Gemeinsam für die Zukunft - Fridays For Future und Scientists For Future - David Fopp - E-Book

Gemeinsam für die Zukunft - Fridays For Future und Scientists For Future E-Book

David Fopp

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Beschreibung

Die ökologische Krise ist für die Aktivist*innen um Greta Thunberg und Fridays for Future ebenso bedrückend wie auch Anlass für ein gemeinsames Gesellschaftsprojekt: Die neue globale Klimabewegung entsteht. Dabei spielen Wissenschaft und Forschung eine zentrale Rolle - die politisch Verantwortlichen werden aufgefordert: »Listen to the Science«. Damit ist nicht nur die Klima- und Umweltwissenschaft gemeint, sondern auch deren Bedeutung für die Ökonomie, Politik, Philosophie und Pädagogik. David Fopp schildert aus der Binnenperspektive als Aktivist und Wissenschaftler die Geschichte des gemeinsamen Kampfes von Fridays for Future und Scientists for Future für eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft. Als Gründer der Scientists for Future in Schweden und Ko-Organisator der globalen Week for Future gibt er Einblicke in die Entstehung und Entwicklung dieser Bewegungen und stellt im Austausch mit den jugendlichen Streikenden Perspektiven und Handlungsfelder für eine gemeinsame Zukunft vor.

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Seitenzahl: 451

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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

The supposed »end of history« long ago revealed itself to be much more an end to certainties. More than ever, we are not only faced with the question of »Generation X«. Beyond this kind of popular figures, academia is also challenged to make a contribution to a sophisticated analysis of the time. The series X-TEXTS takes on this task, and provides a forum for thinking 'for and against time'. The essays gathered together here decipher our present moment, resisting simplifying formulas and oracles. They combine sensitive observations with incisive analysis, presenting both in a conveniently, readable form.

David Fopp (PhD), geb. 1972, ist Klimaaktivist, lehrt Pädagogik, Youth Studies und Drama an der Universität Stockholm und forscht zu Nachhaltigkeit und Theorien der Gesellschaftstransformation. Der promovierte Philosoph arbeitete zuvor an den Universitäten Berlin, Basel und an der École Normale Supérieure in Paris.

Isabelle Axelsson ist Klimaaktivistin und studiert Kulturgeographie an der Universität Stockholm.

Loukina Tille ist Klimaaktivistin und studiert Umweltwissenschaft an der ETH Zürich.

David Fopp

Gemeinsam für die Zukunft – Fridays For Future und Scientists For Future

Vom Stockholmer Schulstreik zur weltweiten Klimabewegung Unter Mitarbeit von Isabelle Axelsson, Loukina Tille

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildungen: Vorderseite: Jana Eriksson; Rückseite: William Persson Korrektorat: Johanna Mittelgöker Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-5555-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5555-5 EPUB-ISBN 978-3-7328-5555-1https://doi.org/10.14361/9783839455555

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Zeitleiste

Einleitung

Die Unbekannten

Erster Teil: Die Rebellion der JugendlichenVom Münzplatz in Stockholm zum globalen Streik

Kapitel 1: Die schwedischen AnfängeEine Idee nimmt Form an

Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heranZiviler Ungehorsam und Gesetze der Menschlichkeit

Kapitel 3: Das FundamentDer (klima-)wissenschaftliche Hintergrund

Kapitel 4: Die internationale Bewegung entstehtCOP-Treffen und Klimagerechtigkeit

Kapitel 5: Davos und das World Economic ForumWas ist wertvoll und was eine Wissenschaft der Ökonomie?

Kapitel 6: Der AufstandDer erste globale Streik, die Belagerung von London und die Gründung von »Scientists For Future«

Zweiter Teil: Die Erwachsenen antworten

Kapitel 1: Der zweite globale Streik und die Vorbereitungen zur Week For FutureDie Aufgabe für die Zivilgesellschaft

Kapitel 2: Smile For Future in Lausanne und die Scientists For FutureDie Aufgabe für die Wissenschaft

Kapitel 3: Die Week For FutureDer koordinierte Aufstand von acht Millionen Menschen weltweit

Kapitel 4: COP25 in MadridDie Aufgabe einer vereinten Bewegung

Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die KlimagerechtigkeitsbewegungDie Krise und das globale Demokratieprojekt

Dritter Teil: Gemeinsam in die ZukunftEin Gespräch (mit Isabelle Axelsson und Loukina Tille)

Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht

Kapitel 2: Zum Verhältnis von Jugendlichen und ErwachsenenWie wir alle Geschichte schreiben können

Anhang: Wofür sich eine globale vereinte Klimabewegung einsetzen könnte – die Grundprinzipien

Epilog – »We, the People … For Future«

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Zeitleiste

2018

20. August, Montag

Greta Thunberg setzt sich allein zwischen die beiden Hälften des schwedischen Parlamentsgebäudes und fängt an zu streiken

7. September, Samstag

Greta gibt im Park »Rålambshovsparken« zusammen mit ihren mitstreikenden Jugendlichen die Gründung von #FridaysForFuture bekannt

8. September, Sonntag

Wahl in Schweden. Es wird Monate dauern, bis die rot-grüne Regierung bestätigt wird

13. September, Freitag

Erster Freitagsstreik unter dem Namen #FridaysForFuture

Oktober

Der Spezialrapport der UNO »IPCC SR1.5« wird veröffentlicht, der den Unterschied zwischen 1,5 Grad Erwärmung und zwei Grad verdeutlicht

31. Oktober, Mittwoch

Gründungswochenende Extinction Rebellion in London

17. November, Samstag

Die erste große Blockade Stockholms durch Extinction Rebellion

26. November, Montag

Gretas erste lange Rede in Schweden (TED Talk)

30. November, Freitag

Über 10.000 Schüler_innen in Australien streiken, auch als Antwort auf die Auslassungen des Premierministers Morrison gegenüber den Klimastreikenden

Belgische Donnerstagsstreiks werden immer größer

9. Dezember, Sonntag

Die erste international koordinierte FFF- und XR-Aktion findet statt: »Climate Alarm«

12. Dezember, Mittwoch

Greta hält ihre Rede am COP24-Klimatreffen der UNO in Katowice, Polen

21. Dezember, Freitag

Als Reaktion auf die Parlamentsdiskussionen zur CO₂-Abgabe kommt es zum ersten Großstreik in der Schweiz

2019

18. Januar, Freitag

Der erste große Streik in Berlin

25. Januar, Freitag

World Economic Forum in Davos, Schweiz. »Our house is on fire«

12. Februar, Dienstag

IPBES Biodiversitätsrapport der UNO erscheint mit alarmierenden Zahlen

15. Februar, Freitag

Großbritannien und Frankreich streiken zum ersten Mal groß

13. März, Mittwoch

FFF streikt bei der EU in Straßburg

15. März, Freitag

Der erste globale Streik mit ca. 1,6 Millionen Teilnehmenden

15. April, Montag

Die Blockade der Innenstadt von London durch Extinction Rebellion beginnt

In Stockholm blockiert XR die Parlamentsbrücke

Greta hält ihre Rede im britischen Parlament nach Besuchen in Rom und Brüssel

29. April, Montag

Großbritannien erklärt den Klimanotstand

24. Mai, Freitag (das EU-Wahl-Wochenende)

Der zweite globale Streik

4.–9. August

Das große europäische FFF-Treffen Smile For Future in Lausanne, Schweiz

20.–27. September, Woche

Die »Global Week For Future« mit globalen Streiks zusammen mit Gewerkschaften und NGOs. Rund acht Millionen Jugendliche und Erwachsene nehmen an den Streikmärschen teil

In Stockholm kommt es zur zweitgrößten Demonstration der Nachkriegszeit

23. September, Dienstag

Greta hält ihre »How dare you«-Rede am Klimagipfel der UNO in New York

7. Oktober, Montag

Extinction Rebellion blockiert die Innenstädte von London, New York, Paris und Berlin

29. November und 6. Dezember

Vierter globaler Streik, in Stockholm im Vorort Rinkeby

In Madrid versammeln sich 500 000 rund um Greta und Fridays For Future

2.–13. Dezember

COP25-Meeting in Madrid

2020

21.–24. Januar

World Economic Forum

4. März

Stellungnahme der Scientists For Future zum neuen EU-Klimagesetz

16. und 17. Juli

FFF-Jugendliche schreiben – unterstützt von führenden Wissenschaftler_innen – einen Forderungsbrief an die EU; und 20 Aktivist_innen aus dem globalen Süden adressieren die G20-Staaten

April – August

Die Klimagerechtigkeitsbewegung wandert wegen der Corona-Pandemie ins Netz und hört auf die #BlackLivesMatter-Demonstrationen

20. und 21. August

Zwei Jahre sind seit dem ersten Streiktag vergangen und die Jugendlichen kehren wieder – mit Masken – auf den Münzplatz zurück

Greta präsentiert mit anderen FFF-Jugendlichen in Berlin die Forderungsschrift #FaceTheClimateEmergency

28. August

Die vereinten Klimabewegungen besetzen unter der Führung von Extinction Rebellion das Zentrum von Stockholm, zwei Jahre nach der ersten Aktion

25. September

Die FFF-Bewegung ist zurück zum ersten globalen Streiktag nach dem Ausbruch der Pandemie

Einleitung

Kinder sitzen auf dem Boden vor dem Parlament ihres Landes oder dem Rathaus ihrer Stadt. In Stockholm. Bern. Kathmandu. New York. Kabul. Manaus. Berlin. Sie streiken für das Klima und für ihre Zukunft, auf den Plätzen und im Netz. Und sie verweisen auf einen demokratischen Fehler: Der Regenwald, die Lunge der Welt, brennt und wird abgeholzt. Die Banken investieren in die fossile Industrie. Demokratien müssten weltweit umgeformt und eine neue Form des globalen Zusammenlebens gefunden werden – und sie haben als Kinder nichts zu sagen, obwohl es ihr Leben am meisten betrifft. Und nun sitzen sie also da und akzeptieren dies nicht länger.

