Genophea - Stefan Walz - E-Book

Genophea E-Book

Stefan Walz

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Beschreibung

1638: Der Soldat Andreas kehrt nach 3 Jahren zu seiner Jugendliebe Genophea in die Heimat zurück. Nichts und niemand soll sie mehr auseinanderreißen! Doch auf einem Feldzug verschwindet Andreas spurlos. Genophea beschließt ihn zu suchen und findet heraus, dass es noch eine zweite Frau seinem Leben gibt. Jakob, Andreas Bruder, der sie begleitet - scheint ebenfalls etwas zu verheimlichen. Bald versinken sie im Morast des Krieges. Doch Jörg Gauger, der Genophea heiraten will, unternimmt alles, um die junge Frau zu retten.

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Stefan Walz

Genophea

Historischer Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © duncan1890 – istock.com

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

ISBN 978-3-7349-9235-3

HISTORIE

Herzogtum Württemberg im Dreißigjährigen Krieg: Im Jahr 1638 war das Land als Folge der verheerenden protestantischen Niederlage bei Nördlingen nahezu entvölkert. Die Pest hatte im Jahr 1635 besonders stark gewütet, war aber inzwischen abgeflaut.

Doch der Hunger hielt immer noch an.

Während dieser Zeit trieben die kaiserlichen Heere die Schweden bis nach Pommern zurück. Ihr Einfluss kam zum Erliegen. Der Feldherr der schwedischen Truppen, Bernhard von Sachsen-Weimar, suchte darum die Nähe Frankreichs, das ihm Subsidien in Höhe von 4 Millionen Livres und die Aufstellung eines 18.000 Mann starken Heeres versprach.

Die habsburgischen Truppen drangen daraufhin bald in französisches Kernland ein und banden Bernhards Kräfte vor allem im Hochburg und in Lothringen. Doch als der schwedische General Banner bei Wittstock einen unverhofften Sieg errang, berief der Kaiser seine Truppen ab und stellte sie gegen die neuerliche Bedrohung im Norden des Reichs. Dadurch verringerte sich der Druck auf Bernhard von Sachsen-Weimar.

Da auch die Armeen der Kriegsgegner hungerten, arteten die heimtückischen Überfälle der Soldateska auf die Landbevölkerung in zügelloses Plündern und Morden aus. In Folge der Hungersnot lösten sich im Uracher Amt die Winterquartiere schon im März 1637 auf, wobei die Rückstände an Kontributionszahlungen trotz allem rücksichtslos eingetrieben wurden. Endlich – nach vollständigem Abbruch der Quartiere im Oktober konnte das Land ein wenig aufatmen. Doch die Narben der vergangen Jahre saßen tief. Durch die Entmenschlichung endete der verzweifelte Kampf ums Überleben häufig in schlimmen Auswüchsen und Exzessen. In Reutlingen häuften sich deshalb die Todesurteile.

Während des Winters 1637/1638 wurden dem Uracher Amt, das nun völlig ausgesaugt war, keine Quartiere mehr auferlegt. Das bayerische Heer konzentrierte sich in diesen Tagen vor allem am Oberrhein. Als Frankreich Bernhard von Sachsen-Weimar nun endlich die versprochenen Hilfstruppen in Aussicht stellte, wurde der Kaiser, dem es langsam an Mitteln fehlte, nervös.

In Erwartung der versprochenen Hilfe begann Bernhard seinen Feldzug daraufhin sehr frühzeitig. Er konzentrierte seine Kräfte am Hochrhein, wo er die starke Festung Breisach ins Visier nahm. Doch um Breisach zu erobern, musste er dort zuallererst die kaiserlichen Garnisonen unter seine Kontrolle bringen. Am 18. Januar 1638 setzte er schließlich über den Rhein, eroberte im Handstreich die Städte Laufenburg und Säckingen und stand in den letzten Januartagen mit nur 4.000 Mann vor dem strategisch wichtigen Rheinfelden.

