Gerechte Strafe - Angela Lautenschläger - E-Book
SONDERANGEBOT

Gerechte Strafe E-Book

Angela Lautenschläger

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Treibt ein Serienmörder in Hamburg sein Unwesen? Der Kriminalroman »Gerechte Strafe« von Bestseller-Autorin Angela Lautenschläger als eBook bei dotbooks. Eine Reihe heimtückischer Morde an Senioren gibt der Hamburger Polizei Rätsel auf: Jagen die Beamten um Kommissar Nicolas Sander tatsächlich einen Serienmörder? Und welches Motiv treibt den Täter an? Als die Rentnerin Ruth Schneider vermisst wird, beginnt für Nicolas Sander ein Wettlauf gegen die Zeit. Eigentlich will sich Nachlasspflegerin Friedelinde Engel endgültig aus den Ermittlungen der Polizei raushalten, doch als sie einen markerschütternden Schrei aus dem Nachbarhaus hört, kann sie ihrer Neugierde nicht widerstehen. Schnell glaubt sie hinter das dunkle Geheimnis ihrer sonst so hilfsbereiten Nachbarn gekommen zu sein … und bringt sich damit selbst in tödliche Gefahr! Der persönlichste Fall für die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fünfte Band der Bestseller-Serie um Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander. »Gerechte Strafe« von Angela Lautenschläger. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 509

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Lesetipps

Über dieses Buch:

Eine Reihe heimtückischer Morde an Senioren gibt der Hamburger Polizei Rätsel auf: Jagen die Beamten um Kommissar Nicolas Sander tatsächlich einen Serienmörder? Und welches Motiv treibt den Täter an? Als die Rentnerin Ruth Schneider vermisst wird, beginnt für Nicolas Sander ein Wettlauf gegen die Zeit.

Eigentlich will sich Nachlasspflegerin Friedelinde Engel endgültig aus den Ermittlungen der Polizei raushalten, doch als sie einen markerschütternden Schrei aus dem Nachbarhaus hört, kann sie ihrer Neugierde nicht widerstehen. Schnell glaubt sie hinter das dunkle Geheimnis ihrer sonst so hilfsbereiten Nachbarn gekommen zu sein … und bringt sich damit selbst in tödliche Gefahr!

Der persönlichste Fall für die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander!

Über die Autorin:

Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Hamburg.

Bei dotbooks erschienen bereits folgende eBooks in der »Engel und Sander«-Reihe:

»Stille Zeugen. Ein Fall für Engel und Sander«

»Geheime Rache. Ein Fall für Engel und Sander«

»Tödlicher Nachlass. Ein Fall für Engel und Sander«

»Blindes Urteil. Ein Fall für Engel und Sander«

Weitere Bände sind in Arbeit.

***

Originalausgabe November 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-019-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Gerechte Strafe« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Angela Lautenschläger

Gerechte Strafe

Ein Fall für Engel und Sander

dotbooks.

Kapitel 1

Nicolas Sander stieg die Leiter hinauf, hängte den Metallbügel des Farbeimers über den dafür vorgesehenen Haken der dreiteiligen Mehrzweckleiter und tauchte den Pinsel in die Farbe. Die hieß Anthrazit Perl und war Friedelinde zufolge augenblicklich der letzte Schrei, was Fensterfarbe anbetraf. Er hoffte, dass ihr neues Haus damit nicht aussehen würde wie eine Außenstelle der Bundeswehr. Er hatte eben den ersten Pinselstrich gemacht, als sein Handy läutete. Fluchend legte er den Pinsel auf dem Rand des Farbeimers ab und fingerte das Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans.

»Gernot, alter Käfer«, begrüßte er seinen Kollegen.

»Nicolas, wie geht’s?«

»Super. Die Böden sind abgeschliffen, die Wände gemalt, noch ein Fenster und wir sind mit dem Gröbsten fertig.«

»Schön. Sag mal, du hättest nicht zufällig Lust, zwei Tage früher aus dem Urlaub zurückzukommen?«

Als Sander die Leiter wieder herunterstieg, stellte Friedelinde den Rasenmäher ab und ging zu ihm. »Schon fertig?«

»Gernot hat angerufen.«

»Und?«, fragte sie mit einem misstrauischen Blick hoch zum Fenster.

»Sie brauchen mich. Die Kollegen sind alle krank oder im Urlaub.«

»Aber du hast auch Urlaub.«

»Ja.« Er fasste ihre Schultern. »Aber ich bin nicht verreist.«

»Wie solltest du auch im Urlaub auf Malle dein Haus streichen, das in Hamburg steht?«, fragte sie mit spitzem Ton.

Nicolas lehnte seine Stirn gegen ihre. »Schalte mal eben den für das logische Denken deines Hirns zuständigen Teil ein, und wir beginnen das Gespräch noch mal.«

Sie seufzte. »Es ist doch nur noch ein Fenster. Und wer weiß, wie lange das Wetter noch hält.«

»Es ist aber schon der zweite Tote im fortgeschrittenen Alter. Gernot hat Angst, dass sich hier so etwas wie ein Serienmörder rumtreibt.«

»Dann ruf Gernot an und sag ihm, dass es schon mal vorkommt, dass alte Leute sterben«, maulte sie.

Sander gab ihr einen Kuss. »Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich ziemlich doll liebe?«

»Nein, noch nie!«, entgegnete sie trotzig.

»Ich sehe zu, dass ich heute nur an den notwendigen Ermittlungen teilnehme, und wenn ich wieder da bin, streiche ich das letzte Fenster.«

Sander gab ihr noch einen Kuss und ging zum Carport hinüber. Dieser Carport war sein ganzer Stolz. Wenn er abends nach Hause kam, freute er sich immer auf zwei Dinge: darauf, ohne Parkplatzsuche seinen Wagen lässig über die Auffahrt in den Unterstand gleiten zu lassen, und auf das anschließende Zusammensein mit Friedelinde.

Friedelinde sah Nicolas’ Wagen nach. Man musste nun wirklich kein Ass in Wahrscheinlichkeitsrechnung sein, um zu wissen, dass dieses Fenster heute nicht mehr von Kriminalhauptkommissar Nicolas Sander zu Ende gestrichen werden würde. Er musste sich heute mit dem neuen Fall befassen, sich danach in den ersten Mordfall einarbeiten, und dann hießen Serienmorde ja so, weil es eine Serie gab. Das bedeutete, dass mit dem Toten von heute nicht Schluss sein musste. Jedenfalls würde es stockduster sein, bis Nicolas zurückkehrte, und Friedelinde hatte plötzlich ein Bild vor Augen, wie sie zwanzig Jahre später Arm in Arm im Garten standen und zu dem Fenster hochsahen, und sie würde sagen: Weißt du noch, das ist das Fenster, das du damals nicht zu Ende streichen konntest, weil ein Serienmörder sein Unwesen trieb. Und an der Leiter würde sich Efeu emporranken, und in dem Farbeimer, dessen Farbe längst eingetrocknet war, würde eine seltene Vogelart brüten, deren Nester nicht zerstört werden durften.

Nicht mit ihr!

Während der nasskalten Novembertage hatten sie das Innere des Hauses renoviert, und als dann der Wettergott mitten im November einen Trumpf aus dem Ärmel zog und die Sonne scheinen ließ, hatten sie beschlossen, die Arbeiten im Garten und außen am Haus, die sie eigentlich im Frühjahr erledigen wollten, schnell auszuführen, ehe es Winter wurde. Und Friedelinde war kein Freund davon, ständig Pläne umzustoßen. Also stieg sie die Leiter hoch, nahm den Pinsel und rührte die Farbe um.

Sie hatte eben den Pinsel in die Farbe getaucht und den ersten Strich gemalt, als ein gellender Schrei die nachmittägliche Ruhe Poppenbüttels durchdrang. Friedelinde, die weder mit Farbe rumklecksen noch von der Leiter fallen, aber doch wissen wollte, was passiert war, machte plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig: Sie warf den Pinsel in den Eimer, wandte sich um und versuchte die Balance zu halten. Dann fiel sie von der Leiter.

Kapitel 2

Sander betrat die Fahrstuhlkabine und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf, dann drückte er auf den Knopf für den dritten Stock. Für einen Moment dachte er, dass im Fahrstuhl des Polizeipräsidiums neuerdings leise Musik gespielt wurde, bis ihm auffiel, dass er selbst es war, der eine kleine Melodie summte.

Auf dem Flur grüßte er einige Kollegen, POM Gabler sah ihn irritiert an, als er ihn gutgelaunt abklatschte. Die Tür zu seinem Dienstzimmer stand offen.

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er die fellgefütterte Jacke seines Kollegen Gernot an der Garderobe hängen sah, der Schal steckte im Ärmel. Darunter standen seine ebenfalls fellgefütterten Stiefel ordentlich nebeneinander. Gernot saß völlig in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch und sah erst auf, als Sander ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Gernot, mein Lieber.« Sander wusste, dass er pathetisch klang, aber tatsächlich hatte er einen Kloß im Hals. Er hatte Gernot, der in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm hielt, tatsächlich vermisst.

»Oh, Gott sei Dank bist du da.« Gernot tätschelte Sanders Hand auf seiner Schulter. »Das wird mir hier langsam zu heiß.«

Sander hängte seine Jacke über die Lehne seines Bürostuhls und warf einen Blick zu Gernot hinüber. Der sah tatsächlich schlecht aus. Er war blass und hatte Ringe unter den Augen. Auf seinem Schreibtisch sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, und das war für jemanden, der seine Büroklammern nach Größe sortierte, tatsächlich noch ein viel schlechteres Zeichen als die ungeordnete Frisur. Sander betrachtete seinen Schreibtisch, der vollkommen leer war. Verkehrte Welt. Vor seinem Urlaub war der Zustand der Arbeitsplätze umgekehrt gewesen.