Wie darauf reagieren? Diese Frage stellt sich mir im August 2018, als ich zum ersten Mal als Dozent meine Räume der Stockholmer Universität verlasse und zu Greta Thunberg vor dem Parlament gehe. Als ich Greta und ihren Mitstreikenden an einem ihrer ersten Streiktage begegne, weiß ich viel über die Klimakrise – ich halte Vorlesungen zu Nachhaltigkeit – und doch, wie es sich in den nächsten Wochen herausstellt, erstaunlich wenig. Ich verstehe die Krise nicht wirklich, richtig existentiell. Und so entscheide ich mich früh, gerade als sich Fridays For Future überhaupt bildet, an jedem Freitag zurückzukommen, für die sieben Stunden, in denen die Jugendlichen am Rand der Stockholmer Altstadt streiken. Diese Begegnungen auf dem Münzplatz mit den jugendlichen Stammstreikenden verändern das Leben von uns allen: In kürzester Zeit kommen wir mit den wichtigsten Klimaforscher_innen der Welt in Kontakt. Ich lerne die Denkwelten der Kinder kennen, sehe Trauer und Verzweiflung, aber auch eine große Empathie und die Freude an der wachsenden globalen Vernetzung, an der täglich gearbeitet wird und die als Fridays For Future/Klimastreik (FFF) Geschichte macht. Der Münzplatz in Stockholm wird zum »Hub« der globalen Bewegung. Und nach und nach versuche ich dazu beizutragen, dass auch in der Erwachsenenwelt jenseits von FFF eine weltweite Bewegung zusammenwächst. Auf dem Münzplatz gründe ich die erste Scientists For Future-Gruppe und von da aus wird die Week For Future mit acht Millionen Teilnehmenden mitorganisiert. Ein Plan muss entwickelt und umgesetzt werden, wie die Welt in zehn Jahren nachhaltig, gerecht und demokratisch werden kann. Die Zeit, den Fridays-Jugendlichen auf die Schulter zu klopfen, ist vorbei, sage ich mir. Wir müssen als Gesellschaft auf das reagieren, was sie wollen und ihnen eine sichere Zukunft geben. Und in diesem Sinn ist ihre Geschichte auch unsere. Es ist die Geschichte unserer gemeinsamen Zukunft.

Diese Geschichte hat zwei Seiten. Auf der einen Seite ist sie eine traurige Geschichte. Ziemlich die traurigste, die vorstellbar ist. Es ist die Geschichte von hunderten Tierarten, die ausgerottet werden, von Wäldern, die abgeholzt werden und niederbrennen, von hunderttausenden von Menschen, die vor Dürren und Überschwemmungen fliehen. Und es ist vor allem die Geschichte von Kindern und Jugendlichen überall auf der Welt, die, informiert durch die sozialen Medien, sich jeden Tag Sorgen machen und von kommenden Kämpfen um Wasser und Nahrung träumen, eine Art von Panik, die nie ganz verschwindet. Wie wird es für uns aussehen, fragen sie sich, wenn wir so groß sind, wie diese zweibeinigen Artgenossen, die an der Macht sind? In einer drei oder vier Grad wärmeren Welt mit der Gefahr von nicht mehr rückgängig zu machenden Kipppunkten und »Feedback Loops« des Klimasystems (Lenton et al. 2019; Wallace-Wells 2019) ist für viele Menschen, vor allem des globalen Südens, das Leben eine Hölle. Auch ist es die Geschichte von parallel arbeitenden etablierten NGOs, die vieles versucht haben und doch die Politik nicht verändern konnten. Und es ist die Geschichte von Politiker_innen und hoch spezialisierten Wissenschaftler_innen, die um all dies wissen, und doch kaum etwas tun, weil sie wie gelähmt sind.

Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Wenn man genauer hinsieht, tut sich ein Fenster zu einem Abenteuer auf, vielleicht dem größten, das wir uns ausmalen können. Es hat gerade angefangen, genauer gesagt in einer unerträglich warmen Augustwoche im Sommer 2018. Damals haben sich einige Kinder und Jugendliche in verschiedenen Vororten von Stockholm entschlossen, sich zu Greta zu gesellen – zu dem Kind, von dem sie in der Zeitung gelesen haben, dass es mit dem Schild »Schulstreik fürs Klima« bewaffnet zwischen den riesigen Steinmassen des schwedischen Parlamentes streikt. In dem Augenblick fängt eine Geschichte an, da auf dem Münzplatz von Stockholm, die sich erst nur langsam entwickelt, wochenlang, monatelang kaum, um dann, angeführt von der schwedischen »Rebell_innenbande« zur größten Umwelt-Jugendbewegung aller Zeiten zu wachsen. Ein halbes Jahr später, am 15. März, verlassen 1,5 Millionen Kinder auf der ganzen Welt ihre Schulzimmer und machen einen Aufstand gegen die Erwachsenenwelt. Im September streiken dann acht Millionen Jugendliche und Erwachsene zusammen in der wohl größten koordinierten globalen politischen Aktion, die es je gegeben hat.

Es ist wie ein Märchen, wie eine der Stammstreikenden in Stockholm sagt. Nicht das so weit verbreitete von einem einzelnen Kind, das einsam kämpft, sondern das von einer Gruppe, zu der Greta dazugehört. Eine bisher nicht erzählte Geschichte; eine auch von Freundschaften, von explodierender Phantasie, von genialen Lösungen für politische und aktivistische Herausforderungen, die die Jugendlichen aus allen Ecken der Welt zusammenbringt. Und es ist zwar die Geschichte von einer Gruppe von Jugendlichen, aber auch von deren Versuch, die Erwachsenen zu wecken, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihnen ihre Aufgabe klar zu machen, nicht zuletzt den Wissenschaftler_innen, die sich nach und nach zu einem riesigen Netzwerk der Scientists For Future zusammenschließen.

Es ist ein Abenteuer, in das wir alle hineinspringen und in dem wir alle unseren Platz finden können. Es ist die Geschichte, die wir jetzt zusammen angehen und in den nächsten 15 Jahren weltweit umgesetzt haben müssen: die einer globalen demokratischen Umwandlung aller Lebensbereiche, in der wir alle gegenseitig für ein würdiges Leben sorgen – ohne dass dabei die planetaren Grenzen überschritten werden: Klimaerwärmung, Biodiversitätsverlust, Vermüllung und Übersäuerung der Ozeane.

Und es ist eine Geschichte mit einer langen, verschlungenen Vorgeschichte, etwa von indigenen Bevölkerungen, die Jahrzehnte um ihre Art zu leben und die Bewahrung der Natur gekämpft haben, trotz dauernder Repression durch Staaten, Denkweisen und finanzielle Interessen. Es ist die Geschichte vor allem auch von emanzipatorischen Graswurzelbewegungen, dem Kampf gegen die Kolonialisierung, dem Aufstand der Frauenbewegung seit 100 Jahren, dem der Arbeiter_innen und der BIPOC-Gemeinschaften (»Black, Indigenous and People of Color«), die Gerechtigkeit und den Gehalt der Menschenrechte für alle durchsetzen wollen. Ohne diese Bewegungen des zivilen Ungehorsams und der Eroberung der Menschenrechte, des demokratischen Blicks auf einander (und auf die Natur als wertvolle) wäre das Abenteuer jetzt nicht denkbar. An diese Vorgeschichte schließen sie sich bewusst an, die Jugendlichen, als sie sich zu Greta hinsetzen.

