Gerlachs Haus - Helmut Wagner - E-Book

Gerlachs Haus E-Book

Helmut Wagner

4,8

Beschreibung

Dies ist die Geschichte eines Hunsrück-Bauernhofs in einem kleinen Dorf am Soonwald. Es ist aber auch die Geschichte der Menschen die darin lebten und arbeiteten. Von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit beschreibt Helmut Wagner das Leben im elterlichen Hof. Ausgangspunkt ist ein 'Alimentencontract', ein Vertrag der die Altersversorgung des Ehepaares Gerlach und die Übernahme ihres Bauernhofs durch die frisch getrauten Georg und Anna Catharina Klumb. Das junge Paar hatte dafür die Versorgung und Pflege der Alten bis zu ihrem Tode zu übernehmen. Schon dieser Vertrag, mit seiner minutiösen Auflistung des eher ärmlichen Hausinventars, gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Lebensumstände auf dem Hunsrück zu jener Zeit. Helmut Wagner beschreibt von damals bis in unsere Zeit die Generationen seiner Familie. Er zeigt, wie sich die wirtschaftliche Situation der Kleinbauern allmählich verändert und am Ende auch 'Gerlachs Haus' seine Funktion als Bauernhof verliert.

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© 1996 E-Book 2012RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenburg 17 D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-811-1 Ausstattung: Marina Follmann Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung von Marie-Alice Wagner

Helmut Wagner

Gerlachs Haus

RHEIN-MOSEL-VERLAG

***

Für Marie-Alice

Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrelang ins Ungewisse hinab.

Friedrich Hölderlin

Heimkehr

In Bingerbrück, wo die Nahe in den Rhein mündet und dieser seine nordwestliche Fließrichtung wieder einnimmt, um sich durch das enge Tal des Schiefergebirges hindurchzuzwängen, steige ich aus dem Zug, wie so oft, wenn ich aus der Fremde kam, um meine Eltern auf dem Hunsrück zu besuchen.

Es ist der erste Weihnachtstag. Anschluß habe ich erst in zwei Stunden. So trete ich in die Gaststube der Bahnhofswirtschaft. Es riecht nach abgestandenem Bier, Zigarettenrauch und geöltem Parkett. In einer Ecke des Raumes steht auf einem weiß gedeckten Tisch eine lamettabehangene Fichte und versucht, weihnachtliche Stimmung zu verbreiten, doch sie ist nicht mehr frisch, beginnt schon zu nadeln. Sie ist zu früh abgehauen worden, hat zu lange im Hof des Christbaumhändlers herumgelegen und auf Weihnachten gewartet.

Der Kaffee ist lauwarm und bitter, mit Ersatzstoff gedunkelt. Reisende sind heute hier nicht anzutreffen. Ein Eisenbahner trinkt nach beendeter Dienstzeit ein Bier, bevor er nach Hause fährt.

Zwei Stunden später kann ich in den Schienenbus einsteigen, der mich hupend und rumpelnd zunächst ein Stück an der Nahe entlang, dann durch das Guldenbachtal, über Stromberg und Rheinböllen nach Ellern bringt. Wenn der Zug kurz nach Rheinböllen den Wald verläßt, sieht man das Dorf in der Mulde liegen: Um die behäbige, weiß getünchte Kirche scharen sich die mit blauem Schiefer gedeckten Häuser, und um das Dorf herum, auf den ›Bitzen‹, stehen kahl die Obstbäume. Die Felder auf den sanften, langgezogenen Abhängen sind jetzt von Schnee überstäubt. Im Sommer sehen sie aus wie nebeneinander gelegte Stoffbahnen: Ockerfarben bis rotbraun die frisch gepflügten, von leuchtendem Gelb die Rapsfelder, und in verschiedenen Grüntönen die Kartoffel- Rüben- und Getreideäcker.