»Mach dir mal keine Sorgen.« Sander schaltete seinen PC ein. »Das kriegen wir schon in den Griff.«

Gernot, der sich mit allen zehn Fingern durchs Haar fuhr, sah ihn mit einem traurigen Blick an. »Hoffentlich. Um fünf haben wir eine Konferenz.«

»Was, wir beiden Hübschen?« Sander klickte sein eMail-Postfach an.

»Wir beiden Hübschen, Mühle, Dr. Hornecker, Gabler und Berger.«

»Hu«, machte Sander. Das bezog sich zum einen auf Gernots Mitteilung, dass an der Konferenz neben dem Gerichtsmediziner und zwei weiteren Kollegen der Polizeipräsident teilnehmen würde, zum anderen auf sein Postfach, das sich vor Wiedersehensfreude überschlug. Er ging mit der Nase dichter an den Bildschirm heran. »Wir sollen die Arbeitszeit minutengenau erfassen? Ich glaube, es hackt. Wochen- oder monatsweise trifft es wohl eher.«

»Wie? Ach so, ja. Da geht’s darum, den Personalbedarf zu ermitteln.«

»Hä? Dass wir unterbesetzt sind, kann ich denen auch sagen, ohne über jede Minute Rechenschaft abzulegen.«

Gernot lehnte sich zurück. »Genau genommen ist das auch eine Chance. Wenn wir uns Mühe geben, kriegen wir vielleicht einen dritten Mann.«

Sander verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sollen also noch mehr Zeit aufwenden, um rauszufinden, was wir jetzt schon wissen, nämlich dass wir unterbesetzt sind? Und um dann ganz vielleicht personelle Unterstützung zu kriegen? Die glauben uns wohl nicht, dass wir jetzt schon viel arbeiten. Offenbar geht irgend so ein Klugscheißer am grünen Tisch davon aus, dass wir unsere Mordfälle problemlos während der Bürozeiten lösen. Jetzt müssen wir uns auch noch dafür rechtfertigen, oder wie?«

Gernot grinste.

»Ich weiß wirklich nicht, was es da zu grinsen gibt!«

»Na ja«, sagte Gernot, der nicht aufhörte zu grinsen. »Ich hatte vorhin ganz kurz das Gefühl, dass dich diese Haussache irgendwie rührselig gemacht hat. Aber jetzt bist du wieder ganz der Alte.«

»Gut. Ich hab hier nämlich einen Ruf zu verteidigen, und zwar den eines toughen Burschen.«

Gernot kramte auf seinem Tisch herum und stand auf. »Und den eines guten Kriminalisten. Das hier sind die Akten der ersten drei Mordfälle.«

Sander nahm ihm die Akten ab. »Die drei ersten?«

Gernot rückte mit verlegener Miene den Locher auf Sanders Schreibtisch gerade. »Ich hab irgendwie so ein Gefühl, als wenn mehr dahintersteckt.«

Sander musste an Friedelindes Bemerkung denken, dass alte Leute nun einmal starben. Aber Gernot würde Gründe für seine Vermutung haben, und vermutlich gab es auch Gründe dafür, dass für den Nachmittag eine Konferenz einberufen worden war.

»Ich guck mir das mal an.« Sander nahm die drei Akten und legte sie auf seinen Tisch. »Aber erst mal hole ich mir eine Cola. Willst du auch eine?«, fragte er auf dem Weg zum Automaten auf dem Gang.

»Nein, lieber nicht. Betty hat mir eine Teemischung besorgt, mit der ich erkältungsfrei über den Winter komme.«

»Das ist auch viel gesünder«, bestätigte Sander. Die gute Betty. Für jedes Problem ein Hausmittel.

Sander war gerade bis zur Hälfte der zweiten Akte gekommen, als Gernot seinen Stuhl zurückschob und aufstand.

Sander sah auf. »Hm?«

Gernot klopfte auf seine Armbanduhr. »Fünf vor fünf.«

Sander blätterte durch die Akte. »Ich bin hier noch nicht durch.«

Gernot schaltete seinen PC aus. »Wie sagte Scarlett so richtig? Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Ich nehme an, dass du kürzlich mit Betty Vom Winde verweht gesehen hast?« Sanders Blick fiel auf Gernots braune Halbschuhe. Eines Tages würde sein Kollege sich Hausschuhe mit einem Puschel drauf unter den Schreibtisch stellen.

»Wurde am Sonntagnachmittag wiederholt. Wir haben Tee getrunken und selbst gebackene Plätzchen gefuttert«, verkündete Gernot auf dem Weg zur Tür.

Sander klemmte sich alle drei Akten unter den Arm. Am Sonntag hatte er mit einer geliehenen Schleifmaschine die Holzböden im Wohnzimmer geschliffen. Er knipste das Licht aus und folgte Gernot auf den Flur.

Im Besprechungsraum saß bereits Dr. Mühlenbeck am Tischende und trug eine besorgte Miene zur Schau. Flankiert wurde er von den beiden Kollegen Gabler und Berger, die ein wenig gehemmt wirkten. Es war auch kein Vergnügen, mit dem Polizeipräsidenten am Tisch zu sitzen. Seine Anwesenheit hatte immer etwas von einem gestrengen Vater, der mit dem Lebenswandel seiner Söhne nicht einverstanden war. Die beiden Kollegen sahen so aus, als hätten sie mindestens die Wäsche der Nachbarin von der Leine geklaut.

Überrascht stellte Sander fest, dass der Polizeipräsident bei seinem Eintreten freundlich aufsah. »Herr Sander, wie schön, Sie zu sehen.«

Er musste sich unbedingt auf dem Heimweg einen Kalender kaufen und den heutigen Tag darin rot anstreichen. Es hatte Tage, ach Monate gegeben, in denen sein oberster Dienstherr ihn noch nicht mal von hinten hatte sehen wollen.

Dr. Mühlenbeck deutete auf den freien Platz neben Berger. »Setzen Sie sich. Und dann gehen Sie morgen früh gleich in die Personalabteilung und lassen sich die beiden Urlaubstage gutschreiben.«

Sander legte die Akten auf den Tisch und setzte sich. »Genau genommen ist das heute kein ganzer Tag.«

»Nein, nein, mein Lieber.« Dr. Mühlenbeck schüttelte energisch den Kopf. »Das machen wir nicht. Jetzt sind Sie extra noch heute Mittag früher aus dem Urlaub zurückgekehrt, und da wollen wir nicht wegen drei oder vier Stunden kleinlich werden.«

Berger machte ein merkwürdiges Geräusch, und Gabler hatte Augen groß wie Untertassen. Konnte die Belegschaft auch schon mal verwirren, wenn Sanders Personalakte keine Abmahnungen füllten, sondern Formulare, mit denen Urlaubstage gutgeschrieben wurden.

»Herr Hagemann«, wandte sich der Polizeipräsident an Gernot. »Ich schlage vor, dass Sie als bisheriger Sachbearbeiter über unsere drei Fälle referieren und die Kollegen ins Bild setzen.«

Gernot, dessen Hinterteil kurz über der Sitzfläche geschwebt hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Ich?«

Dr. Mühlenbeck machte eine einladende Handbewegung. »Ja sicher, Sie haben sich doch bisher ausführlich mit den Fällen beschäftigt und können das sicher aus dem Effeff vortragen.«

Gernot sah eher so aus, als wäre ihm das Gedicht entfallen, das er jetzt aufsagen sollte. Er stand mit unglücklicher Miene am Tisch.

»Setz dich mal, Gernot«, kam Sander ihm zu Hilfe. »Ich habe die Akte vom ersten Fall ja schon gelesen. Das können wir auch zusammen machen.« Er erntete einen dankbaren Blick von Gernot, der sich aufwendig an seinem Platz einrichtete.

»Schön.« Dr. Mühlenbeck sah auf seine Armbanduhr. »Wir warten jetzt noch auf den Dr. Honecker, äh Hornecker, dann würde ich erst mal ein paar einleitende Worte sprechen.«

Das Ganze schien sich zu einer ziemlich großen Angelegenheit zu entwickeln. Sanders Blick glitt zum Fenster. Draußen war es stockduster. Das Badezimmerfenster im neuen Haus würde er erst am Samstagvormittag streichen können. Das war dann die nächste Belastungsprobe für seine Beziehung zu Friedelinde. Allerdings brauchte er sich darüber eigentlich keine Sorgen zu machen. Streiten mit ihr machte genau genommen Spaß und kam ziemlich selten vor.

Als die Tür geöffnet wurde, sahen alle erwartungsvoll auf, aber es war nicht der Gerichtsmediziner, der eintrat, sondern ein junger Mann, der einen beachtlichen Stapel Pizzakartons hereinschleppte.

»Ah, sehr schön, sehr schön.« Dr. Mühlenbeck deutete auf die Mitte des Tisches. »Stellen Sie die einfach dort ab. Wir verteilen das dann alles selbst.« Er kramte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und reichte dem Pizzaboten einen Geldschein. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes legte die Vermutung nahe, dass darin ein beachtliches Trinkgeld enthalten war.

»Ich hol mal was zu trinken.« Sander bearbeitete den Getränkeautomaten auf dem Flur, und kurz darauf hatten sie ein formidables Büfett auf dem Besprechungstisch aufgebaut.