Kaiserlich-bayerische Truppen eilten der Stadt zu Hilfe und zwangen Bernhard, die Belagerung aufzugeben. Doch gerade als sich alles auf einen kaiserlichen Sieg einrichtete, erschienen die Protestanten am 21. Februar 1638 unverhofft wieder und schlugen durch ihren Überraschungsangriff die zahlenmäßig überlegene bayerisch-kaiserliche Armee unter Johann von Werth, Claus Dietrich von Sperreuther und Federigo di Savelli im zweiten Waffengang. Mehr als die Hälfte ihrer Truppen geriet in Gefangenschaft und wurde Bernhard von Sachsen-Weimars Volk untergestoßen. Ebenso der berüchtigte bayerische Reitergeneral Johann von Werth, der an Frankreich ausgeliefert und in Paris als Kriegsbeute zur Schau gestellt wurde.

Die Siege Bernhards von Sachsen-Weimar und Johan Banners schienen das Blatt nun wieder zu wenden. Fast ungestört rückten Bernhards Reitereinheiten über Rottweil und Balingen bis nach Tübingen vor. Das württembergische Volk jubelte den Befreiern zu und erbot sich, die Waffen zu ergreifen, falls sich Herzog Eberhard III. von Württemberg, der noch im sicheren Straßburger Exil weilte, zeigen würde. Abermals drohte das Herzogtum durch die aufkeimenden bürgerkriegsartigen Zustände im Chaos zu versinken.

Bernhard Schaffalitzky, der Generalkommissar Bernhards und Vertrauter am württembergischen Hof, nahm sodann die ersten Geheimverhandlungen mit der Landschaft auf und ergriff die sich nun bietende Möglichkeit zur Wiederaushebung der Landesdefension. Herzog Eberhard III. erneuerte daraufhin die Gespräche mit Kaiser Ferdinand III. und begab sich, eine kaiserliche Salvaguardia im Gepäck, auf den Weg nach Wien. Dort hatte Ferdinand III. seinen Günstlingen bereits weite Teile des württembergischen Erblands als Schenkung versprochen. So beanspruchte Claudia de Medici, die Erzherzogin von Österreich und Landesfürstin von Tirol, die Pfandschaft von Achalm und hielt ab 1636 die neun Dörfer Pfullingen, Honau, Oberhausen, Kleinengstingen, Pliezhausen, Bempflingen, Riederich, halb Metzingen und halb Dettingen in ihrem Besitz.

In Eberhards Begnadigungsgesuchen blieb die starrköpfige Haltung des württembergischen Burgkommandanten von Hohentwiel – Konrad Widerholt, der die letzte Burg partout nicht aufgeben wollte – dem Kaiser ein Dorn im Auge. Während der Verhandlungen in Wien stieß die Bernhardsche Reiterei unter Taupadel, von Rosen und Schaffalitzky indes weiter auf württembergisches Terrain vor und brachte die Rückgabe Württembergs vollends ins Stocken.

Mit den Soldaten kehrte auch Andreas nach dreijähriger Abwesenheit wieder in seine Heimat zurück. Noch hatte er Genophea nicht aufgegeben.

Doch die Kaiserlichen sahen dem Siegeszug Bernhards von Sachsen-Weimar nicht untätig zu. Schon bald formierte der bayerische Feldmarschall Johann Graf von Götzen die in Württemberg zerstreuten kaiserlichen Einheiten zu einem Gegenschlag.

Auch Andreas Brendlin und Genophea, die Tochter des ermordeten Würtinger Webers Hans Siersch, verlieren sich in die Geschehnisse. Der Roman erzählt ihre Geschichte.

Es ist die Geschichte ihres Nachlasses.

PROLOG

»Glaubst du, der Frieden kehrt irgendwann einmal zurück? Und wir können uns treffen, ich meine, ohne uns fürchten zu müssen?«, fragte Genophea und kuschelte sich in die Arme ihres Geliebten.

»Hm, wenn der Kaiser Herzog Eberhard sein Land wieder zurückgibt – dann vielleicht!« Andreas klang verschlafen. Er hatte die Augen geschlossen und sog den Geruch ihres Haares ein. Es war ein Gemisch aus Rosenblüten und Staub, das ihm ein Gefühl des Friedens gab. Als die Vögel im Geäst kreischend über ihren Köpfen davonflogen, sah er auf.

