Dunkle Jagd - Angela Lautenschläger - E-Book + Hörbuch

Dunkle Jagd Hörbuch

Angela Lautenschläger

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Beschreibung

Ein Verbrechen, das noch immer Tote fordert: Der neue Hamburgkrimi »Dunkle Jagd« von Bestsellerautorin Angela Lautenschläger als eBook bei dotbooks. Ein rätselhafter Cold Case, ein brutaler Mord auf den Bahngleisen – und ein spektakulärer Fall von Kunstraub ... Das muss ein schlechter Scherz sein, denkt die Hamburger Anwältin Theresa Sommer: Per Anruf wird sie aufgefordert, eine Lösegeldforderung an den exzentrischen Kunstsammler Klaus Schuhmann zu überbringen – zahlt er nicht, soll ein überaus wertvolles Gemälde zerstört werden. Doch als der mysteriöse Anrufer nicht lockerlässt und Theresa mit ihrer neugierigen Tante Hedwig Nachforschungen anstellt, ahnt sie bald, dass es trotz ihrer Schweigepflicht als Anwältin besser wäre, Kommissar Lukas Kampmann einzuschalten. Denn sie geraten mitten hinein in die bizarre Welt des Kunsthandels, wo der schöne Schein um jeden Preis gewahrt werden will ... vielleicht sogar durch Mord? Das Ermittlerduo mit Bestsellerstatus: die eigenwillige Anwältin Theresa Sommer und Lukas Kampmann, ein Kommissar mit außergewöhnlichen Ermittlungsmethoden. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Nach ihrer Erfolgsreihe um Engel & Sander nun der neue fesselnde Kriminalroman »Dunkle Jagd« von Angela Lautenschläger. Ein Krimivergnügen für alle Fans von nordischer Spannung und Eva Almstädt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:13 Std. 3 min

Sprecher:Sabine Fischer

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Über dieses Buch:

Ein rätselhafter Cold Case, ein brutaler Mord auf den Bahngleisen – und ein spektakulärer Fall von Kunstraub ... Das muss ein schlechter Scherz sein, denkt die Hamburger Anwältin Theresa Sommer: Per Anruf wird sie aufgefordert, eine Lösegeldforderung an den exzentrischen Kunstsammler Klaus Schuhmann zu überbringen – zahlt er nicht, soll ein überaus wertvolles Gemälde zerstört werden. Doch als der mysteriöse Anrufer nicht lockerlässt und Theresa mit ihrer neugierigen Tante Hedwig Nachforschungen anstellt, ahnt sie bald, dass es trotz ihrer Schweigepflicht als Anwältin besser wäre, Kommissar Lukas Kampmann einzuschalten. Denn sie geraten mitten hinein in die bizarre Welt des Kunsthandels, wo der schöne Schein um jeden Preis gewahrt werden will ... vielleicht sogar durch Mord?

Über die Autorin:

Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Katzen in Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlichte Angela Lautenschläger ihre Bestsellerreihe rund um »Sommer und Kampmann«, die sowohl als eBook- und Printausgaben erhältlich ist:

»Kalter Neid«

»Blendende Gier«»Fatale Lüge« – bei SAGA Egmont auch als Hörbuch erhältlich

»Dunkle Jagd« – bei SAGA Egmont auch als Hörbuch erhältlich

Weitere Bände sind in Planung.

Bei dotbooks erscheint außerdem ihre »Engel und Sander«-Krimireihe im eBook, die auch als Print- und Hörbuchausgaben bei SAGA Egmont erhältlich ist:

»Stille Zeugen«

»Geheime Rache«

»Tödlicher Nachlass«

»Blindes Urteil«

»Gerechte Strafe«

»Brennende Angst«

»Stummer Zorn«

Die ersten drei Bände der Engel-und-Sander-Reihe sind außerdem im eBook-Sammelband »Das dunkle Herz von Hamburg« erhältlich. Eine weihnachtliche Kurzkrimigeschichte zur Reihe ist in der eBook-Anthologie »Ein Weihnachtswunder kommt selten allein« erschienen.

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Originalausgabe Januar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-925-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Angela Lautenschläger

Dunkle Jagd

Der vierte Fall für Sommer und Kampmann

dotbooks.

Prolog

Sein Einkaufswagen stammte aus dem Supermarkt des vor einigen Jahren aus dem Boden gestampften neuen Wohnviertels. Sie hatten dieses grässliche Quartier auf einer Fläche errichtet, die seit mehr als zehn Jahren sein Lebensraum war. Aber nicht nur seiner, sondern auch der einer Vielzahl von Kleintieren, Pflanzen und Insekten, die in einer Stadt wie Hamburg anderswo gar keinen Platz fanden. Doch auf der naturbelassenen Fläche neben den Bahngleisen des Bahnhof Altona hatte ein friedliches Miteinander geherrscht. Bis die Bagger kamen.

Jetzt standen hier riesige Wohnblocks, deren Innenräume niemals die Chance hatten, das Tageslicht zu sehen. Es hatten sich furchterregende Straßenschluchten gebildet, in denen die jungen Mütter ihre Kinderwagen spazieren schoben. Die jungen Familien hatten sich für viel Geld Eigentumswohnungen gekauft, und ein kleines Kind würde nie mehr allein nach Hause finden. Nur eine winzige, wie mit dem Lineal gezogene Fläche bot ein wenig Grün, wirkte allerdings nicht einladend inmitten von Beton und versiegelten Flächen. Er trauerte der zerstörten Natur immer noch nach, trotzdem hatte er sich bislang nicht dazu durchringen können, eine neue Gegend zu suchen.

Die Leute im Supermarkt waren freundlich und gaben ihm abends an der Hintertür abgelaufene Lebensmittel, die noch tipptopp waren. Und besonders die jungen Leute hier waren nett, überließen ihm Kleidung, die sie als Altkleider bezeichneten, mit denen aber alles stimmte.

Solange sie das Backsteingebäude aus alten Bahnbeständen stehen ließen, hatte er außerdem ein Dach über dem Kopf. Hin und wieder verirrte sich ein Mensch zu ihm, der es gut mit ihm meinte und ihm die Ämter aufzählte, die alle etwas für ihn tun könnten: eine Wohnung finden und bezahlen, eine Krankenkasse, für den Lebensunterhalt sorgen, für Fortbildung und Kontakte. Sie verstanden nicht, dass er all das nicht wollte. In einem solchen Leben wäre er noch eingeengter als zwischen diesen Häuserblocks. Diese Lebensform hatte er hinter sich gelassen.

Er hatte sich eine Technik erarbeitet, mit der er den Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten den Kantstein hochbekam. Er empfand es als ein wenig widersprüchlich, aus einem bürgerlichen Leben auszubrechen, um dann eine Menge Kram mit sich herumzuschleppen. Aber es waren alles Dinge, die er brauchte. Kleidung, Getränke, etwas für die Körperhygiene, ein bisschen Geschirr, Decken, ein Schlafsack, ein wenig Krimskrams und einige Bücher. Was nicht in den Wagen passte, hing in Plastiktüten außen am Wagengitter. Vor einer Weile hatte er sich diesen Greifer angeschafft, mit dem immobile Menschen etwas vom Boden aufheben konnten. Er wollte schließlich nicht mit den Händen in öffentlichen Mülleimern herumwühlen. Dabei verbargen sich darin häufig echte Schätze. Pfandflaschen zum Beispiel.

Er merkte auf, als von den Bahngleisen ein ungewohntes Geräusch zu hören war. Üblicherweise hörte man das Quietschen der S‑Bahnen, das beim Bremsen auf den Gleisen entstand. Die ICE waren kaum zu hören. Sie legten sich vor der Einfahrt zum Bahnhof sanft in die Kurve und glitten in nahem Abstand zu den Häusern vorüber. Doch das Geräusch, das er jetzt hörte, klang fast ein wenig gefährlich. Wie eine Notbremsung, bei der man auf den Aufprall wartete. Aber es geschah nichts. Hier, kurz vor dem Bahnhof, fuhren die Züge nicht mehr mit allzu hohem Tempo. Vermutlich war der Bremsweg nicht lang genug. Vielleicht war auch nur eine Weiche falsch gestellt und der Lokomotivführer hatte das Problem rechtzeitig erkannt. Sehen konnte er hier am Fuß der mit vielen jungen Birken bewachsenen Böschung nichts.

Als nichts weiter passierte, widmete er sich dem roten Mülleimer mit einem dieser Aufkleber, den die von der Stadt wohl witzig fanden. Asche in mein Haupt. Hier am Rand des Quartiers hingen abends die jungen Leute herum, Erwachsene verirrten sich eher selten hierher. Die Jungs und Mädchen saßen auf den Rückenlehnen der Bänke, tranken, rauchten und warfen ihre leeren Flaschen in den Müll. Er suchte die Flaschen regelmäßig wieder heraus, brachte sie zum Leergutautomaten des Supermarktes und schloss damit den vorgesehenen Kreislauf.

Ihn traf beinahe der Schlag, als aus dem Gebüsch neben ihm eine Gestalt heraussprang wie ein wildes Tier. Das Gesicht konnte er gut erkennen, obwohl sein Gegenüber einen grauen Hoodie mit Kapuze trug. Einen Augenblick standen sie sich Auge in Auge gegenüber, dann lief die Gestalt weiter. Keine zehn Meter entfernt stieg sie in einen dunkelroten Kombi und raste davon. Das Kennzeichen merkte er sich. Und auch den Umriss des Aufklebers auf der Kofferraumklappe.