Es ist wichtig, diese Geschichte zu verstehen. Jetzt kann ein neues Kapitel anfangen: das der Erwachsenen, die sich jenseits von Fridays For Future weltweit als globale Zivilgesellschaft zusammenschließen. Es gibt Entwürfe zu diesem Kapitel des organisierten Aufstandes der Erwachsenen – mit der »Week For Future« und dem COP-Treffen der UNO in Madrid, von denen dieses Buch handelt. Da haben sich bereits ansatzweise die Jugendlichen zusammengefunden mit NGOs und Graswurzelbewegungen zu einer vereinten globalen Bewegung. Aber die Politik, die Regeln, das Denken und die ökonomische Ausrichtung, die die Natur und die Mitmenschen plagen und bedrohen, haben sich noch nicht verändert. Die Versprechungen der Regierungen mit ihren NDCs (den nationalen Emissionsreduktions-Plänen) werden laut UNO trotz des Pariser Abkommens zu einer etwa dreigradig wärmeren Welt führen, selbst, wofür nichts spricht, wenn sie eingehalten werden. Und da ist sie wieder, die traurige Geschichte. Eine drei oder vier Grad wärmere Welt ist für hunderte von Millionen von Menschen (und Milliarden von Tieren) nicht auszuhalten, und das heißt dann in der Folge für die meisten nicht (Xu et al. 2020). Und sie wird noch während der Lebzeiten dieser Hauptpersonen der Geschichte kommen, wenn wir nicht sofort »weitgehende und nie dagewesene Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft« (IPCC-Bericht am 8. Oktober 2018) in Angriff nehmen. Diese diffus beängstigende Zukunft prägt das Leben der Kinder wie nichts Anderes. Wir können sie auflösen – wenn wir die Krise als Krise behandeln. Wir Menschen können nach vorne schauen, planen, mit Hilfe der Wissenschaft und der Phantasie. Und wenn die beiden gut zusammenarbeiten, dann gibt es wohl keine stärkere Kraft auf diesem Planeten.

Die Jugendlichen haben uns in diese Position »geschubst«, mit ihren Streiks, Märschen, Pappschildern und einer gigantischen Kreativität. Es ist auch an uns, jetzt diesen Auftrag anzunehmen, und die politische Veränderung herbeizuführen. Teilweise als organisierte globale Bewegung, hinter die sich alle stellen können (siehe Anhang), teilweise auch mit zivilem Ungehorsam, indem die Maschinerie gestoppt wird, welche die Umwelt kaputt macht. Die Zeit von vorsichtigen Statements der großen Klima- und Umweltbewegungen sind vorbei. Die Zeit der Zersplitterung ist vorbei; eine Einheit des Engagements, ein Ruck wird gebraucht, auf der Wissenschaft aufbauend, die die Kraft hat, dieses Abenteuer voranzutreiben.

Zum Aufbau des Buches und den Mitarbeitenden, zu Wissenschaft und Politik

Die Form der Erzählung im ersten Teil des Buches ist hoffentlich besser geeignet als ein reiner Sachtext, um die Fakten und Probleme zu vermitteln, denen die Jugendlichen und wir Wissenschaftler_innen begegnet sind und die unsere Aufgabe jetzt definieren.

Zwischen dem ersten Streiktag von Greta und dem ersten globalen Aufstand vom 15. März mit 1,5 Millionen Kindern liegen 26 Freitage auf dem Stockholmer Münzplatz, ein komplexes soziales Gefüge entsteht, das den Kern des globalen Netzwerkes bildet. Generationen arbeiten zusammen. Auf ihm wird mit Politiker_innen gestritten; zu ihm kommen die renommiertesten Wissenschaftler_innen. Auf ihm tauchen immer mehr Kameras auf sowie Medienvertreter_innen. Hier werden Plakate gemalt und die Kommentare von Schurken kommentiert. Hierher kehren die Jugendlichen nach ihren Reisen zum WEF in Davos und zur COP in Polen voll von Abenteuern zurück. Und hier werden untereinander Freundschaften geschlossen und Vertrauen aufgebaut: Eine Kerngruppe schweißt sich zusammen, die die Welt verändern will, und wird. Es werden dann über 100 Freitage auf dem kleinen Platz am Rande der Stockholmer Altstadt, aber auch via Internet und Telefon; zwei Jahre mit den aktivsten Jugendlichen und Wissenschaftler_innen weltweit, die sich bald anschließen, in den Schweizer Städten, in Uganda, Australien, Brasilien und Kanada. Tausende Entscheidungen stehen auf diesem Experimentiertort der Demokratie an: Wie soll die Bewegung überhaupt aussehen und wie strickt man ein globales Netzwerk? Welche Ziele sind die wichtigsten? Was ist die Rolle der Wissenschaft? Und vor allem: Wann könnte der Streik aufhören? Wann wäre die Welt ein Ort, an dem sich die Jugendlichen wohl und geborgen fühlen können?

Dieser erzählende Einblick in die Geschichte der Klimabewegungen (und auch zur Schwesterbewegung Extinction Rebellion) ist aus meiner subjektiven Perspektive als Assistenzprofessor/Dozent der Stockholmer Universität erzählt, der in Schweden und der Schweiz aufgewachsen ist und beide Kulturräume kennt. In diesem Sinn handelt es sich auch um ein Buch zur Rolle der Wissenschaft, der Bildung und ihrem Verhältnis zur politischen Aktion. Dabei geht es nicht nur um eine Disziplin wie die Umwelt- oder Klimawissenschaft, sondern um den Versuch, diese zusammenzudenken mit den anderen universitären Fächern: Philosophie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Psychologie und Pädagogik etwa. Ich versuche in diesen Monaten auch, die Erfahrungen vom Münzplatz in meinen Unterricht an der Universität einzubauen, benutze Gretas Reden in meinen Seminaren zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, und versuche mit den Studierenden durch Rollenspiele und andere künstlerische Forschungsmethoden zu verstehen, was Wissenschaftlichkeit und Wahrheit sind. Mitverantwortlich für den Aufbau eines neuen Bachelor-Studienganges lasse ich sie etwa Stücke zu den Gerichtsprozessen schreiben, die Kinder auf der ganzen Welt gegen ihre Staaten führen, weil diese zu wenig tun, um die Klimakrise aufzuhalten. Was ist überhaupt die Rolle der Universität in dieser gemeinsamen Geschichte? Die Abschnitte zur Universität sind vom Rest des Textes durch eine Markierung am Rand und die veränderte Schriftart abgehoben.

An diese Geschichte gliedert sich dann ein gemeinsamer Rück- und Ausblick an, der viele Gespräche mit Loukina Tille und Isabelle Axelsson spiegelt, zwei der zentralen jugendlichen, global engagierten Klimaaktivist_innen aus Schweden und der Schweiz. Worum geht es der Bewegung und welche Forderungen gibt es? Was bedeuten »Klimagerechtigkeit« und »hört auf die Wissenschaft«? Und schliesslich: Welche Rolle und Aufgabe haben alle, auch die Erwachsenen?

Von Anfang an waren Reflexionen auf das, was sich in einem rasenden Tempo abgespielt hat, ein wichtiger Teil der Bewegung. Dabei spielt die Achse zwischen Schweden und der Schweiz eine zentrale Rolle, und damit auch die Ideen und Aktionen von Loukina Tille und Isabelle Axelsson. Als sie anfangen zu streiken, sind sie noch Schülerinnen, die plötzlich ihre Klassenzimmer verlassen. Jetzt studieren sie Umweltwissenschaft und Kulturgeographie an der ETH in Zürich und an der Universität Stockholm. Loukina Tille aus Lausanne hat die Klimabewegung in der Schweiz mitaufgebaut. Schon ganz früh in Kontakt mit Isabelle und den Stockholmer_innen hat sie regelmäßig die globalen Sitzungen aller Streikenden geleitet, das erste internationale Treffen mit 400 Jugendlichen, unter anderem Greta und Isabelle, an der Universität Lausanne an die Hand genommen und die globalen Streiks mitorganisiert. Isabelle Axelsson hat sich etwa gleichzeitig dem Stockholmer Streik angeschlossen und zusammen mit Loukina Reisen zur EU in Straßburg geplant und durchgeführt, mit ihren »Peers« die globale Organisation aufgebaut und sich mit ihr bei den Konferenzen in Lausanne und beim World Economic Forum in Davos getroffen. Ohne die beiden und ihr Interesse für den Austausch mit der Wissenschaft und den Wissenschaftler_innen weltweit sähe die Bewegung anders aus.