»Dann gäbe es keinen Hunger mehr, keinen Hass, nirgendwo die Pest …« Ihre Stimme klang wie ein Windhauch in seinen Ohren. Er zog die Decke über Genopheas Schultern, die sich an seine Brust schmiegte.

Noch war es kühl.

Endlich brachen die Lichtstrahlen durch die Baumwipfel und brachten Genopheas rotes Haar zum Glühen. Ihre Locken leuchteten und die Spitzen einer vorwitzigen Strähne kitzelten seine Nase. Noch einmal atmete er ihren Duft ein. Dann schob er den roten Haarschleier zur Seite, um in ihr waches Gesicht zu schauen. Sie lag zur Seite hin, ihm zugewandt.

Der Übermut der jungen Frau schien in den Kriegsjahren, in denen Hunger, Totschlag und die Pest regiert hatten, verloren gegangen zu sein. Sie war stiller und nachdenklicher geworden. Doch just in diesem Augenblick, als sie seinen Blick verspürte, erhellte ein kaum wahrnehmbares Funkeln ihr Gesicht.

Es war ein wunderschöner Morgen. Die Karwoche im Jahre 1638 bescherte herrliches Frühlingswetter. Allmählich überstrahlten die Farben des Frühlings die Grau- und Brauntöne des Winters. Hier, bei den Ruinen der ehemaligen Gütersteiner Kartause, tief versteckt im Wald, verschwand der Krieg für eine Weile aus ihrer Erinnerung. Die Stille, die sie einhüllte, wirkte, als ob die Natur sie für eine Wiedergeburt vorbereitete. Die Gütersteiner Quellen plätscherten wie in Friedenszeiten zu Tal und schlängelten sich in ihrem Bachbett an den abgebrannten Überresten des ehemaligen Fohlenstalls, des »Stuethauses«, vorbei. Die steil abfallenden Hänge machten das Geläuf für Truppendurchzüge fast unpassierbar. Nur manchmal traf man auf einzelne Reiter, die auf dem Weg zu ihrer Kompanie auf dem Hohenurach waren.

Dagegen wurden die Dörfer des Amtes immer wieder von feindlichen Reiterhorden heimgesucht. Die letzten drei Kriegsjahre hatten das Kirchspiel stark verödet. Die Pest hatte schrecklich gewütet und Würtingen und seinen Filialen fast 300 Menschenleben gekostet. Schließlich hatte der schwarze Tod die Menschen ihrer letzten Kräfte beraubt. Um sie herum waren sie wie die Mücken gestorben. Doch Genophea war wie durch ein Wunder gesund geblieben. Oft stellte sie sich die Frage, wo Gott der Allmächtige die ganze Zeit gewesen war. Wenn er da war, warum half er nicht? Warum verschloss er die Augen vor dem Elend und der großen Not? Weshalb der Allmächtige ausgerechnet sie am Leben ließ, konnte sie sich nicht erklären. Womöglich waren gerade die schrecklichen Kriegsjahre das Zeichen für sein Vorhandensein – so, wie es damals bei Sodom und Gomorra gewesen war.

Abgesehen von ihren fleischlichen Sünden mit Andreas hatte Gott eigentlich keinen Grund, auf sie böse zu sein. Was sollte er schon gegen die Liebe haben, gegen ein bisschen Gefühl, wenn andererseits an jedem verfluchten Tag irgendwo im Amt ein Bauer totgeprügelt und seine Bäuerin zu Tode vergewaltigt wurde? Auch wenn Pfarrer Schwägerlein das früher etwas anders gesehen hätte. Für ihn war es die längst fällige Apokalypse, in die Gott den ganzen menschlichen Sündenpfuhl gestürzt hatte. Als die Seuche grassierte, hatte Genophea die Regeln der katholischen Pestdoktoren und Geistlichen eingehalten, die jetzt in großer Zahl das Land missionierten. Sie hatte sich von Bettlern und anderem Gesindel ferngehalten und für die Reinhaltung der Luft gesorgt, indem sie das Haus ausreichend gelüftet und den Unrat weggeräumt hatte.

