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Die "Gesammelten Romane von Jakob Wassermann" bieten einen tiefen Einblick in die komplexe Welt eines der bedeutendsten Autoren der frühen deutschen Moderne. Wassermann vereinte in seinen Geschichten einen anspruchsvollen literarischen Stil mit psychologischer Schärfe und sozialkritischer Reflexion. Seine Werke sind durchdrungen von existenziellen Fragen und der Suche nach Identität, was ihn zu einem herausragenden Vertreter seiner Zeit macht. Der nostalgische, melancholische Ton, der seine Erzählungen prägt, offenbart sich insbesondere in Titeln wie "Der Aufstieg des Arturos M. und die geheimnisvolle Schmiede" und "Die Juden von Zirndorf", die das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft kunstvoll vermessen. Jakob Wassermann, geboren 1873 in eine jüdische Familie, war ein Zeitzeuge der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Epoche. Sein persönliches Erleben antisemitischer Diskriminierung und seine intensive Auseinandersetzung mit Identitätsthemen prägten sein literarisches Schaffen. Wassermanns Erfahrungen als Mensch und Künstler fließen direkt in seine Romane ein, in denen er die Spannungen zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung zu einem eindringlichen Ganzen verbindet. Die "Gesammelten Romane" sind eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Entwicklung der modernen Literatur interessieren. Mit seinen tiefgründigen Charakteren und den fesselnden Handlungssträngen lädt Wassermann den Leser ein, in eine Welt einzutauchen, die sowohl zeitlos als auch revolutionär ist. Tauchen Sie ein in die facettenreiche Erzählkunst eines Meisters und entdecken Sie die vielschichtigen Dimensionen menschlicher Existenz. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Diese Ausgabe versammelt zentrale Romane Jakob Wassermanns in vollständiger Textgestalt und führt durch die Spannweite seines erzählerischen Schaffens, von frühen gesellschaftskritischen Entwürfen bis zu späten Reflexionen über Verantwortung und Identität. Die Auswahl umfasst unter anderem Melusine, Die Juden von Zirndorf, Der Moloch, Christian Wahnschaffe, Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens sowie die späten Romane Etzel Andergast und Joseph Kerkhovens dritte Existenz. Ziel der Zusammenstellung ist es, Entwicklungslinien, thematische Kontinuitäten und Formexperimente sichtbar zu machen und die Vielfalt der Romanformen zu bündeln, in denen Wassermann seine unverwechselbare Stimme ausgebildet hat. Die Sammlung konzentriert sich bewusst auf Romane.
Obgleich Wassermann ein vielseitiger Autor mit Erzählungen, Essays und autobiografischen Reflexionen war, versammelt diese Edition ausschließlich Romane. Innerhalb dieses Rahmens zeigt sich jedoch eine bemerkenswerte Gattungsbreite: vom Justiz- und Gesellschaftsroman über Entwicklungs- und Künstlerroman bis hin zum historischen und biografisch grundierten Roman. Der Fall Maurizius beleuchtet die Fragwürdigkeit menschlicher und institutioneller Urteile, Caspar Hauser und Christoph Columbus greifen historische Gestalten auf, Alexander in Babylon verdichtet Vergangenheit zur Gegenwartserfahrung. Engelhart Ratgeber erkundet Selbstwerdung im autobiografischen Modus, Christian Wahnschaffe erweitert die soziale Perspektive. So entsteht ein Panorama moderner Romanformen bei gleichbleibender ethischer Intensität.
Verbindende Themen ziehen sich quer durch die hier versammelten Werke: die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit, die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, die fragile Balance zwischen Herkunft, Gewissen und gesellschaftlicher Rolle. Die Juden von Zirndorf öffnet einen Blick auf jüdisches Leben und die Erfahrung des Fremdseins inmitten deutscher Lebenswelten. Der Moloch, Faber oder die verlorenen Jahre und weitere Romane greifen Krisen der Selbstbestimmung auf, ohne die Figuren auf Thesen zu reduzieren. Immer wieder stellt Wassermann das Gewordene zur Disposition, prüft Entscheidungen am Maßstab innerer Notwendigkeit und entwirft Figuren, deren Würde aus Konfliktfähigkeit erwächst.
Stilistisch verbindet Wassermann psychologische Genauigkeit mit erzählerischer Weiträumigkeit. Seine Prosa nutzt Beobachtung, Dialog und gedankliche Einschübe, um innere Beweggründe sichtbar zu machen und soziale Kräfte zu profilieren. Perspektivwechsel und sorgfältig komponierte Szenen erzeugen eine dichte Dramaturgie, die das Moralische nicht verkündet, sondern erfahrbar macht. Sinnbildhafte Motive tauchen wieder auf und vermitteln zwischen individueller Geschichte und übergreifender Idee. Dabei wahrt die Sprache eine klare, rhythmische Führung, die Pathos meidet, aber Ernst zulässt. So entsteht eine Balance aus Analytik und Empathie, die die Lektüre trägt und die Romane über ihre Entstehungszeit hinaus sprechfähig hält.
Mehrere Romane führen historische Stoffe in die Gegenwart des Lesens: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, Christoph Columbus Der Don Quichote des Ozeans und Alexander in Babylon entfalten Geschichte als ethische Prüfung und Imagination. Wassermann interessiert weniger das Anekdotische als die Frage, wie Erinnerung Menschen formt und wie Erzählung Erfahrung ordnet. Indem er Überlieferung, Legende und psychologische Motivsuche verschränkt, gewinnen vergangene Ereignisse exemplarischen Charakter. Historische Genauigkeit und dichterische Freiheit stehen dabei in einem sorgfältigen, stets verantwortlichen Verhältnis, das die Wahrnehmung schärft und die Aktualität moralischer Entscheidungen im Spiegel früherer Zeiten sichtbar werden lässt.
Daneben stehen Romane, die Gegenwart und Milieu in alltagsnaher Dichte ausleuchten. Der Moloch zeigt, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte Lebensläufe prägen; Das Gänsemännchen, Laudin und die Seinen, Die Geschichte der jungen Renate Fuchs oder Faber oder die verlorenen Jahre rücken persönliche Bewährung, Nähe und Entfremdung ins Zentrum. Christian Wahnschaffe entfaltet ein weites soziales Feld, Engelhart Ratgeber betrachtet Selbstfindung in Reibung mit Weltanschauungen. In diesen Büchern erprobt Wassermann Formen des modernen Lebensromans, der nicht belehrt, sondern Erfahrungsräume öffnet. Konflikte entstehen aus nachvollziehbaren Motiven und werden mit geduldiger Genauigkeit verfolgt, bis eine neue Haltung oder ein verändertes Bewusstsein sichtbar wird.