Kapitel 1

Die Kameraaufnahme zeigte ein schlichtes Backsteingebäude. Es gab einen kleinen gepflegten Vorgarten, der von einem geschmiedeten Gitter eingefasst war. Der Gehweg davor war geteert, ebenso wie die Zufahrt, die rechts vom Haus verlief und in den Innenhof führte. Hinter den weiß gestrichenen Fensterrahmen hingen altmodische Tüllgardinen, vor dem Hauseingang gab es eine Überdachung, deren Dach und Seitenwände aus gelbem Plexiglas bestanden. An der Hausecke verlief ein Abflussrohr von der Dachrinne in den Boden. Die Kamera bewegte sich über die asphaltierte Fläche zwischen Wohnhaus und Gemüsegarten zum Innenhof. Der Teer war schadhaft, zeigte unschöne Nähte zwischen den Flächen, und in mehreren Pfützen stand Regenwasser. Die Rückseite des Innenhofs, der ebenfalls asphaltiert war, wurde durch ein lang gestrecktes Backsteingebäude begrenzt. Über der doppelflügeligen Tür in der linken Hälfte des Gebäudes hing ein Holzschild mit dem aufgemalten Wort Tischlerei. Über der Glastür in der rechten Gebäudehälfte ein rechteckiges weißes Kunststoffschild, das von innen beleuchtet war und auf dem in dunkelblauer Schrift stand: Feinkost Kleebusch.

Die Stimme des Sprechers war sonor und angenehm. »Im Hinterhof ihres Eigenheims in Itzehoe betrieb Gitta Kleebusch einen kleinen Tante-Emma-Laden«, erklärte der Sprecher, und die Kamera schwenkte auf den Eingang zum Ladengeschäft. Durch die offen stehende Tür konnte man eine kleine Kühltheke sehen, und als die Kamera in den Laden hineinfuhr, erkannte man die Käselaibe, Aufschnittscheiben und Würstchen, die darin lagen. In den Regalen gab es neben Waschmittelpaketen, Packungen mit Reis und Zahnpastatuben, Putzmittel und Senfgläser. In einer Ecke standen Besen und sogar ein Schneeschieber. Es gab einen Schnitt, während dessen der Bildschirm kurz schwarz wurde. Danach fand sich der Zuschauer in einem düsteren Flur wieder, aus dem die Kamera in ein Wohnzimmer abbog. Auf dem mit grüner Auslegeware belegten Boden standen linker Hand eine Schrankwand aus furniertem Eichenholz, auf der rechten Seite eine Sitzgruppe aus grünem Flor. Auf dem Couchtisch mit cremefarbenen Kacheln sah man zwei Kaffeetassen und auf zwei Kuchentellern im selben Dekor lagen halb aufgegessene Stücke Apfelkuchen. Neben einer Kristallschale mit geschlagener Sahne befanden sich ein Milchkännchen und eine Zuckerdose aus Silber. Die Sahne sah nicht mehr frisch aus, so als stünde sie schon lange auf dem Tisch. An der Wand über dem Sofa hing ein Gemälde, ein in einen Goldrahmen gefasstes Ölbild, das eine düstere Heidelandschaft zeigte. Neben jedem der Gegenstände im Raum stand ein kleines Schild mit einer Nummer, das ihn als Beweismittel kennzeichnete. Das Milchkännchen trug die Nummer 6. Der Silberpokal hatte die Nummer 1 und lag auf dem Teppich direkt neben einem großen Blutfleck. Die Filmaufnahme stoppte, und ein Foto wurde eingeblendet. Darauf war eine gleiche Aufnahme des Wohnzimmers zu sehen, nur dass auf diesem ein abgedeckter Leichnam zwischen Couch und Couchtisch auf dem grünen Teppich lag. Direkt neben der Blutlache.

»Gitta Kleebusch wurde am Abend des 28. Februar 1992 tot in ihrem Haus aufgefunden. Sie wurde mit einem Pokal, den ihr verstorbener Mann Harald Kleebusch beim Schützenturnier gewonnen hatte, erschlagen. Die Tatzeit wurde auf etwa 17 bis 18 Uhr angenommen«, erklärte der Sprecher. »Die Auffindesituation legte nahe, dass sich die Tat am Nachmittag, eben zur Kaffeezeit, ereignet hatte. Wen Gitta Kleebusch zum Kaffee erwartet hatte, war zunächst nicht bekannt. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass Christoph Kleebusch, der Neffe ihres verstorbenen Mannes zu Besuch bei seiner Tante gewesen war. Wegen eines dringenden Termins hatte er seine Tante während der Kaffeemahlzeit verlassen müssen. Auch der Untermieter des Opfers, Karsten Vogel, geriet kurzzeitig unter Verdacht, hatte für die Tatzeit jedoch ein Alibi.« Der Sprecher machte eine Pause. »Bis heute konnte der Tod der 69jährigen Gitta Kleebusch nicht aufgeklärt werden.«

Die letzten Worte brachte der Sprecher mit einer solchen Dramatik hervor, dass Theresa Gänsehaut bekam. Auf dem Bildschirm erschien das Logo der Sendung Cold Cases. Dann wurde ungeachtet der Tragödie, die sich eben noch auf dem Bildschirm abgespielt hatte, für laktosefreien Joghurt geworben. Lukas griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton aus.

Theresa streckte sich. »Wer, glaubst du, war es?«

Lukas zuckte mit den Schultern. »Dazu haben wir zu wenig erfahren. Neffe und Untermieter werden als Täter ausgeschlossen. Ob die Kollegen damals noch weitere Verdächtige auf der Liste hatten, haben sie nicht gesagt.«

Theresa zog die Decke, die neben ihr auf dem Sofa lag, zu sich heran und wand sie sich um die Schultern. »Ich glaube, der Neffe wars.«

Lukas gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ist das ein Gefühl oder hast du einen begründeten Verdacht?«

»Bisher nur ein Gefühl«, erklärte sie grinsend. »Dafür haben wir zu wenig erfahren.«

»Trinkst du noch ein Glas?«, fragte Lukas und deutete auf Theresas Weinglas.

»Ein halbes, aber die Flasche ist leer.«

Als Lukas in die Küche ging, um Nachschub zu holen, sah Theresa ihm nach. Eine Weile lang hatte sie sich gefragt, wie das Zusammenleben mit ihm sein würde. Nach ihrer Trennung von Tim war sie eine Zeit lang allein gewesen. Ausreichend Zeit, um sich ein paar merkwürdige Dinge anzugewöhnen. Es hätte ja sein können, dass Lukas feststellte, dass sie sich zu einer skurrilen einsamen Jungfer entwickelt hatte. Andererseits hätte es auch sein können, dass Lukas sich als merkwürdiger Zeitgenosse entpuppte. Aber nichts von beidem traf zu. An den Wochenenden machten sie nach dem Frühstück häufig gemeinsam Yoga, anschließend trank Lukas grünen Tee, sie Espresso. Während der Arbeit schickten sie sich oft Nachrichten oder riefen sich an. Und abends sahen sie sich in Theresas Haus in Poppenbüttel wieder. Und während Tim keinen Handschlag im Haushalt gemacht hatte, kochte Lukas regelmäßig, räumte die Küche auf, holte den Staubsauger aus der Abseite und putzte das Bad. Und dabei war er ein super Lebensgefährte. Fast zu schön, um wahr zu sein.

Lukas, der mit einer Weinflasche aus der Küche zurückkehrte, sah sie fragend an. »Was gibt es? Du siehst mich so entrückt an.«

Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Ich habe dich vermisst.«

»Ich war genau eine Minute weg.«

»Nein«, sagte sie. »Bevor ich dich kennenlernte.«

Zu dem Fall Gitta Kleebusch folgte noch das Ende des Beitrages, in dem Fotos des Neffen und des Untermieters gezeigt wurden. Beide mit einem schwarzen Balken über den Augen. Karsten Vogel war ein rothaariger Typ, dessen Haare ein wenig dünn wurden, obwohl er noch keine dreißig war. Christoph Kleebusch trug sein weißes Hemd zu weit aufgeknöpft und eine Sonnenbrille im Haar. Es wurden noch einige Nachbarn befragt, die Gitta Kleebusch als freundliche und hilfsbereite alte Dame beschrieben. Ihr Mann Harald sei ein wirklich netter Kerl gewesen, um den es schade war, und Gitta habe ein solches Ende nicht verdient. Sie hätte den Leuten sogar noch spät abends den Laden geöffnet, wenn sie bereits vor dem Fernseher saß, und jemand noch Brot oder Käse brauchte.

»Eigentlich war das nur ein reißerischer Beitrag«, stellte Theresa fest, während der nächste Fall vorgestellt wurde. »Es gibt keine Hinweise, mit denen man etwas anfangen kann, und man fragt sich echt, warum sie das überhaupt zeigen.«

Lukas stellte sein Weinglas ab. »Es kommt durchaus vor, dass jemand auch nach dreißig Jahren plötzlich eine Zeugenaussage macht, die den Schlüssel zur Lösung liefert. Oder jemand hört zum ersten Mal von dem Fall und kann etwas Nützliches beitragen.«

»Wollen wir ins Bett gehen?«

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, antwortete Lukas grinsend.

»Ich muss noch eine Akte lesen«, stellte Theresa fest.

Lukas stellte den Fernseher aus. »Wie viele Seiten?«

Kapitel 2

Hedwig Fröhlich schlug ihre Zeitschrift zu. Eigentlich war puzzeln ihr Hobby, aber es gab einige interessante Strickmuster darin. Sie sah aus dem Zugfenster. Bisher war ihr Zug auf die Minute pünktlich, und in etwa fünf Minuten würden sie am Bahnhof Altona eintreffen. Kurz hatte Hedwig damit geliebäugelt, sich ein Taxi nach Hause zu gönnen, aber die Kosten für eine Fahrt nach Wandsbek waren kein Pappenstiel, und sie konnte auch sehr gut mit der U-Bahn fahren. Sehr viel Gepäck hatte sie nicht dabei. Ihre Reisetasche aus braunem Leder hatte ihr ein freundlicher junger Mann, bevor er in Elmshorn ausgestiegen war, schon aus dem Gepäckfach heruntergehoben und neben ihr auf den frei gewordenen Sitz gestellt. Die Tasche bot ausreichend Platz für ihr Gepäck für das verlängerte Wochenende bei Margot auf Sylt.