Doch auch wenn Greta, Isabelle und Loukina einen großen Teil der weltweiten »Wissenschaftselite« der Klimawissenschaft hinter sich versammeln, von Uppsala und Stockholm bis Manchester, New York und Potsdam – die Reaktion durch die Politik bleibt bisher weitgehend aus. »Bist du glücklich über die Entwicklung?«, fragt eine Reporterin von der Financial Times, später, als eine Million Kinder streiken. »Ich bin glücklich, wenn ich die Jugendlichen sehe, die sich überall an meine Seite stellen und dasselbe tun wie ich. Nicht mehr mitmachen. Das macht mich glücklich«, sagt Greta. »Aber es ist ja noch nichts passiert«, fügt sie hinzu. »Es hat sich ja noch nichts verändert. Die Emissionen steigen, weltweit.« Auch in den reichsten Ländern wie der Schweiz, Deutschland und Schweden gehen sie kaum zurück.

Schweden hat eine grüne Vize-Staatsministerin, als die Jugendlichen ihren Streik beginnen, und auch als ein halbes Jahr später am 15. März 15.000 Kinder vor dem rot-grün regierten Parlament ihre Wut an diese Regierung richten – und mit ihnen fast zwei Millionen vor über 100 Parlamenten weltweit. Sie streiken vor diesen Parlamenten, weil die Regierungen in Schweden, in Deutschland, Österreich und der Schweiz in diesem Sinn die Wissenschaft nicht ernst nehmen, also etwa die Wissenschaftler_innen aller Stockholmer Universitäten, die mehr und mehr auch auf dem Münzplatz auftauchen. Würde Schweden sich an das Pariser Abkommen halten, das fast sämtliche Staaten der Welt 2015 unterzeichnet haben, müsste das Parlament Gesetze erlassen, die diesen Ausstoß jedes Jahr um mehr als zwölf Prozent mindern, sagen die Wissenschaftler_innen der Universität Uppsala (Anderson et al. 2020). Die Jugendlichen streiken, weil die Regierungen mit ihrer Rede von »Klimaneutralität« oder »Netto-Null-Emissionen im Jahr 2050« das Pariser Abkommen gerade nicht einhalten; so sagen es zahlreiche Forscher_innen. Sie streiken, weil sie verstehen, dass die Bevölkerungen aller Länder in einen Aufruhr geraten und sich solidarisch zusammenschließen müssten, um ein würdevolles Leben für alle Menschen auf diesem Planeten zu ermöglichen. Und sie wissen, dass dies innerhalb der nächsten zehn Jahre geschehen muss.

Eigentlich haben wir uns, also unsere Regierungen, auf die Einhaltung des Pariser Abkommens geeinigt. Dies verpflichtet uns, alles dafür tun, um die Temperaturerhöhung deutlich unter zwei, wenn möglich unter 1,5 Grad zu beschränken. Der IPCC-SR1.5-Rapport, von allen UNO-Ländern angenommen, zeigt auf, dass wir dieses Ziel in sechs, sieben Jahren bereits verfehlen, wenn wir so weitermachen wie bisher: dass wir eine absurd winzige Menge an CO₂-Emissionen übrig haben (2020: etwa 350 GT). Und der Gap-Rapport der UNO zeigt, dass die bereits jetzt etablierte und vertraglich geplante fossile Infrastruktur (Kohle, Öl, Gas) in den nächsten zehn Jahren ungefähr das Doppelte an erlaubten Emissionen ausstößt (UNEP Production Gap Report 2019). Wir sind auf dem Weg in eine viel wärmere Welt noch zu Lebzeiten der Kinder, die auf den Straßen stehen, mit bis zu drei Milliarden Menschen auf der Flucht vor unbewohnbaren, zu heißen Erdteilen (Xu et al. 2020), und mit großen Teilen der Gletscher und damit der Wasserversorgung weltweit geschmolzen. Deswegen sagen auch die Scientists For Future: Wir brauchen systemische Veränderungen, und wir alle müssen das Heft selbst in die Hand nehmen. Und die Füße auf die Straße stellen.

Wie das gehen könnte, versuchen die nächsten Seiten zu skizzieren. Ein herzlicher Dank sei dabei an Jana Eriksson gerichtet. Sie ist die Fotografin vieler Bilder dieses Bandes und selbst Teil der Stockholmer Klimabewegungen.

Vielem wird das Buch nicht gerecht werden. Einige wichtige Personen treten vielleicht nicht auf, weil ich ihnen von meiner Stockholmer (europäischen, erwachsenen) Perspektive aus nicht begegnet bin. Insofern handelt es sich nicht um eine journalistisch recherchierte Geschichte von Fridays- und Scientists For Future. Doch es ist zu hoffen, dass diese Erzählung dazu führt, dass am Ende deutlicher wird, worum es dieser Gruppe von Jugendlichen und Wissenschaftler_innen geht, und was dies für uns alle bedeuten kann – was unsere Rolle für die gemeinsame Zukunft ist.

Intergenerationelle Herausforderung und die Idee einer vereinten zivilgesellschaftlichen, globalen Bewegung

Fridays For Future wurde von Greta zusammen mit Mina, Edit, Eira, Tindra und Morrigan am 7. September 2018 ins Leben gerufen. Es ist eine von Jugendlichen initiierte Bewegung, und das hat Konsequenzen. Wie der UNICEF-Text von Roger Hart (1992) so klug unterscheidet, gibt es eine ganze »Treppe« von intergenerationellen Zusammenarbeitsmöglichkeiten: von durch Jugendliche initiierte und nur von Jugendlichen durchgeführte Projekte bis hin zu von Erwachsenen initiierte und für Kinder geleitete. FFF ist ein von Jugendlichen initiiertes und geleitetes Netzwerk. Die Bewegung ist »youth led«, von Jugendlichen geleitet. Erwachsene können höchstens helfen – wenn sie gefragt werden; oder wenn sie sich als »Parents«, »Artists«, »Scientists« und so weiter selbst organisieren. So ist es eine Aufgabe der Erwachsenen, den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie an sie glauben, an ihre Ideen und ihnen zutrauen, selbst agieren zu können. Dabei tritt eine universale Macht-Imbalance zwischen Kindern und Erwachsenen auf, so die schwedische Theaterregisseurin Suzanne Osten (2000), die mit dieser These die Kultur in ihrem Land geprägt hat wie sonst vielleicht nur Astrid Lindgren. Die »Grown-ups« können zuhören, auch helfen. Sie müssen aber vor allem, so die Grundidee des Buches, selbst weiter an der »Hand« der vereinten Klimabewegungen arbeiten, die aus den »Fingern« wie Fridays For Future, Extinction Rebellion, den NGOs und so weiter besteht. Es genügt eben nicht, den Jugendlichen auf die Schultern zu klopfen. Wie wäre es, wenn wir uns als »People For Future« zusammentun, in einer globalen, vereinten Bewegung, der sich jeder Mensch einfach anschließen kann (siehe Anhang)? Einer Bewegung, die die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes und den Betrieb der deutschen Kohlekraftwerke stoppt, die Schweizer Banken an der Finanzierung der fossilen Industrie hindert und zusammen weltweit eine nachhaltige, gerechte Gesellschaft aufbaut, die für die Bedürfnisse aller sorgt – mit einer regenerativen Landwirtschaft, die vor allem auf pflanzlichen Produkten aufbaut, einem öffentlichen fossilfreien Transportsystem, einem weltweiten erneuerbaren Energiesystem und einer Wirtschaft, die alle aufblühen lässt und sich im Rahmen der planetaren Grenzen hält; so ungefähr das »Zukunftsbild«, an dem die Scientists For Future arbeiten. Und eine nachhaltige Demokratie stärkend, die gerecht ist gegenüber dem globalen Süden und welche strukturelle Dominanzverhältnisse in Bezug auf Gender, Klasse und Ethnizität beseitigt. Wenn man genau hinsieht, ist es genau diese Bewegung, die in den letzten zwei Jahren entstanden ist.