Das schien auch der Gerichtsmediziner geahnt zu haben, der mit einer Verspätung von einer Viertelstunde hereinstürmte, sein beachtliches Gewicht auf den letzten freien Stuhl fallen ließ und schnaufte wie nach einer Bergtour.

»Nachdem wir jetzt alle versammelt sind, werde ich mal beginnen.«

Die Worte des Polizeipräsidenten stießen auf taube Ohren, weil alle damit beschäftigt waren, Pizzakartons zu öffnen und hin und her zu schieben und Getränkedosen zu öffnen.

Dr. Mühlenbeck räusperte sich, was eine gewisse Aufmerksamkeit zur Folge hatte. »Dann werde ich mal beginnen«, wiederholte er. »Ich will offen zu Ihnen sein.«

Diese Ankündigung ließ tatsächlich alle Anwesenden aufhorchen. Dr. Mühlenbeck war nicht dafür bekannt, sein Herz auf der Zunge zu tragen und alles auszuplaudern, was ihm durch den Kopf ging. Genau genommen konnte man froh sein, wenn er einem die Uhrzeit verriet.

Sander schob sich ein Stück Pizza Hawaii in den Mund.

»Sie haben alle in der Vergangenheit diese unglückseligen Fälle verfolgt, in denen Pfleger in Krankenhäusern oder Heimen alte Menschen umbringen. Vorzugsweise mit Spritzen ins Jenseits befördern.«

Jetzt hatte er sie alle. Gabler blieb der Mund offen stehen, und er ließ die Hand mit der Thunfischpizza sinken.

»Interessant«, sagte Sander. »Und was hat das für unsere Fälle für eine Bedeutung?«

Dr. Mühlenbeck deutete mit dem Zeigefinger gen Zimmerdecke oder in noch höher gelegene Sphären. »Die Ansage kommt von ganz oben. Auf gar keinen Fall darf sich so etwas in Hamburg wiederholen.«

»Hm, nach dem, was ich bisher gelesen habe, liegen unsere drei Fälle jeweils anders. Ich kann jetzt noch nicht erkennen, dass wir einen durchgeknallten Pfleger verfolgen«, wandte Sander ein.

Der Polizeipräsident warf Sander einen Blick zu, als würde er über das gute Verhältnis zu Sander noch einmal nachdenken. »Moment. Das ist nur die eine Hälfte des Problems.«

»Aha«, machte Berger.

Und Sander war gespannt.

»Die andere Hälfte sind die unentdeckten Tötungsfälle. Naturgemäß gibt es darüber keine Zahlen, aber Schätzungen gehen von mehr als zweitausendvierhundert Fällen im Jahr aus.« Dr. Mühlenbeck strich seine Krawatte glatt, was ein wenig schwierig war, weil sie sich im weiten Bogen um seinen beachtlichen Bauch schmiegen musste. Der Polizeipräsident hatte die Figur eines Streichholzmännchens, das ein Elefantenbaby verschluckt hatte.

Am Tisch herrschte Schweigen. Beredtes Schweigen. Im Falle des Gerichtsmediziners, dessen Gesichtsfarbe dunkelrot war, klang das Schweigen wie: Ich lass mir doch von einem Krümelkacker wie Ihnen nicht unterstellen, dass ich meine Arbeit schlampig ausführe. Wer ermordet wurde und bei mir auf dem Tisch landet, wird auch als Mordopfer behandelt. Dummerweise hatte er die Backen voll mit Salamipizza, und als er endlich geschluckt und Luft geholt hatte, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen, kam ihm Dr. Mühlenbeck zuvor.

»Die meisten Fälle bleiben dabei bereits bei der ersten Totenschau durch den Hausarzt oder einen anderen herbeigerufenen Mediziner unentdeckt. Die kennen sich mit solcherlei Untersuchungen nicht gut aus, wissen nicht, worauf sie achten sollen, und dann ist es ja auch kein Spaß, die Großmutter von oben bis unten zu untersuchen, während die heulenden Angehörigen ungeduldig danebenstehen.«

Dr. Hornecker biss ein weiteres Stück von seiner Salamipizza ab. So richtig besänftigt wirkte er nicht.

Dr. Mühlenbeck sah auf seine Armbanduhr. »Kurz und gut, wir wollen uns hinterher nichts vorwerfen lassen. Deshalb gilt: Ab sofort werden ungeklärte Todesfälle alter Menschen genauestens untersucht. Und wir werden dabei streng nach Vorschrift vorgehen. Dazu gehört auch, dass immer ein Kriminalbeamter bei der Obduktion anwesend ist.«

Es war nicht nett vom Polizeipräsidenten, diese Ansage zu machen, während sie alle genüsslich an ihrer Pizza mümmelten. Gabler betrachtete seinen letzten Bissen Pizza Spinaci skeptisch, und Berger unterdrückte ein Aufstoßen.

»Vielleicht machen Sie das, Herr Sander. Sie werden die SoKo Seniorentod ja ohnehin leiten.« Der Polizeipräsident sah erneut auf die Uhr und stand auf. »Schön. Dann besprechen Sie die Fälle in Ruhe. Mich müssen Sie entschuldigen, ich bin jetzt mit dem Senator zum Abendessen verabredet.«

Fassungslos sahen sie die Tür des Besprechungsraums hinter dem Polizeipräsidenten zufallen. Der hatte sie voll reingelegt. Mit Pizza angelockt, und Sander, dem er erst Honig um den Bart geschmiert hatte, eins reingewürgt, was der ihm noch nicht mal verübeln konnte, nachdem er ihm das Leben schwer gemacht und Mühle ihn immer wieder zum letzten Mal abgemahnt hatte.

»Seniorentod?«, wiederholte Gernot.

Gabler klappte seufzend den Deckel des letzten Pizzakartons auf. Nachdem er von der Aussicht, künftig Obduktionen beiwohnen zu müssen, befreit war, schien sein Appetit zurückgekehrt zu sein.

Dr. Hornecker grinste Sander an. »Dann auf gute Zusammenarbeit.«

»Ich werde Ihnen sowas von auf die Finger gucken.«

»Werden Sie nicht. Wenn ich die Organe aus der Bauchhöhle raushole und die Schädeldecke öffne, gucken Sie wahrscheinlich aus dem Fenster. Wenn Sie nicht schon vorher umgekippt sind«, erwiderte der Gerichtsmediziner.

»Kann sein«, gab Sander zu.

»Gut«, unterbrach Gernot den Schlagabtausch der beiden Kontrahenten. »Willst du dann jetzt was zu unseren drei Fällen sagen?«

»Mach ich.« Sander schlug die erste Akte auf. »Als Erstes haben wir hier Erna Möller. Zweiundsiebzig Jahre alt. Der Hausarzt hat als Todesursache Herzinfarkt festgestellt.« Er sah auf. »Echt jetzt? Hier steht, dass sie bis zu einer Schachtel Zigaretten am Tag geraucht hat. Da kann man doch mal einen Infarkt kriegen.« Er warf dem übergewichtigen Gerichtsmediziner einen Blick zu. »Oder von zu viel Essen.«

»Aber auch Raucher können ermordet werden«, gab Berger zu bedenken.

»Da hat er recht«, bestätigte Dr. Hornecker. »Vielleicht ist jemand dem Nikotin zuvorgekommen.«

Sander blätterte in der Akte. »Wo ist denn die Leiche im Augenblick?«

»Im Kühlraum auf dem Friedhof. Frau Möller ist schon vor einer Woche verstorben, und die Friedhofsverwaltung will sie endlich loswerden. Und der Enkel will sie gern beerdigen«, antwortete Gernot.

»Und ich möchte sie gerne obduzieren«, stellte Dr. Hornecker fest.

»Schön. Davon wollen wir Sie auch gar nicht abhalten.«

Der Gerichtsmediziner grinste. »Und Sie werden mir dabei zusehen.«

Sander seufzte. »Gut. Und wen haben wir dann noch?« Er nahm die zweite Akte. »Elisabeth Hornung. Erwürgt.« Er sah auf. »Die ist umgebracht worden. Hier steht’s.«

»Richtig«, bestätigte Dr. Hornecker. »Da haben Sie Pech – oder Glück, je nachdem. Diese Dame habe ich bereits obduziert, aber ich würde sie Ihnen trotzdem gern noch zeigen.«

»Und wer war das?«

»Wie, wer war das?«, fragte Gernot.

»Na, wer hat sie umgebracht?«

»Das weiß ich doch nicht. Sie hat den Täter ins Haus gelassen, aber es gibt keinen Hinweis auf den Täter. Allerdings sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.«

Sander schob Gernot die dritte Akte rüber. »Die hab ich noch nicht gelesen. Um wen geht’s da?«

»Richard Lahmann. Der wurde gestern vom Pflegedienst tot aufgefunden. Er liegt bei Herrn Dr. Hornecker auf dem Tisch.«

»Im Kühlfach«, korrigierte der Gerichtsmediziner.

»Und gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?«

»Auf den ersten Blick nicht«, erklärte Gernot. »Aber in seine Wohnung wurde eingebrochen. Herrn Lahmann soll es schlechter gegangen sein, aber das heißt ja nicht, dass er nicht trotzdem umgebracht wurde.«

Sander sah auf und warf einen Blick in die Runde. Das hier bedeutete ziemlich viel Arbeit, und dafür waren vier Leute in dieser SoKo mit dem beknackten Namen viel zu wenig. Das verdammte Badezimmerfenster würde eine ganze Weile warten müssen. Er konnte froh sein, wenn er dazu kam, sein eigenes Bad in den nächsten Tagen überhaupt zu betreten.

