewisse Energie und seiner Miene mehr als nur einen Hauch von Grimmigkeit verlieh, war unverkennbar.
Königin Del'na'bened, nunmehr in festlicheren Gewändern als in ihrer Reisekleidung, die sie noch vor einer Stunde getragen hatte, folgte ihm eilig.
Vern, Junar, Téa und Temina verfolgten überrascht, wie das königliche Paar auf die wartende Kutsche zuschritt, ohne ihre Umgebung auch nur eines Blickes zu würdigen.
“Folrin, das war doch nicht ihre Absicht”, schnappten sie die Worte der Königin auf, die ihren Gefährten zu beruhigen versuchte.
Jede erkennbare Wirkung auf ihn blieb aus. Seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst, trat er lediglich zur Seite, um seine Gefährtin als Erste in das Gefährt einsteigen zu lassen. Dann warf er Eryn, die gerade den Pier betrat, einen letzten vernichtenden Blick zu, bevor er - ohne dafür auf den Kutscher zu warten - die Tür nachdrücklich hinter sich schloss, um sich von ihr fort und zu seinem Palast bringen zu lassen.
Eryn atmete aus und umklammerte Vedrics Hand um sicherzugehen, dass er nicht auf die wartende Gruppe zulaufen konnte. Es war ihm nicht erlaubt zu laufen, wenn die Gefahr bestand auszurutschen oder zu stolpern und im Fluss zu landen. Doch das pflegte er jedes Mal zu vergessen, wenn er jemanden erblickte, den zu begrüßen er ganz erpicht war.
Enric und Orrin folgten ihr. Orrins gesamte Haltung veränderte sich mit jedem Schritt, mit dem er die Distanz zwischen sich und seiner Familie, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, verringerte. Und doch versäumte er nicht, als Vorbild aufzutreten, so wie es von ihm erwartet wurde. Daher nahm er davon Abstand, auf sie zuzulaufen wie er es vorgezogen hätte. Nein, er bewegte sich lediglich raschen Schrittes auf sie zu und demonstrierte so den beiden Kindern, dass auf einem Pier nicht gerannt werden durfte, während sein Blick fest auf Junar und das Mädchen an ihrer Seite gerichtet blieb.
Eryn spürte, dass sie nun, wo der König fort war und sie für den Moment von seiner Theatralik verschont blieb, unbeschwerter atmen konnte. Den gesamten vergangenen Tag über war er absolut unausstehlich gewesen. Wie konnte ein Mann, der ein ganzes Land zu regieren hatte, dermaßen zimperlich sein?
Sie beobachtete, wie Orrin endlich die wartende Gruppe erreichte und Junar in einer stürmischen Umarmung an sich zog. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als sie ihn an sich drückte und ihr Gesicht in seinem Hals vergrub. Ihnen blieben nur wenige Sekunden, um ihre Wiedervereinigung ungestört zu genießen, bevor das Mädchen neben ihnen am Hemd ihres Vaters zupfte, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. Orrin hob sie mit einer schwungvollen Armbewegung hoch, dann setzten sie die Umarmung zu dritt fort.
Vern beobachtete die Szene lächelnd. Dann wandte er sich um und blickte Eryn, Enric und Vedric entgegen.
“Willkommen zurück”, grüßte er sie, dann nickte er mit dezent resignierter Miene in Richtung des Schiffsrumpfs. “Würdest du mir wohl erklären, warum im Rumpf dieses Schiffs ein Loch klafft? Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, warum der König dermaßen pikiert ist?”
Eryn drehte sich in die Richtung, in die er deutete, und betrachtete die mächtige Lücke, die vom blassblauen Schimmern eines magischen Schildes überzogen war. Sie ermöglichte einen ungehinderten Blick in den Schiffsbauch. Kein alltäglicher Anblick. Was auch der Grund war, weshalb mehr und mehr Passanten anhielten um zu gaffen.
Temina grinste und nickte ihrer Tante zu. “Das warst du, nicht wahr? Die Königin hat so etwas erwähnt, glaube ich.”
Vedrics Gesicht wandelte sich zu einer Maske vorgetäuschten Entsetzens, doch das Glänzen in seinen Augen verriet ihn. “Es war entsetzlich! Ich habe geschlafen, und dann war da dieser wirklich, wirklich laute Knall! Und dann war überall Wasser! Alles war nass und kalt und alle haben geschrien und sind herumgelaufen!”
Eryn verzog das Gesicht. “Es gab da ein winziges Missgeschick.” So hatte sie sich ihre Rückkehr hierher wahrlich nicht vorgestellt - dass sie ihren jüngsten Akt der Zerstörung rechtfertigen musste.
Vern schnaubte und besah sich den Schaden erneut. “Winzig? Das Loch ist unschwer so groß wie ich! Ich bin nicht sicher, ob ich froh sein soll, dass ich nicht auf dem Schiff war und um mein Leben fürchten musste, oder ob ich es bedauern soll, dass mir dieses zweifellos beispiellose Spektakel entgangen ist.” Schließlich trat er auf sie zu. “Aber zuerst lass mich dich ordentlich begrüßen.” Er umarmte sie und fuhr fort: “Ganz egal, was du wieder angestellt hast, ich bin froh, dass du zurück bist.”
Temina begrüßte inzwischen ihren Onkel. Ihre Augen nahmen sein Gesicht in sich auf, und sie runzelte verwirrt die Stirn. “Enric, du siehst… verändert aus”, beendete sie den Satz etwas hilflos, da sie es nicht vermochte, die Veränderung auf den Punkt zu bringen.
Vern löste sich von Eryn und musterte Enric kurz. “Du hast ein wenig an Gewicht verloren. Und die Linien um deine Augen und auf deiner Stirn sind etwas tiefer als ich sie in Erinnerung habe”, analysierte er mit der Zügigkeit eines ausgebildeten Heilers. “Was ist dir widerfahren?” Er nickte zum Schiff hin. “Ich nehme an, dahinter steckt etwas mehr als das, was sie als ihr winziges Missgeschick bezeichnet?”
Eryn seufzte. Also hatte sich Enrics Entführung in Pirinkar noch nicht weit genug verbreitet, um in Anyueel allgemein bekannt zu sein. Aber das war nur eine Frage der Zeit - in Takhan wussten zu viele Leute darüber Bescheid, und es gab zahlreiche formelle und informelle Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder. Das bedeutete, es würde nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben.
“Reden wir doch später darüber, ja?”, schlug sie vor, als Orrin sich gerade von seiner Gefährtin und seiner Tochter löste. Sein Gesichtsausdruck war weicher, so als hätte die Wiedervereinigung mit seiner Familie ihn um eine schwere Bürde erleichtert.
Eryn lächelte Junar an und wollte für eine Umarmung auf sie zugehen, doch die Worte der anderen Frau ließen sie mitten im Schritt innehalten.
“Du kehrst also wieder zurück - das Schiff in Trümmern, der König zornig und drei Länder im Krieg miteinander”, schleuderte ihr die Schneiderin ohne jede Vorwarnung entgegen, während ihre Stimme bebte. “Ich schätze, ich sollte dankbar sein, dass zumindest mein Gefährte unversehrt zurück ist.”
“Junar, das ist nicht fair”, erwiderte Enric ruhig. Er widerstand dem Impuls, Eryn seinen Arm um die Schultern zu legen. Damit würde er den Eindruck erwecken, sie wäre zu ihrer Verteidigung auf ihn angewiesen. Nun, zumindest noch mehr als seine Worte es ohnehin bereits nahelegten. “Aber das ist kaum ein geeigneter Zeitpunkt, um über das zu sprechen, was dir so viel Kummer bereitet. Wir sind gerade erst angekommen und würden gerne nach Hause zurückkehren, auspacken und uns dann etwas ausruhen.”
“Es ist nicht fair, dass du so etwas zu meiner Mutter sagst!”, pflichtete Vedric bei, verstummte aber auf den warnenden Blick seines Vaters hin. Es schien als wäre dies eine weitere dieser Situationen, wo es nur in Ordnung war, wenn ein Erwachsener etwas aussprach, nicht aber, wenn er das tat.
Orrin wirkte ebenfalls, als wollte er etwas loswerden, doch er besann sich eines Besseren. Er brachte es nicht über sich, seine Gefährtin für ihre harschen und wenig gerechtfertigten Worte zu schelten, nachdem er gerade erst zu ihr zurückgekehrt war.
“Ich denke, wir werden ebenfalls heimkehren”, verkündete der Krieger und nahm Junar und Téa jeweils an einer Hand.
Die kleine Familie ging auf die wartende Kutsche zu und war kurz darauf fort.
“Was hat sie denn für ein Problem?”, fragte Temina ungläubig und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter dorthin, wo sich Junar noch vor ein paar Augenblicken befunden hatte. “Ich meine, du bist gerade erst vom Schiff gekommen! Und es ist nicht deine Schuld, dass Orrin in Takhan festgesessen ist! Ich dachte, sie sei deine Freundin!”