Die bleibende Bedeutung dieses Werks liegt in seiner moralischen Entschiedenheit und seiner offenen Fragkultur. Wer heute nach literarischen Formen sucht, die individuelle Freiheit und soziale Bindung zugleich ernst nehmen, findet hier reiche Anregung. Die vorliegende Zusammenstellung bietet den Zugang über unterschiedliche thematische Türen: Justiz und Verantwortung, Geschichte und Erinnerung, Selbstwerdung und Zusammenleben. Sie lädt dazu ein, Wassermanns Romane querzulesen, Verbindungen zu entdecken und Unterschiede wahrzunehmen. So eröffnet die Sammlung einen Weg, das Werk als fortlaufendes Gespräch zu verstehen, das Fragen stellt, Haltungen prüft und dem Leser die Freiheit der eigenen Antwort lässt.
Die in den Gesammelten Romanen versammelten Werke Jakob Wassermanns entstanden zwischen den späten 1890er Jahren und 1934, also vom Kaiserreich über Krieg und Revolution bis an den Rand der nationalsozialistischen Herrschaft. Wassermann, 1873 in Fürth geboren, wuchs als deutsch-jüdischer Autor in einer Zeit rasanter Modernisierung und kultureller Spaltungen heran. Wiederkehrende Motive seiner Romane – Gewissensprüfung, Gerechtigkeit, Identität, die Macht des Mythos – spiegeln diese Umbrüche. Schauplätze reichen von fränkischen Provinzstädten über München, Wien und Berlin bis zu historisch imaginierten Fernräumen. Die Sammlung verbindet so individuelle Lebensläufe mit einer Epoche, die ihre Selbstverständlichkeiten fortwährend in Frage stellte.
Im Gefüge des 1871 gegründeten Kaiserreichs beschleunigten Industrialisierung, Urbanisierung und neue Massenmedien soziale Spannungen, die viele Romane als Unterstrom begleiten. Nach dem Ende der Sozialistengesetze 1890 erstarkten Arbeiterbewegung und Gewerkschaften; Großstreiks und die Reichstagswahl 1912 mit der SPD als stärkster Fraktion verdeutlichten Machtverschiebungen. Metropolen wie Berlin und München wurden Bühnen von Klassengegensätzen, moralischer Doppelstandards und ökonomischer Gier – Erfahrungen, die Wassermann in Figuren von Aufstieg und Scheitern kondensierte. Auch der ländlich-provinzielle Raum Frankens blieb hiervon nicht unberührt und erscheint als Resonanzraum, in dem Modernisierung auf tradierte Ordnungen trifft und das Individuum zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung schwankt.
Das geistige Klima des Fin de Siècle prägte Wassermanns psychologisch ausgerichtete Erzählkunst. Literatur, Bildende Kunst und Musik standen unter dem Eindruck von Naturalismus, Symbolismus und Jugendstil; zugleich rückte mit Sigmund Freuds Traumdeutung von 1900 die Erforschung unbewusster Triebe in den Vordergrund. Philosophische Provokationen Friedrich Nietzsches und Lebensreformbewegungen stellten bürgerliche Moral- und Sinnsysteme in Frage. In diesem Milieu bildete das Feuilleton der Großpresse eine machtvolle Öffentlichkeit, und Verlage wie S. Fischer vernetzten Autorinnen und Autoren zwischen München, Wien und Berlin. Wassermanns Figuren treten daher oft als Suchende auf, deren Inneres genauso konflikthaft ist wie die Gesellschaft, die sie umgibt.
Wassermann griff wiederholt zu historischen und mythischen Stoffen, um Gegenwartsfragen zu beleuchten. Die Legende um Caspar Hauser, im 19. Jahrhundert in Nürnberg verankert, bot ein Gleichnis über Herkunft, Erziehung und soziale Projektion. Gestalten wie Christoph Columbus oder Alexander verweisen auf europäische Entdecker- und Herrscherdiskurse, die um 1900 auch durch Wilhelminische Weltpolitik neu aufgeladen wurden. Gleichzeitig wirkten Historismus und Gelehrtenkult – von Leopold von Rankes Quellenideal bis zu populären Biographien – als kultureller Resonanzboden. Aus dieser Spannung heraus entwickelte Wassermann Erzählformen, die historische Ferne, moralische Parabel und psychologisches Porträt verbinden, ohne sich in antiquarischer Detailfülle zu verlieren.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen verschoben Wahrnehmung und Wertehaushalt einer ganzen Generation. Die Kriegsjahre 1914–1918, der Umsturz 1918/19 und die existenzbedrohende Inflation von 1923 erzeugten ein Klima der Verunsicherung, das die Sinnsuche vieler Protagonisten schärft. Religiös-ethische Impulse – von Tolstois radikaler Gewissensethik bis zu sozialreformerischen Ideen – boten Orientierung, ohne schnelle Lösungen zu erlauben. In diesem Kontext thematisieren Romane asketische Läuterung, soziale Verantwortung und die Begegnung mit Elend und Reichtum. Die Umrisse des „neuen Menschen“ bleiben brüchig: politische Gewalt, Veteranenschicksale und Entwurzelung stellen jede moralische Erneuerung auf die Probe.
Die Andergast-Trilogie, von 1928 bis 1934 entstanden, verdichtet europäische Debatten um Justiz, Wahrheit und Schuld. Sensationsfälle wie die Dreyfus-Affäre hatten bereits seit 1894 gezeigt, wie Vorurteil, Presse und Staatsraison Gerichte beeinflussen können. Zugleich professionalisierten sich Kriminalistik und Forensik; neue Beweismittel nährten den Glauben an Objektivität – und legten ihre Grenzen offen. In der Weimarer Republik wurden Strafrechtsreform, Haftbedingungen und Richterethos breit diskutiert. Wassermanns Justizromane spiegeln dieses Klima, indem sie Ermittlungen als moralische Initiation erzählen und den Gerichtssaal in ein Forum gesellschaftlicher Selbstbefragung verwandeln, das private Lebenswege unauflösbar mit öffentlicher Verantwortlichkeit verknüpft.
Als deutsch-jüdischer Autor schrieb Wassermann unter dem Druck sich wandelnder Zugehörigkeiten. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879–1881, der Zionistenkongress von Basel 1897 um Theodor Herzl und völkische Agitation prägten den Diskurs über Identität und Nation. Wassermanns Essay „Mein Weg als Deutscher und Jude“ (1921) machte die Spannung zwischen Assimilation und Ausgrenzung öffentlich sichtbar und beeinflusste die zeitgenössische Wahrnehmung seiner Romane. Mit der Radikalisierung der Politik – NSDAP-Programm 1920, Putschversuch 1923, Wahlerfolge ab 1930 – wuchs die Feindseligkeit. 1933 wurden seine Bücher in Deutschland verboten und verbrannt; 1934 starb er im österreichischen Altaussee gesellschaftlich isoliert.