»Tja, ich würde sagen, dann teilen wir als Erstes mal die Aufgaben ein. Und so, wie es aussieht, können Sie Ihre Pläne fürs Wochenende erst mal vergessen. Tut mir leid.«

Sein Handy läutete, und er zog es aus der Hosentasche.

»Friedelinde, was gibt’s?«

»Kannst du mich abholen?«

»Wo? Bist du nicht zu Hause?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Im Krankenhaus.«

»Und was machst du da, im Krankenhaus?«

»Na ja, Sie haben mich ziemlich auf den Kopf gestellt. Röntgen und so.«

»Röntgen und so?« Sander war sich der neugierigen Ohren um ihn herum durchaus bewusst.

»Ist aber nicht schlimm. Nur der Fuß.«

»Welcher Fuß?«

»Der rechte.«

»Friedelinde! Was ist mit deinem rechten Fuß?«

»Der ist gebrochen.«

»Gebrochen?«

»Ja, schrei nicht so. Außerdem hätte es schlimmer kommen können.«

»Schlimmer? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du den Rasen gemäht. Wie hast du es in den paar Stunden geschafft, dir den Fuß zu brechen?«

»Na ja, ich wollte eigentlich nur kurz das Fenster zu Ende streichen.«

Sander legte den Handballen an die Stirn. »Du bist von der Leiter gefallen?«, flüsterte er.

»Tja, ich hab mich so erschrocken wegen dem Schrei.«

»Welchem Schrei?«

»Das weiß ich nicht. Ich musste ja den Krankenwagen rufen. Gott sei Dank hatte ich mein Handy in der Hosentasche.«

»Aber du hättest mich doch anrufen können.«

»Du musstest doch dringend los und arbeiten.«

»Ach, Friedelinde.«

»Ist alles halb so schlimm. Wenn es dir jetzt nicht passt, ruf ich mir ein Taxi.«

»Nein, natürlich rufst du dir kein Taxi. Ich hole dich ab.«

»Ah, das ist toll. Dann sag ich gleich der Schwester Bescheid.«

»Gut. Und pass bis dahin auf, dass dir nichts geschieht.«

»Mach ich. Bis gleich. Tut mir leid, dass ich deine Pläne durcheinanderbringe.«

»Ist in Ordnung. Ich muss mich erst mal vergewissern, dass dir sonst nichts passiert ist. Bis später.« Sander drückte das Gespräch weg. »Tja, also …«

»Friedelinde hat sich den Fuß gebrochen, als sie von der Leiter gefallen ist?«, fasste Gernot zusammen.

»Richtig. Würde es dir etwas ausmachen, unseren beiden Kollegen zu sagen, was sie machen sollen? Ich nehme die drei Akten mit, und wir machen dann morgen früh weiter?«

»Nein, natürlich nicht. Und grüß Friedelinde bitte von mir. Ich werde Betty gleich fragen, was man da machen kann.«

»Mach das.« Sander schob seinen Stuhl zurück. »Obwohl ich davon ausgehe, dass man so einen Fuß eingipst und abwartet, bis er wieder zusammengewachsen ist.«

»Morgen früh um acht in der Gerichtsmedizin?«, fragte Dr. Hornecker.

Sander, der schon auf dem Weg zur Tür war, winkte über die Schulter zurück. »Ich kann es kaum erwarten.«

Friedelinde stemmte sich aus dem Rollstuhl in die Höhe, als sie Nicolas auf sich zukommen sah.

»Bleib doch sitzen«, rief er ihr entgegen. »Ich kann dich mit dem Ding doch zum Auto schieben.«

»Bestimmt. Und dann halten wir auf dem Nachhauseweg irgendwo an und besorgen noch eine Schnabeltasse.«

Sander ging vor ihr in die Hocke. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Abgesehen davon, dass mein Fuß gebrochen ist, schon. Sie waren hier mit meinen übrigen Knochen und den Organen jedenfalls zufrieden.«

Er nahm ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Haben die armen Menschen hier sehr viel ausstehen müssen in den vergangenen Stunden?«

»Überhaupt nicht. Ich war total friedlich. Und seit sie mir ein leichtes Schmerzmittel gegeben haben, bin ich auch ziemlich gut drauf. Leider haben sie mir nur zwei Tabletten davon für zu Hause mitgegeben. Du könntest nicht zufällig mehr besorgen? Am Bahnhof oder so?«

Er fasste die Griffe an der Rückenlehne des Rollstuhls und schob sie den Gang entlang. »Ich werde mich unauffällig kleiden und in den Abendstunden am Hauptbahnhof rumdrücken. Vielleicht kann ich was für dich tun.«

»Prima.«

Es war furchtbar beschwerlich, mit dem Gipsfuß in den Wagen einzusteigen, aber noch schwieriger, wieder auszusteigen. An der Hausecke hielt Friedelinde kurz inne, um zu Atem zu kommen. Ihr Blick fiel auf den Rasenmäher, der noch auf dem nicht zu Ende gemähten Rasen im Vorgarten stand, dann auf die umgekippte Leiter. Der Farbeimer war mit ihr zusammen abgestürzt und die Farbe auf den Gartenweg ausgelaufen.

Sander fasste ihren Ellenbogen. Grinsend betrachtete er das Chaos im Vorgarten. »Na, da hast du ja ganze Arbeit geleistet.«

»Ich nehme an, dass es ziemlich weh tut, wenn ich dir mit meinem Gips auf den Fuß trete.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Das bringe ich alles in Ordnung. Jetzt legen wir dich erst mal aufs Sofa.«

»Klasse. Und dann bedienst du mich?«

Sie setzten sich in Bewegung.

»Bedienen würde ich es nicht nennen. Wenn du mir sagst, was du brauchst, werde ich kurz darüber nachdenken, ob ich dir weiterhelfen kann.« Sander stützte sie, während sie die Stufen zur Haustür hochstiegen.

Im Wohnzimmer setzte sich Friedelinde aufs Sofa, hob ihren Gipsfuß auf die Sitzfläche und deckte sich mit der Wolldecke zu. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Es war das erste Mal, dass sie sich etwas gebrochen hatte, und sie fühlte sich schrecklich gehandicapt. Sie würde nicht allein Autofahren oder überhaupt irgendwohin gehen können. Und jeder Schritt war künftig beschwerlich.

Sie wandte den Kopf und sah zu den leeren Regalen hinüber, vor denen zahlreiche Kartons mit Büchern und Kram herumstanden. Einige aus Nicolas’ Wohnung, einige aus ihrer. Sie waren erst vor zehn Tagen eingezogen, und auch wenn sie vorher schon mehr oder weniger in ihrem Wohnbüro zusammengelebt hatten, war das hier etwas anderes. Sie hatten das Haus gemeinsam gekauft und würden künftig hier leben. Ihre Sachen würden nebeneinander in den Schränken und Regalen stehen und nach einer Weile nicht mehr einem von ihnen zuzuordnen, sondern ihre gemeinsamen Sachen sein. Das war schön, auch wenn sie gehofft hatte, früher mit Haus und Garten fertig zu werden. In ihrem Büro, das sie in einem der Räume im Erdgeschoss eingerichtet hatte, herrschte das blanke Chaos, und sie musste dringend wieder arbeiten. Sie hatte noch nicht einmal die Post der letzten Tage geöffnet.

Cäsar erschien in der Tür, rieb seine Wange am Türrahmen und kam dann näher. Der Kater sprang auf das Sofa und richtete sich auf Friedelindes Beinen ein. Sander brachte aus der Küche ein Tablett, das er auf dem Tisch abstellte. Er schenkte Tee ein und reichte Friedelinde einen Becher.

»Ich hab auch ein bisschen Schokolade mitgebracht. Das beschleunigt vermutlich die Heilung.«

Friedelinde steckte sich grinsend ein Stück in den Mund. »Geht mir schon viel besser.«

Sander setzte sich in den Ohrensessel neben dem Fenster. »Ich muss noch einige Akten lesen.«

Friedelinde sah zu ihm hinüber und betrachtete ihn beim Aktenstudium, bis ihr die Augen zufielen.

Kapitel 3

Friedelinde wurde von einem grässlichen Krach geweckt. Es klang, als würde ein Bulldozer ihr neu erworbenes Haus einreißen. Sie wollte aus dem Bett springen, um nachzusehen, aber an ihrem Fuß hing ein schweres Gewicht. Ernüchtert stellte sie fest, dass ihr rechter Fuß eingegipst war und ihr Leben vorerst beschwerlich sein würde. Sie humpelte zum Fenster und erschrak. Über Nacht war der Winter gekommen. Alles war weiß.

Und der Krach war immer noch da. Sie humpelte nach vorn, um zur Straßenseite aus dem Fenster zu sehen, aber dort war die Ursache nicht zu finden. Kein Räumdienst und kein Wagen von der Müllabfuhr störten die morgendliche Ruhe. Dafür waren der Rasenmäher und die Leiter von Schnee bedeckt. Nicolas war schon in aller Herrgottsfrühe ins Präsidium gefahren. Sie selbst war ziemlich außer Gefecht gesetzt, und dieser Krach raubte ihr den letzten Nerv. Eine grässliche Situation.

»Ah!«, schrie sie wütend.