Bei ihrer alten Freundin war es wieder sehr schön gewesen. Sie kannten sich seit der Schulzeit vor mehr als fünfzig Jahren, und seit Margot ihren Heinrich geheiratet hatte und nach Westerland gezogen war, besuchte Hedwig ihre alte Freundin einmal im Jahr. Immer im Herbst, wenn die Sommersaison abgeklungen war und der Wintertrubel noch nicht eingesetzt hatte. Jeden Tag waren sie am Strand gewesen und hatten über alte Zeiten gequatscht. Aber jetzt freute sich Hedwig auf ihre eigene Wohnung, ein kleines Schlückchen und die neueste Folge ihrer Vorabendserie. Darin wurden pensionierte Kriminalbeamte wegen Personalmangels wieder in den aktiven Dienst versetzt. Das war genau ihr Thema. Allerdings empfahl es sich, dass sie noch einmal diese grässliche Bordtoilette aufsuchte, bevor sie in Altona einfuhren. Hedwig steckte die Zeitschrift in ihre Handtasche und stand auf.

Im selben Augenblick bremste der Zug abrupt. Hedwig wurde nach vorn geschleudert und stieß sich unsanft an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr. Ein Mann, der eben auf dem Gang an ihr vorüberging, kam ins Straucheln und schaffte es nicht, sich an den Rückenlehnen der Sitze festzuhalten. Unsanft stürzte er zu Boden. Eine Tasche schleuderte über den Gang, und hinter sich hörte Hedwig Gerumpel und Schmerzenslaute. Ihre eigene Reisetasche war durch den Schub ebenfalls vom Nebensitz gefallen. Hedwig plumpste auf ihren Platz zurück.

»Donnerwetter!«, sagte sie, als der Zug endgültig zum Stehen kam.

Hedwig warf einen Blick zur Decke. Glücklicherweise hatte sich ihre Reisetasche nicht mehr da oben befunden. Nicht auszudenken, wenn sie ihr auf den Kopf gefallen wäre. Wo war eigentlich ihre Handtasche? Sie sah auf den Boden, wo die Tasche unter den Vordersitz gerutscht war. Während sie nach der Handtasche angelte, rappelte sich der Mann im Gang wieder hoch.

Als sich Hedwig wieder aufrichtete, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Dort lief eine große Person quer über das Bahngelände, sprang über ein Gebüsch und wurde immer kleiner, bis sie den Abhang am Rande des Geländes hinunterlief und verschwand.

»Meine Damen und Herren, wir bitten diejenige Person, die die Notbremsung ausgelöst hat, sich umgehend beim Zugpersonal zu melden und den Grund für die Betätigung der Notbremse mitzuteilen. Weiter bitten wir alle Fahrgäste, anderen hilfsbedürftigen Fahrgästen zu helfen. Bitte informieren Sie das Zugpersonal, wenn Sie oder andere Fahrgäste ärztliche Hilfe benötigen. Es wird gleich ein Zugbegleiter durch die Wagen gehen und nach dem Rechten sehen. Bitte verlassen Sie den Zug nicht und nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein.«

»Gehts?«, fragte Hedwig den Mann im Gang, der sich mit der einen Hand durch die Haare fuhr und mit der anderen das Schienbein rieb.

Statt einer Antwort stöhnte er. »Was für ein Arschloch hat da bloß auf die Bremse getreten!«, schimpfte er dann.

»Tja«, machte Hedwig und sah noch einmal aus dem Fenster. Schätzungsweise eines mit einer grauen Kapuzenjacke.

Die junge Frau, die vor einer Weile die Fahrkarten kontrolliert hatte, kam durch die Gänge. »Ist hier jemand verletzt? Benötigt jemand ärztliche Hilfe?«

Es kamen einige Kommentare aus den Sitzreihen, aber es schien niemand ernsthaft verletzt zu sein.

Die Kontrolleurin beugte sich zu Hedwig herunter. »Benötigen Sie Hilfe?«

»Nein, meine Liebe. Bei mir ist alles in Ordnung. Wann werden wir denn weiterfahren?«

»Nun, da muss ich Sie noch um Geduld bitten. Wir müssen zunächst die Ursache für diesen Zwischenfall ermitteln, bevor die Blockierung aufgehoben werden kann. Aber wir sind bemüht, baldmöglichst in den Bahnhof einzufahren. Allerdings geht die Sicherheit vor.«

»Natürlich.« Hedwig seufzte. Die heutige Folge ihrer Vorabendserie würde sie sich wohl aus der Mediathek abrufen müssen.

Eine weitere Durchsage erklang. »Wir bitten Sie um etwas Geduld, es gibt einen Notfall in Wagen 14, und wir müssen noch auf das Eintreffen der Einsatzkräfte warten.«

Die Kontrolleurin verschwand mit einem »Ach je« in den hinteren Teil des Zuges. Der Mann in der Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges schimpfte. Hedwig nahm ihre Zeitschrift aus der Handtasche und schlug sie wieder auf.

»Ich bin dann weg, okay?« Jessica Stiehl warf sich ihre Sporttasche über die Schulter.

»Das ist okay. Bis morgen«, sagte Lukas.

Pünktlich am Freitagnachmittag hatten sie einen Fall abgeschlossen, und den Montag hatten sie damit zugebracht, ihre Berichte zu vervollständigen und die Akte abzuschließen. Selten hielten sich Mörder und andere Verbrecher an die üblichen Bürozeiten oder gönnten der Polizei sogar ein freies Wochenende. Da kam es nicht oft vor, dass sie um fünf nach Hause gehen konnten. Seine jüngste Kollegin Jessica war sportlich und hatte seit Kurzem irgendeine Kampfsportart für sich entdeckt. Meistens schaffte sie es nicht rechtzeitig zu ihrem Sportkurs.

Kai Lehmann winkte seiner Kollegin hinterher und begann, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Lukas streckte sich. Er könnte eigentlich auch pünktlich Feierabend machen und vielleicht ein bisschen einkaufen. Etwas Leckeres für Theresa kochen, die sich angewöhnt hatte, rechtzeitig zu Hause zu sein. Manchmal nahm sie sich noch Arbeit aus der Kanzlei mit nach Hause, aber er konnte sie inzwischen zu einem häuslichen Abend zu zweit überreden, wenn er denn selbst pünktlich nach Hause kam.

»Also, ich bin dann auch mal we…« Das Telefon auf Kais Schreibtisch brachte ihn zum Schweigen. »Och ne!« Kai setzte sich wieder auf seinen Drehstuhl und nahm den Hörer ab.

Lukas versuchte dem Gespräch zu folgen, dessen Inhalt Kai teilweise wiederholte und zu dem er sich Notizen machte. Es ging um einen Notfall, so viel begriff er. Aber eigentlich verstand Lukas nur Bahnhof.

»Gut.« Kai legte den Hörer auf. »Ich korrigiere: Wir sind dann mal weg. Am Bahnhof Altona gab es einen Leichenfund.«

»Hm, wie unschön.«

»Immerhin keiner auf den Gleisen«, stellte Kai fest. »Also noch am Stück.«

Während Kai in halsbrecherischem Tempo nach Altona fuhr, versuchte Lukas auf seinem Smartphone eine Nachricht an Theresa zu tippen, was gar nicht so einfach war. Ständig landete sein Finger auf der falschen Buchstabentaste, und es erschienen unsinnige Wörter auf dem Display. Als sie an einer Ampel kurz vor dem Ziel an der Max-Brauer-Allee hielten, schickte er die Nachricht schnell ab.

Der Parkplatz vor dem Bahnhof stand voller Kranken- und Polizeiwagen, deren Blaulichter über die Fassade des Bahnhofsgebäudes und der Lokale am Rand des Parkplatzes flackerten. Vor dem Absperrband um den Bahnhofszugang hatte sich eine Menschenmenge eingefunden, das türkische Restaurant auf der rechten Seite war voll besetzt. Die Fensterplätze waren am heutigen Tag vermutlich sehr beliebt, auch wenn man von hier aus nicht viel sehen konnte. Kai stellte den Wagen am Flatterband vor dem Eingang ab, zeigte dem uniformierten Kollegen seinen Dienstausweis und stellte Lukas als den Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann vor. Der Beamte hob das Flatterband hoch, und sie schlüpften darunter hindurch. Zu sehen gab es nicht viel, aber zu hören. In Dauerschleife kam die Durchsage, dass der Zugverkehr vorübergehend eingestellt sei. Man möge, wenn möglich, auf den Busverkehr ausweichen, der störungsfrei funktioniere. Im Inneren des Bahnhofs hielten sich mehrere Kollegen auf, die die Personalien von Reisenden aufnahmen. Kai sprach einen von ihnen an, der sie zu einem anderen Kollegen verwies, der neben dem Glashäuschen der Information mit zwei Rettungssanitätern sprach.

»Kollege«, sagte Kai zu ihm und zeigte dem Beamten seinen Dienstausweis.

»Ah, gut, dass Sie da sind.« Der Beamte deutete auf einen Zug, dessen Scheinwerfer noch eingeschaltet waren. Der Zug stand mehrere hundert Meter entfernt auf den Gleisen in einer Kurve. »Das ist der Tatort.«

»Was ist der Tatort?«, fragte Kai.