Der älteste Teil des Dorfes liegt in der Mulde, durch die der Ellerbach fließt. Ein Haufendorf. Später wurde an dem Weg, der vom Thiergarten herab aus dem Soonwald kommt, das Dorf erweitert. Hier war kein wertvolles Ackerland, sondern nur ›die Viehdrift‹ und etwas weiter oben ›die Heide‹. Den neuen Teil nannten sie ›das Hinterdorf‹, obwohl es eigentlich seiner Lage wegen ›das Oberdorf‹ hätte heißen müssen. Vielleicht wollten die Alteingesessenen verhindern, daß durch die Namensgebung ›Oberdorf‹ den Neusiedlern der Anschein einer wie auch immer gearteten Überlegenheit zukäme. An der Grenze zwischen dem alten und dem neuen Ortsteil steht unser Haus, Gerlachs Haus.

Auf dem Bahnhof, der nun keiner mehr ist, nur eine Haltestelle für die zweimal am Tag verkehrenden Schienenbusse, erwartet mich mein Vater. Leicht gebeugt steht er da, auf dem Kopf die Schirmmütze, einige Strohhalme auf der dicken Strickjacke, denn auch an Feiertagen führt sein Weg immer wieder durch Stall und Scheune. Geht’s dir gut? Na, komm nur mal.

Wir gehen die Dorfstraße hinunter. Im Hausflur kommt uns die Mutter entgegen. Müde, weil sie es sich nicht hat nehmen lassen, zu meinem Empfang das ganze Haus von oben nach unten durchzuputzen.

Wir setzen uns an den Küchentisch, und sie warten darauf, daß ich berichte.

»Möchtest du eine Tasse Kakao trinken? Ich habe Kakao gekocht, den hast du doch immer gern getrunken. Schmier dir ein Butterbrot dazu! Wir essen jetzt nichts mehr. Alte Leute sollen abends nicht so spät essen, das macht einen unruhigen Schlaf.« Nachdem ich etwas gegessen habe, gehen wir in die Stube. Sie ist gemütlich warm, aber es gibt keinen Weihnachtsbaum. »Wozu? So viele Menschen müssen darauf verzichten. Und jetzt stehen die Weihnachtsbäume auf den Straßen und Plätzen, schon einige Wochen vor dem Fest,« sagt die Mutter, der es nie schwerfiel, sich über hohl gewordene Traditionen hinwegzusetzen. Es ist auch ein Zeichen dafür, daß sie müde ist, denn früher war ihr der Weihnachtsbaum immer sehr wichtig. Ebenmäßig sollte er gewachsen sein und vom Boden bis an die Zimmerdecke ragen. Liebevoll wurde er geschmückt mit bunten Kugeln, darunter einige sehr alte, die sie, wie sie jedes Jahr erzählte, als Kind beim Lumpenhändler eingetauscht hatte. Heute haben sie etwas Interessantes für mich: In der Innenschublade des alten Vertikos haben sie ein vergilbtes, handgeschriebenes Dokument gefunden, das den Alimentenvertrag zwischen meinen Urgroßeltern und den alten Gerlachs beurkundet. »Das mußt du aufheben! Aus der Aufzählung der Gegenstände kann man erahnen, wie unsere Vorfahren gelebt haben. Jetzt verändert sich alles so schnell.«

Spät steige ich in mein Zimmer hinauf, das noch immer das Zimmer meiner Kindheit ist. Von der schon oft übertünchten, unebenen Lehmfüllung zwischen den Deckenbalken ist an einigen Stellen die Kalkschicht abgeblättert, und es sind Muster und Figuren entstanden, die ich schon als Kind, wenn ich krankheitshalber das Bett hüten mußte, zu deuten versuchte. Dort konnte man ein bärtiges Männergesicht erkennen, daneben war ein Hundekopf, der aus einem Busch herausschaute. Jene dunkle Stelle hatte die Umrisse eines Pferdes, und dahinter ließ sich ein Totenkopf erahnen. Je nach Lichteinfall im Laufe des Tages wechselten die Figuren ihren Ausdruck oder waren nicht mehr als das zu erkennen, wofür man sie zuerst gehalten hatte.