Die Unbekannten

Greta (am 15. März, dem Tag des ersten globalen Streiks, auf dem Münzplatz in Stockholm): »Wir haben das Problem der Klimakrise nicht verursacht, es war plötzlich da. Und wir müssen damit umgehen, unser Leben lang. Wir akzeptieren nicht, dass ihr nichts tut. Wir akzeptieren es nicht!«

Es ist Mitte Juli 2018. Ein gewöhnlicher Tag in den Sommerferien. Loukina Tille spaziert in der Nähe von Lausanne durch die Gegend, klaut einige Kirschen, denkt an ihr nächstes Schuljahr, das das letzte sein wird. Im nächsten Sommer wird sie an die Uni wechseln, nach Zürich vielleicht. In den Nachrichten flimmern die Bilder von Waldbränden vorbei. Es ist unerträglich heiß. In Schweden brennen die Bäume wie Streichhölzer. Auch Miri in St. Gallen hört es, setzt sich in den »Schwarzen Engel« und trinkt einen großen Schluck von einem erfrischenden Saft. Wie soll das nur weitergehen, denkt sie. Und auch Jonas in Zürich macht sich Gedanken, während die Menschen von den hohen Mauern der Gehwege in die Limmat hüpfen, um sich abzukühlen. In Uganda sind es Leah, Hilda und Vanessa, in Australien sind es Toby und Jean, auf den Philippinen Mitzi, in Brasilien Valentina und Joao, in England Anna und Lilly, in Amerika Isri und Jamie, Saoi auf Irland, Dylan in Schottland, in Italien David und Annika und Leonie in Deutschland, die sich Sorgen machen. Sie alle sind um die 17, dieselbe Generation. Auch in Holland bildet sich in Balders Gesicht eine große Falte. Er wird in der nächsten Woche nach Stockholm ziehen, einige Monate als Erasmus-Student da verbringen. Und dort, in ganz verschiedenen Teilen der schwedischen Hauptstadt, sitzen Tindra, Isabelle, Ell, Simon, Mina, Minna, Edit, Eira, Morrigan, Mayson, Melda, Edward, Astrid, Vega, Ebba und Greta; und und und. Sie kennen sich nicht, genau so wenig wie die anderen Jugendlichen; aber sie werden sich kennen lernen. Einige gehen seit Jahren auf dieselbe Schule, ohne sich je zur Kenntnis genommen zu haben, sind in den Geschäften der Stadt unzählige Male aneinander vorbeispaziert. Sie teilen dieselbe Angst und Wut. Die Erwachsenen machen die Umwelt kaputt. Sie zerstören systematisch den Planeten.

Auf dem Münzplatz am Rand der Stockholmer Altstadt ist es derweilen ruhig. Wenn man genauer hinsieht, kann man erahnen, dass die zwei riesigen Blumentöpfe leicht angespannt sind. Sie warten. Die übergroßen Steinklumpen, aus denen die königliche Schlossmauer besteht und die den Rand des Platzes bilden, sehen zu ihnen herüber. Auch sie warten. Es ist etwas im Anmarsch. Nicht nur ein Waldbrand. Sie warten auf die »Freitage«, die kommen werden. Und die ihnen eine wichtige Rolle geben.

Fridays For Future gibt es noch nicht, aber es gibt sie alle als einzelne mit ihren Sorgen. Sie sitzen in ihren Zimmern, und auf ihren Handy-Bildschirmen flimmern Bilder von Überschwemmungen und von Dürren vorbei, absurde Bilder von abgeholztem Wald und kahlen Kohlegruben. Und von Politiker_innen, die nichts tun. Sie fühlen sich noch machtlos. Was sollen sie denn anstellen? Wie sollten sie, die einzelnen, noch nicht einmal Stimmberechtigten, etwas verändern?

In diesem Herbst, der bald anbricht, werden in Stockholm die Abende schnell kürzer, auch auf dem Münzplatz vor dem Schloss. Dann fällt das Abendlicht in die Fenster der teuersten Wohnungen des Landes, die man vom Platz aus sehen kann. Sie bieten einen Blick auf die Meeresbucht, die die Innenstadt von Stockholm prägt. Da stehen die merkwürdigen Gegenspieler_innen dieser Teenager und genießen das, wofür man so viel bezahlen muss: die Erfahrung einer atemberaubenden Natur. Es sind hier und in ähnlichen Häusern in Sydney, New York, Tokyo und Frankfurt die Chefs von BP, Exxon, Shell, aber auch die Finanzspekulanten, die mit Kohle, Gas und Öl Geschäfte machen, die Medienmogule, einige Politiker_innen auch. Ihnen gehört ein großer Teil des Vermögens, auch hier in Schweden. Sie können steuern, worin investiert und was produziert wird, und wie. Bald werden die Kinder sich zu einer Schar zusammensammeln, die an Anzahl diesen Mächtigen der »fossilen Gesellschaft« gleichkommt. Sicher wird auch das ein oder andere Kind dieser Verantwortlichen dabei sein, in den Demonstrationszügen. Aber der noch viel größere Akteur ist viel unscheinbarer. Es ist der Rest der Bevölkerung, die da an den Kindern auf dem Platz vor dem Schloss vorbeispaziert, eine bunte Masse von Mitbürger_innen. An sie wenden sich diese Jugendlichen, von Anfang an. Sie wollen die Verhältnisse ändern, indem sie sich in das Getriebe der Macht hineinstellen, mit ihren Körpern, und es aus dem Tritt bringen. Oft, wenn ich diesen Jugendlichen in den nächsten Monaten begegne, denke ich: wie viel Mut sie haben, die sie sich bei all den Ängsten aufraffen, jede Woche, und sich jeden Freitag auf den Münzplatz stellen (und auf all die Plätze weltweit), sieben lange Stunden lang, mögliche Strafen durch die Schulen in Kauf nehmend. Und, so geht es mir dann durch den Kopf: Es braucht Masse. Viele, die jetzt noch zögern, aber interessiert sind, müssen sich ihnen anschließen. Zwischen den Teenagern und den direkt Verantwortlichen für diese fossile Wirtschaft, Ideologie und Politik gibt es also uns alle anderen. Von ihnen handelt dieses Buch auch und vor allem: die, die kurz an das Klima denken, besorgt die Augenbrauen zusammenkneifen, und dann nicht recht wissen, was sie tun sollen, und weitermachen wie gewöhnlich. Wenn sich alle an die Seite der Kinder stellen, selbst streiken oder politisch handeln, kann sich der Lauf der Geschichte verändern.

Aber noch sind wir nicht so weit. Es gibt noch gar nichts, auf das wir antworten könnten. Es ist noch Juli 2018, und die Jugendlichen wissen nichts voneinander. Doch eine unter ihnen hat etwas geplant. An diesem selben Sommertag, an dem Loukina die Kirschen verspeist und Isabelle im Eiskiosk arbeitet, sitzt Greta auf den Holzplanken ihrer Veranda in Stockholm, erzählt sie später, vor sich ein Holzstück, das ein Schild werden soll. 2,50 Euro hat es gekostet. Was darauf geschrieben stehen soll, ist klar: »Schulstreik fürs Klima«. Aber wie soll sie die Buchstaben platzieren – ein gewisser Perfektionismus meldet sich. Sie malt sie vor, nur leicht. Das »für« muss klein zwischen den beiden anderen Wörtern Platz nehmen, die es von oben und unten einklemmen. Alles ist symmetrisch, klar und deutlich. Genug ist genug, sagt sie sich. Wenn die anderen nichts tun, dann tu ich was.

Erster Teil: Die Rebellion der JugendlichenVom Münzplatz in Stockholm zum globalen Streik

Kapitel 1: Die schwedischen Anfänge

August – Oktober 2018: Eine Idee nimmt Form an

Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran

Oktober – November: Ziviler Ungehorsam und Gesetze der Menschlichkeit

Kapitel 3: Das Fundament

November – Dezember: Der (klima-)wissenschaftliche Hintergrund

Kapitel 4: Die internationale Bewegung entsteht

Dezember – Januar 2019: COP-Treffen und Klimagerechtigkeit

Kapitel 5: Davos und das World Economic Forum

Januar – Februar: Was ist wertvoll und was ist eine Wissenschaft der Ökonomie?

Kapitel 6: Der Aufstand

Februar – April: Der erste globale Streik, die Belagerung von London und die Gründung von »Scientists For Future«

Der Münzplatz (»Mynttorget« auf schwedisch) – eingerahmt vom schwedischen Parlament links und rechts vom königlichen Schloss.

Kapitel 1: Die schwedischen AnfängeEine Idee nimmt Form an

Vorbereitungen

Der schönste Raum unseres Instituts an der Stockholmer Universität hängt in fünf Metern Höhe über die Fassade hinaus in einen kleinen Wald hinein, umgeben von drei Glaswänden. Hier soll das neue Semester vorbereitet werden. Vor allem ein Workshop zum Thema Klimakrise und Nachhaltigkeit will nun im Detail geplant sein. Hast du eine Idee, wende ich mich an das Schaf, das hinter der Wand im Wäldchen steht und mich ansieht. Wie bloß die Dringlichkeit der Klimakrise vermitteln, ohne dass die Studierenden die Ohren zuklappen? So, dass sie, die zukünftigen Lehrer_innen von Schweden, sich getrauen, dem Mitgefühl für die Mitmenschen und der Faszination für die Natur Raum zu geben? Was denken eigentlich die Schulkinder selbst über unsere Art, mit der Natur umzugehen, global? Da ansetzen; das könnte funktionieren. Schnell festhalten. Computer aufgeklappt, und mein Blick fällt auf eine Zeitungsnotiz im Netz. Ein Kind sitzt allein vor dem Parlament, im Zentrum der Stadt, keine zwanzig Minuten entfernt, und streikt.