»Wann wirst du endlich mitkommen?« Es war nicht das erste Mal, dass Andreas danach fragte. Doch diesmal klang seine Frage fordernder.

Genophea löste sich aus seiner Umarmung, setzte sich auf und streifte die Decke ab. Dabei sah sie in das einfallende Licht und kniff die Augen zusammen.

»Genophea – wann?« Andreas klang verbittert.

Scheinbar ungerührt ließ sie ihren Kopf fallen und zog einzelne Haarsträhnen langsam durch die feingliedrigen Finger. »Bald …«, erwiderte sie leise und ließ die aufgestaute Luft langsam aus ihren Lungen entweichen, »… aber nicht heute!«

Verträumt sah er ihr zu. Ihr Rothaar hatte sich jetzt wie ein Wasserfall aus Seide über ihren Rücken gelegt.

»Was hast du mir mitgebracht?«, fragte sie keck. Genopheas Stimmung war umgeschlagen – einfach so. Immer noch konnte sie von tiefer Tristesse ohne jede Vorwarnung in überschäumende Fröhlichkeit verfallen. Und genauso verhielt es sich umgekehrt. Ungeniert begann sie, Andreas’ braune Ledertasche zu durchwühlen. »Oh – ein Hühnerei! Ist das etwa für mich?«

Andreas nickte leicht und sah zufrieden, wie sie strahlte. »Ja, ich dachte zum Osterfest, als Zeichen für die Wiedergeburt Christi.«

»Ist es nicht zu früh? Willst du zu Ostern denn gar nicht vorbeikommen?«

Andreas sah sie an, ohne zu antworten.

»Danke!«, sagte Genophea und steckte ihre Nase noch tiefer in die Tasche hinein. Dann kräuselte sich ihre Stirn und sie sah unter dem roten Haarschleier verwundert zurück. »Ein Bogen Papier? Sag: Willst du etwa Geschichten schreiben?«

Er musste lächeln. »Warum nicht …?« Der Gedanke holte seine zuvor gestellte Frage wieder in sein Gedächtnis zurück.. »Ist es wegen Jörg?«

Genophea wich noch immer aus. Sie zog das Papier heraus, faltete es über Eck und teilte es an der entstandenen Trennlinie entzwei. »Nein – doch … Ich meine ja!«, druckste sie. »Aber es ist nicht wegen ihm. Ich meine, ich liebe ihn nicht. Doch er war in den Jahren, während du fort warst, immer gut zu mir. Sogar Maria! Sie hat für mich gesorgt. Ich brauche noch Zeit, verstehst du? Aber vertraue mir, ich lieb nur dich – dich ganz allein!«

Ungeahnt flink drehte sie sich um und küsste ihn sacht auf den Mund. Mit ihren ausgestreckten Fingern zeichnete sie sein Kinn nach. Ihr Lächeln tröstete ihn, und er schloss genüsslich die Augen. Als sie an seinem Gürtel nestelte, hob Andreas voller Erwarten sein Kinn. Doch statt ihm sein Verlangen zu erfüllen, griff sie den Knauf seines Dolches und nahm ihn aus der Scheide. Von ihren Handinnenflächen aufwärts ließ Genophea die Klinge über ihren Unterarm gleiten. Dabei hob sich der zarte Flaum ihrer Augenbrauen nach oben.

»Wie schnell doch das Licht des Lebens erlischt!« Genopheas Augen schimmerten. Sie lächelte unergründlich.

Andreas runzelte aufgeregt die Stirn. Doch als sie sich an ihrem Handballen ins Fleisch schnitt, entriss er ihr das Messer. »Herrgott, was tust du denn da?«, empörte er sich.

Sie kniff die Augen zu und biss die Zähne aufeinander. Dunkelrotes Blut quoll aus der Wunde und färbte das braune Papier.

Kopfschüttelnd steckte Andreas das Messer wieder ein. Er saß kerzengerade da und strafte sie mit einem fassungslosen Blick.