An der gegenüberliegenden Wand steht das Bett meines älteren Bruders, und über den Fußenden der Betten hängen noch dieselben Bilder wie in unserer Kindheit: Farbdrucke von Gemälden, mit Reißbrettstiften auf die Tapete geheftet. Die Ecken sind umgeknickt, der Rand ist an einigen Stellen eingerissen. Dasjenige über dem Bett meines Bruders stellt den Rheinfall bei Schaffhausen dar, dasjenige über meinem Bett den Staubbachfall im Lauterbrunner Tal. Beide sind in kräftigen Farben gemalt. Auf dem Staubbach-Bild stehen unten im Tal winzig kleine Menschen und bestaunen das Naturwunder. Wenn man lange hinschaut, glaubt man, das Wasser rauschen zu hören. Man gerät in den Strudel und stürzt mit in die Tiefe. Meine Mutter hat die beiden Farbdrucke einmal gekauft. Warum gerade diese? War es das entfesselte Element Wasser, das sie faszinierte? Heute werden sie mir zum Sinnbild des Lebens überhaupt, das Generation um Generation in die Tiefe reißt und immer weiter strömt und strömt.

Wer waren die Menschen, die dieses Haus erbaut und die darin gelebt haben, die darin geboren wurden und darin gestorben sind? Die Toten können wir nicht mehr befragen. Die Kirchenbücher geben nur die Geburts- und Sterbedaten wieder. Die wiedergefundene Notariatsakte verrät manches über die geschichtliche, wirtschaftliche und soziale Lage unserer Vorfahren; und die darin erwähnten Gegenstände können, soweit sie noch erhalten sind, viel erzählen, wenn wir sie recht zu befragen wissen.

Eines Tages würde ich das Dokument vornehmen und würde die darin erwähnten Personen und Dinge in meinen Gedanken bewegen; und wie die vertrocknete Jericho-Rose, die früher auf Jahrmärkten als aus dem heiligen Land kommend angepriesen wurde und die, wenn man sie ins Wasser legte, ergrünte und aufblühte, so würden die Personen und Dinge in meiner Vorstellung wieder Leben gewinnen.

Doch solange das Elternhaus für mich offenstand, solange ich heimkommen konnte und wußte, daß auf mein Klopfen die Hunde freudig bellen und jaulen würden, weil sie mich kannten und wußten, daß ich vor der Tür stand, und daß dann meine Mutter die über einer verworfenen Bodenplatte immer knarrende Tür öffnen würde, bewegt und doch zögernd, ob sie mich großen Kerl noch in ihre Arme schließen durfte, solange fand ich keinen Anfang zum Schreiben.

Erst als die Eltern gestorben waren und das Haus an einen anderen Besitzer übergegangen war, hatte ich das Bedürfnis, es in meiner Erinnerung für mich neu zu schaffen.

Man sagt, die Heimat eines Menschen sei überall dort, wo er in Harmonie und gegenseitigem Wohlwollen mit anderen Menschen leben könne. Das ist wahr. Diese Art (zweite) Heimat habe ich in meinem Leben auch kennengelernt, aber es gibt auch die Heimat, wo der Geruch der Luft, die Farben der Landschaft, die Linien des Horizontes, die Geräusche der Umgebung (der Klang der Kirchenglocken, das Rattern der Wagenräder, das Muhen der Kühe, das Gackern der Hühner), die Straßenflucht, in der unser Haus steht, die verworfene Treppenstufe, der schiefhängende Deckenbalken sich uns tief eingeprägt haben und Zeugen wurden unserer Kinderfreuden, unseres Kinderstolzes, unserer Niedergeschlagenheit, unserer Trauer, unserer Schmerzen. Hier wurden wir zu dem, was wir sind. Jeder Mensch trägt dieses Heimatgefühl in sich wie ein Stehaufmännchen das Metallgewicht in seinem Inneren, das es immer wieder aufrichtet.