Anschließend machte sie sich auf den beschwerlichen Weg nach unten. Stufe für Stufe kletterte sie die Treppe hinunter und hielt sich dabei am Geländer fest. Wenn sie das geahnt hätte, wäre eine ebenerdige, behindertengerechte Wohnung wohl das Richtige gewesen. Oder ein Treppenlift. Sie schleppte sich in die Küche und ging dann mit einem Becher Kaffee in ihr Arbeitszimmer.

Diesen Anblick hatte sie in den vergangenen Tagen wohlweislich vermieden, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie jemals alle Kartons auspacken und das Büro in einen Zustand versetzen sollte, in dem sie arbeiten konnte. Und dank ihrer Ungeschicklichkeit waren die Chancen auf eine Verbesserung des Zustands nicht gestiegen.

Von hier aus sah sie auch die Ursache des Lärms. Auf dem Grundstück nebenan war der Nachbar damit beschäftigt, mit einem Presslufthammer in der Garage zu arbeiten. Wahnsinn! Vielleicht hätten sie vor dem Einzug die Nachbarn abchecken sollen. Man wusste schließlich nie, wer neben einem wohnte.

Richard Lahmanns Wohnung lag im Erdgeschoss einer gepflegten Wohnanlage aus sandfarbenen Steinen in Blankenese. Die Wege zu den Eingängen waren vom Schnee befreit, was Sander daran erinnerte, dass er heute Morgen eigentlich Schnee schippen wollte, aber irgendwie hatte die Zeit dafür nicht gereicht.

Gernot öffnete die Haustür mit einem Schlüssel und ging dann an einer Reihe von Briefkästen vorbei zu der Wohnungstür auf der linken Seite, die mit einem Polizeisiegel versehen war. Er ritzte das Siegel mit einem Schlüssel auf und schloss die Wohnungstür auf.

»Bitte, nach dir.«

Sander betrat einen düsteren, etwas muffig riechenden Flur. Auf schönem alten Parkettboden lag ein Teppich. An der Garderobe hingen einige Kleidungsstücke, darunter eine Daunenjacke und ein blauer Wollmantel. Er sah sich nach dem Lichtschalter um und knipste das Licht an. Küche, Bad und Schlafzimmer ließ er unbeachtet und betrat das Wohnzimmer, einen sehr großen Raum, dessen Einrichtungsstil ihn an alte Derrick-Filme erinnerte. Ein etwas überladener Achtziger-Jahre-Charme. Eine lederne Sitzgruppe in Weiß, dahinter ein schlichtes kniehohes Regal mit Büchern und Bildbänden, von denen einige auf dem Boden lagen. Darüber hingen zahlreiche Lithografien und Kunstdrucke umrahmt von Passepartouts in schmalen Chromrahmen an den Wänden. Neben der Durchreiche zur Küche stand ein Esstisch mit sechs Stühlen aus weißem Kunststoff. Die Stühle waren in einer S-Form aus einem Stück gefertigt und hatten ein scheußlich orangefarbenes Sitzkissen. Alles wirkte sehr aufgeräumt und ordentlich.

»Sah es hier nach dem Einbruch so aus?«, fragte Sander Gernot, der sich an der Terrassentür zu schaffen machte.

»Ja, es ist ziemlich ordentlich gewesen. Lahmann hatte einen Pflegedienst, der auch den Haushalt gemacht hat.«

»Und so was zahlt die Pflegeversicherung?«

Gernot schüttelte den Kopf. »Nee, den größten Teil der Kosten hat er aus eigener Tasche gezahlt. Lahmann war ziemlich vermögend. Früher hat er in einer Villa in Rissen gewohnt und sich dann hier verkleinert.« Er ließ die Terrassentür los und zog die Ermittlungsakte aus der Aktentasche, die er dabeihatte. »Lahmann hat erst mit Anfang siebzig aufgehört zu arbeiten und ist dann mit seiner Frau Natalie hierhergezogen.«

»Er hat eine Frau? Wo ist die?«

»Natalie Lahmann lebt seit drei Jahren im Heim. Sie leidet unter Demenz, und zu Anfang konnte ihr Mann sie noch allein versorgen, aber als es ihm schlechter ging und er selbst Pflege brauchte, war das wohl nicht mehr möglich.«

Sander kniff die Augen zusammen. »Würdest du Betty in ein Heim geben und dann in deiner Wohnung wohnen bleiben?«

»Wie?« Gernot sah aus der Akte auf, dann hob er die schmalen Schultern. »Nee, vermutlich nicht. Aber wer weiß, wenn sie unter Demenz leidet, erkennt sie ihren Mann vielleicht nicht mehr, und dann ist das Zusammenleben vermutlich nicht allzu schön.«

»Oh Mann, alt werden ist auch nicht allzu schön. Und gibt es Kinder?«

»Nein, Kinder haben sie nicht. Nur einen Neffen.« Gernot legte die Akte beiseite und ging wieder zur Terrassentür. »Hier ist der Einbrecher reingekommen. Er hat ziemlich professionell ein Stück Glas aus der Scheibe herausgeschnitten und hindurchgegriffen, sodass er von innen den Schlüssel umdrehen und den Hebel umlegen konnte.«

Sander rieb sich das Kinn. »Mach mal auf.«

Gernot öffnete die Terrassentür, und Sander ging auf die Terrasse, die von schneebedeckten Rhododendren umgeben war. Vermutlich war es nicht ganz leicht, sich durch die Pflanzen zu schlängeln, aber auch nicht unmöglich. Die Terrasse grenzte an eine kleine Rasenfläche, von der aus man wiederum auf den Weg zum Haus gelangte.

»Und es hat niemand etwas bemerkt?«

»Nein, das Ganze ist wohl ziemlich leise vonstattengegangen. Theoretisch hätte der Einbrecher die ganze Nacht Zeit gehabt. Aufgefallen ist der Einbruch der Mitarbeiterin des Pflegedienstes, als sie am Morgen um halb sieben kam. Lahmann muss noch obduziert werden, aber bei der ersten Leichenschau war Dr. Hornecker der Meinung, dass er noch nicht mehr als vier Stunden tot war. Er kam gegen neun, und da sprach er von beginnender Leichenstarre.«

»Also so gegen fünf Uhr morgens«, rechnete Sander nach. »Eine gute Zeit zum Einbrechen. Die Leute sind noch nicht wach oder haben damit zu tun aufzustehen.« Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Und was wurde gestohlen?«

Gernot kratzte sich am Kopf. »Wenn ich das wüsste.«

»Wie? Hier bricht jemand so aufwendig ein und klaut dann nichts?«

»Falls er nur vorhatte, Richard Lahmann umzubringen, brauchte er ja nichts klauen.«

Sander betrachtete seinen Kollegen, von dessen Gesicht zwischen Mütze und Schal nur zwei Augen und die Nasenspitze zu sehen waren. »Was?«

»Ja, heißt ja nicht, dass er was klauen wollte.«

»Sondern was?«

»Sondern Richard Lahmann umbringen wollte.«

»Einen Achtzigjährigen?«

»Dreiundachtzigjährigen.«

»Motiv?«

»Weiß ich nicht.«

Sander seufzte. »Das bringt uns hier alles nicht weiter. Ich fürchte, ich muss zu Honecker und der Obduktion beiwohnen.«

»Hornecker«, korrigierte Gernot automatisch. »Hast du heute schon gefrühstückt?«, fragte er besorgt.

»Nee, hatte Gott sei Dank keine Zeit heute Morgen.« Sander folgte Gernot in den Hausflur. »Wir müssen die Hausbewohner noch mal befragen, dann den Pflegedienst, den Neffen und …« Er blieb stehen. »Und wen noch?«

»Hm, vielleicht die Leute in seiner früheren Firma. Die hat er verkauft. Kälte- und Klimatechnik.«

»Und dann die Leute in dem Heim, in dem seine Frau lebt.«

Als sie bei ihrem Wagen angekommen waren, warf Sander Gernot einen Blick über das Wagendach zu. »Das schaffen wir nie und nimmer.«

Gernot schob sich die Mütze aus dem Gesicht. »Wir können ja erst mal anfangen.«

Dr. Hornecker setzte das Skalpell auf Brusthöhe an.

Sander schluckte. Seine Lederjacke hatte er anbehalten, zum einen, weil es in der Gerichtsmedizin kühl war, zum anderen, weil er das Bedürfnis hatte, sich in irgendetwas Angenehmes hineinzukuscheln, während seine Augen sehen mussten, wie der dicke Gerichtsmediziner gleich einen tiefen Schnitt durch die Haut und das Unterfettgewebe des armen Richard Lahmann machen würde.

»Ach so, hätte ich fast vergessen« Der Arzt unterbrach seine Tätigkeit.

Sander, der gebannt auf das Unvermeidliche gewartet hatte, sah irritiert auf. »Was?«

»Hier.« Dr. Hornecker deutete mit der Spitze des Skalpells auf einen bräunlichen Punkt etwa einen Zentimeter unter der linken Brustwarze. »Sehen Sie das?«

»Ja.«

»Das ist eine Einstichstelle.«

»Tatsächlich?« Sander ging dichter heran. Der Punkt fiel einem nur ins Auge, wenn man ganz genau hinsah.