Vern fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete: “Die Zeit ohne Vater war schwierig für sie. Sie hat ihn sehr vermisst. Und sie hat um sein Leben gefürchtet, besonders nachdem sie von dem Angriff auf Malriels Haus gehört hat. Und dass Téa immer schwieriger zu kontrollieren war, hat auch nicht gerade geholfen. Ihr Verhalten hat sich beträchtlich verbessert, nachdem Vater mit ihr zu trainieren begonnen hatte. Als er dann nicht mehr hier war, um ihr Grenzen zu setzen und Zeit mit ihr zu verbringen, ist sie wieder zu einigen ihrer vorherigen, weniger angenehmen Verhaltensweisen zurückgekehrt.”
Eryn seufzte, als sie zu verstehen begann. “Und für all das gibt sie mir die Schuld. Weil es meine Mutter war, die nach Orrin verlangt hat, um meinen Sohn zu beschützen.”
Vern wirkte gepeinigt, hin und her gerissen, die Gefährtin seines Vaters zu verteidigen und zuzugeben, wie irrational ihre Attacke auf Eryn gewesen war.
“Möglicherweise. Bis zu einem gewissen Grad. Obwohl sie weiß, dass du nicht wirklich daran Schuld bist - du hast nie darum gebeten, dass man euch nach Pirinkar schickt. Und wenn wir uns ansehen, wie sich die Dinge entwickelt haben, war es gut, dass Vater dort war, um Vedric zu beschützen. Sie hat nicht wirklich über ihre Worte nachgedacht. Sie musste nur irgendwie ihre Frustration loswerden.” Er räusperte sich und deutete auf das übel zugerichtete Schiff, bestrebt, das Thema zu wechseln. “Ich würde wirklich gerne wissen, wie das passiert ist. Warum hast du ein Loch in das Schiff gesprengt?”
“Tatsächlich war Enric derjenige, der das getan hat”, erwiderte sie müde. “Aber ich war sozusagen der Auslöser. Warum kommt ihr beiden nicht mit zu uns auf ein Getränk?”
* * *
Enric atmete aus und genoss den Akt des Schließens der Tür zu seinem Heim, mit dem er die Außenwelt aussperrte und nur jenen Zutritt zu seinem privaten Reich gewährte, deren Anwesenheit er dort auch wirklich schätzte. Für den Augenblick gab es keine Anordnungen, denen er sich zu beugen hatte - keine Befehle des Königs, keine Vorladung von Tyront. Sie waren einfach nur eine normale Familie, die von einer eher erschöpfenden Reise zurückkehrte. Mit dem König und der Königin. Auf einem Schiff, das beinahe in Stücke gesprengt worden war. All das dehnte den Begriff der normalen Familie womöglich etwas zu sehr.
Vern und Temina traten direkt hinter ihnen ein und stießen einen zufriedenen Seufzer aus, als wären sie ebenfalls gerade nach mehreren Monaten Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt.
Enric tauschte einen amüsierten Blick mit seiner Gefährtin.
Vedric kämpfte mit seinen Schuhbändern, schleuderte die Schuhe von seinen Füßen, ließ seinen Umhang zu Boden fallen und sauste dann zu den Stufen und in sein Zimmer hinauf.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, während sein Vater die Unordnung beseitigte, die der Junge hinterlassen hatte.
Ungebeten, doch in dem Vertrauen, dass dies hier so etwas wie sein drittes Zuhause war - zusätzlich zu seinem Quartier und dem seines Vaters - ließ Vern sich auf ein Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich als Signal für Temina.
Mit Interesse bemerkte Eryn, wie das Mädchen zu ihm ging und der Einladung ohne das geringste Zögern folgte. Diese beiden jungen Menschen fühlten sich wohl miteinander wesentlich wohler als noch vor ein paar Monaten, und sie fragte sich, welcher Natur ihre Beziehung wohl war. Freunde? Bettgenossen? Irgendetwas dazwischen? Das war der Nachteil dabei, wenn man für so lange Zeit fort musste - es entging einem so viel von dem, was vor sich ging, aber nicht spektakulär genug war, um es in einer Nachricht zu erwähnen. Es war ein wenig als müsste sie die Leute in ihrem Leben neu kennenlernen.
Was auf jeden Fall mehr als zutreffend war, wenn sie an ihre kurze, aber erschütternde Begegnung mit Junar dachte.
“Was möchtet ihr trinken?”, fragte Enric, während er an den Barschrank trat und nahtlos in die Rolle des aufmerksamen Gastgebers schlüpfte.
Vern bat um ein Glas Wein, und ebenso Temina, wenn auch mit einer etwas übertriebenen Lässigkeit, die nahelegte, dass sie darauf wartete, ob man ihrem Wunsch nachkommen würde.
Enric spitzte die Lippen. “Weiß deine Großmutter, dass du Alkohol trinkst?”
Seine Nichte seufzte, und ihre Schultern sanken ein wenig ein. “Nein.”
Eryn spürte seine Belustigung durch das Geistesband, wenngleich auf seinem Gesicht keine Spur davon erkennbar war.
“Ich verstehe.” Er nickte. “Und würde sie das gutheißen?”
“Dass du überhaupt fragen musst zeigt sehr deutlich, dass sie nicht diejenige war, die dich großgezogen hat, als du alt genug warst, um dich für Alkohol zu interessieren”, knurrte Temina.
Enric gab vor, einen Moment lang nachzudenken. “Ich schätze, aufgrund deiner Ehrlichkeit kann ich dir ein wenig Nachsicht zeigen.”
“Wo ist übrigens Plia?”, fragte Eryn, während Enric vier Gläser Rotwein einschenkte. “Normalerweise begrüßt sie uns am Pier.”
“Sie arbeitet”, antwortete Vern. “Wo sollte sie wohl sonst sein? Ich glaube, sie unterrichtet heute die neuen Apotheker.”
“Also eifrig wie eh und je. Wie sieht es mit dir aus? Jetzt, wo du wieder zum Heilen zurückgekehrt bist, hoffe ich nicht, dass du entdeckt hast, dass dir das Reinigen der Pferdeställe und Böden mehr Spaß macht als dein alter Beruf.”
Der junge Mann schnaubte und nahm das Glas entgegen, das Enric ihm reichte. “Ganz gewiss nicht! Obwohl Lord Poron es mir nach meiner Rückkehr nicht gerade leicht gemacht hat. Ich habe mehr als meinen Anteil an weniger beliebten Schichten abbekommen. Aber ich beklage mich nicht”, fügte er hastig hinzu.
Sie hoben ihre Gläser.
“Auf die Familie”, sprach Enric und hob das seine.
Die anderen drei lächelten und wiederholten seine Worte.
“Also”, begann Vern nach seinem ersten Schluck, “du hast versprochen, das Geheimnis hinter dem zerstörten Schiff zu lüften.”
“Zerstört”, wiederholte Eryn verächtlich und winkte ab. “Das ist doch bloß ein Kratzer.”
“Ich konnte hineinsehen!”, rief Temina aus. “Das Schiff ist ruiniert! Was ist passiert? Ihr wurdet doch nicht angegriffen, oder?”
Eryn rieb sich über die Stirn und nahm auf einem der Stühle Platz. “Nein, nicht wirklich. Es war ein Unfall.” Sie atmete aus und fragte sich, wo sie mit ihrer Erzählung beginnen sollte. “Ihr wisst, dass wir nach Pirinkar geschickt wurden.”
Beide nickten.
“Enric und ich waren… eine Zeitlang getrennt. Das hat zu der Entdeckung geführt, dass wir anscheinend dazu in der Lage sind, Magie durch unser Geistesband zu schicken”, fuhr sie fort und verschwieg sorgsam alles, worüber sie derzeit nicht wirklich sprechen wollte. “Allerdings kann keiner von uns sagen, wie das genau funktioniert. Als wir also auf dem Schiff waren und drei Tage lang nichts Besseres zu tun hatten als die Wellen anzustarren…”
Vern zog die Augenbrauen hoch. “Da dachtest du, du könntest die Zeit ebenso gut für ein paar Experimente nutzen? Obwohl der König und die Königin an Bord waren?”
“Nun, ja. Ich hatte nicht wirklich mit einem dermaßen dramatischen Resultat gerechnet”, verteidigte sie ihre unglückselige Entscheidung.
Der junge Mann sah zu Enric. “Und du hattest dazu überhaupt nichts zu sagen?”
“Ich wurde nicht konsultiert”, erwiderte er mit einem Seitenblick auf seine Gefährtin.
“Was bedeutet das Loch im Schiff nun?”, erkundigte sich seine Nichte. “Hat es funktioniert oder nicht?”
“Sagen wir einfach, wir haben etwas Neues gelernt, wenn auch nicht ganz so viel wie erhofft”, versuchte Eryn es auf neutrale Weise zu formulieren.
“Jetzt sag schon, wie ist es passiert? Das ist ja wie Zähne ziehen!”, beklagte sich Vern und zeigte erste Anzeichen von Ungeduld.