Das Haus

Die Leute nannten es ›Gerlachs Haus‹, obwohl wir mit Vaters Namen Wagner hießen und unsere Mutter eine geborene Klumb war. Trotzdem blieb sie ihr Leben lang ›Gerlachs Lenchen‹, mein Vater war ›Gerlachs Albert‹, und meine Brüder und ich, wir waren ›Gerlachs Buben‹. Der Name war dem Haus von seinem Erbauer geblieben. Dieser Jakob Gerlach, ›ein Ackersmann und Tagelöhner‹, hatte es zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts erbaut. Meine Mutter hatte noch von ihrer Großmutter erfahren, wie es ursprünglich aussah: Wohnhaus, Stall und Scheune befanden sich nach fränkischer Art unter einem schiefergedeckten Dach mit Giebelstellung zur Straße hin. Über einem Bruchsteinfundament bildete mit Sparren, Stroh und Lehm ausgefülltes Eichenfachwerk die Außenwände. Im Gegensatz zu der sonst in dieser Gegend üblichen Bauweise waren aber die Giebelwand und die Wände des oberen Stockwerks nicht mit Schiefer beschlagen, was das Gebälk geschützt und eine gute Wärmedämmung abgegeben hätte. Wahrscheinlich hatten seinerzeit die Mittel dazu nicht ausgereicht; und so drang in strengen Wintern manchmal die Kälte durch die dünnen Außenwände in die Zimmer des oberen Stockwerks und ließ uns den Atem in die Bettdecke gefrieren. Das Fachwerk war, soweit man das zurückverfolgen konnte, weiß übertüncht. Auch dies eine Sparmaßnahme: schwarze Ölfarbe zum Streichen des Fachwerks wäre zu teuer gekommen.

Durch den Flur gelangte man ursprünglich geradeaus in eine dunkle Küche mit gemauerter Herdstelle. In der Südwand, die in den Abhang gebaut war, verdeckte ein Holzladen die Öffnung zum außerhalb liegenden Ziehbrunnen. Neben diesem Laden blieb nur Platz für ein kleines, hochliegendes Fenster, das die Küche spärlich erhellte. Nach der Straßenseite war der Küche die Altenkammer vorgelagert. Sie war von der Stube aus zugänglich und bildete zu ihr, durch einen Vorhang abgetrennt, eine Art Alkoven. Diese Kammer hatte ein kleines Fenster zur Straße. Vom Flur aus gelangte man linker Hand in die Stube, rechter Hand lag der Kuhstall, den man durch die Küche erreichte. Von der Küche aus stieg man auch in den Keller hinab, der unter der Wohnstube lag, dem einzigen unterkellerten Raum des Hauses. Die Stufen der Kellertreppe sind Granitsteine aus dem Soonwald, die uns, wenn sie ›schwitzten‹, zuverlässig Wetterumschlag und Regen anzeigten. Am Fuß der Treppe standen das Sauerkraut- und das Bohnenfaß. Im Herbst füllte sich der Keller bis unter die Decke mit Kartoffeln. Als Kind saß ich im Sommer oft dort unten und pflückte die langen, für das Vieh giftigen, lila-weißen Keime von den Kartoffeln, bevor ich sie hinauftrug und in den Futterkessel füllte. Der tragende Balken und die mit Holzsparren und Lehm ausgefüllten Zwischenräume der Kellerdecke hingen schon sehr schief. Doch in diesem Zustand waren sie schon lange und würden wohl auch noch eine Weile halten.

Die Küche war nicht unterkellert. Früher hatte sie einen Boden aus gestampftem Lehm. Darüber hatten meine Großeltern ziegelrote Fliesen legen lassen mit zwei gelben Sternen in der Mitte der Bodenfläche. So stand unsere Mutter, wenn sie am Herd oder am Tisch hantierte, immer auf einem gelben Stern. In den Untergrund eingesickertes Wasser hatte die Fliesen mit den Jahren verworfen, und vor dem Herd waren einige zerbrochen, weil meine Großmutter dort mit einem Handbeilchen Fichtenscheite zu dünnen Spänen spaltete, wenn sie den Herd anfeuern wollte.