Aus den wiederkehrenden Räumen – Franken und Nürnberg, die Salons Münchens und Wiens, die Amtsstuben Berlins – formt die Sammlung ein Panorama, in dem Privates und Politisches ineinandergreifen. Zeitgenössische Leserinnen und Leser, geprägt vom Feuilleton und einer wachsenden Übersetzungskultur, nahmen Wassermann als moralisch ernsten, zugleich populären Erzähler wahr; seine Bücher erschienen international und stießen auf breite Diskussion. Im Dialog mit Autorinnen und Autoren wie Thomas und Heinrich Mann oder Alfred Döblin zeigte er eine alternative Linie der Moderne: weniger experimentell als viele Avantgarden, doch geschichtlich sensibel, psychologisch genau und im Ringen um Gerechtigkeit unbeirrbar.
Melusine und Die Geschichte der jungen Renate Fuchs zeigen junge Menschen, die zwischen Gefühl, Phantasie und gesellschaftlicher Erwartung ihren eigenen Weg suchen.
Der Ton ist lyrisch-psychologisch; im Fokus stehen Selbstprüfung, weibliche Selbstbehauptung und die Ambivalenz idealisierter Liebe.
Die Juden von Zirndorf und Das Gänsemännchen verankern das Erzählen in Nürnberg und Franken, wo religiöse und soziale Milieus Außenseiter hervorbringen.
Realismus und Sage greifen ineinander, wenn Gemeinschaft, Vorurteil und künstlerische Berufung als Prüfsteine moralischer Standhaftigkeit inszeniert werden.
Der Moloch, Christian Wahnschaffe, Faber oder die verlorenen Jahre und Laudin und die Seinen entfalten weite Gesellschaftspanoramen zwischen Kapital, Macht und Gewissen.
In der Großstadt prallen Ehrgeiz, Wohltätigkeit, familiäre Loyalität und der Wunsch nach Erneuerung aufeinander; die Figuren ringen um sinnstiftendes Handeln jenseits der Verführung durch Status und Besitz.
Engelhart Ratgeber oder Die zwei Welten folgt einem empfindsamen Ich durch die Spannungen zwischen innerem Ruf und äußerer Realität.
Der Roman verbindet Bekenntniston und Künstlerroman, um die Formung des Selbst in Kunst, Freundschaft und Verzicht zu beleuchten.
Alexander in Babylon und Christoph Columbus Der Don Quichote des Ozeans rücken berühmte Eroberer als suchende, verletzliche Menschen in den Mittelpunkt.
Wassermann entmythologisiert Größe, indem er Vision, Hybris und Einsamkeit psychologisch ausleuchtet und die Kluft zwischen Ideal und Erfahrung betont.
Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens erzählt von einem rätselhaften Findling, dessen Herkunft ungewiss bleibt und der zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Hoffnungen und Ängste wird.
Der Ton ist mitleidsvoll und prüfend; Identität, Schuldgefühl und die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Wehrlosen stehen im Zentrum.
Der Fall Maurizius, Etzel Andergast und Joseph Kerkhovens dritte Existenz verfolgen über Jahre die Verästelungen eines umstrittenen Strafverfahrens und seine Folgen für Täter, Zeugen und Suchende.
Ermittlung, Gewissensprüfung und Familienkonflikt verschränken sich zu einer Studie über Wahrheitssuche, Urteilen und zweite Chancen.
Quer durch die Sammlung kehren Gewissensdrama, Mitgefühl mit Außenseitern, der Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit sowie der Glaube an persönliche Läuterung wieder.
Stilistisch verbinden sich psychologische Tiefenbohrung, moralischer Ernst und symbolische Leitfiguren; das Werk wächst von regional gefärbten Anfängen zu weit ausgreifenden Gesellschafts- und Geschichtsdeutungen.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Wenige Menschen verstehen es, ihre Wünsche im Bereich des Möglichen zu lassen. –
Nach monatelangem Hungern war es Vidl Falk endlich gelungen, ein Stipendium von der Hochschule zu erhalten. Mehr hatte er nicht gewünscht. Er betrachtete sich als gemachten Mann und strebte, sich das Leben etwas gemächlicher einzurichten. Mit der ganzen Besitzesfreude eines Kapitalisten trug er sein Vermögen spazieren. Jedoch vermied er das Gedränge der Verkehrsstraßen, denn er fürchtete sich vor Taschendieben. Wenn er beim Mittagessen die Zeitung zur Hand nahm, so studierte er zuerst unter der Rubrik »Lokalnachrichten« die Aufzählung der Diebstähle und der verlorenen Geldbörsen.
Der plötzlich eingetretene Reichtum berauschte ihn. Die schmale, armselige Zelle, in der er bis jetzt gehaust, ekelte ihn auf einmal an. Er kündigte und ging aus, ein Zimmer zu suchen, das mit seinen Träumen möglichst übereinstimmen sollte. Der erfinderische Sinn Münchner Vermieterinnen, der schon den Aushängezettel mit jenen feinen Nuancen versieht, welche auf den Preis schließen lassen, erleichterte ihm das Suchen.
Eines Nachmittags erkletterte er die zwei steilen Treppen eines ziemlich vornehmen Hauses in der Heßstraße. »Pension Bender« stand an der Korridortüre.
Ein kleines, zierliches Fräulein führte ihn in das ausgeschriebene Zimmer. Leutselig und mit weltmännischem Behagen betrachtete Falk die vier Wände des Zimmerchens und beklagte, daß keine Ottomane oder »so was Ähnliches« vorhanden sei. Derselbe herablassende junge Mann hatte sich vor noch nicht vier Tagen mit einem Mittagessen begnügt, das aus einem für zehn Pfennige Äpfel bereiteten Mus und mit einem Abendessen, welches aus purem Schwarzbrot bestand.
Mit ironischem Lächeln beobachtete ihn das junge Mädchen. Es schien seine Spottlust mit Mühe zu zügeln.
»Warum lachen Sie denn?« fragte Falk, indem er ein möglichst gutmütiges Gesicht machte, fügte aber sogleich hastig hinzu, daß er das Zimmer mieten würde. »Wer wohnt denn sonst noch bei Ihnen?« fragte er, mit der Nase in der Luft schnuppernd, denn es roch nach Weihrauch.
Das Mädchen ließ ein helles, hölzernes Lachen hören und erwiderte: »Nebenan wohnt Doktor Brosam – er ist Arzt und er mag den Weihrauch sehr gern –«
»Pfui!«
»Dann ein Fräulein von Erdmann, eine Gelehrte, und Fräulein Mirbeth. Das ist alles.«
»Eine Gelehrte –? Jung?«
Jetzt lachten sie Beide. –
Gegen Abend des nächsten Tages – es war der 1. November – bezog Falk seine neue Wohnung. Als er mit Auspacken und Ordnen seiner Habseligkeiten fertig war, ging er in die Küche, um die Magd nach etwas zu fragen. Die Küchentüre stand halboffen und er wollte sie schon aufstoßen, als ihn der Anblick einer weiblichen Gestalt, welche drinnen ganz nahe an der Tür stand, daran hinderte. Diese Gestalt war groß und schlank, fast hager. Das ihm zugewandte Profil zeigte herbe und unschöne Linien, ja, es erschien ihm fast abstoßend. Soviel er im Dunkeln urteilen konnte, war sie noch sehr jung; er hörte eine schleppende und etwas gewöhnliche Stimme, die mit dem Tonfall einer Ermüdeten der Magd Erklärungen irgend welcher Art gab.