“Es war spät in der Nacht”, begann Eryn, “und außer der Mannschaft war ich die Einzige, die noch wach war. Ich habe einige Zeit damit verbracht, aufs Meer hinauszuschauen und nachzudenken. Es muss um Mitternacht herum gewesen sein, als ich zu überlegen begann, ob ich das, was oben in Pirinkar passiert ist, wohl wiederholen könnte. In kleinerem Maßstab. Also habe ich die Augen geschlossen und mich konzentriert. Ich dachte, ich müsste es bemerken, falls es funktioniert, weil Enric davon aufwachen würde. Nach einigen misslungenen Versuchen begannen meine Gedanken abzudriften zu… Dingen, die in Kar passiert sind. Erschütternde Dinge. Meine Vermutung ist, dass ich ein wenig eingeschlafen bin und meine dabei Gedanken irgendwie auf dem gleichen Pfad geblieben sind. So haben sich wohl aus meinen vorhergehenden Überlegungen recht unangenehme Träume ergeben. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand über meine Beine gestolpert ist, und dieser unerwartete Zwischenfall in Kombination mit dem, was während des Schlafens in meinem Gehirn vorging, muss vollbracht haben, was ich in wachem Zustand nicht geschafft habe.”
“Was bedeutet, du hast irgendwie deine Magie an Enric geschickt?”, fragte Vern mit ungläubiger Miene. “Ich wusste nicht einmal, dass euer Geistesband so etwas kann! Es hat also funktioniert?”
“Sagen wir lieber, es gab einen unübersehbaren Effekt”, warf Enric ein. “Zu behaupten es hätte funktioniert wäre ein wenig zu hoch gegriffen, da es keine bewusste Bemühung war, die sich beliebig wiederholen ließe. Und vergessen wir nicht das gigantische Loch in der Schiffshülle. Das ist nicht gerade meine Vorstellung von Erfolg.”
“Enric hat meine Magie empfangen”, fuhr Eryn fort, “allerdings hat er zu dem Zeitpunkt geschlafen und war somit nicht wirklich in der Lage, sie zu kontrollieren. Also… kam sie einfach aus ihm heraus.” Sie untermalte ihren letzten Satz mit einer Handbewegung, die eine Explosion darstellen sollte.
“In Form eines Blitzes, der das Schiff getroffen hat”, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.
Vern erschauderte, als er sich das vorstellte. “Das muss ein böses Erwachen gewesen sein. Zum Glück hast du lediglich die Schiffshülle getroffen und keine Person.”
“Vedric hat auf der Pritsche gegenüber von mir geschlafen. Aber der Blitz hätte ihn nicht verletzt. Zumindest nicht stark. Er war mächtig genug, um Holz zu durchschlagen, hätte ihn aber nur umgeworfen. Der menschliche Körper kann magische Attacken recht gut wegstecken.”
“Ich weiß”, seufzte Vern. “Ein Großteil davon zerstreut sich entlang der Haut. Du erinnerst dich, dass ich sowohl ein Magier als auch ein Heiler bin?”
Eryn grinste, zufrieden, dass zur Abwechslung einmal jemand anderer als sie selbst die Aufmerksamkeit auf seine Tendenz zum übermäßigen Erklären lenkte.
Temina lehnte sich fasziniert vor. “Da muss dann aber eine Menge Wasser ins Schiff gelaufen sein, wenn ich an die Position des Lochs denke”, schlussfolgerte sie.
“Das stimmt”, bestätigte Enric. Noch einmal durchlebte er die fürchterlichen Sekunden, deren Beginn ein heftiger Schwall Wasser ins Gesicht gewesen war nur eine Sekunde nachdem die Magie, die aus ihm herausgebrochen war, ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. “Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was vor sich ging, und in der Zwischenzeit war das Wasser in der Kabine knietief, und die Hülle hatte begonnen, Planke für Planke wegzubrechen. Der Mannschaft war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Einerseits war da der Knall meines Blitzes gewesen, und dann begann das Schiff zu kippen.” Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. “Alle begannen herumzulaufen und zu schreien. Es war das reinste Chaos.”
“Ihr seht also - ein Missgeschick”, betonte Eryn einmal mehr. “Es ist nicht einmal passiert, während ich bewusst damit experimentiert habe, sondern erst hinterher. Ich sehe also nicht, weshalb der König mir die Schuld dafür gibt.”
“Ach nein?”, fragte Vern. “Normalerweise fließt keine Magie zwischen euch beiden, wenn ihr schlaft, also musst du irgendwas getan haben.”
“Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich habe den letzten Tag an Bord damit verbracht, darüber nachzudenken.” Ihre Miene verfinsterte sich. “Dafür hatte ich eine Menge Zeit - weder der König noch die Mannschaft waren nach dem Vorfall besonders erpicht darauf, mit mir zu reden. Die Königin hat versucht, ihn zu besänftigen, aber ich habe gesehen, dass sie ebenfalls erschüttert war.”
“Unglaublich”, staunte Vern, “wie du es immer wieder schaffst, Dinge auf die spektakulärste Art und Weise zu zerstören. Zuerst die Senatshalle, und jetzt das Schiff mit dem König und der Königin an Bord…”
“Und eine Gebirgsfestung, die in massives Gestein gehauen war, wo sie gerade dabei war…”, murmelte Enric und nahm einen großen Schluck von seinem Glas.
Temina und Vern blickten ihn beide an als versuchten sie herauszufinden, ob er zu scherzen beliebte.
“Das ist Unsinn”, entschied der junge Mann schließlich, “niemand kann so etwas zerstören.”
Enric lächelte matt. “Willst du wetten?”
* * *
“Du hast eine Bergfestung zerstört”, murmelte Vern. Einen Tag später dachte er noch immer fassungslos an das, was Enric ihm mit Hilfe dieses raffinierten kleinen Tricks aus Pirinkar gezeigt hatte. “Du hast sie vollkommen vernichtet? Wie? Ich meine… wie?”
Eryn, die die letzten paar Schritte zur Klinik neben ihm zurücklegte, zuckte mit den Schultern. “Es war eine Art Eingebung. Ich bin einfach… mit dem Gestein unter mir in Kontakt getreten und mit meiner Magie darin eingetaucht, dann hat es mir gewissermaßen gezeigt, was zu tun ist.”
Vern bedachte sie mit einem skeptischen Blick, als hätte sie sich nun vollständig von ihrem Verstand verabschiedet. “Du hast dich mit den Steinen unterhalten? Und sie haben geantwortet?”
Vor der Eingangstür hielt sie inne. “Es klingt verrückt, wenn du es so ausdrückst. Ich bin nicht irre. Es war als hätte ich gespürt, was unter mir liegt, die unterschiedlichen Schichten übereinander, die Art und Weise, wie sie sich um mich herum ausgedehnt und gekrümmt haben… Was so eindrucksvoll aussieht, wenn Enric seine Erinnerungen projiziert, ist kein Kraftakt oder der Einsatz von brachialer Stärke. Es ist ein kleiner Anstoß mit einer unglaublich mächtigen Auswirkung. Ich habe lediglich Magie an einer der Schichten entlang geschickt und sie dort an die Oberfläche treten lassen, wo ich sie gebraucht habe - und damit die Struktur des Gesteins minimal verändert, damit es sich ausdehnt. Der Fels wurde formbar und war damit kein stabiler Untergrund mehr. Und plötzlich war diese Monstrosität von einer Festung in einer Wolke aus grauem Staub verschwunden.”
Verwundert schüttelte der junge Mann den Kopf. “Wie entdeckst du sowas bloß immer wieder? Niemand außer dir käme auf den Gedanken, Gesteinsschichten zu untersuchen, um etwas dem Erdboden gleichzumachen. Jeder andere würde einfach nur eine Menge Magie in Form von Blitzen loslassen.”
“Das würden Krieger tun. Und es wäre dämlich gewesen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich dafür ohnehin zu weit entfernt gewesen wäre, hätte es selbst bei einem starken Magier eine Ewigkeit gedauert, eine Struktur aus massivem Fels zu zerschlagen. Man hätte Stück für Stück von außen abtragen und mit jedem Blitz ein paar Brocken ablösen müssen. Selbst wenn Enric und Lord Tyront gemeinsam an die Sache herangegangen wären, wären sie nach kaum mehr als einer Stunde vollkommen erschöpft gewesen.”
“Und dann diese Sache mit dem Geistesband… Du hast gesagt, ihr wurdet in Pirinkar getrennt - warum? Hat das irgendetwas mit Enrics Veränderung zu tun?”
Eryn zwang sich, ihr Unbehagen mit einem Lächeln zu kaschieren. Da gab es so Vieles, das sie ihm nicht erzählen konnte, Dinge, von denen sie wusste, dass sie zuerst bei Tyront nachfragen musste, ob jemand davon erfahren durfte. So wie Enrics Entführung, die Tatsache, dass sie sich im Krieg befanden, oder sogar das Geheimnis der Kampftechnik der Bendan Ederbren, über das sie gestolpert war.
Sie war mehr als nur ein wenig überrascht, dass Enric Vern nicht nur seine neue Fähigkeit zum Projizieren von Bildern auf einen magischen Schild demonstriert, sondern ihm auch die Herangehensweise erklärt hatte - ohne vorher den Orden zu Rate zu ziehen.