Vom Flur aus führte eine Eichenholztreppe in das obere Stockwerk, wo über der Wohnstube die Elternschlafstube und über der Küche die Kinderschlafstube lag. Über eine offene Treppe gelangte man vom Flur des Stockwerkes auf den Speicher, wo das Getreide aufbewahrt wurde.

So war das Haus ursprünglich erbaut worden. In meiner Kindheit waren noch die ersten Holztreppen erhalten mit tiefen Mulden in den eichenen Stufen, ausgetreten von den genagelten Schuhen der Männer und Frauen aus fünf Generationen, die über diese Treppe Getreidesäcke hinauf- und heruntergetragen hatten.

Mein Großvater, der als Fuhrunternehmer zu Geld gekommen war, ließ zu Beginn unseres Jahrhunderts einen neuen Stall im rechten Winkel zum alten Haus errichten. Der alte Stall wurde zur Aushaltstube ausgebaut, die ursprüngliche Altenkammer wurde in die Küche mit einbezogen, wodurch diese genügend Raum gewann, um darin einen Eßtisch aufzustellen. Das nun vergrößerte Fenster zur Straße ließ mehr Licht herein und verband die Küche mit dem Leben auf der Dorfstraße. Durch die Kinderschlafstube führte der Rauchabzug aus der darunterliegenden Küche. Ursprünglich hatte die Küche wohl einen offenen Rauchfang. Schon meine Urgroßeltern hatten die gemauerte Herdstelle abgebrochen, den Kamin geschlossen herunter geführt und einen gußeisernen Herd aufgestellt. Von der Kinderschlafstube hatten sie neben dem Kamin eine Räucherkammer abgetrennt. Hier wurden die Schinken, Speckseiten und Würste aus der Hausschlachtung geräuchert.

Die Gerlachs

In den Urkunden taucht erstmals der Enkel des Erbauers Jakob Gerlach auf: Jakob Gerlach II., Leinweber. Er hatte zwei Söhne. Jakob, der Erstgeborene, blieb im Haus und heiratete Katharina Rheingans aus Rheinböllen. Johann Christoph, der zweite Sohn, heiratete Margaretha Datsch, die Tochter eines Leinwebers aus Holzbach und zog ins Haus seiner Schwiegereltern, um dort ebenfalls den Beruf des Leinwebers auszuüben. Da die Ehe des Jakob Gerlach mit der Katharina Rheingans kinderlos blieb, war das Paar, in die Jahre gekommen, darauf angewiesen, ein Geschwisterkind ins Haus zu nehmen, um im Alter versorgt zu sein. Eine Sozialversicherung gab es ja noch nicht.

Ich versuche, mir die alten Gerlachs vorzustellen: Die Frau war damals 57 Jahre alt, er 60, für die damalige Zeit schon Greise. Die Zeitläufte hatten ihnen übel mitgespielt. Das wenige Ackerland ernährte sie kaum. Wie sollten sie die vor ihnen liegenden letzten Lebensjahre überstehen? Da bot sich nur die Adoption eines Geschwisterkindes an. Zuerst versuchten sie es mit dem Töchterchen eines Bruders der Frau aus Rheinböllen, doch das blieb nicht, bekam Heimweh, konnte sich nicht an die beiden Alten gewöhnen. Die Tante soll zänkisch und geizig gewesen sein. Da holten sie die Nichte des Mannes, Anna Catharina, seines Bruders Kind aus Holzbach, ins Haus. Der hatte außer der Tochter Anna Catharina noch einen Sohn, der dort im Haus bleiben und seine Eltern im Alter versorgen sollte. So kam Anna Catharina in Gerlachs Haus. Die Kammer über der Küche wurde ihr zugewiesen, und sie übernahm die Arbeit einer Magd. Jung muß sie gewesen sein, sechzehn oder siebzehn Jahre, dabei anstellig und geschickt zu allem und immer gut gelaunt.