»Eine intrakardiale Injektion«, erklärte Dr. Hornecker. »Direkt ins Herz.«

»Aha. Und was wurde injiziert?«

Der Gerichtsmediziner sah Sander an, auf seinem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Lächelns. »Das werden wir sehen, wenn ich das Herz öffne.«

Sander gab sich Mühe, an etwas Erfreuliches zu denken, während er zusah, wie Dr. Hornecker den Schnitt vom Beginn des Brustbeins bis zum Schambein ausführte, anschließend vom oberen Ende des Schnitts jeweils unterhalb der Schlüsselbeine zu den Schultern weitere Schnitte ansetzte. Sander wusste, dass es eine Eigenart des Gerichtsmediziners war, denn üblicherweise begann man mit den Schnitten unterhalb der Schultern, die sich dann auf dem Brustbein vereinten und von dort nach unten führten. Mit für ihn ungewöhnlicher Behutsamkeit zog er das Skalpell durch Haut und Fettschicht, um die Organe nicht zu verletzen. Anschließend löste er die Hautlappen von dem darunterliegenden Muskelgewebe und dem Skelett. Sander schloss für einen Moment die Augen und dachte an das Badezimmerfenster. Vor sich hinmurmelnd, vermaß Dr. Hornecker die Dicke der Fettschicht und überprüfte die freigelegten Rippen und das Brustbein und die Lage der Organe. Seine Feststellungen diktierte er seinem Assistenten, der alles in einen Laptop tippte. Sander wusste, dass er als Nächstes die Organe entnehmen würde, dabei würde er mit dem Herz beginnen, das in ihrem Fall von besonderem Interesse war.

»Hier, sehen Sie das?«

Sander beugte sich über den geöffneten Leichnam, in dem das Herz noch an der richtigen Stelle saß. Darin war eine minimale Verletzung zu sehen, die durch die Einstichstelle verursacht worden war. »Ist ja irre.«

»Schön, dass ich Sie auch mal begeistern kann.« Vorsichtig entnahm Dr. Hornecker das Herz und legte es in die Schale, die der Assistent ihm hinhielt. »Das untersuchen wir zuerst«, erklärte er dem jungen Mediziner, der die Schale mit einer gewissen Ehrfurcht zu seinem Arbeitstisch hinübertrug.

Dem weiteren Treiben schenkte Sander nicht mehr allzu viel Aufmerksamkeit. Er hatte eine ungefähre Ahnung davon, welche Organe sich im menschlichen Körper aufhielten und wo sie sich befanden, mehr musste er nicht wissen. Stattdessen machte er sich in Gedanken eine Liste davon, was an Haus und Garten noch zu tun war und was im Rahmen der Ermittlungen als Nächstes anstand.

»So, das wars.«

Sander schluckte kurz, als er feststellte, dass der arme Richard Lahmann mehr oder weniger ausgeweidet war. Nach Abschluss der Untersuchung der Organe würde alles wieder zurückgestopft und der Körper mit groben Stichen zugenäht werden. Vermutlich war es egal, weil ein toter Körper den Weg alles Irdischen ging, aber wenn man den Grund einer Obduktion mal außer Betracht ließ, handelte es sich dabei doch der Sache nach um eine Leichenschändung. Sander rieb sich die Nasenwurzel. Schon seit einer Weile stellte er bei sich eine gewisse Verweichlichung fest, und jetzt wurde er auch noch philosophisch.

»Mit der Untersuchung der Organe will ich Sie nicht aufhalten, Sie haben schließlich genug eigenen Kram.« Dr. Hornecker deckte Richard Lahmanns Leichnam mit einem weißen Tuch ab. »Stattdessen befassen wir uns mit unseren beiden anderen Leichen.«

Sander folgte dem Arzt zu einem weiteren Untersuchungstisch. »Und wen haben wir hier?«

Dr. Hornecker schlug das weiße Tuch über diesem Leichnam beiseite, als befänden sie sich in einer Zaubervorstellung. »Frau Dr. Elisabeth Hornung.«

Sander betrachtete den Körper der alten Dame vor ihm. Sie war nicht besonders groß, er schätzte sie auf etwa einen Meter fünfundsechzig, und sie war schlank, auch wenn sie ein rundes Gesicht hatte. Ihre graue Dauerwelle hatte durch die Ereignisse ein wenig gelitten. Er versuchte, sie sich vorzustellen, als sie noch lebte. Sie hätte ihm gerade bis zur Brust gereicht. Ihr gepflegtes Äußeres und ihr Beruf als Zahnärztin ließen ihn vermuten, dass sie vielleicht nicht gerade eine imponierende Erscheinung gewesen war, aber doch im fortgeschrittenen Alter selbständig und selbstbestimmt. Und es wäre ihr ganz bestimmt nicht recht, nackt und schutzlos vor zwei Männern zu liegen.

»Sie ist erwürgt worden, so viel steht fest.« Dr. Hornecker deutete auf die blutunterlaufenen Abdrücke am Hals der alten Dame. Deutlich waren dort Fingerspuren zu erkennen. »Das Zungenbein ist gebrochen.« Sander folgte ihm zum Kopfende des Tisches. Es war nicht besonders gut zu erkennen, weil der Leichnam auf dem Rücken und der Kopf auf einer Stütze lag, aber auf dem Kopf war eine Verletzung sichtbar, die sich zum Hinterkopf zog.

»Der Schlag war nicht tödlich?«, fragte Sander.

»Der Schlag war ziemlich stark, aber er hat vermutlich nur dazu ausgereicht, sie handlungsunfähig zu machen. Sie ist vermutlich gestürzt, war benommen oder bewusstlos.«

»Und dann?«

»Dann wurde sie erwürgt.«

»Und diese Intradingens in ihr Herz?« Sander richtete sich auf.

»Soweit ich es von außen beurteilen kann, handelt es sich nicht um Einstiche, die bis ins Herz führen. Es sieht eher so aus, als hätte der Täter dreimal angesetzt und sei dreimal gescheitert.«

»Warum? Hat ihn der Mut verlassen?«

Dr. Hornecker zog ein Taschentuch aus der Tasche seines Arztkittels und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Entweder das oder sie hat sich gewehrt.« Er hob die Arme der Toten an. »Hier, sehen Sie die leichten Verletzungen an den Unterarmen? Zugegebenermaßen schwer zu erkennen, aber das liegt vermutlich daran, dass sie kurz vor dem Tod entstanden sind und sich nicht mehr voll ausbilden konnten.«

»Dann hat der Täter sie niedergeschlagen, versucht, ihr die tödliche Injektion zu verpassen, und als das nicht gelang, hat er sie erwürgt?«

Dr. Hornecker legte die Arme der Toten neben ihrem Körper ab. »So könnte es gewesen sein.«

»Und wie noch?«

»Anders.«

Sander hob die Augenbraue.

»Junger Mann, diese Handlungen sind innerhalb von weniger als fünf Minuten abgelaufen. Da ich nicht dabei war, kann ich Ihnen nur sagen, dass die Würgemale als Letztes zugefügt wurden.«

»Schön, mit der Obduktion kommen Sie allein zurecht?«

Dr. Hornecker grinste. »Zwei Obduktionen sind eine zu viel?«

»Ich habe keine Zeit dafür, Ihre Arbeit zu überwachen. Ich muss rausfinden, wer uns das Ganze eingebrockt hat.«

»Dann mal zu.« Dr. Hornecker deckte den Leichnam von Dr. Hornung wieder zu. »Alles klar.«

»Kriegen Sie das bis achtzehn Uhr hin? Dann würde ich gern die nächste Konferenz abhalten.«

»Ich kann mir für einen Freitagabend nichts Schöneres vorstellen.«

»Ich auch nicht. Dann bis später.« Sander öffnete die Schwingtür und stand einem Mann im schwarzen Anzug gegenüber.

»Das ist nett, dass Sie uns die Tür aufhalten.« Der Mann zog einen Rollwagen mit einem Zinksarg durch die geöffnete Tür, der von einem weiteren Anzugträger geschoben wurde.

»Ah, wen haben wir denn da?«, rief Dr. Hornecker.

»Das ist Erna Möller, und die hätten wir gern sobald wie möglich wieder. Ihr Enkel ist ziemlich sauer darüber, dass wir ihm die Oma am Tag der Beerdigung entziehen«, verkündete einer der beiden Anzugträger. »Und darüber, dass Sie die alte Dame auch noch aufschneiden wollen, ist er noch saurer.« Die beiden Bestatter blieben neben dem letzten freien Untersuchungstisch stehen. »Aber da haben wir ihn an die Bullen verwiesen, die die alte Frau unbedingt aufschneiden wollen.« Einer deutete auf den Untersuchungstisch. »Kann sie darauf?«

Sander ließ den Türflügel los. Hier herrschte plötzlich ein Betrieb wie auf dem Bahnhof, und das machte ihn nachdenklich. Drei Tote, von denen zwei mit einer intra… – wie hieß das noch? Jedenfalls mit einer Injektion ins Herz umgebracht wurden oder zumindest werden sollten.

»Ja, packen Sie die alte Dame hierhin. Befürchtungen, dass Sie noch Spuren zerstören könnten, müssen wir wohl nicht haben.« Dr. Hornecker sah unglücklich aus. »Das haben Sie vermutlich schon erledigt.«

Die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts öffneten den Sargdeckel und hoben den Leichnam von Erna Möller heraus.

»Uns hat keiner gesagt, dass die alte Frau ermordet wurde«, beschwerte sich einer der beiden.

»Das wissen wir ja auch noch nicht.« Dr. Hornecker betrachtete die Leiche. »Das will ich ja erst herausfinden.«

Sander trat neben den Gerichtsmediziner, während die Bestatter den Sarg schlossen und sich verabschiedeten.

»Doch ein Serienmörder?«, fragte Sander.