»Da, in dem Zug.«

»Das sind mindestens hundert Meter, sind das«, stellte Kai fest.

»Mehr als fünfhundert«, korrigierte der Kollege.

»Aha. Und warum sind wir dann hier im Bahnhof?«, fragte Kai.

»Das weiß ich auch nicht.«

Lukas wandte sich an die Sanitäter. »Haben Sie den Toten gesehen?«

»Ja«, antwortete der jüngere Sanitäter. »Wir wurden zu einem Notfall im Zug gerufen, aber der Mann war bereits tot.«

»Und was war Ihrer Meinung nach die Todesursache?«, fragte Lukas.

»Die Stichwunde im Herzen«, antwortete der Sanitäter.

»Verstehe.«

Kai hatte sein Tablet hervorgeholt und begann, die ersten Informationen festzuhalten, die er von dem Sanitäter zu Uhrzeit und Ablauf erhielt.

Lukas wandte sich an den Polizeikollegen. »Wer kann uns hier auf dem Bahngelände weiterhelfen?«

»Da drüben ist der Leiter der Leitstelle.« Der Kollege deutete auf einen Mann in Jeans und Cordjacke.

»Witzig«, kommentierte Lukas. »Ich gehe mal zu ihm rüber.«

Er stellte sich dem Mann vor.

»Andreas Krieger, hallo. Wir haben den Zugverkehr vorerst eingestellt, was zu erheblichen Behinderungen führt. Besonders im Fernverkehr«, sagte Krieger. »Wir bringen damit bundesweit den gesamten Ablauf durcheinander, weil die Züge im Augenblick nur bis zum Hauptbahnhof fahren können. Und da staut es sich mittlerweile übel.«

»Das verstehe ich. Dieser Zug, in dem der Tote gefunden wurde, fuhr der aus Altona ab oder sollte er hier ankommen?«

»Er kam aus Westerland und wurde von irgendjemandem mit der Notbremse dort hinten gestoppt.«

»Können Sie feststellen, in welchem Wagen die Notbremse betätigt wurde?«

»In Wagen 14. Das ist der Wagen, in dem der Tote gefunden wurde.«

»Und befinden sich noch weitere Passagiere in dem Waggon?«

Krieger schüttelte den Kopf. »Nein. Eine Scheibe wurde mit dem Nothammer eingeschlagen. Vermutlich ist derjenige, der den armen Kerl abgemurkst hat, geflüchtet.«

»Wie lang ist der Bremsweg eines Zuges, wenn die Notbremsung eingeleitet wurde?«, fragte Lukas.

»Zehn Mal länger als beim Auto. Der Regionalzug aus Sylt fuhr keine Höchstgeschwindigkeit mehr, schätzungsweise einen halben Kilometer.«

Lukas sah an den Gleisen entlang in die Ferne. Die im Bahnhof ordentlich nebeneinander verlaufenden Gleise drifteten in etwa fünfhundert Meter Entfernung auseinander, die auf der rechten Seite verliefen geradeaus, die Stränge auf der linken Seite beschrieben einen Bogen und umrundeten damit das ehemals brach liegende Gelände. Der Zug stand auf den an der rechten Seite verlaufenden Gleisen.

»Befinden sich die Passagiere noch im Zug?«, fragte Lukas.

»Ja, sind alle noch drin. Der Lokführer hat schon durchgegeben, dass eine Meuterei kurz bevorsteht.«

Lukas wandte sich an Krieger. »Sehen Sie einen Grund dafür, dass der Zugverkehr unsere Ermittlungen behindern könnte?«

»Eigentlich nicht. Wir könnten das Gleis zehn sperren, und die übrigen Gleise wieder freigeben.«

»Hm.« Lukas rieb sich das Kinn. »Es sei denn, es gibt Spuren auf den übrigen Gleisen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Die Spurensicherung nimmt sich die Gleise auf Höhe des Zuges vor, und anschließend geben wir sie wieder frei. In Ordnung?«

»In Ordnung.«

Lukas telefonierte mit Hinnerk, der die Spurensicherung leitete. Dessen Mitarbeiterzahl reichte nicht dazu aus, den Tatort und die Gleise zu überprüfen, weshalb Lukas ihm einige Beamte zur Seite stellte. Die würden die Gleise absuchen, während die Spurensicherung ungehindert den Waggon untersuchte. Kai hatte zwischenzeitlich die Befragung der Sanitäter beendet, und sie machten sich gemeinsam mit Andreas Krieger daran, entlang dem Schienenstrang von Gleis zehn zum Zug zu wandern. Während Kai vor sich hin schimpfte, sah sich Lukas nach Orten um, an denen sich mögliche Zeugen aufhielten. Direkt am Bahnhof lag ein Hotel, Wohnhäuser gab es auf der anderen Seite der Präsident-Krahn-Straße. Sie würden eine Unmenge Zeugen befragen müssen. Seufzend nahm er sein Smartphone heraus und schickte Jessica eine Nachricht.

Während ihrer Wanderung rief Lukas den Kollegen an, der den Einsatz leitete, und bat ihn, für eine Befragung der Hotelgäste zu sorgen, die Blick auf das Bahngelände hatten.

Natürlich lag Wagen 14 ganz am Ende des Zuges, der noch einmal mehr als dreihundert Meter lang war. Während sie am Zug entlanggingen, trafen sie die Blicke der genervten Passagiere aus dem Innern des Zuges. Die Waggons des Regionalzuges waren mit Durchgängen verbunden, weshalb eigentlich jeder als Täter in Betracht kam. Sie mussten also neben den Personalien auch aufnehmen, wer sich wann von seinem Sitzplatz wegbewegt hatte. Da die Spurensicherung noch im Waggon 14 beschäftigt war, stiegen Kai und Lukas in Wagen 12.

»Wagen 13 gibts nicht, oder wie?«, fragte Kai.

»Wegen der dreizehn«, stellte Lukas fest. »Unglückszahl.«

»Tja, vierzehn war in diesem Fall jetzt aber auch nicht direkt eine Glückszahl«, entgegnete Kai.

»Da hast du recht.«

Sie passierten den schmalen Gang zwischen Gepäckablage und Toilette, bevor sich die Glastür vor ihnen aufschob. Der Waggon war nur spärlich besetzt. Lukas stellte sich neben die erste besetzte Sitzreihe. Dort saß ein älterer Mann.

»Na endlich!«, motzte der Mann. »Gehts jetzt mal weiter, oder wie?«

»Kriminalpolizei, Lukas Kampmann.« Lukas lächelte den Motzer freundlich an. »Und Sie sind?«

»Wieso wollen Sie das denn wissen?«

»Weil jemand in diesem Zug die Notbremse betätigt hat.«

»Und da kommt gleich die Kripo?«, fragte der Mann misstrauisch.

»Es geht am schnellsten, wenn ich nicht erst mit jedem Fahrgast in eine endlose Diskussion einsteigen muss, Herr …«

»Fliege.«

»Herr Fliege. Also, ich würde gern Ihren Personalausweis und Ihre Fahrkarte sehen und wissen, ob Sie sich die ganze Fahrt über an Ihrem Sitzplatz aufgehalten haben.«

Herr Fliege hatte seine Fahrkarte schnell zur Hand, mit dem Ausweis dauerte es etwas länger. »Na ja, ich war mal pieseln, und dann hab ich mich hierhergesetzt.«

Lukas inspizierte die Fahrkarte. »In die erste Klasse.« Er sah den Mann streng an. »Obwohl Sie nur für die zweite gelöst haben.«

»Na, aber hier war doch alles frei.«

»Ist kein Grund.« Lukas fand direkt Gefallen an seiner neuen Beschäftigung als Fahrkartenkontrolleur. »Gebucht haben Sie einen Fensterplatz in der zweiten Klasse in Wagen elf. Auf welche Toilette sind Sie denn gegangen?«

»Na, auf die in Wagen elf. Und dann hab ich hier reingeguckt, da saß so gut wie keiner, und hab mich hierhergesetzt.«

Lukas machte Fotos von Fahrkarte und Ausweis und gab Fliege beides zurück. »Und ist jemand an Ihnen vorbeigekommen und in Wagen vierzehn gegangen?«

Der Mann überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Glaub nicht.«

»Und wann haben Sie sich hierhergesetzt?«

»Das war kurz vor Elmshorn. Ich wollte damit durch sein, bevor das Ein- und Aussteigen beginnt.«

»Gut. Ich brauche noch eine Telefonnummer von Ihnen. Ihre Adresse im Perso ist hoffentlich aktuell.«

»Ja natürlich.« Herr Fliege nannte noch seine Telefonnummer, dann ging Lukas zum nächsten Fahrgast weiter.

Sie hatten sich fast durch den Waggon vorgearbeitet. Lukas hatte Kai überholt, der von einem Fahrgast auf der linken Seite in Diskussionen über die durchschnittliche Verspätung der Deutschen Bundesbahn verwickelt worden war.

»So«, sagte er, als er zur nächsten Reihe kam. »Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann.« Er stutzte einen Augenblick. »Und Sie sind Frau Fröhlich.«

Die alte Dame sah zu ihm auf. »Herr Kampmann, ich habe Sie schon gehört. Aber ich wollte mich nicht bemerkbar machen. Man will sich ja nicht vordrängeln, nur weil man Kontakte zur Polizei hat.« Sie deutete auf den Platz neben sich. »Wenn Sie die Tasche woanders unterbringen, können Sie sich setzen.«

Lukas stellte die Tasche in den Gang und setzte sich neben Hedwig Fröhlich.