»So leg dich wieder hin, es ist doch nichts. Es ist doch nur ein Kratzer!«, beruhigte sie ihn und saugte die Wunde aus.

Mit einer Hand knickte sie das blutgetränkte Papier so, dass sich die Tropfen in einer Ecke sammelten. Sie reichte es ihm, strich mit den Fingerkuppen ihr Haar hinter das Ohr zurück und legte die andere Blatthälfte auf seinen Bauch. Es war die ideale Schreibunterlage – da Andreas seine Bauchmuskeln anspannte, auf die sie anerkennend getippt hatte. Das Papier besaß nun die Form eines kleinen Gefäßes. Sie tauchte ihren kleinen Finger hinein und begann, mit dem langen Fingernagel Buchstaben zu zeichnen.

»Nicht hinsehen! Es ist ein Pakt gegen die finsteren Mächte des Bösen. Man nennt es Passauer Kunst. Wie ich gehört habe, machen alle Soldatenweiber das, um ihre Männer in der Schlacht schuss- und stichfest zu machen!«

Während Genophea schrieb, hielt Andreas die Augen geschlossen. Endlich war sie fertig. Sie ließ ihre Hand über seine Augen schweben und hauchte ihm mit rauer Stimme ins Ohr: »Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen, mein Geliebter …«

Sie hielt das Papier behutsam an beiden Ecken hoch. Fast ehrfürchtig, als könnte sich der geschriebene Schutzspruch in einen Fluch verwandeln, wenn sie es zu unbedacht berührte. Ihre Lippen formten ein »O« und sie blies mit ihrem Atem die Buchstaben trocken.

Das Bluten ließ nach. Sie hatte ihre Hand inzwischen in der Schürze eingewickelt. Andreas’ forschender Blick aus seinen tiefblauen Augen, die nicht von ihr abließen, strömte wie ein anregender Windhauch durch ihren Körper. Ihre Wangen röteten sich, und das flaue Gefühl in ihrem Magen machte einem warmen Fluss in ihrem Unterleib Platz.

Ja, seine Selbstsicherheit verunsicherte sie, die Stolze!

So kaute sie an ihrer Unterlippe und blinzelte seine Blicke davon.

»Schau mich nicht so an – glaube mir, es wirkt! Du trägst den Zettel am besten an deinem Herzen, dort ist der Zauber am wirkungsvollsten …!«

»DONG – DONG – DING – DONG!« Das Elf-Uhr-Läuten, das zuerst fern vom Tal, dann von Hohenurach her schallte, unterbrach sie.

»Himmel, ich wusste nicht, dass es schon so spät ist. Höchste Zeit, dass ich mich auf den Weg mache!«

Genophea wirkte übernervös. Sie schwang sich hoch und putzte die feinen Zweige und Kieselsteine, die sich im Stoff des Wollrocks verfangen hatten, hastig mit ihrem Handrücken ab.

»Lass das Papier noch ein wenig eintrocknen, bevor du es verwahrst. Trag es immer bei dir – versprich mir das!«, drängte sie.

Auch Andreas mühte sich hoch und nahm das Papier. Er nickte und bot vorsichtig an: »Ich – ich könnte dich nach Hause bringen.«

»Nein, nein – es ist besser, wenn sie uns nicht zusammen sehen!«, wehrte Genophea ab. »Ich sollte noch Reisig einsammeln, so, wie ich es Maria versprochen habe. Sie darf keinen Verdacht schöpfen!«

Wieder durchdrang der junge Mann sie mit seinen Augen. Diesmal war es ein trauriger Blick. Aber es half nichts. Genophea bückte sich nach seinem Schlapphut, der mit schillerndem Federschmuck verziert war und den er in der Früh stürmisch auf einen der Mauerreste geworfen hatte, um im nächsten Augenblick wie ein ausgehungertes Tier über sie herzufallen.