Das war ungewöhnlich für einen Mann, der den Großteil seines Lebens hinweg gewisse Fertigkeiten für sich behalten hatte, um sich so in diesem Sumpf aus Magiern, Politikern und Spionen einen Vorteil zu sichern. Es schien, als hätte ihre eigene Herangehensweise im Umgang mit Wissen - als etwas, das mit dem Teilen wuchs - begonnen, auf ihn abzufärben.
“Ich fürchte, darüber kann ich dir noch nichts erzählen”, meinte sie, ihr Ton bedauernd, als sie zu der Unterhaltung zurückkehrte.
Eryn wollte gerade die Tür zur Klinik aufstoßen, da hielt er ihre Hand fest und sah sich prüfend um, ob sich jemand in der Nähe befand, bevor er flüsterte: “Es gibt Gerüchte, dass wir uns im Krieg befänden. Ich nehme an, darüber kannst du mir auch nichts sagen?”
“Ich fürchte, das kann ich nicht”, bestätigte sie, nickte ihm aber kaum merklich zu.
Er verstand und schluckte mit leicht geweiteten Augen. Die Bestätigung seines Verdachts beunruhigte ihn sichtlich.
Sie betraten das Gebäude, und es dauerte kaum länger als zwei Minuten, bis sich die Kunde von Eryns Rückkehr in der gesamten Klinik verbreitet hatte. Sie wurde willkommen geheißen, umarmt, nach dem Treiben im Westen befragt und schaffte es erst nach einer halben Stunde, sich zu befreien.
Die Arbeit kam vor dem Vergnügen, also würde sie Lord Poron aufsuchen, bevor sie an Plias Tür klopfte. Inmitten all der Kollegen hatten sie kaum mehr als ein paar Sekunden gehabt, um miteinander zu sprechen.
Sie hob ihre Faust, um an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen, wartete dann aber noch ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Das war der Tag, an dem sie ihren Ausstieg aus dem Heilen offiziell machen würde. Ganz egal, wie groß die Versuchung war, diese unangenehme Angelegenheit noch einen Tag oder zwei hinauszuschieben. Sie wusste, dass dies die Sache nicht vereinfachen würde. Sie musste es hinter sich bringen, und Lord Poron musste davon erfahren, bevor irgendwelche Pläne ausgearbeitet wurden, um sie in den Schichtplan miteinzubeziehen.
Streng genommen hatte sie bereits das Oberhaupt der Klinik in Takhan darüber informiert. Doch da dieser zufällig auch ihr Vater und der Anlass privater Natur war, zählte es nicht wirklich. Das hier musste offiziell ablaufen.
Der Raum hinter der Tür war derjenige, den sie selbst vor wenigen Jahren als Arbeitsplatz genutzt hatte, bevor der Orden beschloss, dass jemand anderer als sie selbst ihre Klinik führen würde. Mit Lord Poron hatte man durchaus eine gute Wahl getroffen - sie selbst war die Erste, die das zugeben würde. Doch es verblieb dennoch ein winziger Rest an Groll, der daran festhielt, dass es nicht deren Entscheidung hätte sein sollen, sondern allein die ihre. Doch mit individuellen Entscheidungen kam der Orden nicht gut zurecht. Oder zumindest nur, sofern die Person, die die Entscheidungen traf, auch der gesamten Institution vorstand.
Als sie schließlich anklopfte, wurde die Tür sofort geöffnet, und vor ihr stand Lord Poron, der dank verjüngender Heilermagie wesentlich weniger greisenhaft wirkte als er sollte.
“Eryn!”, grüßte er sie herzlich und zog sie in eine Umarmung, bevor er sie einzutreten bat. “Komm doch herein. Ich hatte gehofft, dass du dich heute Morgen ansehen lassen würdest. Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass du zuerst Tyront aufsuchen solltest.” Er lächelte. “Aber diesen Besuch versuchst du nach deiner Rückkehr aus Takhan immer aufzuschieben.” Sobald er die Tür hinter ihr geschlossen hatte und beide saßen, wurde sein Gesichtsausdruck ernst. “Ich bin froh, dass du und Enric wohlbehalten aus dem Norden zurückgekehrt seid. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er entführt und sogar gefoltert wurde.”
Es überraschte Eryn nicht, dass er Bescheid wusste. In Abwesenheit von Eryn und Enric war Lord Poron nach Tyront der höchstrangige Ordensmagier.
“Soweit geht es ihm gut. Nach unserer Rückkehr nach Takhan hat er Iklan konsultiert. Mir ist daraufhin eine beträchtliche Verbesserung seiner Verfassung aufgefallen. Trotzdem schätze ich, dass es immer noch eine Weile dauern wird, bis er diese Erfahrung vollständig aufgearbeitet hat.”
Lord Poron lächelte schwach. “Ich bin froh zu hören, dass er sich an Iklan gewandt hat. Seit ich mich dem Heilen verschrieben habe, beginne ich zu verstehen, dass der Orden jungen Magiern keine allzu gesunde Haltung vermittelt, wenn es darum geht, sich den eigenen Schwächen zu stellen. Wir bringen ihnen bei, sich ihnen entgegenzustellen und sie zu bewältigen - oder wenn sie das nicht vermögen, sie verschwinden zu lassen, indem man ihnen keine Beachtung schenkt. Die Option Hilfe anzunehmen - oder noch schlimmer, sogar darum zu bitten - wurde nie gefördert, da es bedeuten würde, sich selbst jemand anderem gegenüber angreifbar zu machen. Und das widerspräche politischer Strategie.”
Eryn seufzte tief in ihrem Inneren, erwiderte aber nichts darauf. Politische Strategie. Das Thema, die Disziplin oder wie auch immer man es kategorisieren wollte, das ihr am meisten verhasst war. War es nicht großartig, wieder zurück zu sein…
“Es ist wichtig, dass Enric im Vollbesitz seiner Kräfte ist, jetzt, wo wir in einen Krieg eingetreten sind”, fuhr das Oberhaupt der Heiler fort. “Ihr beiden bekleidet nicht nur hohe Ränge im Orden, sondern verfügt auch über wesentliches Wissen über den Feind.”
“Ganz so weit würde ich nicht gehen”, widersprach Eryn und verzog das Gesicht. “Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es wesentlich mehr gibt, das wir nicht über sie wissen.”
Der Feind. Es fiel ihm leicht, diesen Begriff für die Menschen nördlich der Westlichen Territorien zu verwenden. Für ihn waren sie nichts als eine anonyme Masse ohne Gesichter. Für Eryn hatten sie nicht nur Gesichter, sondern auch eine Kultur, ihre eigene Sprache, Tempel, erstaunliche Technologien und waren - und das war das Allerwichtigste - Individuen mit Namen, Berufen, Bedürfnissen und Wünschen. Der Feind war kein Volk; soweit es sie betraf, war es ein einzelner Mann.
“Die Bendan Ederbren sind zweifellos geneigt, ihre Erkenntnisse mit uns zu teilen”, erwiderte Lord Poron, stets der Optimist.
“Ich bezweifle nicht, dass sie willens sind, doch ich frage mich, wie viel sie uns mitteilen können, wenn wir bedenken, dass sie gezwungen waren, ihr gesamtes Leben hinter Tempelmauern zu verbringen”, konterte Eryn.
“Das ist wohl wahr”, nickte der alte Mann, “doch da gibt es noch eine andere Gruppe, die nun seit mehreren Tagen befragt wird, soweit ich das verstehe: jene, die das Lager der Bendan Ederbren attackiert haben. Zumindest die wenigen, die der Wüstenstamm festzusetzen vermocht hat.”
“Die Loman Ergen?”, fragte Eryn und erinnerte sich erst jetzt wieder an die Gefangenen.
“Während ihr auf dem Weg hierher wart, haben wir eine Nachricht aus Takhan erhalten. Es handelte es sich um eine Gruppe von etwa fünfzehn Leuten, doch nur zwei von ihnen sind wahrhaftig Loman Ergen. Beim Rest handelt es sich lediglich um Soldaten, die entsprechend gekleidet waren, um diesen Eindruck zu erwecken.” Er runzelte die Stirn. “Was mich etwas überrascht. Hätte die gesamte Gruppe aus Magiern bestanden, die im Kundschaften ausgebildet sind, hätten sie ohne Zweifel beträchtlich größeren Schaden anrichten oder sogar alle Bendan Ederbren töten können. Warum schickt Etor Gart nur zwei von ihnen?”
Eryn knirschte mit den Zähnen. “Ich habe bisher nur eine kleine Gruppe der Loman Ergen getroffen, doch ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass sie besonders erpicht darauf waren, zum Töten anderer Magier eingesetzt zu werden - sofern das überhaupt auf irgendjemanden zutrifft. Vielleicht konnte er nicht genug von ihnen auftreiben, die bereit waren, auf diese grausige Mission zu gehen.”