»Wenn ich geahnt hätte, dass es um Mord geht, hätte ich Sie natürlich schon viel früher informiert.«

Er sah sie irritiert an.

Hedwig deutete aus dem Fenster. »Kurz nach der Notbremsung lief dort jemand über die Gleise. Groß und ziemlich fit. Er sprang hinten ins Gebüsch und lief wohl den Abhang hinunter. Er trug eine graue Kapuzenjacke. Ich dachte mir schon, dass er die Notbremse gezogen hat, aber deshalb gleich die Polizei rufen?« Sie seufzte. »Aber wenn es um Mord geht, ist es natürlich etwas anderes. Dabei heißt es doch, lieber einmal mehr die Polizei rufen.«

»Das war kurz nach der Notbremsung«, wiederholte Lukas, der eifrig mitschrieb. Üblicherweise besorgte er sich für jeden Mordfall ein neues Notizbuch im passenden Einband, aber dazu war er in diesem Fall natürlich noch nicht gekommen. Deshalb hatte er auf ein Notfallnotizbuch in seiner Schublade zurückgegriffen. Eines mit langweiligem schwarzem Einband.

»Ja, etwa 16.45 Uhr, würde ich sagen. Ein paar Minuten, bevor wir in den Bahnhof eingefahren wären. Pünktlich.«

»Hm, das ist wirklich ärgerlich.«

»Na ja, noch ärgerlicher ist es für den Toten.« Sie sah ihn fragend von der Seite an. »Oder ist es eine Tote?«

»Ein Toter, aber ich habe ihn selbst noch nicht gesehen. Die Spurensicherung ist noch im Wagen.«

»Gut, dann ist ja noch Zeit.« Hedwig legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Dann schreiben Sie mal auf. Ich heiße Hedwig Fröhlich, bin 76 Jahre alt, lebe in Wandsbek und komme von einem langen Wochenende auf Sylt zurück.«

»Hatten Sie heute frei?«

»Ja, ich habe mir Freitag und heute mal freigenommen. Da wird morgen eine Menge Arbeit auf mich warten«, stellte sie zufrieden fest.

Hedwig war Theresas Tante, die mittlerweile schon fast zwei Jahre die gesamte Büroarbeit in der Kanzlei schmiss, in der Theresa Partnerin war. Eine erstaunliche alte Dame, die nicht nur gern beschäftigt, sondern auch eine sehr kluge Frau war.

Lukas deutete aus dem Fenster. »Da lang also.«

»Der kürzeste Weg, um vom Bahngelände wegzukommen«, sagte Hedwig. »Er musste nur zwei Gleise überqueren, auf der anderen Seite des Zuges wäre es bedeutend komplizierter gewesen, wegzukommen.«

Lukas notierte diesen Gedanken, den er ebenfalls gehabt hatte. »Er? War es ein Mann?«

»Das kann ich nicht sagen. Mann oder Frau. Eines von beidem, würde ich sagen.«

»Können Sie etwas zu anderen Fahrgästen sagen, die sich hier im Waggon aufhielten, und ob sie ihn verlassen haben?«

»Ich habe nicht besonders drauf geachtet«, antwortete Hedwig und deutete auf ihre Zeitschrift. »Ich habe hier eine Anleitung für eine hübsche Stola gefunden und war abgelenkt.« Sie hielt ihm die Zeitschrift hin. »Ich dachte, das wäre vielleicht etwas für Theresa. Für kühle Abende auf der Terrasse.« Sie zog die Zeitschrift wieder zurück. »Seit sie Sie kennt, hat sie ja erst entdeckt, dass zu ihrem Haus eine Terrasse gehört, auf der man abends schön sitzen kann.«

Lukas schmunzelte. »Die ist wirklich sehr schön.«

»Ich werde Ihnen mal aufschreiben, woran ich mich erinnere«, erklärte Hedwig. »Die Notizen gebe ich dann Theresa mit. Kurzer Dienstweg sozusagen.«

»Gut, vielen Dank. Wie kommen Sie denn nach Hause?«

Hedwig sah auf ihre Armbanduhr. »Ich wäre eigentlich mit der U-Bahn gefahren, aber ich glaube, ich rufe mal den Herrn Yildirim an, ob er mich nach Hause bringt.«

»Gut.« Mustafa Yildirim war quasi Hedwigs privater Taxifahrer, der sie auch auf ihren Erkundungstouren begleitete, wenn Hedwig wieder mal in einem Mordfall ermittelte. »Aber ohne Zwischenstopp«, ermahnte er die Tante seiner Freundin. »Keine eigenen Ermittlungen.«

»Herr Kampmann«, sagte Hedwig leicht empört. »Ich weiß doch noch nicht mal, worum es geht.«

Dieser Zustand würde nach seiner Erfahrung nicht lange anhalten, und es würde ihn auch wundern, wenn sich Hedwig nicht die notwendige Kenntnis verschaffte, um kräftig mitzumischen.

Lukas wollte sich dem nächsten Fahrgast zuwenden, als hinter ihm Jessica auftauchte. Sie trug eine rote Mütze, unter der ihre blonden Haare hervorsahen. Sie waren nass, und Jessica sah ziemlich aufgeputscht aus. Offenbar hatte er sie direkt aus dem Training weggerufen.

»Hi«, sagte sie. »Was kann ich tun?«

Sie einigten sich darauf, dass Jessica am Anfang des Zuges mit der Befragung begann. Nach Adam Riese müssten sie sich dann irgendwann auf mehr oder weniger halber Strecke treffen und könnten anschließend gemeinsam die Leiche in Waggon 14 begutachten.

Die Fahrgäste wurden zunehmend ungnädig, und es wurden Stimmen laut, dass die übliche Verspätung der Deutschen Bundesbahn mit der Polizei kaum mithalten könne. Lukas und seine Kollegen waren selbst froh, als sie die Leute entlassen konnten. Allerdings erst, nachdem die genaue Position des Zuges auf den Gleisen markiert worden war und der Zug in den Bahnhof einfahren konnte. Mittlerweile war es nach zwanzig Uhr und dunkel.

Kai stand am Zugfenster und sah dem Tross Menschen hinterher, die über den Bahnsteig davongingen. »Ich muss dringend zu Bett. Ich hätte schwören können, dass ich gerade Frau Fröhlich gesehen habe.«

»Gott sei Dank ist noch keine Bettzeit für dich.« Lukas gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Das war Frau Fröhlich.«

»Wie macht diese Frau das? Die ist immer schon da, wenn irgendwo ein Mord passiert.«

»Tja, dummerweise können wir sie jedes Mal als Mörder ausschließen. Okay. Ab in Wagen 14.«

Der Tote lag in der letzten Sitzreihe am Ende des Wagens. Er war ein wenig vom Sitz gerutscht, der Kopf lehnte am Fenster. Er trug eine abgewetzte braune Cordhose, bei deren Taschen das Futter nach außen gekehrt war. Darüber trug er eine dunkle Wetterjacke mit zugezogenem Reißverschluss. Auf Höhe des Herzens prangte ein dunkler feuchter Fleck. Die Fingernägel des Mannes waren teilweise abgebrochen, der Daumennagel sah aus, als wäre er früher einmal gespalten gewesen und wüchse jetzt immer mit einem dünnen Grat in der Mitte. Vom kleinen Finger der rechten Hand fehlte das letzte Fingerglied. Vielleicht hatte der Mann mal einen Unfall gehabt, oder das fehlende Stück war von seinem Hund abgebissen worden. Sein Haar war rotblond und gelockt und wurde oben schon recht dünn. Der Mann sah nicht unsympathisch aus, wie ein zupackender Handwerker, der abends nach getaner Tat mal ein Bierchen zischte.

»Der kommt mir irgendwie bekannt vor«, stellte Lukas fest.

»Aha«, sagte Kai.

»Das wäre gut«, sagte Hinnerk, der Leiter der Spurensicherung. »Er hat keine Papiere bei sich, und ich hab keine Ahnung, wer das ist.«

»Keine Fahrkarte?«, fragte Lukas.

»Nee, klassischer Schwarzfahrer.« Hinnerk deutete auf die umgedrehten Taschen. »Ich glaub nicht, dass es jemand auf seine Fahrkarte abgesehen hatte. Jedenfalls nicht in erster Linie. Der Täter wollte uns vermutlich einfach nur das Leben schwer machen und hat alles mitgenommen, was er in den Taschen hatte.«

»Also, woher kennst du ihn?«, fragte Kai.

»Ich kenn den nicht. Der kommt mir nur bekannt vor.«

Kai seufzte. »Okay, wir können das Ganze abkürzen. Hinnerk, was war hier los?«

»Tja, nach allem, was ich von den Sanitätern weiß, war der Mann noch nicht lange tot, als sie eintrafen.«

Kai wischte auf seinem Tablet herum. »Das deckt sich mit den Aussagen des Zugpersonals. Als eine der Zugbegleiterinnen durch den Zug ist, um den Ort zu finden, an dem die Notbremse betätigt wurde, war er noch warm. Kein Puls mehr, aber vermutlich nicht länger als zehn Minuten tot.«

»Das heißt also, dass die Tat begangen wurde, kurz bevor die Notbremsung eingeleitet wurde. Anschließend hat der Täter seine Taschen geleert, die Scheibe eingeschlagen und sich vom Acker gemacht.« Kai machte sich Notizen, während er sprach.

»Hm. Ist der Leiter der Leitstelle noch da?«, fragte Lukas.