Im Gegensatz zu vorhin, als er so überlegen gewirkt hatte, stand er jetzt wie ein Junge vor ihr. Sie lächelte weich, setzte ihm den Hut auf und schmiegte sich an seine Brust. »Mein Geliebter, du siehst aus wie einer dieser ehrbaren Bürgersöhne! Man könnte fast meinen, ich wäre nicht mehr gut genug für dich! Wirst hoffentlich übermorgen wieder da sein und mich nicht wegen einer Anderen verlassen …« Genophea sah ihn neckend an.

»Niemals!«, rief Andreas fast erbost. Nein, das fand er kein bisschen lustig! So erzählte er ihr rasch die gute Nachricht. »Hör zu – Taupadel will so schnell wie möglich auf Stuttgart vorrücken. Er tut gut daran, rasch vorzugehen, die kaiserlichen Stadthalter sind völlig überrumpelt und öffnen uns bereitwillig die Tore. Anscheinend haben sie nicht geglaubt, dass Bernhard von Sachsen-Weimar mit solch einer Wucht zurückschlagen könnte!« Er hielt inne. Seine kräftigen Hände umschlossen ihre Arme, er schob sie von sich und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Geniert sah sie zu Boden.

»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Seit dem Gefecht bei Balingen, wo es ein leichtes war, die im Schloss verschanzten Kaiserlichen zu überwältigen, und danach, als wir auf der Straße nach Hechingen die kroatischen Streiftrupps verjagten – ja, seitdem machen sich die Katholischen vor Angst fast in die Hosen, wenn sie unsere Feldzeichen bloßen sehen. Sie werden es nicht wagen, Weimar und die mächtigen Franzosen herauszufordern. Bald wird es sich der gute Schaffalitzky auf Hohentübingen gemütlich machen – und ich nehme an, wir werden dafür nicht einmal einen Finger krumm machen. Es ist unglaublich! Überall im Land, in jedem befreiten Dorf, in jeder zurückgewonnenen Stadt, werden wir mit Jubelstürmen empfangen …«

Sie umschloss sein Gesicht mit ihren Händen und brachte ihn mit innigen Küssen zum Schweigen. »Pass auf dich auf – ja! Ich könnt es nicht ertragen, dich abermals zu verlieren.« Ihre Stimme war sanft, aber bestimmend.

Sie bückte sich nach ihrem Trageriemen und schwang den Korb über die Schultern. Dann wandte sie sich um und schritt zögernd auf den schmalen Waldweg zu. Irgendeine düstere Ahnung schien sie zu bedrücken. Bevor sie hinter den Büschen verschwunden war, blieb sie noch einmal stehen. »… Na dann bis übermorgen … zur gleichen Zeit.« Sie winkte.

Einen Augenblick später war sie fort.

Andreas blieb nachdenklich zurück. Nein, der morgige Tag würde für ihn kein Spaziergang werden. Weimar hatte den Aufmarsch auf Rottenburg befohlen, um die österreichische Stadt wieder unter schwedische Fahnen zu stellen. Doch so Gott wollte, würde er den morgigen Tag überstehen und wie versprochen Genophea wieder in seine Arme schließen können.

Sein Blick fiel auf den Zettel, auf den Genophea am Rand ein Herz gezeichnet hatte. Ein glückliches Lächeln legte sich auf sein Gesicht.

Mühsam begann er die schön geschwungenen, mit ihrem Blut geschriebenen Lettern zu entziffern:

Andreas, du sollst leben.

Bis in die Ewigkeit.

Es las sich wie eine Aufforderung, fast wie ein Befehl, der an ihn appellierte, stets unversehrt und gesund zu bleiben – für Genophea, damit sie sich seiner Liebe ewig gewiss sein konnte.

Bedrückt presste Andreas die Lippen aufeinander. Aus einer dunklen Tiefe heraus tropften seine Tränen auf die Buchstaben und ließen sie ineinander zerfließen. Er riss sich zusammen, faltete das Papier in der Mitte und steckte es in die Brusttasche seines ledernen Überwamses.

Nachdem er das Gepäck verstaut hatte, bestieg er den rotbraunen Hengst und ritt gemächlich von dannen.