Lord Poron nickte langsam. “Ich gehe davon aus, dass Etor Gart Zugeständnisse machen muss, wo er nun einen ganzen Tempel voller Krieger verloren hat. Da es Magiern im Allgemeinen nicht erlaubt war, sich Kampffertigkeiten anzueignen, wird es ihm schwerfallen, sie zu ersetzen. Aber lassen wir dieses Thema. Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, den Krieg in den Ratsversammlungen zu besprechen.” Er schenkte Eryn ein mitfühlendes Lächeln, als sich ihre Miene bei der Erwähnung dieser Leute verdüsterte.
“Der Gedanke erfreut mich doch gleich ganz besonders…”, knurrte sie.
“Dein Vater hat mir geschrieben”, schwenkte er auf ein anderes Thema um. “Er hat erwähnt, dass du zu beweisen versuchst, dass magisches Heilen langfristig schädliche Auswirkungen auf Patienten hat.”
Eryn presste sich Zeigefinger und Daumen auf die Nasenwurzel. “Es ist keineswegs mein Ziel, das zu beweisen - ich will lediglich herausfinden, ob diese Behauptung zutrifft oder nicht. Mir ist jedes Ergebnis recht; ich will nur sicher sein, dass Heiler nicht versehentlich ihre Patienten falsch behandeln. Er ist nicht allzu glücklich über meine Entschlossenheit, in diese Richtung zu forschen. Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen, es zu tolerieren, indem ich an die Triarchie herangetreten bin.”
Der Heiler schüttelte den Kopf. “Ich schätze, niemand könnte dir jemals vorwerfen, dass du deine Familie ungebührlich bevorzugst. Du versäumst es, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu betrachten, Eryn. Er sorgt sich darum, dass der Ruf seiner Heiler Schaden nehmen und die Arbeit, die sie leisten, abgewertet werden könnte.”
“Das weiß ich. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, die Wahrheit herauszufinden.”
“Das bedeutet es keinesfalls”, stimmte er zu. “Doch es mag sich eine etwas weniger… unerbittliche Herangehensweise empfehlen. Ich gehe davon aus, dass du in einem ersten Schritt in den Patientenakten nach wiederkehrenden Krankheiten suchen willst?”
Sie nickte.
“Wenn du denkst, dass die wenigen Jahre, die unsere Aufzeichnungen zurückreichen, dir in deinem Unterfangen helfen könnten, dann kannst du unsere Akten selbstverständlich nutzen. Sie gehen nicht so viele Jahre zurück wie jene in Takhan, wie du weißt, doch vielleicht ist es ein Anfang.”
Eryn lächelte ihn an, während das Gefühl von Zuneigung für ihn in ihrer Brust aufblühte. Er hatte sie noch niemals im Stich gelassen, und sie war zutiefst dankbar und erleichtert, dass er es auch jetzt nicht tat.
“Vielen Dank. Ich glaube, das ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt.”
“Es ist gut, dich zurück zu haben”, merkte er an. “Und auch Vern, obwohl ich noch immer versuche, ihm klar zu machen, dass wir ihm seinen Fehltritt verziehen, ihn aber keineswegs vergessen haben.”
Sie schluckte. Das war es, wovor sie zurückscheute - ihm zu sagen, dass er sie nicht wirklich zurück hatte. Zumindest nicht auf die Weise, wie er es erwartete.
“Ich glaube, Vern hat das durchaus begriffen. Zumindest war das mein Eindruck, als er mir von der Schichteinteilung erzählt hat. Da gibt es noch etwas, das ich bekanntgeben muss.”
Lord Poron zog seine Augenbrauen hoch, als sie zögerte. “Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.”
Sie atmete aus und zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. “Ich werde nicht länger als Heilerin arbeiten.”
Die Augenbrauen ihres Gesprächspartners zogen sich zusammen. “Verzeihung?”
“Ich habe entschieden, dass ich nicht länger in diesem Metier tätig sein kann. Es hängt mit einem Vorfall in Pirinkar zusammen. Ich… ich habe etwas getan, von dem ich geschworen hatte, es niemals wieder zu tun.”
Der Magier betrachtete sie eine Weile, dann nickte er langsam. “Natürlich werde ich deine Entscheidung respektieren, ganz egal, wie sehr ich sie bedaure. Wirst du mir sagen, was dich dazu bewogen hat, das Heilen aufzugeben? Ich möchte versuchen, es zu verstehen.”
Einen Moment lang rang Eryn mit sich, dann nickte sie schließlich. Ihm diese spezielle Tatsache mitzuteilen war aus irgendeinem Grund wesentlich einfacher als bei ihrer Familie. Es war nicht so, dass sie kein Vertrauen in den Rückhalt ihres Vaters hatte; er würde trotz ihrer verwerflichen Tat - dem Bruch ihres Eides - zu ihr stehen. Das Problem war eher, was es ihn kosten mochte. Was sie getan hatte, stand allem entgegen, wofür er stand; es entehrte alles, was er seit Jahrzehnten hochhielt.
Lord Poron war dem Heilen ähnlich stark verbunden, wenngleich er noch nicht ganz so lange darin tätig war. Doch er war auch vom Orden ausgebildet und seit früher Kindheit auf Krieg vorbereitet worden. Er wusste, dass es manchmal keine andere Möglichkeit gab als auf gewisse unliebsame und zuweilen unethische Maßnahmen zurückzugreifen.
Valrad wusste das ebenfalls, doch lediglich in einem Zusammenhang ohne Gewalt, sondern in Verbindung mit politischen Angelegenheiten oder schwierigen Entscheidungen, die das Oberhaupt eines Hauses zu treffen hatte.
Sie holte tief Luft. “Als man Enric entführt hatte, benutzte ich meine Magie und mein Heilerwissen dazu, einen Mann zu foltern, von dem ich vermutete, dass er etwas über seinen Verbleib wusste. Es war…” Sie schloss die Augen. “…einfacher als es hätte sein sollen.”
“Ich verstehe”, erwiderte Lord Poron sanft, in seiner Stimme nicht die geringste Spur von Verurteilung. “Nun, ich bin sicher, dass ein anderer Weg vor dir liegt, meine liebe Eryn. Und wenn wir deine Position im Orden betrachten und deine regelmäßigen Reisen nach Takhan, dann war es ohnehin ein großer Luxus, dich lediglich als bescheidene Heilerin bei uns zu haben. Dennoch werden wir dich enorm vermissen. Du bist nicht nur die erste Heilerin, die wir hier jemals hatten, sondern auch die Gründerin dieser Klinik.”
Sie war unendlich dankbar, dass er keinerlei Versuche startete, sie umzustimmen, sondern ihre Entscheidung und das, was sie diesem Priester angetan hatte, als etwas Unangenehmes aber womöglich Unvermeidliches - oder zumindest Verzeihliches - akzeptierte.
“Malriel hat mich gebeten, Haus Aren zu übernehmen.” Die Worte purzelten ungebeten aus ihr heraus. Es war, als wollte sie ihm versichern, dass eine andere Aufgabe auf sie wartete, wenn sie es wünschte, dass er sich nicht sorgen musste, dass sie verlassen und ohne einen Zweck in ihrem Leben dastehen würde.
Nun wirkte er besorgt. “Und du hast zugesagt? Du beabsichtigst, uns für immer zu verlassen?”
“Ich habe mich noch nicht entschieden. Es ist eine weitreichende Entscheidung, und ich will sie nicht überstürzen.”
Lord Poron stieß den Atem aus und schloss kurz die Augen. “Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen. Doch es war so viel einfacher, auf deine angespannte Beziehung zu Malriel zu vertrauen; und davon auszugehen, dass euch das davon abhalten würde, einen Schritt aufeinander zuzugehen - zumindest nicht in einem Ausmaß, wo sie dir ihr Haus anvertraut und du es tatsächlich in Betracht ziehst. Weiß Tyront schon davon?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Bei Tyront lässt sich schwer sagen, wovon er weiß. Falls er noch nicht davon erfahren hat, vermutet er es womöglich. Ebenso der König, denke ich. Zumindest, seit er erfahren hat, dass ich Vedrics Adoption in Haus Aren vorläufig nicht annulliert habe.”
“Dein Sohn ist Mitglied von Haus Aren?” Dann tippte er sich mit einem Zeigefinger gegen seine Schläfe. “Ah. Eine Vorsichtsmaßnahme vor deinem Aufbruch nach Pirinkar, um ihm den Schutz von Haus Aren zu sichern. Ein gewitzter Zug. Und dass du ihn nicht rückgängig gemacht hast, ist ein recht vielsagendes Signal. Ich würde zustimmen, dass Tyront die Relevanz dahinter erraten wird. Ich empfehle, dass du ihn offiziell von dem Angebot unterrichtest. Und zwar bald. Das ist ein Zeichen von Respekt und gutem Willen. Und es wird ohnehin keine Neuigkeit für ihn sein, sondern lediglich die Bestätigung eines Verdachts, den er bereits hegt.”
Eryn nickte zögernd. Sie war nicht besonders versessen darauf, Tyront davon zu erzählen. Seinen Standpunkt in dieser ganzen Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen. Und wie er darauf reagieren würde, wie sie in Worte kleidete, was er ohnehin bereits vermutete. Wenn sie Glück hatte, würde es lediglich auf gezwungene Höflichkeit hinauslaufen.