Vidl Falk wandte sich rasch ab, um nicht gesehen zu werden; aber in diesem Augenblick kam das Fräulein Bender aus dem Wohnzimmer und fragte nach seinem Begehr. Während er noch mit ihr sprach, verließ das schlanke, junge Mädchen die Küche und ging an ihnen vorbei. Falk sah ihr nicht ins Gesicht, obwohl er ihre Züge jetzt genau hätte sehen können, da die Magd mit der Korridorlampe folgte. Nur flüchtig musterte er ihren Schlafrock von düsterroter Färbung mit den Aufschlägen an der Brust und dem Brokataufputz. Doch obwohl er der Vorbeigehenden durchaus keine Beachtung schenkte, hörte er doch auch nicht darauf, was das kleine, spöttische Fräulein Bender sagte. Eine Unruhe, die freilich nur einige Sekunden dauerte, hatte ihn daran verhindert.
»Wer war denn das?« fragte er nachher ganz gleichgültig die Kleine.
Das Mädchen streifte ihn mit einem kurzen Seitenblick und sagte mit komischer, fast komödiantischer Wichtigkeit: »Das war Fräulein Mirbeth.«
Falk glaubte etwas Gehässiges aus dem Ton dieser Antwort zu hören, nicht gegen ihn, sondern gegen jene Dame. Nach Monaten noch erinnerte er sich der ironischen Betonung des Namens und des überlegen gespitzten Mundes mit der hervortretenden Unterlippe.
Noch in derselben Nacht schrieb Vidl Falk die folgenden, etwas jugendlich klingenden Sätze in sein Tagebuch: »Ich bin ruhig und glücklich jetzt, – beglückt von der Einsamkeit und allerlei unnützen Gedanken. Und doch fühle ich etwas Leeres in mir, eine Lücke, ein Loch. Sollte dies das Weib sein? Ich glaube kaum. Man kann sich doch nicht nach dem Giftbecher sehnen.«
Auf der ersten Seite dieses Tagebuchs befanden sich in lapidaren Lettern die prunkvollen Worte: Die reine Wahrheit.
Inhaltsverzeichnis
Fräulein Emilie von Erdmann erwachte seufzend aus dem Morgenschlummer. Das Auf-und Zuklappen der Türen hatte ihren Schlaf verscheucht. Die dicke, ältliche Dame stöhnte sehr laut und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Als der Lärm kein Ende nahm, murmelte sie Flüche und Schimpfworte, ballte beide Fäuste gegen die unsichtbaren Feinde draußen und rief endlich verzweifelt aus: »Mein Leben ist verpfuscht!« Dann sank sie theatralisch in die Kissen zurück und holte ein Brustbonbon aus dem Schubfach eines kleinen Tisches neben dem Bett.
Sie empfand jenes heftige Unbehagen, das Jeden heimsucht, der aus dem Schlaf zu den Sorgen des Lebens zurückkehrt. Auch die Überlegung, wieder um einen Tag älter geworden zu sein, verstimmte sie. Der Verfall ihres Körpers war das Schauspiel, worüber sie täglich von neuem grollen mußte. Und sie wollte noch jung sein und zur Jugend gezählt werden. Aber mit fünfzig Jahren ist man alt, der kunstreichsten Modistin zum Trotz.
Das Dienstmädchen brachte den Morgenkaffee und Fräulein von Erdmann beschwerte sich lebhaft über die Unruhe. »Liebste Anna,« sagte sie mit vibrierender Stimme, »ich bin so elend, so krank. Sehen Sie her,« (sie streckte ihre Gichtfinger aus den Kissen) »wissen Sie was das ist? Das ist der Hohn des Lebens! Geben Sie mir die Hand, Anna! Ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Ich war nicht immer so. Ich habe Tage des Glanzes gesehn.«
Das Mädchen lächelte kalt. Mit kecker Vertraulichkeit betrachtete es nach Dienstbotenart die gelbe, schwammige Hand. Wieder allein, nahm die Kranke eilig den kleinen Spiegel von der Wand und blickte starr hinein. Sie zuckte mit keiner Wimper, ihr Gesicht nahm einen königlich strengen und dann einen finstern, zürnenden Ausdruck an, und ihre abnorm langen, fleischigen Ohrlappen röteten sich.
Von neuem wurden draußen die Türen zugeschlagen, polternde Schritte ertönten auf dem Korridor, und der neue Herr rief nach Wasser. Mit einem Wutschrei sprang das Fräulein aus dem Bette. Sie suchte nach ihren Strümpfen, und kramte zu diesem Zweck unter den am Boden liegenden Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Büchern, Zeitungen, Briefen und Unterröcken; sogar auf dem Tisch suchte sie zwischen den Kaffeetassen, Flaschen und Speiseresten. Aber das Erfolglose ihrer Bemühungen erkennend, begnügte sie sich damit, einen langen, faltenlosen Mantel um die Schultern zu hängen, der das schmutzige Nachthemd nur schlecht verhüllte, und barfuß in ein paar zerrissene Pantoffeln von ehrwürdigem Alter zu schlüpfen. Sie wollte schon hinausgehen, aber zwei Gründe hielten sie von ihrem Beschwerdegang ab. Erstens, dachte sie, wird mein Kaffee kalt und zweitens wäre diese kleine Frau Bender fähig, mich wegen der lumpigen paar hundert Mark, die ich schuldig bin, zu ennuyieren. Dies »ennuyieren« gefiel ihr; es verhüllte das am Besten, was zu denken sie sich schämte.
Nach dem reichlichen Frühstück hatte sie ihre Morgenzigarre angezündet und sich in schöner Pose auf die Ottomane gelegt. Da knarrte die Tür in den Angeln und unwillig wandte die Liegende das Haupt. Sie sah Fräulein Mirbeth im Zimmer stehen, dicht neben der Tür, die das junge Mädchen langsam geschlossen hatte. Emilie von Erdmann sprang auf. »Was – Sie, Fräulein!« rief sie erstaunt.
Fräulein Mirbeth antwortete nicht. Sie schaute gerade vor sich hin, aber nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern sie blickte weit in die Ferne und sie schien etwas wahrzunehmen, das mehr und mehr ihre Angst erregte. Ihre Arme hingen schlaff an dem grauen, wollenen, schwarzgemusterten Morgenrock herab und ihre kleinen, feinen, schmalen und mageren Hände leuchteten förmlich durch das Zimmer.