Kapitel 1

Für die höllischen Qualen, die nach dem Schicksalsjahr 1634 dem Lande erwuchsen, gab es keine irdischen Worte, die die Schrecken nur annähernd zum Ausdruck gebracht hätten. Der Mensch ertrug sie schweigend. Es muss für ihn ein kaum zu ertragender Zustand gewesen sein, sein Dasein in einem Land zu fristen, das schutzlos den marodierenden Söldnerheeren ausgeliefert war.

Jeder neue Tag konnte das Unheil bringen.

Sicher, die Seele des Menschen lässt sich bis ins Bodenlose unterdrücken. Dabei beginnt die Liebe jedoch langsam zu sterben, und Hass breitet sich aus. Fortan beschränkt sich der menschliche Eifer ausschließlich auf sein instinktives Überleben. Alsbald überwuchert der Verfall alles Menschliche, und es erwächst aus ihm das einfältigste Biest.

Doch den Kriegstreibern schien es nur recht zu sein …

Maria Gauger machte wie immer ein böses Gesicht. Sie langte mit dem Schürhacken über den Tisch, stieß ihn Genophea in die Rippen und knurrte finster: »Was hat das unnütze Weib? Es schläft uns glatt im Sitzen ein!«

Genophea schreckte von ihrem Stuhl hoch und starrte in die Gesichter derer, die sich rings um die Musschüssel in der Mitte des Essenstischs versammelt hatten. Ihr rotes Haar, das sie heute früh zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, wirbelte durch die Luft.

Der Stich mit dem Schürhacken hatte sie aus dem schönsten Tagtraum gerissen. Noch immer standen die feinen Härchen auf ihrem Unterarm wie wachsende Grashalme ab. Für einen Moment hatte sie sich in Andreas’ Armen wieder gefunden. Seine Hände, die manchmal ganz sanft erforschten, aber auch fordernd zugreifen konnten, waren plötzlich überall. Wieder raubten seine Küsse ihr den Atem. Dreieinhalb Jahre war er fort gewesen, ehe er plötzlich wieder vor ihrer Tür gestanden hatte. Doch ihre letzte Begegnung lag schon eine Woche zurück. Das Datum hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt, und sie zählte jeden Tag, der ohne ihn vergehen musste: Es war der 22. März zu Gründonnerstag gewesen.1

Seitdem war Andreas nicht wieder erschienen.

Nein, sie dachte nicht im Traum daran, ihre Waffen zu strecken. Stattdessen bot sie der streitsüchtigen Hausherrin mutig die Stirn. Sie biss die Zähne fest aufeinander und rümpfte die Nase, auf die die Frühlingssonne Sommersprossen getupft hatte. »Rossmucken« hatte Christof2 ihre braunen, ungeliebten Pigmentflecke immer genannt und seine Schwester ausgelacht, wenn sie sich dafür schämte. Aber nein, Andreas hatte sich nie daran gestört.

Tapfer hielt Genophea den funkelnden Augen stand. Wie zwei Kuckucksweibchen, die sich um das Nest stritten, standen sie sich am Tisch gegenüber, Nase an Nase, und lugten sich aus. Genophea stemmte ihre Arme breit auf die Tischplatte, sie zitterte am ganzen Leib und merkte nicht, wie sich ihre Fingernägel durch die Kraft ihrer Hände in das Holz des Tisches eingruben.

Jörg sah es ihr an, dass sie der bösen Hexe, wie Genophea seine Tante immer nannte, am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Deshalb zog er sie auf den Stuhl zurück und strich beruhigend ihren Handrücken.

Nein, so betagt, wie Maria aussah, war sie beileibe nicht. Sie war immer noch gebärfähig, denn manche Frauen ihres Alters brachten tagtäglich gesunde Kinder zur Welt. Sie war um einiges jünger als ihr Mann, Sebastian, »Baste«, Gauger, der einst so stolze Richter am Ort, der nun mit gesenktem Kopf im Brei rührte. Erst das Leid der letzten Jahre hatte Maria ergrauen lassen. Sie versuchte Baste aufzurütteln, doch nicht einmal, als ihr verbittertes Gesicht weitere wütende Falten riss, machte er Anstalten, sich einzumischen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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