Doch Lord Poron hatte Recht - über all dies mit Tyront zu reden würde zumindest die Illusion von Offenheit schaffen.
Ein harsches Klopfen erklang an der Tür, die Lord Porons Arbeitszimmer mit dem seines administrativen Leiters verband, und einen Moment darauf wurde sie ohne Aufforderung geöffnet.
Da war ein kaum hörbares Schnauben, als Lofts Blick auf Eryn landete.
“Ah ja, der Tumult war ein Hinweis darauf, dass Ihr zurückgekehrt sein müsst”, brummte er. “Die Störung aller Ordnung und Disziplin ist in der Regel ein sicheres Anzeichen für Eure Ankunft.”
Eryn bedachte ihn mit einem kühlen Blick. “Und dass die Atmosphäre in wenigen Augenblicken bar jeder Freude ist, ist ein Anzeichen für deine”, schoss sie zurück.
“Ich gehe davon aus, dass ich den Dienstplan für den nächsten Monat umschreiben werde müssen, nachdem Ihr uns wieder mit Eurer Anwesenheit beglückt”, grummelte Loft. “Irgendwelche neuen Anforderungen dieses Mal? Ich genieße es ungemein, Euren eigenwilligen Prioritäten entgegenkommen zu müssen.”
“Zu freundlich”, erwiderte sie ausdruckslos. “Doch das wird nicht nötig sein. Ich werde deinen sorgsam erstellten Dienstplan nicht durcheinanderbringen. Niemals wieder.”
Er blinzelte. Zweimal. “Bedeutet das, Ihr werdet hier nicht länger als Heilerin arbeiten?”
“Meisterhaft erkannt. Jetzt geh und beschäftige dich mit deinen Papieren, damit die Erwachsenen reden können, ja?”
Loft war verdutzt genug, um dieser alles andere als höflichen Aufforderung Folge zu leisten, auf seinem Gesicht ein wundersames Lächeln, als er die Tür schloss.
“Ist das nicht nett?”, meinte sie müde. “Zumindest einer ist glücklich darüber.”
* * *
“Warum genau befindet sich ein klaffendes Loch in dem Schiff, dass euch aus Takhan hergebracht hat?”, war die erste Angelegenheit, über die Tyront informiert werden wollte, sobald Enric in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatte.
“Ich schätze, sie werden einfach nicht mehr so stabil gebaut wie früher”, äußerte Enrics Mund, bevor sein Gehirn einlenken konnte. Er räusperte sich, als sich Tyronts Blick verdüsterte. “Was sagen deine Informanten, was sich zugetragen hat? Ich weigere mich zu glauben, dass in dieser Monstrosität eines Schreibtischs nicht irgendwo mindestens ein Bericht darüber herumschwirrt.”
Zu spät erkannte er, dass diese Antwort bei seinem bereits leicht gereizten Vorgesetzten auch nicht viel besser ankam. Verdammt - Eryns Unverfrorenheit färbte langsam auf ihn ab. Er überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch starten sollte, entschied sich aber dagegen. Selbstbewusste Respektlosigkeit war immer noch besser als tollpatschige Versuche, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Zumindest im Orden. Eine Bestrafung hoch erhobenen Hauptes entgegenzunehmen wurde als eine Art Tugend erachtet, doch jedem Versuch zu deren Vermeidung wurde in der Regel mit ungerührter Verachtung begegnet. Der Orden plädierte dafür, Leute für ihre Fehler zu bestrafen, und befürwortete weniger, dass diese rechtzeitig erkannt wurden. Aus Fehlern zu lernen war wichtig, also wurde die Vermeidung von Bestrafung im letzten Moment gleichgesetzt mit dem Unwillen, sich weiterzuentwickeln.
Tyront stützte sich mit den Ellbogen auf seinen massiven Schreibtisch und legte seine Fingerspitzen auf die für ihn so typische Weise aneinander. Und starrte Enric weiterhin an.
“Sollen wir es noch einmal versuchen, Enric?” Unter dem Deckmantel wohlwollender Nachsicht schwang nun auch eine gewisse… Kälte in Tyronts Stimme mit.
“Es war ein…” Missgeschick war das erste Wort, dass ihm in den Sinn kam. Doch Eryns bevorzugter verharmlosender Begriff für etwas, das mühelos das gesamte Schiff einschließlich dem Herrscherpaar hätte versenken können, würde Tyront nicht im Mindesten amüsieren. “…ein Unfall”, beendete er den Satz.
“Ein paar zusätzliche Details wären willkommen”, entgegnete Tyront ausdruckslos, als Enric nichts weiter preisgab.
Sein Vorgesetzter war ungeduldig, wie Enric bemerkte. Das musste bedeuten, dass die Berichte, die er bislang erhalten hatte, nicht zufriedenstellend gewesen waren.
“Ich bin selbst nicht sicher, wie es passiert ist. Eryn sagt, sie hat mit dem Geistesband herumexperimentiert.” Wusste Tyront überhaupt über die Einzelheiten Bescheid, wie Enric aller Wahrscheinlichkeit nach seiner Gefangenschaft entkommen war? Dass Eryn es irgendwie geschafft haben musste, ihm durch das Geistesband die Magie zu schicken, über die sie die Kontrolle verloren hatte - und so das goldene Band um seinen Hals in ein schwarzes, halb-geschmolzenes Metallstück verwandeln konnte? Enric selbst hatte in seinen Nachrichten keine Einzelheiten erwähnt, womöglich aber die Triarchie oder der König.
“Wie kann das dazu führen, dass ein Loch in der Größe eines Pferdewagens in das Schiff geschlagen wurde?”
Nun, diese Frage zeigte, dass ihm die Details noch nicht bekannt waren. Was bedeutete, dass zuerst einige Erklärungen fällig waren. Erklärungen, die erforderten, dass er über das sprach, was ihm während seiner Gefangenschaft widerfahren war. Möglichst in einer Weise, die Tyront nicht zeigte, wie schwer ihm das noch immer fiel. Er musste beiläufig klingen, jedoch nicht in einem Ausmaß, das Tyront glauben ließ, er strebe danach, etwas zu verheimlichen. Er würde versuchen, sich kurz zu fassen, nur das Minimum erwähnen, das erforderlich war, um den Vorfall auf dem Schiff zu erklären.
Enric nahm einen Schluck von der Tasse vor sich und wappnete sich innerlich. “Ich habe in meinem Bericht geschrieben, dass ich etwa zwei Wochen lang in einer Art Zelle im Inneren einer Gebirgsfestung eingeschlossen war. Mit einem goldenen Band um meinen Hals, sodass ich meiner Magie beraubt war. Das funktioniert auf die gleiche Weise wie unsere goldenen Handschellen oder die Gürtel in den Westlichen Territorien.”
Tyront seufzte. “Danke; bei dieser recht offensichtlichen Schlussfolgerung bin ich ebenfalls angelangt.”
Einen kurzen Moment lang fragte sich Enric, ob seine Gefährtin Recht hatte - tendierte er tatsächlich dazu, Dinge unnötig zu verdeutlichen?
Er schob den Gedanken beiseite und setzte fort: “Eines Tages habe ich es geschafft zu entkommen, weil das Halsband abfiel, als ich mich nach dem Aufwachen aufsetzte. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre eine weitere der Illusionen, mit denen ich gefoltert wurde. Somit war mir nicht klar, dass ich tatsächlich dabei war, mein Gefängnis zu verlassen.”
“Dieser Teil hat mich schon beschäftigt”, meinte Tyront stirnrunzelnd. “Warum sollte die Fessel einfach so von dir abfallen? Hast du jemals eine Erklärung dafür gefunden?”
“Da gibt es eine Theorie, der Eryn und ich den Vorzug geben. Eryn erlitt in der Stadt einen Zusammenbruch, im Tempel der Bendan Ederbren. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt, von ihrer Angst und ihrem Kummer, und schaffte es nicht, sie für sich zu behalten.”
“Sie hat die Kontrolle verloren?” Der Anführer des Ordens wirkte beunruhigt. “Inmitten eines dicht besiedelten Gebiets?”
“Ja. Sie wurde ohnmächtig. Als sie jedoch wieder zu sich kam, erkannte sie, dass um sie herum keinerlei Zerstörung zu sehen war. Später fanden wir heraus, dass dieser Zusammenbruch zur gleichen Zeit passiert sein muss, als mein Halsband abfiel. Also vermuten wir, dass…”
“Ihr vermutet, dass die Kraft, die durch ihren Kontrollverlust freigeworden ist, irgendwie durch das Geistesband an dich übergegangen ist und dich von der goldenen Halsfessel befreit hat”, vollendete Tyront den Satz, dann lehnte er sich zurück und blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke.
“Genau.”
“Und dann hat sie mit dieser Kraft auf dem Schiff herumzuspielen begonnen und versehentlich ein Loch in das Schiff gesprengt”, schlussfolgerte er.