»Aber liebes Kind, was haben Sie denn?« rief Fräulein von Erdmann erschrocken und haschte zärtlich nach der Hand dieses »Kindes«, das einen Kopf größer war als sie.
Das junge Mädchen machte noch immer keine Bewegung. Wohl aber begannen die Nasenflügel zu beben und die schwarzen Augen, die aus dem blassen Gesicht hervorleuchteten wie zwei überaus glänzende Perlen, füllten sich mit Tränen. Beständig, ohne aufzuhören, nagte sie an der Unterlippe und dann ging ein Zucken durch ihren Körper. Sie zitterte. Plötzlich machte sie zwei oder drei Schritte vorwärts, – schnell als fürchte sie zu fallen, warf sich auf die Ottomane, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und begann zu weinen, – leise und unaufhaltsam.
Fräulein von Erdmann war ratlos. Mechanisch strich sie über das wirre, dunkle, glanzlose Haar der Weinenden, das bei jeder Berührung knisterte wie Seide.
Die dicke Dame suchte zu trösten. »Wer hat Ihnen denn ein Leids getan, Sie Arme? Ist es Ihr – Ihr Vormund, ist es dieser schreckliche Oberst? Sagen Sie mir alles. Unbesorgt dürfen Sie sich mir anvertrauen. Ich bin verschwiegen wie das Grab. Vertrauen Sie mir, liebes Kind. Ist er denn in Sie verliebt, dieser Oberst? Und hat er Sie beleidigt? Vertrauen Sie mir!«
Und sie drängte in das junge Mädchen mit dem ganzen Ungestüm einer Frau, die um jeden Preis ein Geheimnis zu erpressen sucht.
Fräulein Mirbeth richtete sich auf. Sie drückte einen Augenblick die Lider zu, wie um dadurch widerwärtige Bilder hinwegzuscheuchen und sagte schroff. »Lassen Sie mich!« Ihr Gesicht war voll Scham, und sie wußte nicht, wohin sie den Blick wenden sollte. Mit aufgehobenen Händen stand Fräulein von Erdmann vor ihr und sagte mehr als zehnmal: »Vertrauen Sie mir!«
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete langsam: »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich war wohl recht dumm. Aber ich kann jetzt nicht reden. Verzeihen Sie mir.« Sie nickte zerstreut und ging hastig hinaus.
Wütend, mit verächtlich zusammengepreßten Lippen sah ihr die dicke Gnädige nach.
Inhaltsverzeichnis
Fräulein Mirbeth kehrte in ihr Zimmer zurück. Lange Zeit ging sie auf und nieder, mit großen Schritten und scheinbar völlig losgelöst von allem, was sie umgab. Sie war phlegmatisch in ihren Bewegungen und ihr Gesicht verriet keine innere Regung mehr. Aber etwas Freudloses und Hoffnungsloses lag auf ihr wie Novemberreif. Beim ersten Anblick erschien sie schlaff, müde und gleichgültig.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und Papier zur Hand und schickte sich an, zu schreiben. Doch blieb es nur beim Ansetzen der Feder, deren Spitze sie stets ängstlich betrachtete. Offenbar wußte sie genau, was sie schreiben wollte: Satz für Satz; aber diese Sätze aufs Papier zu bringen, war ihr unmöglich. Unmutig warf sie die Feder fort und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt mußte sie aufquellende Tränen verschlucken und plötzlich errötete sie vor Scham oder vor Haß. Sie zog ein kleines, mit flotter Hand beschriebenes Stück Papier aus der Tasche, entknitterte es und sah länger als eine Viertelstunde darauf nieder.
Da klopfte es und das kleine Fräulein Bender trat herein. Mit ihren schwebenden, etwas gesucht graziösen Schritten ging sie auf die regungslos Dasitzende zu, faßte sie bei der Hand und sagte: »Was ist Ihnen denn, Mely? Sie sind so verstört, schon seit gestern. Sogar Mama hat es bemerkt und hat gesagt, ich solle doch mal herein.«
Mely Mirbeth schüttelte langsam den Kopf, wie jemand, der fest entschlossen ist, seinen Kummer allein zu tragen. Aber im Nu war dieser Entschluß bei ihr vergessen und die vorige Schwäche ergriff sie wieder. Hastig und suchend erfaßte sie die Hand des jüngeren Mädchens. In dieser unwillkürlichen Bewegung lag ein Schwächegeständnis und ein Anschmiegungsbedürfnis und dies wurde von dem jungen Mädchen wohl verstanden. Es näherte seine Lippen den Wangen Melys und fragte leise: »Sie waren bei Fräulein von Erdmann?«
Mely lächelte schuldbewußt.
»Das sollten Sie wirklich nicht tun,« fuhr die Kleine fort. »Warum das? Die haßt uns ja doch, weil wir jünger sind als sie. Sie stirbt vor Neid um unsere Jugend.«
Melys Lächeln wurde heller und fröhlicher. Mit naiver Verwunderung sah sie das zierliche Mädchen an, das ein so scharfes und selbständiges Urteil zu geben wagte. Man sah auch an der schnellen Bewegung ihrer Lider, daß sie darüber nachdachte. »Sie sind bös, Helene,« sagte sie endlich, erhob sich und begann wieder ihr Umherwandern. »Ach Helene,« rief sie nach einer langen Pause, »wenn Sie wüßten, was ich alles durchzumachen habe!«
Helene Bender saß mit verschränkten Armen auf der Lehne des Fauteuils und blickte mit ihren klugen, grauen Augen Mely an. Etwas Ungläubiges und Ironisches lag in ihrem aufmerksamen Blick. So klein sie war und so unbedeutend sie aussah, so skeptisch blieb sie gegenüber jedem Gefühlsausbruch und um den schmalen Mund mit der vorgeschobenen Unterlippe lag stets ein gleichgültiger Spott. Sie glaubte nicht an Melys Leiden, sie hielt jene für zimperlich und anspruchsvoll und vor allem für oberflächlich. Nur aus Neugierde war sie hereingekommen.