Nicht weit von Gerlachs Haus, im Unterdorf, am Ufer des Ellerbachs wohnte Georg Klumb III. Er war damals schon über dreißig Jahre alt, hatte am Siebziger Krieg teilgenommen, war daraus unversehrt heimgekehrt, lebte nun in seinem Elternhaus bei seinem betagten Vater, neben seinem schon verheirateten Bruder und dessen Frau, verdiente seinen Lebensunterhalt auf der Eisengießerei Rheinböllerhütte und wartete darauf, einen eigenen Hausstand gründen zu können. Das war jedoch nicht leicht. Um in einen Bauernhof einzuheiraten besaß er zu wenig Feld, denn die Klumbs waren arm, konnten ihr Land nicht unter den Brüdern aufteilen. Einheiraten konnte aber nur, wer Feld mitbrachte, denn die Ehen wurden nach der Devise geschlossen »Land muß zu Land, Acker zu Acker!« Andererseits sahen sich die Gerlachs nach einem Ehemann für ihre Nichte Anna Catharina um, der ihnen materielle Sicherheit im Alter garantieren konnte. Da schien der ›Schorsch‹ der richtige zu sein. Sie setzten sich ins Einvernehmen, und eines Tages erschien in Gerlachs Haus offiziell der ›Freierschmann‹ und warb für Georg Klumb den Dritten um die Hand der Anna Catharina Gerlach.

Wie es der Brauch war, wird das Katchen geschwind Speck und Eier gebacken haben, um sie dem Brautwerber aufzutischen. Das war das Zeichen, daß sie geneigt war. Wenn der Schorsch ein echter Klumb war, wird ihr die Zustimmung trotz des Altersunterschieds nicht schwer gefallen sein. Und alles spricht dafür, daß der Schorsch ein wackerer, rechtschaffener Mann war.

Wenn er sich nun morgens in aller Frühe auf seinen Weg zur Eisenhütte machte – er lief die sieben Kilometer zweimal am Tag zu Fuß, denn die Eisenbahn sollte erst später, in den neunziger Jahren, gebaut werden –, dann schaute er, wenn er an Gerlachs Haus vorbeikam, wohl zum Kammerfenster hinauf, hinter dem sein Katchen schlief; und wenn er abends den Haferacker-Weg herauf von der Hütte heimkehrte, wird er wohl von weitem gespäht haben, ob sein Katchen nicht zufällig etwas im Hof oder auf der Bitz zu schaffen hatte. Am zwanzigsten März 1873 wurde eine bescheidene Hochzeit gefeiert, und so war Anna Catharina schon mit neunzehn Jahren Ehefrau, und die alten Gerlachs hatten neben einer tüchtigen Magd auch einen Knecht erworben, der zupacken konnte und zudem noch einen Nebenverdienst heimbrachte. Die jungen Leute hatten keine andere Wahl. Ohne eigenes Ackerland hätten sie nicht existieren können, der Verdienst aus der Eisenhütte hätte nicht zum Leben ausgereicht, und wo hätten sie wohnen sollen? Ein eigenes Häuschen zu bauen, daran war gar nicht zu denken.

Nun mußte dieser für beide Seiten vorteilhafte Zustand aber auch amtlich besiegelt werden. Man beriet sich untereinander und mit dem Notar Schöler aus Stromberg, und schon eine Woche nach der Hochzeit zogen die alten Gerlachs und der ›Schorsch‹ ihren Sonntagsstaat an und machten sich zu Fuß auf den Weg nach Stromberg.

»Katche, dau brauchst nit met ze gehn, bleib dau dehäm un kimmer dich ums Vieh!« So kam es, daß der Schorsch vor dem Notar ›mitstipulirte‹, und darum steht auch im Vertrag, daß die alten Gerlachs ›auf alle Einwände welche sich gegen die Rechtsbeständigkeit des gegenwärtigen Vertrages deshalb ergeben können, weil die genannte Anna Catharina geborene Gerlach nicht persönlich hier mithandelt oder durch Vollmacht in diesem Act vertreten ist‹, verzichten würden. Auf das Katchen konnten sie sich verlassen, das wußten sie.