»Gemach, gemach. Wir gucken jetzt erst mal, ob die Dame Spuren einer intrakardialen Injektion aufweist.«

»Hm.«

»Möglich wäre natürlich auch, dass sie tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben ist oder dass jemand eine andere Tötungsart angewandt hat.«

Sander hob die Augenbraue.

»Ist natürlich nicht schön, dass wir sie jetzt, wo sie für die Beerdigung schon so hübsch gemacht ist, noch mal entkleiden müssen.«

Sander wiegte den Kopf. Entkleiden war ja nur ein Teil dessen, was Erna Möller bevorstand. Anschließend drohte ihr dasselbe Schicksal wie dem armen Richard Lahmann.

»Können Sie mal mit anfassen?«

»Wie?«

Dr. Hornecker hatte den Oberkörper der alten Frau angehoben und deutete auf den Reißverschluss des mit silbernen Fäden durchzogenen schwarzen Seidenkleides. Sie trug eine Perlenkette, an der Brust steckte eine graue Seidenblume. Die Angehörigen hatten sich große Mühe bei der Auswahl des letzten Hemdes gegeben, und die Bestatter hatten sie so zurechtgemacht wie für ihre goldene Hochzeit. Jedenfalls war die Frisur der alten Dame in einem besseren Zustand als die von Elisabeth Hornung.

Sander öffnete den Reißverschluss, und gemeinsam zogen sie das Oberteil über die Arme aus. Auf Anweisung des Gerichtsmediziners hob Sander die Hüfte der Leiche an, Dr. Hornecker zog das Kleid über die Beine aus. Und nach und nach entkleideten sie gemeinsam den Leichnam, bis die alte Frau schließlich nackt vor ihnen lag.

Das war wirklich nicht sein Tag heute.

Dr. Hornecker beugte sich bereits über den Oberkörper und inspizierte die Herzgegend. Kopfschüttelnd richtete er sich nach einer Weile wieder auf. »Nichts zu sehen.«

»Keine intrakardialen Injektionen?«

»Keine intrakardialen Injektionen«, bestätigte der Gerichtsmediziner.

»Hm.«

Dr. Hornecker griff zum Skalpell. »Aber vielleicht finde ich etwas anderes.«

»Ja, vielleicht. Oder es war wirklich ein Herzinfarkt. Bis später.«

Sander schob die Flügeltür auf, durchquerte den Gang und trat nach draußen. Es gab doch nichts Schöneres als einen klaren kalten Wintertag.

Das Duschen hatte beinahe eine halbe Stunde gedauert und in die Plastiktüte, die sie um ihren Fuß gewickelt hatte, war Wasser eingedrungen. Anschließend hatte sie mit einem Fön ihre Haare und ihren Fuß trockengeföhnt. Glücklicherweise war sie allein, und niemand konnte sie bei ihrem Tun beobachten. Friedelinde hatte zwei Hosen dazu auserkoren, sie die nächsten sechs Wochen wechselweise zu bekleiden. Beide hatten ein weites Bein, vom Knie abwärts hatte sie die Hosenbeine aufgeschnitten. Heute wählte sie die schwarze Jeans und zog dazu einen roten Pullover an. Die Treppe hinunterzusteigen dauerte inzwischen nur noch fünf Minuten, aber insgesamt war das Leben mit einem Gipsfuß furchtbar anstrengend. Aber es hätte schlimmer kommen können. Wenn sie sich beispielsweise eine Hand gebrochen hätte.

Sie hatte gerade in eine Scheibe Toast mit Nutella gebissen, als es läutete. Sie humpelte zur Haustür.

»Hi.« Vor der Tür stand ein Paketbote in gelber Uniform. »Ich hab hier was für Frau Paulsen.«

»Hi.« Friedelinde musterte die Transportkarre am Fuße ihrer Treppe, auf der genug Pakete aufgestapelt waren, um ein neu eröffnetes Geschäft auszustatten. »Huch.« Sie sah den Boten fragend an. »Und wer ist Frau Paulsen?«

Jetzt sah wiederum der Paketbote Friedelinde fragend an. »Ihre Nachbarin.« Er deutete zu dem Haus zur Linken, aus dessen Garage der Krach stammte. »Da ist irgendwer zu Hause, macht aber einen schrecklichen Krach und hört mich nicht. Ich hab denen schon einen Zettel in den Kasten geworfen, dass die ihre Pakete bei Ihnen abholen sollen.« Mit diesen Worten wandte er sich bereits um und hob die obersten drei Pakete vom Stapel.

Friedelinde blieb in Anbetracht dieses überfallartigen Eindringens gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen, und sie trat ein paar Schritte beiseite. Der junge Mann schleppte die Pakete an Friedelinde vorbei in den Hausflur. Im Nullkommanichts stapelten sich neun Pakete neben der Garderobe. Friedelinde bestätigte den Empfang auf dem Scanner, dann war der Bote weg.

Neugierig inspizierte sie die Paketaufdrucke. Frau Paulsen hieß mit Vornamen Monika. Und sie litt offenkundig unter einer Art Shoppingwahn. Leider stand auf den Paketen nicht drauf, was drin war. Aber der Absender war immer derselbe. Ein Shoppingsender aus dem Fernsehen. Hm. Friedelinde hatte noch nie einen Shoppingkanal geguckt. Überhaupt sah sie tagsüber nie fern. Oder nur wenn sie krank war. Ihr Blick fiel auf ihren Gipsfuß. Mit einem gebrochenen Fuß war man doch krank, oder?

Als Sander in sein Dienstzimmer zurückkehrte, hing Gernot am Telefon, die ohnehin schon verkrumpelte Schnur mehrfach um den Zeigefinger gewickelt.

»Das verstehe ich … Sicher, das ist verständlich … Ich verstehe das durchaus …Verstehe … Natürlich verstehe ich das.«

Sander ließ ihn auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz keine Sekunde aus den Augen. In dieser Zeitspanne brachte Gernot ungefähr weitere eintausend Varianten von verstehe ich unter, bis er endlich auflegte.

»Was war das denn?« Sander hängte seine Jacke über die Stuhllehne.

»Das war die sogenannte deeskalative Gesprächsführung«, erklärte Gernot würdevoll, während er seinen Finger aus der Leitung befreite. Der war völlig blutarm und irgendwie dünner als seine übrigen Finger.

»Bei meiner Gesprächsführung wäre die angezeigte Maßnahme gewesen, aufzulegen.«

»So haben wir das aber im Seminar gelernt«, entgegnete Gernot. »Auf das Gegenüber eingehen, Verständnis zeigen und eine angenehme Gesprächsatmosphäre herstellen.«

»Die stelle ich auch her, wenn ich auflege.« Sander schob einige Papiere auf seinem Tisch beiseite und wollte den PC einschalten.

»Den kannst du auslassen«, sagte Gernot. »Wir müssen jetzt los.«

»Und wohin?«

»Zu Michael Möller, das ist der Enkel von Erna Möller.«

»Hat der dich eben so zugetextet?«

»Er hat sich darüber aufgeregt, dass wir seine Oma obduzieren.« Gernot beugte sich vor und las von seiner Schreibtischunterlage ab. »Meine Oma hat ein hartes und entbehrungsreiches Leben geführt, und da kommt irgendeine inkompetente …« Gernot sah auf. »Ich habe das korrigiert. Er hat gesagt: inkompotent, also so eine inkompetente Behörde und klaut meine Oma aus dem Sarg, um an ihr rumzuschnippeln. Als wenn sie nicht schon genug durchgemacht hätte.«

Sander seufzte. »Recht hat er.«

Gernot las weiter vor. »Und ich hab die Hütte voller alter Weiber, die meine Oma beerdigen wollen, und die ist nicht da.« Er hob den Blick. »Dass du ganz seiner Meinung bist, kannst du ihm gleich noch einmal höchstpersönlich bestätigen.«

»Aber du hast ihm das doch schon so schön gesagt.«

»Aber eben nur durch eine Telefonleitung. Persönlich kommt so etwas viel besser rüber.« Gernot schob seinen Stuhl ordentlich unter den Schreibtisch. »Du weißt, dass der Präsi Angst hat, dass hier Panik wegen eines Serienmörders ausbricht. Der ist imstande und geht zur Zeitung wegen seiner Oma.«

»Bloß das nicht«, sagte Sander und zog seine Lederjacke wieder an. »Womöglich gerät dann unsere SoKo Seniorentod noch in Verruf.«

Michael Möller hatte verlangt, dass die Polizei ihn in der Wohnung seiner Großmutter aufsuchte, in der eigentlich der Trauerkaffee nach der Beisetzung hätte abgehalten werden sollen. Erna Möllers Wohnung lag in einem roten Fritz-Schumacher-Bau aus den 1920er-Jahren in Wandsbek. Sander drückte den Klingelknopf, und wenige Sekunden später erklang der Türsummer. Er stieß die Tür auf und betrat das mit beigefarbenen Kacheln geflieste Treppenhaus.

»Welcher Stock?«, fragte er, aber seine Frage blieb unbeantwortet, und als er sich umsah, stellte er fest, dass Gernot überhaupt nicht da war. Er kehrte zur Haustür zurück und fand seinen Kollegen vor sich hinmurmelnd vor dem Eingang, den Blick auf eine blaue Emailletafel geheftet, die an der Fassade angebracht war.

»Hallo?«, fragte Sander.