Mely ahnte nichts davon. Sie vertraute allen Menschen, außer denen, die sie haßte. Was man ihr sagte, das glaubte sie, selbst die plumpen Lügen. In ihrem Schmerz befangen, hielt sie es für unmöglich, daß jemand an der Tiefe dieses Gefühls zweifeln könne. Sie setzte sich und sagte mit ihrer jetzt weichen und einschmeichelnden Stimme, die etwas Bekümmertes stets in sich hatte: »Ich wollte ja auf alles gern verzichten, wenn ich nur meine Ruhe hätte. Mit nacktem Brot nahm ich vorlieb, – nur endlich einmal ein anderes Leben. Die Aufregungen, die Quälereien, die Beleidigungen, – ich bin ganz krank.«
Und sie seufzte tief auf, wie Kinder tun, wenn sie sich ausgeweint haben. »Sie wissen nicht, was das ist, Helene,« fuhr sie traurig fort. »Sie haben Ihre Mutter da und leben so bequem und Sorgen haben Sie keine. Aber ich bin ganz allein auf der Welt und dieser Mann darf mich mißhandeln wie er will, darf mich beschimpfen – o, ich bin ganz krank! Da hab ich wieder einen Brief, sehn Sie Helene, – da, was das ist! – Ich muß mich zu Tod schämen.«
»Was ist es denn?«
»Ach – das kann ich Ihnen ja gar nicht sagen. Es ist – er will – – nein, es ist unmöglich.« Verwirrt und voll Scham wandte sich Mely ab. »Schon einmal hat er es verlangt,« flüsterte sie. »Und weil ich nicht will, muß ich mich quälen lassen, um nichts, um jede Kleinigkeit.« Sie nahm den Brief und zerfetzte ihn nervös zwischen den Fingern. Dann ging sie zum Kleiderschrank, nahm ihre Straßenrobe heraus und öffnete mit einem einzigen Riß die Knöpfe ihres Morgenrocks.
»Ja – mögen Sie ihn denn nicht?« fragte Helene schüchtern. »Oder wie ist das?«
»Mögen! Erschießen könnt ich ihn.«
Das kleine Mädchen lächelte verständig. Sie trat zu Mely und ergriff deren beide Hände. »Seien Sie doch ruhiger,« sagte sie. »Ist es denn gar so schlimm? Wer weiß, vielleicht stellen Sie sich’s nur so entsetzlich vor. Er ist doch oft recht nett mit Ihnen. Wie viel Schönes hat er Ihnen schon geschenkt.«
Die Trostgründe waren banal; doch auf Mely übte die stille, sichere und selbstbewußte Art dieser Frühreifen einen beruhigenden Einfluß. Sie strich mit der Hand über die Stirn und blickte unschlüssig vor sich hin.
»Was wollen Sie denn tun?« fragte Helene ängstlich.
»Hinüber will ich. Alles will ich ihm sagen. Seinen Brief will ich ihm vor die Füße werfen!« stieß das junge Weib hervor. Sie hatte vergessen, daß sie den Brief soeben zerrissen hatte.
»Nicht – nicht das,« beschwichtigte Helene. »Warten Sie noch bis heute Abend wenigstens. Sie machen es ja nur schlimmer, – warten Sie.« Das Mädchen sprach sanft und zugleich überlegen. Doch Mely schüttelte den Kopf. »Ich muß,« sagte sie. »Ich bin sonst ganz unglücklich den ganzen Tag.« Und während sie sich ankleidete, erzählte sie. »Sehn Sie, Helene, ich habe neulich zu meinem schwarzen Kleid einen bunten Hut gekauft. Da gab’s Skandal. Das sei gemein, sagte er. Die Dienstboten täten das. Ich wolle mich auffallend kleiden, nur aus Koketterie. Ich soll kokett sein, Helene, das ist doch lächerlich, wie? Aber er will nicht, daß mich ein anderer Mann nur anschaut, deswegen soll ich keine Farben tragen. Und dann das: ich habe dreitausend Mark Vermögen gehabt, von der Mutter noch. Und als ich volljährig war, – nein etwas später, vor drei Jahren war’s, bekam ich das Geld. Da hat er nicht aufgehört, zu drängen, ich solle doch das Geld verbrauchen, und ich – so dumm! – mache die unsinnigsten Ausgaben. Kurz, in sechs Monaten war alles verputzt. Und wie ich dann das erste Mal von ihm Geld verlangen mußte, da hätten Sie ihn sehen sollen. Ganz glücklich war er darüber, ganz weg vor Freude.«
Helene war erstaunt. »Nun – das ist doch schön!«
»Aber verstehen Sie denn nicht? Jetzt war ich doch von ihm abhängig und er konnte machen mit mir, was er wollte. Jetzt hieß es gehorchen, – oder… Versteht! Sie nicht? Aber es ist beim Oder geblieben. O, es war gemein.«
Sie war fertig mit der Toilette, nahm Handschuhe und Schirm und zur Tür gehend, sagte sie leichthin: »Gelt, ich bin dumm, Helene. Andere würden lachen. Ach Gott und grade zu dieser alten Erdmann muß ich hinein. Wie dumm, wie dumm! Was denkt sich jetzt die.« Als ob sie aus sich selbst nicht klug zu werden vermöchte, schüttelte sie ganz langsam den Kopf. Sie war unzufrieden mit sich, auch deswegen, weil sie so offen gegen Helene gewesen war.
Als sie schon im Hausflur angelangt war, kehrte sie wieder um und ging in ihr Zimmer zurück. Furcht und Mutlosigkeit hatten sie erfaßt. Sie lehnte sich in den Fauteuil und schloß die Augen. Trotz des Mantels, den sie nicht abgelegt hatte, fror sie aus dem Innern heraus. Wie Spreu im Winde wirbelt, so stürmten die Gedanken in ihr durcheinander. Heiraten kann ich dich nicht, das wirst du doch einsehen, zitierte sie nervös lächelnd. Seine Frau hat er zu Grund gerichtet, dachte sie und runzelte feindselig die Stirn. Es war seltsam, daß diese Frau jetzt vor ihr stand, wie sie an einem Maskenball des letzten Karnevals kostümiert gewesen: im roten Pierrotgewand mit weißer Zipfelmütze. Noch deutlich entsann sie sich dabei des glühenden Gesichts, das oft mit einem spähenden und unterwürfigen Ausdruck dem Oberst sich zuwandte. Zwei Jahre erst war sie tot. Sie war ein feines Geschöpf gewesen, klug und wenig kokett, groß und in ihren Zügen der Saskia von Uhlenburg ähnlich. Sie war stets die Sklavin ihres Gatten gewesen. Bis ins Unbedeutendste ging dieser sklavische Zug an ihr, dies gänzliche und für Andere oft so unbegreifliche Aufgelöstsein im Wesen des Mannes.