»Muss ich nachfragen.«

»Wir müssen wissen, wann das Opfer eingestiegen ist, und wir müssen wissen, wann der Täter eingestiegen ist.«

»Beim Täter dürfte es schwierig sein, weil wir nicht wissen, wie er aussieht.«

»Richtig, deshalb müssen wir alle, die ein- und ausgestiegen sind, überprüfen, Kai. Ich hoffe, dass dieser Zug nicht an jeder Milchkanne gehalten hat.«

Jessica zog ihre Mütze vom Kopf und wuschelte sich durch die Haare. »Ich geh mal zum Leitstellenleiter.« Sie sprang auf den Bahnsteig und ging ins Bahnhofsinnere.

»Gut.« Lukas wandte sich wieder dem Toten zu. Wenn er bloß wüsste, woher er den Mann kannte. Irgendwo musste er ihn schon mal gesehen haben.

»Ich kann mal versuchen zu helfen«, sagte Hinnerk. »Wenn ich mir seine Hände ansehe und die Hose, dann würde ich tippen, dass der Tischler ist. Die kriegen ja gerne mal ihre Finger in die Säge, wenn sie nicht aufpassen.«

»Ein Tischler«, wiederholte Lukas nachdenklich.

»Hast du kürzlich was bauen lassen?«, fragte Kai. »Vielleicht bei Frau Sommer? Neue Küche? Breiteres Bett? Kinderklappe?«

»Kinderklappe? Was soll denn das sein?«

»Na, irgendwas, wo man sein Kind reinlegt.«

Lukas schüttelte den Kopf. »Soweit mir bekannt ist, legt man Kinder ins Bett. Bei dir klingt es, als würde man sie in eine Brotdose legen.«

Hinnerk kicherte.

»Okay, also der Täter ist ein norddeutscher Tischler. Dann checken wir jetzt mal die Haltestellen des Zuges und gucken, in welchen Orten es Tischlereien gibt.«

Kai sah Lukas an. »Wenn du wir sagst, meinst du wen?«

»Dich.«

»Dachte ich mir.«

»Okay.« Lukas betrachtete die eingeschlagene Scheibe. »Ist das schwierig, so eine Scheibe einzuschlagen?«

»Wenn man die richtige Technik anwendet, nicht«, erklärte Hinnerk. »Es gibt eine Markierung auf dem Glas.« Er deutete auf das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zuges. »Man nimmt den Nothammer aus der Halterung und schlägt auf diese markierte Stelle. Dieser Hammer hat eine kegelförmige gehärtete Spitze, und mit einem Schlag bekommt das Sicherheitsglas Risse, und man kann es eindrücken. Sie sehen ja, die Scheibe wurde vollständig aus dem Rahmen gedrückt.«

»Braucht man dafür Kraft?«

»Ein bisschen schon. Ist ja nicht aus Papier. Außerdem muss der Kerl gut zu Fuß gewesen sein, denn er ist aus dem Fenster raus.«

»Fingerabdrücke?«

»Natürlich.« Hinnerk nickte. »Jede Menge. Ich denke, halb Norddeutschland ist schon mal mit diesem Zug gefahren.«

»Mann, Mann, Mann.« Kai verstaute sein Tablet. »Und ich hatte mich auf einen freien Montagabend gefreut.«

»Was machen wir mit dem Wagen?«, fragte Lukas. »Brauchen wir den noch?«

Hinnerk sah auf die Uhr. »Wenn Dr. Hornecker endlich mal eintrudeln und die Leiche mitnehmen würde, könnten wir alle nach Hause gehen. Den Waggon haben wir jetzt, so gut es geht, auf den Kopf gestellt. Ich denke, den brauchen wir nicht mehr.«

Wie aufs Stichwort kam ein sehr dicker Mann schnaufend in den Waggon hineingeploppt. »So, Herrschaften, mal alle beiseitetreten, ich will den Tatort betreten.«

Kai sprang ein Stück weg. »Gut, dass Sie das sagen. Da gehe ich mal besser beiseite.«

»Was schätzen Sie, wie alt ist der Mann?«, fragte Lukas.

Dr. Hornecker stellte seine Arzttasche ab und wandte sich langsam zu Lukas um. »Sie meinen den Toten? Den ich mir noch nicht mal angesehen habe?«

»Ich meine den Toten, und eine Antwort erwarte ich natürlich erst, wenn Sie ihn sich angesehen haben.«

Der Rechtsmediziner wandte sich dem Toten wieder zu. »Mitte, Ende fünfzig«, murmelte er dann. »Stichwunde im Herzen. Kann ich die Jacke öffnen?«

»Können Sie.«

Der Tote trug unter der Jacke ein weißes T-Shirt, auf dem ein riesiger Blutfleck prangte. Das Loch im Stoff war deutlich zu erkennen.

»Tja, dafür muss man nicht zwölf Semester Medizin studieren, um die Todesursache zu erkennen.« Dr. Hornecker zog den Reißverschluss wieder hoch. »Ich nehme den Mann mit und untersuche ihn in der Rechtsmedizin. Morgen früh kann ich Ihnen die Tatzeit nennen.«

»Das ist nicht mehr nö…«, begann Kai, aber Lukas knuffte ihn in die Seite.

»Das wäre sehr nett«, sagte Lukas. »Wir warten dann morgen früh ganz geduldig auf Ihren Obduktionsbericht. Vielen Dank.«

Kai zog eine Grimasse, aber bei dem empfindlichen Rechtsmediziner war es besser, ihn nicht unnötig zu reizen. Außerdem, wer wusste denn, ob bei der Obduktion nicht noch etwas Unerwartetes zum Vorschein kam.

Wenn Lukas nur wüsste, woher er den Mann kannte.

Der Umzug aus seiner Wohnung in Eppendorf in Theresas Haus in Poppenbüttel hatte nur einen Nachteil. Der Weg vom Präsidium dorthin war deutlich länger, und er besaß kein Auto. Spätabends fuhr die S-Bahn nicht mehr sehr häufig, und seine Fahrräder, die er am Bahnhof platzierte, wurden regelmäßig geklaut. Selbst die ältesten Rostlauben waren vor den Fahrraddieben nicht sicher. Wenn es nicht zu spät war, rief er Theresa an und bat sie, ihn am Bahnhof abzuholen. Manchmal hatte er Glück und der Bus fuhr noch, und manchmal ging er zu Fuß, dabei konnte er am besten denken. Heute war so ein Tag. Ihm wollte partout nicht einfallen, woher er den Toten kannte. Was genau genommen kein Wunder war, denn er kannte keinen Tischler. Aber als er um kurz vor Mitternacht die Haustür aufschloss, war er keinen Deut klüger.

Theresa saß in ihrem Bett, auf den Knien ihren Laptop, auf der Bettdecke den Inhalt einer Akte ausgebreitet. »Hi, das war ja ein langer Tag.«

Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das war es, aber alles Elend der Welt ist vergessen, wenn ich nach Hause komme und dich sehe.«

»Ach, du meine Güte, das klingt ja regelrecht romantisch.«

»So ist es auch gemeint.« Lukas zog seine Jeans aus, die Socken und das Shirt und ging ins Bad. Als er zurückkehrte, waren Laptop und Akte verschwunden.

»Erzähl.«

»Ich habe das Gefühl, dass du es genießt, mit einem Polizisten zusammen zu sein und den neuesten Klatsch und Tratsch aus erster Hand zu erfahren.«

»So ist es.« Theresa zog ihr Smartphone unter der Bettdecke hervor. »Geht es um den Toten im Zug?«

Lukas nahm ihr das Handy weg und sah auf das Display. »Die sind wirklich schnell. Wir wissen noch nicht mal, wer der Tote ist.«

»Hier steht, dass der Zug von Sylt kam. Hedwig war am Wochenende auf Sylt.«

»Hedwig war auch in diesem Zug, aber ihr ist nichts passiert. Sie wird dir morgen ihre Zeugenaussage für mich mitgeben.«

Theresa wandte sich ihm zu. »Im Ernst? Hedwig saß im selben Zug? Das kann wirklich nicht wahr sein. Ich werde ihr den Urlaub für den Rest des Jahres streichen.«

»Das wird nicht viel nützen. Dann geschieht der nächste Mord auf ihrem Weg zur Arbeit.«

Theresa lachte. »Da hast du recht. Es geht ihr wirklich gut?«

»Ja, du kannst ganz beruhigt sein. Das Komische ist, dass ich die ganze Zeit das Gefühl habe, den Mann zu kennen.«

»Was wisst ihr denn von ihm?«

»Tja, wir nehmen an, dass er Tischler ist.«

Theresa nickte. »Tischler. In einem Zug, der aus Sylt kam.«

»Ja, er hat schütteres rotes Haar, sieht so aus, als sei er im Leben ein ganz netter Kerl gewesen.«

Theresa nahm ihm das Handy wieder ab und tippte darauf herum. »Also, wenn er dir so bekannt vorkommt und Tischler ist, wie sieht es denn mit folgender Theorie aus?« Sie gab ihm das Handy zurück.

»Tischlerei Karsten Vogel«, las Lukas. »Frauenhoferstraße in Itzehoe.« Er sah sie an. »Karsten Vogel?«

»Das ist der Untermieter von Gitta Kleebusch. Der die Tischlerei in ihrem Hinterhof betrieben hat.« Theresa wirkte zufrieden. »Du hast doch selbst gesagt, dass diese Sendung manchmal dazu führt, dass jemand nach langer Zeit eine Zeugenaussage machen oder etwas Nützliches beitragen kann.«

»Du bist ein Genie.« Lukas stand wieder aus dem Bett auf. »Ich muss mal kurz telefonieren.«

Er telefonierte eine Stunde, und als er schließlich ins Bett ging, schlief Theresa.