»Wusstest du, dass der Schriftsteller Kurt Hegemann von 1944 bis 1951 in diesem Haus gewohnt hat?«

Sander zog Gernot am Ärmel ins Haus. »Nein, das wusste ich nicht. Ich kenne den Mann überhaupt nicht.«

»Na ja«, erklärte Gernot und stieg die Treppe hinauf. »Er hat es auch nicht unbedingt zu Weltruhm gebracht, aber er hat doch ein bewegtes Leben geführt und einige literarisch hochwertige Werke hinterlassen. Ich glaube, seine Nachkommen haben sogar eine Stiftung gegründet, die junge Talente fördert.« Schnaufend hielt er im zweiten Stock inne. »Wo sind wir hier eigentlich?«

»Wie, wo sind wir?« Sander drehte sich einmal um die eigene Achse. »Wir wollen zu Michael Möller.«

»Aber Frau Möller hat im Erdgeschoss gewohnt«, stellte Gernot fest und stieg die Treppe wieder hinunter.

»Mal ehrlich, kannst du dich mal konzentrieren, Gernot?«

»Entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders.«

»Das kann man wohl sagen.«

Im Erdgeschoss stand in der geöffneten Tür auf der rechten Seite des Flurs ein untersetzter Mann Mitte dreißig und trug eine Miene zur Schau, die einem eine Menge Ärger versprach, wenn man ihm dumm käme. Sander nahm allerdings an, dass Michael Möller auch ohne Anlass streitbereit war.

»Polizei?«, fragte er.

»Richtig«, bestätigte Gernot, die Frohnatur. Er ließ sich nicht so schnell von griesgrämigen Menschen aus dem Konzept bringen. »Herr Möller, wie schön Sie kennenzulernen«, sagte Gernot und fasste Möllers Hand, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt, aber davon ließ Gernot sich nicht abhalten. »Dürfen wir eintreten?«

Eine Antwort wartete er nicht ab und betrat die Wohnung der Verstorbenen, wozu er sich ziemlich schmal machen musste, weil Möller keine Anstalten machte, ihn durchzulassen. Sander nahm zur Kenntnis, dass der junge Mann sich in der Rolle desjenigen, der den Ton angab, gut gefiel. Sander selbst gefiel es weniger, dass dieser Typ sie hier antanzen ließ. Aber er schluckte den ihm angeborenen Drang, dem aufgeblasenen Wicht die Meinung zu sagen, hinunter. Aus der Wohnung war das Geschnatter von mehreren Frauen zu hören, und Gernot war bereits in einem Raum am Ende des Flurs verschwunden.

»Da durch«, wies Möller ihn an und deutete auf einen Perlenvorhang am Ende des kurzen Flurs.

Sander fand Gernot zwischen zwei alten Damen auf einem Sofa wieder, von denen ihm eine Tee einschenkte, die andere ein Stück Schwarzwälder Kirsch auf den Teller schaufelte. In dem winzigen Wohnzimmer, in dem die üblichen Möbelstücke, die zu einer alten Dame passten, untergebracht waren, drängte sich eine Menge weiterer älterer Damen, die Kaffeetassen balancierten. Sander passte gerade noch hinein, Möller blieb im Türrahmen stehen, die Perlenschnüre hielt er dabei zur Seite. Während Gernot praktisch von der Gruppe der Trauernden absorbiert worden war, fühlte sich Sander ein wenig deplatziert.

»Wollen wir uns vielleicht woanders unterhalten?«, schlug Sander vor. Am liebsten hätte er sich ins Auto gesetzt und ein kleines Nickerchen gemacht. Gernot hatte offenbar alles im Griff.

Möller deutete mit dem Kopf in Richtung der kleinen Küche. Unter dem Fenster stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Blech mit Resten von Butterkuchen stand. Der sah ziemlich lecker aus, aber Michael Möller machte keinen übermäßig gastfreundlichen Eindruck.

Sander räusperte sich. »Herr Möller, Sie hatten gegenüber meinem Kollegen Ihr Missfallen über unser Vorgehen geäußert.«

Das war zugegebenermaßen ein wenig gestelzt rübergekommen, und Sander war sich sicher, dass er leise Geräusche von Zahnrädern hören würde, wenn er sein Ohr an den Schädel des jungen Mannes hielt.

Der kniff die Augen zusammen. »Missfallen?«, presste er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Hören Sie«, Sander hob beschwichtigend eine Hand. »Es tut mir wirklich leid, aber wir wollen nur sichergehen, dass nichts übersehen wird.«

Möller hatte sich gegen einen alten Geschirrschrank gelehnt und wieder seine abwehrende Pose eingenommen. Als er in Rage geriet, klirrte das Geschirr leise im Schrank. »Meine Oma ist vor einer Woche gestorben.« Er zeigte mit dem Finger auf Sander. »Sie sollte heute beerdigt werden. Heute!« Sander meinte, Rauchwolken aus seinen Ohren aufsteigen zu sehen. »Und was ist? Ich latsch mit den alten Frauen zur Friedhofskapelle, und da sagt der Typ im schwarzen Anzug, dass Sie meine Oma mitgenommen haben, um sie aufzuschneiden.«

Sander schloss für einen Augenblick die Augen. Was sollte er sagen? Der junge Mann war zu Recht empört, und das Ganze war mit dumm gelaufen noch euphemistisch umschrieben. Aber die Schuld auf Mühle zu schieben, schien ihm kein geeignetes Mittel zu sein, um Möller zu beruhigen. »Herr Möller, mein Kollege hat es Ihnen schon erläutert. Wir haben im Augenblick eine Reihe ungeklärter Todesfälle bei alten Menschen, und wir wollen sichergehen, dass keine gewaltsame Tötung übersehen wird.«

»Ungeklärt?«, ereiferte sich Möller. »Was soll das heißen? Ungeklärt? Oma hatte einen Herzinfarkt. Können Sie mir mal sagen, was daran ungeklärt ist?«

»Es ist nicht gesagt, dass Ihre Großmutter eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Wir müssen es nur ausschließen.«

»Hören Sie mir eigentlich zu? Sie hatte einen Herzinfarkt! Oma hat geraucht.« Möller wedelte mit der Hand in der Luft. »Gequalmt hat sie. Dr. Brunner hat einen Herzinfarkt diagnostet.« Michael Möller schien tatsächlich ein Problem mit Worten zu haben, die außerhalb des Wortschatzes des durchschnittlichen Deutschen lagen.

Tatsächlich roch es stark nach Zigarettenrauch. Der Gestank hing in der Scheibengardine, und die ehemals weiße Raufasertapete trug einen gelblichen Schleier.

»Dr. Brunner war der Hausarzt Ihrer Großmutter?«

»Ja!«

Sander kamen die Worte des Polizeipräsidenten, was die Umstände der ersten Leichenschau anbetraf, in den Sinn. Er konnte sich vorstellen, dass kein Hausarzt Lust hatte, Erna Möller auszuziehen und von oben bis unten zu untersuchen, wenn Michael Möller neben ihm stand. Ein Herzinfarkt war zwar naheliegend, aber wenn dieser Dr. Brunner nur einen flüchtigen Blick auf Erna Möllers Leichnam geworfen hatte, wäre ihm vielleicht entgangen, dass sie beispielsweise mit einem Kopfkissen erstickt worden war.

»Und?«, bellte Möller.

»Äh, wie? Ach so, Dr. Brunner. Nichts, nein. Es geht nur darum, eine Obduktion durchzuführen, um alles auszuschließen. Also, dann wissen wir, dass sie am Herzinfarkt gestorben ist.«

»Machen Sie Witze? Sie schneiden meine Oma von oben bis unten auf, nur um rauszufinden, dass Sie am Herzinfarkt gestorben ist?«

»Nein, natürlich nicht. Wir wollen nicht herausfinden, dass Sie an einem Herzinfarkt gestorben ist, sondern dass ihr Tod keine andere Ursache hat.«

Schon als er den Mund wieder schloss, ahnte Sander, dass dieser Satz möglicherweise zu kompliziert geraten war.

»Also, ob einer meine Oma abgemurkst hat?«

Offenbar hatte er sich geirrt. Möller hatte ihn durchaus verstanden. »Und wer soll das gewesen sein?«

Sander verzog das Gesicht. Er wollte natürlich nicht direkt auf sein Gegenüber deuten.

»Ich vielleicht? Meine Oma hat sich ihr Leben lang um mich gekümmert. Ich hab mich um sie gekümmert, als sie alt wurde.«

»Ja, natürlich. Ich will Sie selbstverständlich auch keineswegs beschuldigen. Wir wissen ja wie gesagt noch nicht einmal, ob Ihre Großmutter umgebracht wurde.« Das war wieder einer dieser Augenblicke, in denen sich Sander woandershin wünschte. Um Erna Möller ging es ja eigentlich gar nicht. Eigentlich ging es darum, dass Mühle unter einer Art Angststörung litt und befürchtete, dass die alten Menschen ab sofort nicht mehr eines natürlichen Todes starben. Andererseits konnte er die Obduktion nicht als eine Vorsorgeuntersuchung verkaufen. »Herr Möller, wie gesagt, es tut mir leid, dass die Dinge sich so entwickelt haben. Es ist wirklich nur zu Ihrem Besten.«

Berger lachte spöttisch auf, und Sander konnte es ihm nicht einmal verübeln. Schon die ganze Zeit hatte Sander mit einem Ohr dem munteren Geplauder der alten Damen gelauscht, das hin und wieder von einem hellen Auflachen gekrönt wurde. Gernot schien sich bestens zu amüsieren, und die Damen schienen den Anlass ihrer Zusammenkunft vergessen oder zumindest verdrängt zu haben. Irgendetwas machte er selbst falsch.