Der Alimentencontract

Da stehen sie nun in der Notariatskanzlei, etwas müde und mit verschmutzten Schuhen, denn der Weg von Ellern nach Stromberg ist weit und führt zeitweise über Ziehwege durch den Soonwald und über glitschige Pfade den Guldenbach entlang, und lauschen angestrengt dem pompösen Wortlaut des Vertrages, den der Kanzleischreiber vorliest: »WIR, WILHELM VON GOTTES GNADEN, KÖNIG VON PREUSSEN etc; etc; etc; thun kund und fügen hirmit zu wissen, daß unser Notar Friedrich Carl Schöler im Wohn-und Amtssitze der Stadt Stromberg im Landgerichtsbezirk Coblenz folgende Urkunde aufgenommen hat: ... Es sind erschienen:

1. Die Eheleute Jacob Gerlach der Zweite, Tagelöhner, und Catharina geborene Rheingans ohne besonderes Geschäft, letztere von ihrem erstgenannten Ehemann für Zweck und Inhalt dieses Actes und auch speciell autorisirt, beide zu Ellern, Bürgermeisterei Rheinböllen wohnend, einerseits und

2. Georg Klumb der Dritte, Hüttenarbeiter, zu besagtem Ellern wohnhaft, handelnd hierbei für sich und in eigenem Namen und zugleich stipulirend und sich solidarisch stark sagend für seine Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach ohne besonderes Geschäft ebendaselbst wohnhaft und für beide überall solidarisch haftend andererseits, welche erklärten, nachstehenden Alimentencontract miteinander verabredet und abgeschloßen zu haben. Die erstgenannten Comparenten Eheleute Jacob Gerlach der Zweite und Catharina geborene Rheingans verkaufen und übertragen hierdurch unter solidarischer Haftverbindlichkeit, das heißt, einer für den Andern und Beide für das Ganze einstehend, dem dies receptirenden Comparenten Georg Klumb der Dritte und dessen vorgenannter Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach, für welche der Comparente Georg Klumb der Dritte, wie vorangeführt, hier mitstipulirt, sich solidarisch stark sagt und solidarisch haftet zum gemeinschaftlichen, vollen unwiderruflichen Eigenthum:

A) folgende in der Gemeinde Ellern, im Kreise Simmern belegenen Immobilien, nämlich: ... (Es folgt eine genaue Aufzählung und Beschreibung aller Liegenschaften, mit Flurbezeichnung, Katasternummer und Namen der Anlieger; kleine Parzellen Wiesen und Ackerlandes, zwischen fünf und siebzehn Ar umfassend, die, ohne jemals groß gewesen zu sein, bei jeder Erbteilung von Generation zu Generation bis auf die jetzige, kaum noch zu teilende Größe zusammengeschrumpft waren).

B) folgende Mobiliargegenstände, nämlich: Einen Krautständer, einen Bohnenständer, ein Halbohmfaß, ein Butterfaß, drei eiserne Kochtöpfe, drei Eimer, zwei Wasserbütten, ein Schüßelbrett, achtzehn porzellanene Teller, zwei blecherne Kaffee- und Milchkannen, zwei porzellanene Kannen, zwölf Kaffeetassen, eine Kupferpfanne, einen Mörser, eine Kaffeemühle, eine Gießkanne, eine Seihe, einen Milchschoppen, sechs Messer, sechs Gabeln, einen Küchenschrank, zwölf Milchtöpfe, fünf Buttertöpfe, einen Rahmtopf, zwei Kochtöpfe, zwei Bettstellen, jedes mit Federbettstatt, Spreubett, Kopfsack und zwei Federkissen, zwei Tische, vier Lehnbänke, vier Stühle, einen Sessel, eine Uhr, einen Spiegel, eine Lampe, ein Licht, eine Laterne, eine Backmulde, zwei Mehlrümpfe, ein Hebeisen, zwei eiserne Keile, eine Axt, eine Säge, eine Stockhau, eine Schiffelhau, einen eisernen Rechen, einen Spaten, drei Kisten, vier Bettziegen, zwei Kopfhauben, achtzehn Leintücher, vierzehn Gebildtischtücher, zwölf Handtücher, dreißig Frauenhemden, fünfundzwanzig Mannshemden, ein tuchenes Frauenkleid, drei Tuchfrauenjacken, sechs Frauenröcke, eine seidene Schürze, sechs verschiedene Schürzen, fünf wollene Tücher, sechs Paar Frauenstrümpfe, zwei Paar Frauenschuhe, sechs Paar Mannsstrümpfe, zwei Paar Mannsschuhe, zwei Mannsröcke, zwei Hosen, zwei Westen, ein Paar Pelzhandschuhe, einen Hut, zwei Kittel, eine Mütze, ein Spinnrad, eine Haspel, eine Reisetasche, zwölf Säcke, einen Wamms, ein Sümmermaß, drei Siebe, ein Wurfsieb, vier Waschkörbe, einen Schwingflock, eine Hanfbreche, fünf Centner Kartoffeln, eine Kuh, ein Kalb, fünf Hühner, zwei Mistgabeln, drei Karste, ein Stoßeisen, einen Stoßtrog, eine Strohbank, eine Heugabel, zwei Sensen, zwei Sicheln, einen Hayropper, zwei Dreschflegel, und einen Wagen Dünger, überhaupt ihre sämmtlichen Mobilien ohne Vorbehalt.