“Mehr oder weniger, aber im Detail verlief es ein wenig anders. Ich war derjenige, der den Blitz im Schlaf losgelassen hat”, korrigierte ihn Enric. “Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt ihre Versuche bereits aufgegeben hatte. Sie war an Deck eingeschlafen, und als ein Mitglied der Mannschaft über ihre ausgestreckten Beine stolperte, schreckte sie aus dem Schlaf hoch und löste damit offensichtlich eine unbewusste Übertragung von Magie an mich aus - die ich nicht zurückhalten konnte, da ich geschlafen habe.” Er hob die Schultern. “Obwohl ich ehrlich gesagt zugeben muss, dass ich keine Ahnung habe, ob mir das in wachem Zustand gelungen wäre.”
“Eine weitere eurer kleinen Entdeckungen”, grummelte Tyront, “und zwar eine gefährliche. Eine, die ihr zu kontrollieren lernen müsst, damit ihr nicht zur Gefahr für alle um euch herum werdet. Die Frage ist, ob ihr Zusammenbruch diese Fähigkeit zum Teilen von Magie ausgelöst hat oder ob das schon immer möglich gewesen wäre. Sollte die erste Option zutreffen, dann hat sie womöglich…” Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um nach dem richtigen Wort zu suchen. “Dann hat sie womöglich etwas in euch aktiviert, das unbewusst ausgelöst werden kann. Oder sie hat schon die ganze Zeit über Magie an dich geschickt, und erst als sie erschrocken ist, passierte es versehentlich mit einer höheren Intensität als zuvor.”
Enric unterdrückte ein Lächeln ob der Veränderung in seinem alten Freund. Innerhalb von Minuten hatte er sich vom strengen Vorgesetzten zum neugierigen Forscher gewandelt.
Tyront wurde wieder ernst. “Wie dir klar sein muss, ist das eine recht gefährliche Sache. Es bedeutet, dass keiner von euch beiden zurückgehalten werden kann, solange nicht auch der andere in Gold gebunden ist. Und es bedeutet, dass ihr in der Lage sein könntet, euch aus dem Zugriff eines stärkeren Magiers zu befreien, wenn ihr es schafft, diese Verbindung bewusst zu eurem Vorteil einzusetzen.”
“Ja, das kam mir bereits in den Sinn”, erwiderte er gelassen und schluckte die Bemerkung, wer von ihnen beiden nun derjenige war, der sich in überflüssigen Erklärungen des Offensichtlichen erging.
“In deinem Bericht hast du noch eine weitere Fertigkeit erwähnt. Sogar drei. Noch dazu recht eindrucksvolle, wenn ich deinen Worten Glauben schenken darf. Das eine war das Umgehen der Erinnerungsblockade, wofür man wohl eine dritte Person benötigt, wie ich annehme. Doch für den Augenblick bin ich an der Sache mit den Erinnerungen interessiert. Golir schrieb, dass du es dem Senat demonstriert hast mit deiner Erinnerung, wie Eryn die Festung zerstört hat.”
Enric nickte und beschwor einmal mehr die Bilder herauf, an die er sich erinnerte. Tyront sah zu, unfähig, seine Faszination sowohl betreffend die Fertigkeit als auch die Bilder selbst zu verbergen.
Ein paar Minuten später schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme. “Unglaublich. Wie aufwändig ist es, sich diese Fähigkeit anzueignen?”
“Tatsächlich ist es recht einfach. Eryn hat es in nur ein paar Minuten erlernt, und ich selbst ebenfalls.”
“Dann wird es dir ein Vergnügen sein, es mir beizubringen, sobald unser Gespräch beendet ist.”
Enric nickte. “Selbstverständlich. Ich könnte es dir jetzt gleich zeigen, wenn du möchtest.”
“Zuerst gibt es da noch etwas anderes, von dem ich hören will. Diese andere Fertigkeit, von der du mir geschrieben hast. Diejenige, die in nicht-magischem Kampf eingesetzt wird. Obwohl wir diesen Begriff wohl neu definieren müssen, da zwar Magie mit im Spiel ist, aber nicht in Form von herumfliegenden Blitzen. Soweit ich verstanden habe, hast du das von den Bendan Ederbren erlernt.”
Enric lächelte voller Stolz, als er den Kopf schüttelte. “Das war nicht nötig. Eryn hat es ganz allein herausgefunden. Versehentlich, so wie auch sonst, wenn es um Kampffertigkeiten geht.”
Tyront schüttelte den Kopf. “Diese Frau treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, was mich mehr stört - dass sie ständig über solche Dinge stolpert, ohne auch nur einen Funken an Interesse für die Disziplin zu zeigen, oder dass sie sich nicht die Mühe macht, dieses Talent sinnvoll zu nutzen.”
Darauf erwiderte Enric nichts. Er wusste, dass seine Gefährtin eine vollkommen andere Vorstellung davon hatte, was die sinnvolle Nutzung ihrer Talente betraf. Ganz bestimmt nicht das, was Tyront darunter verstand.
“Das könnte ich dir in der Arena zeigen, wenn du willst”, bot er zwanglos an.
“Nein, danke”, knurrte Tyront. “Ich erinnere mich an den Tag, als ich meine Kontrolle über den von ihr erdachten Doppelschild testen wollte - und dann auf recht schmerzvolle Weise von einer weiteren zufälligen Entdeckung ihrerseits erfahren habe. Nämlich, wie man ihn überwindet. Ich werde mich hüten, mich auf eine weitere öffentliche Demonstration einzulassen. Nein, du wirst es mir hier zeigen.”
Enric sah sich in dem Arbeitszimmer um. Es war zwar geräumig, doch keineswegs ausladend genug, um keinen Schaden zu erleiden, wenn zwei starke Magier ihre Kampffertigkeiten aneinander testeten.
“Bist du sicher?”, fragte er zweifelnd. “Da werden hier hinterher wohl ein paar Reparaturen nötig sein.”
Tyront stand von seinem Stuhl auf. “Dann gehen wir in den Salon. Falls wir versehentlich diese monströse rote Vase in der Ecke neben dem Eingang zertrümmern, die Vyril kürzlich erstanden hat, würde mich das keineswegs stören. Ich würde sogar so weit gehen, dir einen Gefallen zuzugestehen, wenn du die gesamte Schuld dafür auf dich nimmst.”
“Ich fühle mich benutzt”, murmelte Enric in vorgetäuschter Entrüstung, froh, dass sich die Stimmung seit seinem Eintreffen soweit gelockert hatte, dass sie miteinander scherzen konnten.
“Das geht schon in Ordnung - ich kann gut damit leben, und du wirst darüber hinwegkommen. Irgendwann.”
* * *
Plia ließ beinahe ihre - glücklicherweise nicht zerbrechlichen - Instrumente fallen, als Eryn ihr Labor betrat. Kurz darauf umarmten sich die beiden Frauen.
“Ich bekomme ein Kind!”, strahlte die jüngere Frau, sobald sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
Eryn lächelte. Das waren nicht gerade unerwartete Neuigkeiten, da Plia kurz vor ihrem Kommitment ihren Schutz entfernen hatte lassen; doch Neuigkeiten waren es dennoch.
“Ich freue mich so für dich. Wie weit bist du denn schon?”
“Es ist mein vierter Monat, und mir ist es noch nie so gut gegangen!”
Eryn erinnerte sich an ihre eigene Schwangerschaft. Es war… in Ordnung gewesen. Leichte Magenbeschwerden am Anfang und Heißhunger auf süße Backwaren, aber nichts allzu Unbequemes. Junar hatte nicht ganz so viel Glück gehabt. Doch Plia strotzte geradezu vor Energie und Leben. Das mochte auch auf ihr Alter zurückzuführen sein. Mit einundzwanzig Jahren war sie ein ganzes Stück jünger als Junar und Eryn es gewesen waren.
Sie schob den Gedanken an Junar und die unangenehme Begrüßung beiseite, um davon nicht ihre Wiedervereinigung mit Plia überschatten zu lassen.
“Also keine Morgenübelkeit oder dergleichen?”
“Überhaupt nichts - nur eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen, aber das ist in meinem Beruf sogar hilfreich”, lachte die junge Frau.
“Wie kommt Rhys zurecht mit der Aussicht, bald Vater zu werden?”
“Er pendelt hin und her zwischen Phasen fieberhafter Aktivität, um alles fertigzubekommen, und anderen, wo er sich sorgt, ob er der Herausforderung gewachsen ist. Momentan baut er eine Wiege, da seine eigene nun seinem älteren Bruder für dessen Kinder gehört. Ich glaube, er hat mittlerweile schon dreimal von vorne begonnen, weil mit dem Ergebnis unzufrieden ist. Er redet davon, sie eines Tages an seine Enkel weiterzugeben.” Voller Staunen schüttelte sie den Kopf. “Wir haben unser Kind noch nicht einmal gesehen, und er redet schon von Enkeln!”
Eryn erinnerte sich, wie sie selbst immer wieder mit Magie nach ihrem ungeborenen Sohn gesehen und in ihrem Bauch nachgeschaut hatte um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Wie schade, dass Nicht-Magiern diese Möglichkeit verwehrt war.