Kapitel 3

Am Dienstagmorgen fuhr Theresa direkt von zu Hause zum Gericht. Auch wenn sie gerade in einer Krise steckte, was ihre Tätigkeit als Scheidungsanwältin anbetraf, war das nun einmal ihr Fachgebiet. Heute stand ein Sorgerechtstermin auf dem Plan, bei dem es darum ging, ob die vierzehnjährige Tochter beim Vater oder bei der Mutter leben sollte. So, wie Theresa die Tochter kannte, hatte sie zu beidem keine Lust.

Lukas war schon in aller Herrgottsfrühe mit der Bahn ins Präsidium gefahren, da war sie kaum wach gewesen und hatte sich den ersten Kaffee des Tages einverleibt.

Der Gerichtstermin verlief unerfreulich wie erwartet, und am Ende gingen Vater, Mutter und Kind in verschiedenen Richtungen aus dem Gerichtssaal. Ich muss etwas anderes machen, dachte Theresa. Vielleicht werde ich Hochzeitsplanerin oder Blumenhändlerin. Anschließend fuhr sie ins Büro, stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Durch die gläserne Eingangstür zu ihrem Büro sah sie Licht, und als sie die Tür mit der Aufschrift »Winkler Harms und Sommer« aufschob, empfing sie ungewohnte Betriebsamkeit. Hedwig saß hinter dem Empfangstresen, telefonierte und winkte ihr mit der freien Hand zu. Die verwelkten Dahlien der Vorwoche hatte sie gegen frische ausgetauscht, so wie sie es jeden Montag tat, nur diesmal erst am Dienstag. Theresas Kollege Marc unterhielt sich mit zwei Mandanten, die er offenbar zur Tür hatte bringen wollen, und ihre Bürohilfe Toby stand am Kopierer, den Hosenboden seiner Jeans auf Kniehöhe. Aus seinem Büroraum rief Florian Winkler und bat um frischen Kaffee. Den konnte Theresa jetzt allerdings auch sehr gut vertragen. Hedwigs von Hand aufgebrühter Kaffee galt mittlerweile als Lebenssaft der ganzen Kanzlei. Theresa grüßte kurz in die Runde und ging dann zu ihrem Büro am Ende des Ganges durch. Mit Hedwig würde sie sich unterhalten, wenn da vorn kein Menschenauflauf mehr herrschte.

Auf ihrem Schreibtisch lag ein Stapel mit Wiedervorlageakten, unter der Tastatur klemmten mehrere Zettel mit Notizen über Telefonanrufe. Sie könnte auch irgendwo ein kleines Café aufmachen. Theresa stellte ihre Tasche auf den Schreibtisch. Das war natürlich auch keine schlaue Idee, denn in so einem Café war vermutlich sehr viel zu tun.

Sie legte Schlüsselbund und Handy neben die Tasche und schaltete den PC ein. Während sie sich im Sitzen die Jacke auszog, warf sie einen Blick auf Hedwigs Notizen. Eine Mandantin, die morgen Vormittag ihren Scheidungstermin hatte, bat um Rückruf, ein neuer Mandant hatte seinen Termin bestätigt und ein Mann mit dem originellen Namen Hans Schmidt bat um Anruf. Die letzte Notiz hatte offenbar Marc mit seiner unleserlichen Schrift aufgenommen. Hedwig hatte eine Handschrift wie ein ordentliches Schulmädchen. Nach einem Abstecher ins Damen-WC holte Theresa sich erst einmal eine Tasse Kaffee aus ihrer kleinen Teeküche. Hedwig hing immer noch am Telefon, und Toby nahm einen riesigen Stapel Kopien aus dem Kopierer. Eigentlich eine schöne Sache, wenn alles gut lief. Marc verabschiedete gerade seine Mandanten an der Tür.

»Hi, Theresa.«

»Hi. Hast du die Nachricht von Hans Schmidt aufgenommen?«

»Jepp. War sehr drängelig, der Knabe.«

»Und hat er auch gesagt, worum es geht?«

»Nein, das wollte er nur mit dir besprechen.«

»Na schön. Danke.«

»Gern geschehen.« Marc verschwand in seinem Büro.

Theresa kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Während sie ihre Mails checkte, arbeitete sie ihre Telefonliste ab. Die Mandantin mit dem Scheidungstermin brauchte nur ein paar tröstende Worte, weil sie das erste Mal in ihrem Leben vor Gericht stand. Auch Theresas Erklärung, dass nicht die Ehefrau, sondern die Ehe Gegenstand des Verfahrens waren, beruhigte ihre Mandantin nur wenig. Anschließend rief sie die Nummer von Hans Schmidt an. Er nahm das Gespräch nach dem dritten Klingeln an.

»Schmidt.« Seine Stimme klang genauso neutral wie sein Name.

»Theresa Sommer. Sie haben in meiner Kanzlei angerufen und um Rückruf gebeten.«

»Richtig. Danke, dass Sie zurückrufen. Ich habe in der Presse verfolgt, dass Sie sich mit zwei heiklen Fällen außerhalb des Scheidungsrechts befasst haben.«

»Das waren keine Anwaltsmandate im eigentlichen Sinne«, antwortete Theresa, die hin und wieder solche Anrufe von Leuten erhielt, die über zwei Fälle in der Zeitung gelesen hatten, an denen sie beteiligt gewesen war. Einmal hatte sie den Mörder ihrer Mandantin gefasst, allerdings nur mit Hedwigs Unterstützung, und außerdem hatte sie dabei Lukas kennengelernt. Und das zweite Mal hatte ihr Mandant sie um ihre rechtliche Begleitung gebeten, als in seinem Wohnzimmer eine unbekannte Tote gefunden worden war. In der Zeitung hatte dann immer gestanden: die Rechtsanwältin Theresa S. mit Kanzlei in der Hamburger Innenstadt, und das waren bereits so viele Informationen, dass die Presse auch gleich Telefonnummer und Öffnungszeiten hätte abdrucken können.

»Ich habe auch ein Anliegen, das kein Anwaltsmandat im eigentlichen Sinne ist«, erklärte Hans Schmidt. »Sie hätten da eher eine vermittelnde Aufgabe.«

Theresas Blick fiel auf den Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch, und sie spürte, dass sie ein kleines bisschen ungeduldig wurde. »Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich habe etwas, das sehr wertvoll ist. Für einige Menschen ganz besonders wertvoll. Und ich hätte gern, dass Sie mit den Eigentümern in Verhandlungen eintreten.«

Theresa schnalzte mit der Zunge. »Fragen Sie mich gerade, ob ich Ihnen bei einer Erpressung behilflich bin?«

»Oh nein, keineswegs. Ich brauche eine taffe Person, die dafür sorgt, dass beide Seiten zufrieden sind. Ich bekomme das Geld, der andere die Ware.«

»Hören Sie, Herr Schmidt.« Theresa stand auf und ging zum Fenster. »Sie wollen nicht so recht mit der Sprache herausrücken, was Sie eigentlich von mir wollen, und ich bin an diesem Mandat nicht interessiert. Ich werde deshalb das Gespräch beenden. Es gibt in Hamburg mehr als zehntausend Rechtsanwälte. Sicher werden Sie schnell fündig. Auf Wiederhören.«

»War das wieder dieser Schmidt?« In der Tür zu ihrem Büro stand Hedwig.

»Hast du auch schon mit ihm gesprochen?«, fragte Theresa.

»Heute Morgen. Ich hab gerade die Dahlien in die Vase gestellt. Und Herr Harms hat vorhin auch einen Anruf von ihm angenommen, als ich mit dem Postboten zugange war.«

Theresa grinste. »Du warst mit dem Postboten zugange?«

»Ach, du weißt schon. Einschreiben, Päckchen, Unterschrift hier, Unterschrift da. Ein einziges Getüddel.«

»Wie war denn deine Reise nach Sylt?«, fragte Theresa ihre Tante. »Wie ich höre, hast du auf der Rückfahrt gleich Lukas getroffen.«

»Ich sag es dir. Da ist die Bahn ein einziges Mal pünktlich, und dann kommt irgend so ein Blödmann und bringt einen Menschen um.« Hedwig schüttelte den Kopf. »Schlimm ist das. Ganz schlimm.« Sie reichte Theresa ein paar mit Schreibmaschine beschriebene Blätter. »Das ist meine Zeugenaussage für den Herrn Kampmann. Zu Hause hab ich ja keinen Computer, deshalb hab ich das mit meiner alten Triumph Adler geschrieben. Geht ja auch.« Hedwig prüfte die Feuchtigkeit der Erde im Blumentopf auf der Fensterbank. »Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Wir könnten morgen Mittag zusammen essen, und du erzählst mir ein bisschen von Sylt. Was hältst du davon?«

»Das ist eine hübsche Idee. Das machen wir.« Hedwig lauschte. »Och ne, jetzt klingelt das Telefon schon wieder. Heute ist vielleicht was los.«

Theresa verstaute die Zeugenaussage in ihrer Handtasche und schlug die oberste Akte von ihrem Stapel auf. Aber sie war mit ihren Gedanken nicht bei der Sache. Was wollte dieser Herr Schmidt eigentlich von ihr? Rief ständig hier an, rückte aber nicht mit der Sprache heraus. Das war doch merkwürdig. Und außerdem mochte es ja noch angehen, dass er Schmidt hieß, aber Hans Schmidt? Und abgesehen davon, dass sie kein Bild des Mannes vor Augen hatte, war seine Stimme auch schwer einzuordnen. Sie klang weder alt noch jung, war nicht besonders hoch oder tief. Sie hasste es, dass es dieser Kerl mit seiner dämlichen Art tatsächlich geschafft hatte, ihre Neugier zu wecken.