A) die obenangeführten Immobilien mit allen daranklebenden Rechten und Gerechtsamen, aktiven und passiven, sichtbaren und nicht sichtbaren Dienstbarkeiten, und in der vorfindlichen Lage und Beschaffenheit wie dieselben bisher bestanden und benutzt worden sind oder hätten bestehen und benützt werden können oder doch müssen, die Gebäulichkeiten insbesondere mit allem, was in und an denselben wand-band-niet-mauer-erd-und nagelfest ist und mit allen vorfindlichen Sachen, welche ihrer Natur nach, oder vermöge ihrer Bestimmung, oder wegen des Gegenstandes, auf welchen sie sich beziehen, unbeweglich sind, namentlich mit dem vorhandenen Ofen mit Rohr, dem Kochherde, dem eingemauerten Kessel, den Krippen, Raufen, Trögen und Gerüstreideln, aber ohne Garantie für das angegebene Flächenmaß, dessen etwaiges, selbst ein Zwanzigstel übersteigendes Mehr oder Weniger dem Comparenten Georg Klumb der Dritte und dessen genannter Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach zum ausschließlichen Vortheile oder Nachtheile gereicht und

B) die obenerwähnten Mobiliargegenstände ohne Garantie für sichtbare und verborgene, wesentliche und unwesentliche Fehler und Mängel derselben. Die Überlieferung sämmtlicher oben beschriebener Objekte in das volle gemeinschaftliche Eigenthum des Comparenten Georg Klumb der Dritte und dessen genannter Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach wird als mit Vollziehung dieses Actes geschehen angesehen und verzichtet der Comparent Georg Klumb der Dritte, handelnd, wie eingangs besagt, für sich und seine mehrgenannte Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach auf eine weitere factische überlieferung.

Der Comparent Georg Klumb der Dritte und dessen genannte Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach gelangen sofort mit Vollziehung dieses Actes in den vollen unbeschränkten eigenthümlichen Besitz und Genuß der sämmtlichen obenangeführten Objekte und haben bezüglich der erwähnten Immobilien die Grund und Gebäudesteuern sowie alle anderen Staatsund Gemeindelasten und Abgaben, auch Feuerversicherungsbeiträge, vom ersten Januar achtzehnhundertdreiundsiebenzig an zu tragen.

Die Comparenten Eheleute Jacob Gerlach der Zweite und Catharina geborene Rheingans leisten unter solidarischer Haftverbindlichkeit dem Comparenten Georg Klumb der Dritte und dessen genannter Ehefrau Anna Catharina geborene Gerlach alle Gewähr Rechtens, insbesondere für Erictionen und Störungen jeder Art am ruhigen Besitze und Eigenthume der oben beschriebenen Objecte, sowie dafür, daß die oben beschriebenen Immobilien gänzlich frei sind von Schulden, Privilegien, Hypotheken, Grundzinsen und Renten.