Mely rührte sich nicht. Ihre Lippen waren nicht geschlossen, und sie hielt den Atem an. Und dann lächelte sie so, als sei sie mit allem einverstanden, was man mit ihr treibe. Eine große Müdigkeit kam über sie, und sie hegte den Wunsch zu schlafen. Aber Bild auf Bild stieg herauf: sie lebte wieder in ihrer Vergangenheit. Sie sah sich als Kind zur Volksschule gehen; sie sah beide Eltern auf dem Totenbette liegen, und sie sah den alten, gütigen Herrn, den Vater des Obersts, der ihr gerichtlicher Vormund geworden war. Dann blickte sie in die hellen, kahlen Klostergänge hinein, in denen sie zum erstenmal mit entsetzten Augen gestanden. Wie fremd und feierlich war dort die Welt! Sie hatte geglaubt, die Mauern seien endlos und hinter ihnen begänne das Meer. Sie hatte sich gefangen, bestraft gefühlt inmitten der gleichgekleideten Mädchen, unter der strengen Obhut der Schwestern. Ihre Sehnsucht nach der Stadt war groß; die Sandhaufen am Bahndamm erschienen in ihren Träumen, und die elterlichen Püffe und Prügel kamen ihr vor wie süße Späße. Sie mußte merkwürdig schwierige Dinge auswendig lernen und vor jedem, der sie ansprach, ängstigte sie sich. Sie fürchtete alle Menschen mit Ausnahme des Katecheten Kilian, den sie mit der Fülle ihres zwölfjährigen Herzens liebte. Er war ein schöner, blühender Jüngling, der niemals seitwärts blickte, auch nicht zu Boden, sondern stets gegen Himmel. In dieser Zeit wurde sie sehr fromm und sehr folgsam und wurde den Andern als gutes Beispiel gepriesen. Doch unverständlich war ihr nur das eine, daß sie für alle Menschen, die sie kannte, mitbeten sollte. Das konnte sie nie fassen. Wie sorgsam und gewissenhaft hatte sie stets ihre Sünden notiert, um bei der Beichte ja nichts zu vergessen: ich habe der Schwester Cäcilia in Gedanken unrecht getan; ich war zu träg, um die salischen Kaiser zu lernen; ich habe mich beim Aufwecken schlafend gestellt, um noch länger im Bett bleiben zu können – –
Wie lange war das schon her! Wie schnell waren die Jahre hingegangen! Allmählich hatte sie die Welt draußen vergessen, und sie begriff nicht mehr, daß es außerhalb des Klosters noch etwas von Wichtigkeit und Bestand geben könne. Weltlich und sündhaft waren ihr jene Mädchen erschienen, die, lustig und guter Dinge, das Leben sonnig fanden und von ihren Eltern in der Stadt erzählten, von Kaffeekränzchen, Musik und Tanz.
Eines Umstands erinnerte sie sich mit Entsetzen und stets suchte sie ihre Gedanken daran zu verscheuchen, nur um sich das Nachfühlen jenes Schreckens zu ersparen. An einem Osterfest, kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, ging mit ihrem Körper etwas Neues, Unbegreifliches vor. Sie stand vor einem Rätsel, das sie tief erschütterte. Noch sah sie sich mit zitterndem Leib an den Fensterposten gelehnt und in den verregneten Frühlingsmorgen hinausschauen. Sie wünschte aufs innigste, zu sterben, sie glaubte gesündigt zu haben und wußte nicht, worin diese Sünde bestand. Sie sah das Leben als etwas Finsteres und Gewalttätiges vor sich stehen und fürchtete sich. Stundenlang in der Nacht lag sie weinend auf ihren Kissen, und die Qual der Verheimlichung erdrückte sie. Sie schämte sich vor allen, sie versteckte sorgfältig die benutzte Wäsche, und kein Mensch fand sich, der das Dunkel ihrer kindlichen Phantasien gelichtet hätte. Einst, als ihre Seele durch das erneute Auftreten des Ungewohnten in Schrecken versetzt war, ging sie, unwissend wie sie war, ins Bad. Darauf kam die furchtbare Krankheit, deren Folgen sie niemals verwunden hatte. Eine unsichere Empfindung des Grolls und des Hasses beherrschte sie jetzt, wenn sie daran dachte, wieviel Schmerz ihr hätte erspart werden können durch die verständige Offenheit einer Lehrerin oder einer Freundin.
Aber nie hatte sie eine Freundin besessen. Von Allen war sie abseits stehen gelassen worden. Etwas, das sie unaufhörlich bedrückte, etwas Hoffnungsloses stand über ihrem Leben.
Sie überlegte, was sie tun könnte, um sich frei und unabhängig zu machen. Und doch, welche Angst empfand sie vor dieser Freiheit. Sie sah dabei immer das Bild eines einzelnen Baumes auf einer endlosen Heide, und dieses Bild der Hilflosigkeit machte sie schwach. Wenn ich doch nur einen Bruder hätte, dachte sie, der mich vor Beleidigungen wie der heutigen schützen könnte. Dann dachte sie an ihre Schwester, die sich hatte verführen lassen und die sich nun mit einem Kind elend durch die Welt schleppte. Niemand durfte wissen, daß sie eine Schwester hatte und wer das sei. Das hatte sie dem Oberst geschworen, und er hatte ihr unter dieser Bedingung erlaubt, das Mädchen zu unterstützen. »Aber sei vorsichtig dabei; denn die Gesellschaft, in der du verkehrst, und zu der ich dich emporgehoben habe, ist schlau und argwöhnisch.«
Sie zerknüllte ihren Handschuh in der Faust. Entschlossen stand sie auf, und bald darauf ging sie mit hastigen Schritten dem Hause des Oberst Thewalt zu. Ihre Augen blitzten vor Kampflust.
Inhaltsverzeichnis
Es war Nacht, als sie die Wohnung des Obersts verließ. Sie mußte gegen den Wind ankämpfen, der ihren Schleier aufblies. Fest schloß sie den Mund, und mit weit vorgebeugtem Kopf ging sie. Sie hatte die Begleitung des Obersts ausgeschlagen. »Nie mehr werde ich dies Haus betreten, nie mehr,« flüsterte sie verzweifelt, »ich Elende, ich Elende.«
Ganz belanglose Dinge fuhren ihr durch den Kopf. Es wäre schön, dachte sie, wenn ich jetzt mitten durch den Wind reiten könnte auf einem wilden Gaul, wie neulich draußen am See.
In der Pension saß man beim Tee. Fräulein von Erdmann, ein polnischer Adliger, Doktor Brosam, Frau Bender und Helene waren da. Die Herren erhoben sich, als Mely eintrat. Sie atmete noch heftig vom Treppensteigen und preßte eine Hand auf die Brust. Zerstreut nickte sie, wobei sie keinen der Anwesenden ansah, und die Zähne schauten unter den schwellenden Lippen hervor, ohne daß sie jedoch lächelte.
»Nehmen Sie vielleicht noch eine Tasse Tee, Fräulein Mirbeth?« fragte Frau Bender, und ihre großen, blauen Augen leuchteten dabei. Sie lachte fröhlich, als Mely bejahte und zeigte ihre prachtvollen Zähne.
Es entstand eine peinliche Pause, so daß Mely den Argwohn faßte, man habe sich über sie unterhalten. Darüber erschrak sie; denn nichts fürchtete sie so sehr, als das, was man hinter ihrem Rücken über sie sprach.