Der Streik vor dem Streik – das erste Treffen

Als ich einen Tag später Greta zum ersten Mal bei ihrem Streik vor dem Parlament besuche, gibt es Fridays For Future noch nicht, nur die grundlegende Streikidee. Sie sitzt zwischen den beiden Teilen des pompösen Parlamentsgebäudes, jeden Tag während der letzten drei Wochen vor den schwedischen Wahlen, nicht nur an den Freitagen. Es ist ein Dienstag, im späten August, und es ist unerträglich warm. Ich setze mich hin und frage sie, was sie uns allen sagen will. Nachdem ich die Notiz in der Zeitung gesehen hatte, fragte ich meine Universitätskolleg_innen: Sollen wir da vorbeigehen? Wir sollten zumindest hinhören. Greta hatte sich am Montagmorgen zuvor das Schild geschnappt, auf dem nun schwarz auf weiß in großen Buchstaben »Schulstreik für das Klima« steht, hatte sich einige Antworten überlegt, die sie Journalist_innen geben könnte, erzählt sie mir später, vernünftige Kleider für den Streiktag ausgewählt und sich mit dem Fahrrad zum Parlament begeben, hatte sich einen Platz ausgeguckt mitten im Zentrum der schwedischen politischen Macht, ihre Yogamatte ausgepackt und sich dann eben allein auf den Boden gesetzt.

Jetzt sitzt sie da und sagt: Dies hier ist eine Krise. Einige andere Jugendliche und zwei, drei Erwachsene sitzen etwas weiter weg. Eine Krise? Ja, eine Krise. Ein A4-Blatt liegt vor ihr, voll mit wissenschaftlichen Fakten, die dies aufzeigen; nämlich was wir Erwachsene, oder einige von uns Menschen, in den letzten fünfzig Jahren mit der Umwelt angestellt haben.

Erst viel später, im Januar, als Greta bereits weltberühmt ist und Fridays For Future sich global etabliert hat, lese ich dieses Papier aus den ersten Tagen wirklich durch. Vor dem Parlament in der Hitze des Spätsommers fliegen meine Augen nur drüber hinweg. Ich sehe einige bekannte und einige völlig unbekannte Zahlen und Kommentare. Die ganze Seite ist eng bedruckt. Wir müssen in den reicheren Ländern die Emissionen mit mindestens 10–15 Prozent reduzieren, jedes Jahr, von jetzt an. Wir Menschen haben 80 Prozent der Säugetierpopulationen ausgerottet, zu Land und zu Wasser. Wir sind daran … So geballt ist die Information, dass es einem ganz schwindelig werden kann. Es sind nur Buchstaben und Zahlen, aber dahinter ein Leiden, das Menschen anderen Menschen und Tieren antun. Wie damit umgehen? Vielleicht auch deswegen braucht es Monate, bis ich es genau studiere, dieses Papier. Es ist einfach schwer zu verdauen. Es ist aber voll mit dem Wissen, das der Staat verbreiten und die Schulen den Kindern vermitteln sollte. Wochen später, als wir uns jeden Freitag austauschen und sich uns eine Klimawissenschaftlerin von der Universität anschließt, wird mir bewusst, wie belesen Greta ist; aber nicht nur, dass sie die Fachliteratur kennt, sondern auch die Zusammenhänge versteht und vor allem gewichten kann: Was ist das Zentrale; was sind die größten Risiken; was ist unsere Rolle als Erwachsene, die eine Zerstörung anrichten, die wir unterlassen könnten? Ich bin es, der hier lernt, und es wird Monate dauern, mit wöchentlichen Gesprächen, bis ich ganz verstanden habe, worum es ihr geht. Es sind vor allem Risiko-Einschätzungen, die sie aufzeigt: Mit welchen Zahlen operieren eigentlich die Politiker_innen, die keine zehn Meter von uns in das Parlament gehen; und ist das zu verantworten oder machen sie es sich bequem, ignorieren Risiken wie Kipppunkte, setzen auf nicht vorhandene Technologien, schließen ihre Augen vor den UNO-Rapporten und vor der intergenerationalen und globalen Gerechtigkeit? Wälzen sie einfach die Aufgabe einer Gesellschaftsumgestaltung auf die Generation der Kinder ab?

Ich bespreche die Auswahl und die Bedeutung der Fakten in den nächsten Wochen mit meinen Kolleg_innen an den verschiedenen zuständigen Instituten der Universität. Sie geben den jugendlichen Streikenden recht.

Aber für den Augenblick genügt es Greta, zu sagen, dass wir uns in einer Krise befinden und dass die Erwachsenen dies auch so darstellen sollen. Ah, sag ich, und rede noch etwas weiter. Ich habe Kiwi-Smoothies mitgebracht, in einer Plastikverpackung, schäme mich wegen des Plastikmülls, den ich angeschleppt habe und breche nach einer Weile wieder auf, aufs Äußerste verwirrt, berührt und mitgenommen. Der Ernst und das Durchschauen der wissenschaftlichen Grundlagen haben eine leise, aber enorme Kraft. Vor allem, denke ich: Diese streikenden Jugendlichen sitzen da nicht nur als sie selbst, sondern sie geben einer Idee Platz; nämlich, dass niemand dieses Tun der Welt akzeptieren muss. Man kann sich, selbst wenn man klein ist, in die Mitte dieser Maschinerie setzen, sich weigern, den Regeln der Erwachsenen zu folgen, und die Schule ausfallen lassen.

Eine halbe Ewigkeit später, es ist inzwischen bitterkalter Winter und die Rebell_innengruppe hat 20 Freitage lang auf dem Münzplatz vor dem Parlament gestanden, werden wir alle just dort vor dem Parlament einen Schneeelefanten bauen, oder genauer gesagt seinen linken Fuss, und über die Journalist_innen lachen und schimpfen, die ihre investigativen Fragen stellen: ob die Jugendlichen ferngesteuert seien, Geld mit ihrem Aktivismus verdienen und so weiter. Greta und die anderen werden nach Katowice gefahren sein, nach Straßburg und nach Davos und ihre weltweit verbreiteten Reden gehalten haben. Aber damals, an diesem Augusttag wissen wir natürlich nichts von alledem. Noch sitzen nur einige Kinder zwischen den Steinmassen der politischen Macht. Wann könnten sie mit ihrem Streik aufhören, frage ich mich. Auf jeden Fall muss ich zurückkommen, und mehr hören von denen, um deren Zukunft es geht. Und das ist schon in diesen ersten Tagen nicht mehr nur Greta. Denn eine um die andere hat sich in diesen Tagen zu ihr hingesetzt. Tindra, Mina, Edit, Eira, Morrigan, Melda, Mayson und so weiter. Es werden nicht viel mehr, aber sie machen den ganzen Unterschied aus. Gretas Idee hat Fuß gefasst. Die Kerngruppe der Jugendlichen hat sich gefunden; und sie schmieden Pläne.

Der Anfang von Fridays For Future – an einem Samstag

Und so beginnt die eigentliche Geschichte von Fridays For Future – an einem Samstag. Da geht der dreiwöchige Streik der Kinder über in etwas Neues, eben in #FFF, eine Bewegung. Dass es dazu kommt, liegt daran, dass die Schwed_innen am Tag darauf, dem Sonntag, ein neues Parlament wählen sollen – und deswegen hat ein Zusammenschluss an Klima-Aktivist_innengruppen zu einer Demonstration aufgerufen. Am Rande der Innenstadt, im berühmt-berüchtigten Rålambshovs-Park, befindet sich in Stein gehauen ein kleines Amphitheater. Dort haben wir uns alle versammelt, 1.000 Leute vielleicht, und lauschen Reden zur Klimakrise und Gesang.

Auf einmal werden die Streikenden rund um Greta angekündigt, die mittlerweile bekannt ist, nach ihren drei Wochen des täglichen Streikens. Mit ihr spazieren noch drei weitere Schulkinder auf den Platz. »Hej.« »Hej«, antworten alle. »Nehmen Sie bitte ihre Telefone hervor«, sagt Greta. »Ich werde jetzt auf Englisch wechseln und etwas ankündigen.« Pause. Ich nestle mein Telefon hervor und drücke auf »Einspielen«. Sie sagt, direkt und klar, auch auf Englisch, aber noch sehr leise in diesen ersten Wochen, »hej, ich heiße Greta Thunberg, dies sind Morrigan, Edit und Mina, und wir werden von jetzt an jeden Freitag vor dem Parlament streiken. Wo immer du auch bist auf der Welt, setze dich vor dein Rathaus oder Parlament und streike mit uns, jeden Freitag. Bis die Regierungen auf der Linie des Pariser Abkommens sind. Jede wird gebraucht, jeder ist willkommen. Danke.« Viele posten das Video. Und einige von denen, die es sehen, werden anfangen zu streiken. Und sie sitzen nicht in den Vororten von Stockholm, sondern in Brüssel, Zürich, Berlin, Melbourne, Rio. Greta geht unterdessen nach Hause und bastelt selbst einen kurzen Film, der auch noch nach Monaten als Topmeldung an ihren Twitter-Account angeheftet ist. In einem kleinen Wald spielt sie ihre Grundidee ein: Setzt euch vor die Parlamente, jeden Freitag; die Lage ist so akut, dass wir Kinder handeln müssen. Sie schließt diesen Aufruf mit dem Hashtag #FridaysForFuture ab, den sie sich ausgedacht hat. Etwas mit Zukunft soll es sein, und dann die Alliteration mit den Fs – der Name der Bewegung ist geboren.