Am Dienstagmorgen musste Lukas einsehen, dass nicht jeder Kripobeamte Deutschlands so früh aufstand wie er, und selbst wenn er wach war, nicht als Erstes Lust hatte, seine Fragen zu beantworten. Also hieß es, sich erst einmal in Geduld zu fassen. Und da half am besten eine Kanne grüner Tee. Allein die Zubereitung erforderte Ruhe und Geduld und war nicht zu vergleichen mit einem Kaffeeautomaten, bei dem man nur auf den Knopf drücken und schließlich ungeduldig abwarten musste, dass der erst so starke Strahl aufhörte zu tröpfeln. Solange die übrige Welt noch schlief, konnte er sich mit den Vermisstenmeldungen befassen und herauszufinden versuchen, ob der Tote tatsächlich Karsten Vogel war. Sehr gern hätte er natürlich einen Blick in die Akte Gitta Kleebusch geworfen. Aber die war noch nicht digitalisiert und vermutlich in irgendeinem Archiv verschwunden. Hoffentlich nicht verschollen. Allerdings waren Archive dummerweise nicht rund um die Uhr besetzt, und niemand war scharf darauf, staubige alte Akten aus dunklen feuchten Räumen zu klauben.

Lukas ließ den Teebeutel in der Kanne hin und her schweben und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. In den Vermisstenmeldungen tauchte kein Karsten Vogel auf, und keine Beschreibung der namenlosen Vermissten passte auf den Toten aus dem Zug. Lukas suchte im Internet eine Webseite von Karsten Vogel, die ausgesprochen minimalistisch war. Außer Name, Adresse, Telefonnummer und der Berufsbezeichnung Tischler fand sich nur ein fragwürdiges Impressum. Da hätte selbst Lukas als analoger Mensch etwas Besseres hinbekommen. Ein paar Fotos von der Arbeit in der Werkstatt und von fertigen Stücken. Wenn man allerdings keine Werkstatt und nichts zustande gebracht hatte, gab es auch nichts mitzuteilen. Lukas wählte die angegebene Telefonnummer in Itzehoe, aber da ging morgens um viertel nach sieben niemand an den Apparat. Das konnte bedeuten, dass der Inhaber tot war. Es konnte aber auch sein, dass er einfach noch schlief.

Lukas zog den Teebeutel aus der Kanne und legte ihn auf die Untertasse. Der Obduktionsbericht war natürlich auch noch nicht da, genauso wenig wie der Bericht der Spurensicherung. Da hätte er auch noch im Bett bleiben können. Sich an Theresa kuscheln, wo es warm und gemütlich war. Lukas legte die Füße auf den Schreibtisch. Musste er eben erst mal mit dem heißen Teebecher vorliebnehmen und sich warme Gedanken machen.

Er war wohl kurz eingenickt, denn als sein Telefon läutete, zuckte er zusammen, und der Tee schwappte auf seine Jeans.

»Scheiße!« Während er den Hörer abnahm, wischte er über sein nasses Hosenbein.

»Herr Kampmann?«

»Am Apparat.«

»Kunze von der Zentrale. Hier ist eine Anruferin zu dem neuen Fall mit dem Toten vom Bahnhof.«

»Können Sie durchstellen. Wie heißt die Dame?«

»Äh, Augenblick, Brandt. Simone Brandt.«

»Danke. – Frau Brandt? Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann hier.«

»Ach, Gott sei Dank erwische ich schon jemanden so früh. Dachte ich gar nicht, dass ich um diese Uhrzeit schon jemanden erreiche. Ist ja nicht jeder so früh auf wie ich.«

»Frau Brandt, was kann ich für Sie tun?«

»Die Frage ist eher, was kann ich für Sie tun. Ich mein, Sie wissen ja wohl noch nicht, wer der Tote aus dem Zug ist. Steht so in der Zeitung. Oder wissen Sie das schon?«

»Was wissen Sie denn über den Toten aus dem Zug?«

»Na, nach der Beschreibung könnte das mein Ex sein. Also, mein Ex-Mann. Wir sind ja schon seit fünfzehn Jahren geschieden.«

»Und wie heißt Ihr Ex-Mann?«

»Karsten. Karsten Vogel.«

Um halb acht erschien Jessica als Erste zum Dienst, womit die Frage, wer Lukas nach Itzehoe begleitete, beantwortet war. Lukas klebte Kai einen Sticker an den Bildschirm, auf dem er ihm notierte, was er erledigen sollte, während sie unterwegs waren. Eigentlich war das nicht erforderlich, weil Kai sehr gut selbst wusste, was er zu tun hatte. Ganz kurz überlegte er, den Zettel wieder abzumachen, aber er ließ ihn kleben. Ein paar Hinweise konnten ja nicht schaden.

Sie fuhren in Jessicas kleinem Fiat nach Itzehoe. Seine Kollegin fuhr beherzt, aber nicht so halsbrecherisch wie Kai. Stadtauswärts war die Autobahn frei, auf der Gegenseite begannen sich die Pendler vor der Stadtgrenze zu stauen. Sie verließen die A 7 und fuhren auf der A 23 weiter. An der Ausfahrt Itzehoe Mitte fuhren sie von der Autobahn ab in Richtung Stadtzentrum.

»Und nu?«, fragte Jessica.

»Wie?«

»Wohin müssen wir?«

»Ach so.« Lukas sah in seine Handinnenfläche. »Die Bäckerei muss hier gleich auf der rechten Seite sein. In etwa fünfhundert Metern.«

Jessica fuhr schwungvoll auf den mittleren von drei Parkplätzen vor dem Schaufenster der Bäckerei.

»Eigentlich keine schlechte Sache, jetzt ein Frühstück. Besser, als wenn die Ex des Toten im Beerdigungsinstitut arbeitet.«

Hinter dem Verkaufstresen standen eine etwa fünfzigjährige Frau mit hochgestecktem blondem Haar und künstlichen Augenbrauen und eine junge Frau. Die ältere bediente eine Kundin und sah kurz zu ihnen herüber. Die Frau nickte und deutete dann auf einen runden Stehtisch vor dem Fenster. Jessica und Lukas stellten sich dorthin, und die Frau folgte ihnen bald darauf mit zwei Bechern Kaffee.

»Wolln se auch noch was Süßes dazu? Wir haben sehr schöne Streuselschnecken.«

Bevor sie antworten konnten, wurden sie mit dem Gebäck versorgt.

»Sie glauben also, dass der Mann aus dem Zug Ihr Ex-Mann ist, Frau Brandt?«, fragte Lukas und ließ die Streuselschnecke liegen. Zu viel Zuckerguss.

»Ich fürchte fast, ja.« Sie wirkte vielleicht ein wenig betrübt, aber nicht besonders traurig. »Ich erreich ihn auf dem Handy nicht, und zu Hause ist er auch nicht.«

Jessica schob ihren Teller beiseite und notierte die Handynummer von Karsten Vogel.

»Lebt er allein?«

»Vermutlich mehr oder weniger. Seine Letzte, die Anna, ne, Anne, ist glaub ich nicht mehr da. Weiß ich aber nicht genau.«

»Haben die beiden zusammengewohnt?«

»Genau weiß ich es nicht. Sie war immer mal ne Weile da, dann ist sie für ein paar Tage abgehauen.«

»Kennen Sie den Nachnamen von Anne? Hat sie noch eine eigene Wohnung?«

»Mann, Mann, Sie wollen aber ne Menge wissen.« Simone Brandt sah Lukas an. »Sie fragen so viel, da denken Sie auch, dass es der Karsten ist, oder?«

»Es gibt eine gewisse Vermutung, ja«, bestätigte Lukas. »Aber der Tote müsste noch identifiziert werden.«

»Ach, wie im Tatort, da geht man dann in so nen müffeligen kalten Keller und fällt in Ohnmacht?«

»Nein, in der Rechtsmedizin gibt man sich Mühe für eine angemessene Umgebung«, antwortete Lukas und dachte, dass das nur eingeschränkt galt, wenn man auf Dr. Hornecker traf. »Und Sie machen mir nicht den Eindruck, dass Sie schnell in Ohnmacht fallen.«

Simone Brandt lachte kurz auf. »Hab ich gar keine Zeit für. Ich hab den Laden hier gepachtet. Wenn ich keine Brötchen verkaufe, kann ich dicht machen.«

»Frau Brandt, wann waren Sie mit Karsten Vogel verheiratet?«

»Ach, das waren nur vier Jahre. Wir haben 1996 geheiratet, da waren wir jung, und ich hab gedacht, wir entwickeln uns beide. Aber entwickelt hab nur ich mich, Karsten war wie eine Bremse. 2000 haben wir uns dann scheiden lassen, und ich hab zwei Jahre später neu geheiratet. Aus der Ehe ist die Biene hervorgegangen.« Sie deutete zum Tresen hinüber, wo die junge Frau einem Kunden ein Kuchenpaket über den Tresen reichte. »Die ist patent, und steigt hier voll ein.«

»Schön. Kann Ihre Tochter vielleicht heute Nachmittag den Laden allein schmeißen?«

»Sie meinen, während ich mir den armen Karsten ansehe?«

Lukas musste ein wenig über diese Formulierung schmunzeln. »Ja, das wäre nett. Können Sie uns noch etwas über Herrn Vogels berufliche Tätigkeit sagen?«

»Da gibts nicht viel zu sagen. Er hat sich inzwischen darauf beschränkt, die Möbel der Nachbarn zu reparieren. Besonders viel Ehrgeiz hat er nicht an den Tag gelegt.« Simone Brandt zog einen Lappen aus ihrer Schürzentasche und wischte über die sauber aussehende Tischfläche. »Der war eigentlich mit wenig zufrieden.«

»Für den Fall, dass es sich um Karsten Vogel handelt, gibt es noch Angehörige, die wir unterrichten müssen?«