Dann kam ihr ein Gedanke.
“Darf ich einen Blick hineinwerfen?”, fragte sie und nickte zu Plias Bauch hin.
“Sicher, nur zu.”
Eryn legte eine Hand auf den bereits leicht geschwollenen Unterleib unter der weiten Kleidung und schloss die Augen, bevor sie einen schwachen Impuls erkundender Magie losschickte. Sie fand den Fötus sofort und staunte einmal mehr darüber, wie weit ein menschliches Wesen bereits nach nur wenigen Wochen entwickelt war. Der Körper und die Gliedmaßen waren bereits geformt, nur die Proportionen würden sich noch verändern. Sogar die Gesichtszüge waren bereits erkennbar. Und natürlich das Geschlecht.
“Weißt du bereits, was es ist?”, fragte sie, ihre Augen noch immer geschlossen.
“Ja. Sie sagen, es ist ein Junge.”
Eryn nickte und öffnete die Augen, ihre Hand noch immer auf Plias Bauch. “Würdest du ihn gerne sehen?”
“Was? Wie denn? Ja!”
“In Ordnung. Ich kann dir aber nichts versprechen. Wenn ich in dich hineinschaue, dann passiert das Sehen durch meine Magie in Kombination mit meinem Gehirn, nicht durch meine Augen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich mich erinnern und es dann in einer Weise wiedergeben kann, dass deine Augen etwas erkennen können. Sei nicht enttäuscht, falls es nicht funktioniert. Das ist ein Experiment.”
Die Magierin errichtete vor ihnen eine Barriere in der Luft und konzentrierte sich darauf, die Informationen, die ihrem Gehirn ohne Umweg über die Augen vermittelt wurden, zu visualisieren. Zuerst wurden schwache schwarze und rote Flecken sichtbar, die dann Form anzunehmen begannen.
Plia schnappte nach Luft, als Details sichtbar wurden und vor ihren Augen ein mehr oder weniger exaktes Abbild ihres Kindes bildeten. Eine Hand bedeckte ihren Mund, während die andere empor reichte mit dem Drang zu berühren. Ihre Finger in der Luft vor dem winzigen Gesicht verursachten eine leichte Entladung an der schwachen magischen Barriere.
“Das ist unglaublich! Er sieht bereits wie eine richtige Person aus, mit Händen und Beinen und allem! Er hat meine Nase”, hauchte sie, ihre Augen weit aufgerissen und ihre Stimme voller Ehrfurcht. Ohne ihre Augen von dem Bildnis zu nehmen, fügte sie hinzu: “Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas kannst!”
Eryn zuckte mit den Schultern. “Ich wusste es auch nicht. Wie ich schon sagte - es war ein Experiment. Das Projizieren eines Bildes habe ich in Pirinkar gelernt, aber ich wusste nicht, dass es möglich ist, damit wirklich zu zeigen, was im Inneren des Körpers vor sich geht…” Sie verstummte allmählich, als sie daran dachte, wie sich das in der Ausbildung neuer Heiler einsetzen ließ - besonders bei Nicht-Magiern, die anders als ihre Magierkollegen keinerlei Möglichkeit hatten, einfach in einen Körper hinein zu blicken.
“Könntest du das den anderen Heilern beibringen?”, fragte Plia. “Stell dir vor, wie großartig es für Eltern wäre, einen Blick auf ihr ungeborenes Kind zu werfen!”
“Das sollte kein Problem sein, vorausgesetzt Lord Poron stimmt zu. Allerdings sehe ich nicht, was ihn davon abhalten sollte.”
Tränen glänzten in den Augen der jüngeren Frau, als sie weiterhin das Bild, das vor ihr in der Luft schwebte, bestaunte. “Er ist wunderhübsch. Ich kann kaum glauben, dass er in mir wächst. Danke - vielen, vielen Dank! Das ist das Erstaunlichste, was ich jemals gesehen habe!”
Eryn, stets etwas verlegen im Angesicht von Dankbarkeit - besonders, wenn sie so intensiv war und so wenig Mühe erfordert hatte - nahm die Worte nur mit einem Nicken zur Kenntnis und ließ das Bild noch schweben, damit sich Plia ein wenig länger daran ergötzen konnte.
Eine plötzliche Traurigkeit ergriff Besitz von Eryn, als sie an den bevorstehenden Krieg dachte, und dass dieser kleine Junge und all die anderen Kinder, die auf jeder Seite der Konfliktparteien geboren wurden, auf irgendeine Weise davon betroffen sein würden. Sie mochten ein Familienmitglied verlieren oder in einem Land aufwachsen, das von jenen verwüstet worden war, die man gemeinhin als den Feind bezeichnen würde. Menschen würden den Tod finden, und jene, die das Glück hatten zu überleben, würden wahrscheinlich von den Geschehnissen traumatisiert sein oder darunter leiden, dass sie in einer Nachkriegsumgebung leben mussten, wo Essen knapp war und Bitterkeit regierte.
Sie würde ihr Bestes tun, um diesen Ausgang irgendwie zu verhindern. Obgleich ihr bewusst war, dass die Menschen in Anyueel und den Westlichen Territorien stärker darauf konzentriert sein würden, allein die eigene Seite zu beschützen, war Eryn entschlossen, für sie alle einzustehen - einschließlich jener, die manipuliert, benutzt und geopfert wurden, um den Machtanspruch eines einzelnen Mannes zu zementieren, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinen eigenen Bruder in den Kerker zu sperren.
Sie atmete etwas freier, nachdem sie sich dieser düsteren Gedanken entledigt hatte, nicht willens, sich davon diesen privaten Moment, den sorglosen Umgang mit Plia verderben lassen. Sie mutete so zauberhaft an, wie sie dastand, eine Hand auf ihrem Bauch, die andere noch immer zum Abbild ihres Sohnes erhoben. Sie war fest entschlossen, sich das Bild einzuprägen und es dann Vern zu zeigen, damit er es eines Tages zeichnen konnte, vielleicht als Geschenk für ihren Sohn, wenn er älter war. Auf diese Weise konnte er mit eigenen Augen sehen, welche Freude er seiner Mutter bereitet hatte, die Liebe, die er in ihr erweckte noch bevor er überhaupt geboren war.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und Eryn nahm ihre Hand vom Bauch ihrer Freundin, um zu sehen, wer gekommen war.
Onil stand vor der Tür, seine Augen weit aufgerissen, sein Gesicht fahl. Eryn schluckte. Wenn schlechte Neuigkeiten ein Gesicht hatten, dann hatte sie es jetzt gerade vor sich. Sie schlüpfte zur Tür hinaus und bedeutete Onil, ihr in einen leeren Unterrichtsraum zu folgen.
“Was ist passiert?”, verlangte sie zu wissen, ihre Stimme harscher als sie es beabsichtigt hatte.
“Etwas Schreckliches. Ein Unfall. Ein Gebäude ist eingestürzt und hat ihn unter einer Lawine von Ziegeln begraben… wir konnten nichts weiter tun, als seinen Körper freizulegen… Es tut mir so leid. Er war ein guter Mann.” Der letzte Satz war kaum mehr als ein Flüstern.
Eryns Magen verwandelte sich von einem Augenblick zum nächsten in einen soliden Eisblock. Enric. Nein…
Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf einem der vielen Tische abstützen. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, so als hätte sich die Luft plötzlich zu Wasser verdickt und damit alles verlangsamt. Das konnte unmöglich stimmen - sie hatten nicht all das durchgestanden, nur damit er jetzt auf solche Weise sein Ende fand. Ihre Atmung wurde schwerer, und ihr Gesichtsfeld begann zu verschwimmen.
“Ich… ich kann es ihr nicht sagen.” Onils Worte waren beinahe ein Schluchzen. “Bitte, ich weiß, es ist nicht fair, dass ich dich darum bitte, nachdem du gerade erst angekommen bist, aber… könntest du es übernehmen? Bitte?”
In Eryns Kopf drehte sich alles. “Was?”
Teile ihres ertrinkenden Verstandes beharrten darauf, dass dies keinen Sinn ergab.
“Wem sagen?”, schaffte sie es irgendwie zu fragen, allerdings mehr aus einer lebenslangen Gewohnheit zum Aufklären unverständlicher Dinge heraus als aus tatsächlichem Interesse. Die Welt und alles darin hatte seine Bedeutung verloren.
Verzweifelt starrte Onil sie an, als wäre diese ganze Situation nicht bereits grässlich genug, ohne dass ihr Unverständnis alles noch aufreibender machte.
“Plia! Du musst ihr sagen, dass Rhys tot ist!”, verkündete er übermäßig deutlich, als befürchte er, sie hätte den Verstand verloren. “Verstehst du überhaupt, was ich dir sage? Plias Gefährte ist verstorben!”
Eryn begann zu zittern unter der mächtigen Welle der Erleichterung, die über sie hereinbrach, als sie begriff, dass nicht Enric derjenige war, der einfach von einem Moment zum nächsten zu existieren aufgehört hatte, sondern jemand anderer.