28. August: Der französische Umweltminister Hulot tritt aus Protest gegen Emmanuel Macrons Klimapolitik zurück.

Der Münzplatz

Die Streikenden haben zwei Dinge erfunden, die Streikidee – und den Münzplatz als ein ganz spezieller Ort, eine Art demokratischer Raum. Hier wird die Bewegung entstehen. Die Polizei weist ihnen den Platz zu. Sie sollen nicht direkt zwischen den Parlamentsgebäuden sitzen: Der Münzplatz liegt direkt vor dem Parlament, oder dahinter, wenn man vom Sitz der Regierung kommt, dem »Rosenbad«; eingeklemmt zwischen königliches Schloss, Altstadt und eben Parlament. Zu Beginn im September tasten sich die Streikenden noch voran. Alles ist unbekannt. Weil es sich um einen Schulstreik handelt, wird während der Schulzeit gestreikt, von acht Uhr am Morgen bis drei Uhr am Nachmittag. Wie sollen überhaupt die sieben Stunden auf dem Platz genutzt werden? Wenn schon nicht Schule, was dann? Oft sitzen sie da, ruhig an die Mauer gelehnt vor dem Parlament und genießen die Herbstluft, die etwa zehn Stammstreikenden der Fridays For Future-Bewegung. Ein Ernst prägt die Situation. Ihnen ist bewusst, dass sie in der Schule sein müssten und dass sie ein Risiko eingehen; Strafen sind möglich. Einige Fische springen aus dem Wasser des Mälarsees; die Wachablösung vor dem königlichen Schloss spaziert vorbei. Hier und da kreist eine Möwe über die Köpfe, oder sogar ein Meeresadler. Manchmal Stille für viele Minuten. Dann schlägt jemand ein Spiel vor. Oder jemand erzählt eine Geschichte, Greta studiert ein Schulbuch. Die Politiker_innen gehen vorbei und verschwinden in ihren Parlamentarier_innen-Büros, ohne zu grüßen. Busse fahren vorbei. Manchmal hält ein Auto, stellt eine Kiste Bananen hin, hupt freundlich und fährt wieder davon.

Eine Generation bäumt sich auf

Es ist eine ganze Generation, die sich langsam aber sicher aufbäumt. Schon seit einigen Monaten brodelt es. In den USA ist die Sunrise-Bewegung am wachsen. Sie wird in wenigen Wochen die junge Parlamentsabgeordnete aus New York, Alexandria Ocasio-Cortez, dazu bringen, einen »Green New Deal« vorzuschlagen: einen groß angelegten Entwurf, wie innerhalb von zehn Jahren eine Null-Emissions-Gesellschaft im Energiesektor erreicht, grüne Jobs geschaffen und soziale Sicherungssysteme eingeführt werden können. Die Jugendlichen beäugen auf dem Münzplatz die Idee des »Green New Deal« mit interessiertem und kritischem Blick. Ist das ein ernsthafter Versuch, die Klimakrise zu bewältigen oder nur eine Wirtschaftsankurbelungsidee? Einige der Sunrise-Teenager haben außerdem seit einigen Monaten den amerikanischen Staat in einen formellen Prozess gezwungen, weil dieser der Klimakrise nicht gerecht wird und das Leben zukünftiger Generationen auf das Spiel stellt (»Juliana v US«; siehe www.youthvgov.org). Auch in Holland verklagen Teenager die Regierung, weil sie zu wenig tut angesichts einer katastrophalen Klimakrise. Und bekommen recht. (Zur Möglichkeit, die Gesetzgebung durch Prozesse von Jugendlichen drastisch zugunsten einer nachhaltigen Zukunft zu verändern: Holthaus 2020.) In der Nähe von Utrecht spaziert die zehnjährige Lilly (@lillyspickup) herum und wird berühmt mit ihren lustigen Video-Clips, die alle dazu auffordern, Plastikmüll zu verhindern und einzusammeln. Greta besucht sie in diesen ersten Wochen und streikt mit ihr. Lilly wird zu einem festen Bestandteil von FFF und trifft im EU-Parlament auf die Jugendlichen aus Schweden. Doch die wissen noch nichts von ihr, und noch nichts von einander; denn sie sind noch nicht auf den Münzplatz gekommen. Dabei stehen diese Jugendlichen auf starken Schultern. Schon seit Jahrzehnten sind es vor allem von Frauen und von der indigenen Bevölkerung geleitete Klimagerechtigkeits-Graswurzelbewegungen im globalen Süden, die ihnen den Weg bahnen. Sie stellen sich buchstäblich in den Weg der Öl- und Kohleindustrie in Ecuador, Kanada, Australien oder rund um Manaus im Regenwald von Brasilien (dazu Margolin 2020).

Die Erfindung

Was erwartet die Jugendlichen auf dem Münzplatz? Vor allem eine Grundidee. Greta hat von Anfang an das etabliert, was den Kern der jungen Klimabewegung ausmachen wird. Es wird noch Wochen und Monate dauern, bis ich dies ganz verstehe, so vertraut sind mir alte Denkmuster von Aktivismus und von politischem Engagement. Sie hat etwas Neues erfunden. FFF ist im besten Sinn des Wortes eine Erfindung. Und sie hat nur wenige Zutaten: die Schulkinder, vor dem Parlament; am Freitag streikend; mit ihrem Infopapier; dem Hashtag #FridaysForFuture; und dem Schild an ihrer Seite. Das klingt zunächst selbstverständlich. Aber es ist eine sehr spezielle Kombination von Zutaten. FFF als Bewegung ist an jemanden gerichtet, spricht die Machthabenden an: Sie setzen sich vor das Parlament. Sie blockieren nicht nur Benzinstationen oder Kohlekraftwerke, streiken nicht zuhause oder vor der Schule, sondern vor der Macht, den Machthabenden. Diese sollen sich ändern. Sie getrauen sich, sich direkt an die zu richten, die in der Verantwortung stehen. Dadurch können sie die ganze Energie von Hunderttausenden fokussieren, werden die Stimme einer Generation, die sich aufbäumt. So tun es auch Luisa und Jakob in Berlin bei Minister Altmaier, so tun es die Schweizer Streikenden, wenn sie vor dem Parlament in Bern sitzstreiken. Dies ist neu. Wir hatten mit »Occupy« zehn Jahre zuvor allgemein Plätze okkupiert, aber nicht Parlamente. Die Jungen etablieren direkt eine Kommunikation mit denjenigen, die verantwortlich sind. Das gibt der Bewegung ein Ziel, nicht nur räumlich, wo man sich in den Städten versammeln soll, sondern auch politisch: Die Regeln müssen sich ändern, sagt Greta schon früh, bei ihrer ersten Rede in Helsinki: »The rules have to change«. Zutat Nummer zwei: Sie rebellieren. FFF ist eine Rebellion, weil Greta den Freitag wählt. Es ist ein wirklicher Streik, keine Demonstration. Schluss mit Riesendemonstrationen der 90er und 00er, die oft einfach nach einiger Zeit aufgehört haben. Der Gesetzesübertritt des Streikes – es herrscht Schulpflicht – markiert die Dringlichkeit und die Entschlossenheit der Jugendlichen, die sich weigern, in einem System mitzumachen, das ihre eigene Zukunft unmöglich macht. Auch das ist neu (oder zumindest selten gesehen – während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gab es ähnliche Konfliktstrategien durch Jugendliche): ein kollektiver Akt zivilen Ungehorsams von Kindern. Der Schulstreik ist dabei eine Rebellion, die ohne Gewalt vor sich geht und der sich jede_r anschließen kann. Außerdem kann man allein anfangen; niemand kann wirklich allein demonstrieren. Die dritte Zutat: Greta legt immer ihre A4-Seite mit den Fakten neben sich auf den Boden. Worum es den Kindern geht, ist nicht ein politisches Manifest, in dem sie nur für eine Haltung und spezifische Maßnahmen argumentieren, sondern der Hinweis auf die Wissenschaft, die überwältigende Klimaforschung, die IPCC-Rapporte und die Ziele, auf die sich alle Staaten im Pariser-Abkommen verpflichtet haben. Das ist nicht verhandelbar. Allen steht so ein radikaler Kompass zur Verfügung, auf den die Weltgemeinschaft sich schon geeinigt hat. Außerdem wird FFF enorm volksbildend: Greta und die Mitstreikenden verbreiten an hunderttausende Junge ein Wissen um die zentralen Fakten, nicht nur zu den Mechanismen hinter der Erderwärmung, sondern überhaupt wie es um unser Verhältnis zur lebendigen Natur steht. Sie kann mit dem Fakten-Papier darauf hinweisen, dass sie ein Bildungssystem bestreikt, das sich selbst nicht ernst nimmt. All das geht gegen alle früheren politischen Bewegungen, die sich schnell in Policy-Dispute verstrickt und über Maßnahmen und kaum über Tatsachen geredet haben. Viertens: Sie hat ihr Schild dabei, immer gut sichtbar. Das heißt, dass sich die Jugendlichen nicht nur an die Macht wenden vor dem Parlament, sondern auch in die andere Richtung an die gesamte Bevölkerung mit der Aufforderung, sich ihnen anzuschließen. »Jede ist willkommen, jeder wird gebraucht.« Jeder Mensch, der vorbeigeht, die gesamte Öffentlichkeit, ist adressiert. Es gilt buchstäblich, keine Schwellen zu übersteigen. Man muss nur stehen bleiben. Fünftens: #FridaysForFuture etabliert Greta als Hashtag, nicht als Verein oder Organisation. Die Jugendlichen werden die sozialen Medien des Netzes verwenden, wie vielleicht keine Bewegung zuvor. Sie bilden eine Graswurzelbewegung, keine hierarchisch organisierte NGO. Buchstäblich alle Kinder auf der Welt können und sollen dabei sein. Es ist eine Generation, die aufsteht.

Bei den schwedischen Wahlen vom 8. September erreichen die Sozialdemokraten 28 Prozent, die Moderaten/Bürgerlich-Konservativen 19, die rechtsnationalen Schwedendemokraten 17, die grünliberale Zentrumspartei 8, die Linke 8, die Christdemokraten 6, die Liberalen 5 und die Grünen 4 Prozent. Die Verhandlungen beginnen und werden bis in den Januar andauern, bis es zu einer erneuten grün-roten Regierung kommt, unterstützt von Liberalen und Grünliberalen.

Die ersten Jugendlichen schließen sich an – die Rebell_innenbande findet sich

In diesen Tagen bildet sich das, was für die nächsten Monate und Jahre eine eng zusammenarbeitenden, kleine, aber sehr spezielle Gruppe wird – die Rebell_innenbande vom Münzplatz. Zuerst sind es fünf, schließlich zehn Jugendliche, die die Weltbewegung ins Rollen bringen. Die Medien, die nur auf eine von ihnen fokussieren, verpassen die eigentliche Hauptperson: die Jugendgruppe, von der Greta ein Teil ist.

Es ist ein Freitag im September, ein früher Morgen. Greta kommt wie immer um acht Uhr auf den Platz. Etwas später spazieren aus der Altstadt ihre »Stammstreikenden« herbei, wie sie schnell genannt werden. »Ich habe in der Zeitung einen Artikel über Greta gesehen und dachte: Sie kann doch nicht ganz allein dasitzen.« »Ja, ich habe es auch in der Zeitung gesehen. Lange wusste ich um die Klimakrise, aber nicht, was man machen soll. Es gab keinen Ort, zu dem man gehen konnte. Da dachte ich sofort, da geh ich hin. Auf Tasten zu drücken für Petitionen, das rettet ja nicht die Welt.« Viele von ihnen sagen, dass sie gesehen haben, dass da ein Kind, eine Gleichaltrige auf dem Boden sitzt, weil das Klima sich erwärmt und die Umwelt und die Mitmenschen leiden. Und dass sie das nicht akzeptieren können. Einige haben auch den Tipp zum Streik von ihren Großmüttern erhalten. Und so setzen sie sich dazu, zögernd zuerst, dann bestimmter. »Wir hatten eine Themenwoche dazu, eigentlich so über den Weltuntergang. Und dann gab es die Pause. Und dann ein neues Thema. Das fühlte sich surrealistisch an. Bei einem solchen riesigen Problem.« »Und je länger wir dasaßen, umso öfter kamen die Medien mit all ihren Fragen an uns, und wir hörten ja, was Greta sagt und wie schlimm es aussieht.« »Zuerst wollte ich nur drei Wochen hier sitzen. Aber wenn man versteht, wie ernst die Lage ist, da kann man ja nicht aufhören. Und da haben wir weitergemacht. Ich ging zur Schulleitung und habe gesagt: Ich komm’ übrigens nicht. Das ist das letzte Jahr im Gymnasium, aber ich muss Prioritäten setzen.«

Eigentlich ist kaum jemand von Gretas Mitstreikenden »nur« ein_e Umweltaktivist_in. Sie kommen nicht nur wegen des Klimas oder der Umwelt auf den Münzplatz; sondern »auch« wegen des Klimas. Die meisten sind hier, weil etwas an der Gesellschaft nicht stimmt, wie sie sagen, weil sie das Gefühl haben, dass die Schule die wirklichen Fragen beiseitelässt und weil sie das Wegschauen der Politiker_innen nicht mehr aushalten. Den sozialen Aspekt, Klimagerechtigkeit, verankern sie früh in den Texten, die sie schreiben. Und es geht ihnen um wirkliche Veränderung. »Es wäre so heftig, wenn so ungefähr ganz Stockholm streiken würde. Wenn wir die Gewerkschaften auf unsere Seite bekommen. Wenn alle Bankleute nicht zu ihrer Arbeit gehen. Dann gibt’s ein Problem.« Die Klimakrise sehen viele so als nur einen Aspekt von einem Gesamtbild von Problemen und zu verändernden Strukturen und Haltungen, den Tieren und Mitmenschen gegenüber. »Warum sind nicht einfach alle freundlich zueinander?«, fragt jemand. Kaum zu glauben, dass die Menschheit sich selbst abschafft. »Und warum macht die Politik nicht ihren Job? Das wäre doch ganz einfach ihre Hauptaufgabe: Regeln und Gesetze finden, die Sicherheit geben. Aber sie sehen die Krise gar nicht, rennen in die falsche Richtung. Deswegen sagen wir stopp. Darum geht es uns.« »Wieso gibt es keine Veränderung? Weil es sich nicht lohnt?« »Was ist das für ein dummes Argument? Okay, es kostet etwas, alles umzustellen, aber dafür haben wir einen lebenswerten Planeten. Das ist doch was.«

Oft an diesen Freitagvormittagen bleiben einzelne Passant_innen stehen, geben einen zustimmenden Kommentar, oder einen kritischen, und spazieren weiter. Wir genießen die Sonnenstrahlen. Manchmal bringt jemand etwas zum Ausdruck, was auf dem Münzplatz als Grundton auch anwesend ist, die Sorgen, die Verzweiflung und das fachliche Interesse für die Zukunft. Ist es überhaupt möglich, die Klimaerwärmung bei 1,5 oder zwei Grad aufzuhalten oder setzen sich selbst verstärkende Effekte ein? Was sagt die Wissenschaft eigentlich – sind wir auf dem Weg zu einer drei, vier oder sechs Grad wärmeren Erde? Wann wird dies eintreffen? Was bedeutet das für die Jugendlichen rund um den Globus? In diesen Situationen merke ich, wie wichtig es für mich ist, genaue Informationen einzuholen und die Argumente für die verschiedenen Zukunftsszenarien wirklich zu verstehen. Es wäre nicht gut, etwas schönzureden, aber dramatisieren will ich auch nichts. Ein Netzwerk müsste her, bestehend aus den klügsten Klimawissenschaftler_innen von meiner Universität, denke ich, und von anderen Universitäten auch. Und so entsteht in diesen ersten Wochen die Idee zu den Scientists For Future. Ich schreibe an eine bunte Mischung aus Professor_innen aus den verschiedensten Fachbereichen eine Anfrage und bitte sie, die Jugendlichen zu unterstützen. Es wird dauern, bis das akademische Umfeld wirklich reagiert. Manchmal stehe ich selbst mit einem Scientists For Future-Schild auf dem Platz. Ich will markieren, dass ich die Universität repräsentiere. Ängsten und Traurigkeit kann man am besten mit Wissen begegnen, denke ich, und damit, dass wir alle auf dem Platz verstehen, welche Szenarien es gibt. Was braucht es, um diese Maschinerie der »fossilen Gesellschaft« aufzuhalten? Wie kommen wir heraus aus der Krise?

Aber dann wechseln die Jugendlichen wie so oft von der Seriosität zum Spielerischen und knobeln an einer Idee, wie die Gruppe auch von zuhause aus miteinander kommunizieren könnte, indem sie alle gigantische Schnüre durch den Himmel von Stockholm spannen (und wir finden Bilder im Netz von einer Zeit, in denen der Himmel vor lauter Telefonschnüren tatsächlich kaum zu sehen war).