»Nein, welcher Sturm heute!« sagte sie endlich zögernd. Sie fing den spöttischen Blick auf, den die Erdmann mit dem Doktor wechselte, und ihr Argwohn wurde bestärkt. Wie sie in den Doktor verliebt ist, die alte Schachtel, dachte sie. Wie sie sich herausgeputzt hat über ihrem Schmutz. Sie lächelte Helene verständnisinnig zu, die, als begriffe sie nicht, mit einem kaum sichtbaren, verwunderten Kopfschütteln antwortete.
»Das ist noch gar nichts, – der Wind genügt nicht,« erwiderte der Doktor, behaglich schlürfend. »Um die ungesunde Sumpfluft unserer Zustände zu vernichten, müßte ein ganz anderer Sturm gehen.«
»Sie Sozialist!« seufzte Fräulein von Erdmann heiß und näherte ihre Hand dem Arm des Doktors.
»Sie habben abber garr keine Kälte hier,« sagte der Pole wichtig. »In Rußland – ooh! Was für Kälte, was für Kälte! Werde ick Ihnen eine Geschichte erzählen. Vorikes Jahr fahrt ein Pfarrer russischer in ein village Umgegend von Kiew. War serr kalt. Schnee so hoch und Wind eisiker. Und wie Abbend kommt, laufen, – wie sakt man: loup, des loups? –«
»Wölfe –«
»Richtik, kommen Wölfe, heulend und laufen hinter Troika herr. Wölfen werden immer gieriker und Pfarrer – was tun? Kann sich nicht helfen, was tut, wirft seine Kinder die Wölfe vor. Eins, zwei, drei Kinder, immer in große Wekstrecke, bis am Ziel war.« Der Pole sah sich herausfordernd um. »Das ist wahr, bei meine Seel,« beteuerte er, als ein Gelächter, das vom Doktor ausging und alle anderen ansteckte, ihn unterbrach. Nur Mely lachte nicht.
»Was will das heißen,« keuchte Dr. Brosam in verhaltenem Lachen. »Die Chinesen werfen ihre Kinder den Schweinen vor. Allerdings neugeboren, da sind sie zarter.«
»Nun, bei uns werden die Schweine den Kindern vorgeworfen,« meinte Helene trocken und freute sich, als das Gelächter von neuem begann.
»Da gibt es noch viel merkwürdigere Sachen,« hob der Doktor wieder an, und sein schönes, bleiches Gesicht wurde sehr ernst. »Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem normannischen Fischer kennen, dessen Großmutter ins Wasser gefallen war. Als er die Leiche auffand, sah er, daß sich Krebse daran festgesetzt hatten. Seitdem benutzt er seine tote Großmutter zum Krebsfang.«
»Entsetzlich – pfui! Wie können Sie so etwas erzählen!« stöhnte Fräulein von Erdmann.
Der Pole war wütend und empfahl sich bald. Mely entging es nicht, daß er einen glühenden, fragenden Blick auf sie gerichtet hatte und sie zog die Brauen zusammen. Schutzlos bin ich diesen Leuten preisgegeben, dachte sie.
»Was haben Sie denn,« wandte sich Frau Bender an sie. »Sie sind so beklommen heute, so ganz abwesend, so verstört –« Die kleine Dame hatte etwas Kindliches und Bestechendes in ihrem Wesen, das Jeden gefangen nahm.
Mely errötete tief. Sie wollte antworten, doch Dr. Brosam nahm für sie das Wort. »Ja, ich glaube, das gnädige Fräulein ist sehr launisch. Die meisten Damen sind so. Meine verstorbene Braut hatte nichts von dieser modernen Sucht, möglichst wetterwendisch zu scheinen.
Mely lachte so hart, daß sie selbst darüber erschrak. »Ihre verstorbene Braut war halt ein Tugendspiegel,« entgegnete sie achselzuckend.
»Ja, allerdings,« rief der Doktor heftig und mit flammenden Augen. Er richtete sich würdevoll auf und ließ seine kostbaren Brillanten in den Strahlen der Lampe spielen. Die Erdmann blickte entzückt an dem Hünen empor.
»Das ist ja schön,« spottete Mely. »Aber weshalb erzählen Sie das immer wieder? Das interessiert uns ja gar nicht. Wir fühlen uns ganz wohl, wenn wir auch nicht so tugendhaft sind.«
»Bitte sehr!« rief Fräulein von Erdmann entrüstet und warf giftig den Kopf zurück.
Mely verlor alle Zurückhaltung, alle Fassung. »War sie vielleicht auch eine Demokratin, diese verstorbene Braut? War sie auch für die Vermögensteilung?« Sie sprach rasch, voll Haß und Wildheit. Wie sehr mußte sie im Grund ihrer Seele verzweifelt sein, um so leidenschaftlich zu disputieren.
»Wie Sie sagen, genau wie ich!« antwortete der Doktor sanft. Er preßte seine Lippen zusammen, daß sie nur eine einzige gerade Linie bildeten.
Mely lachte wieder. »Dann trug sie vielleicht auch einen Brillantring für achtzehnhundert Mark? So viel kostet er doch, haben Sie gesagt. Und ging sie auch zu Schleich, um für sieben Mark zu frühstücken, wie Sie immer von sich erzählen –? Wie kann jemand, der so prahlt mit dem, was er hat, Demokrat sein wollen!«
Noch viel sanfter als vorhin erwiderte der Doktor: »Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, meine verstorbene Braut nicht mehr zu erwähnen. Ich will diesen trauten Namen von solchen Lippen nicht nennen hören. Sie mögen wohl vorhin recht gehabt haben mit der Tugend – ja! Man kann gesund sein ohne Tugend, jawohl! Aber gerade Sie wissen ja auch, wie die Welt dann urteilt!«
»Herr Doktor!« schrie Frau Bender empört und schlug mit der Faust auf den Tisch. Helene erhob sich und ging zum Fenster. Der Doktor saß leichenblaß da und strich sich unaufhörlich das reiche Künstlerhaar zurück.
Mely sah ihm entsetzt in die Augen, – so sehr fassungslos, daß Fräulein von Erdmann eine mitleidige Handbewegung machte. Dann stand sie auf und sagte mit erstickter Stimme: »Frau Bender –.« Es war ein Hilferuf. Aber ohne sich umzublicken, eilte sie aus dem Zimmer.
Im Korridor saß die Hauskatze auf einem Stuhl und putzte sich. Dann begegnete Mely Vidl Falk, der an seiner Tür stehen blieb, um sie vorbeizulassen. Er grüßte, doch sie beachtete ihn nicht, und er schaute ihr nach mit einem zweifelnden und verwunderten Blick.
In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blieb unbeweglich sitzen. Sie sah hinaus in die dunkle Novembernacht, auf die regenglänzende Straße und auf die sturmgepeitschten Bäume des Gartens. Sie schauerte zusammen und dachte: wenn ich doch meinen Shawl hätte. Dabei hätte sie nur aufstehen und zum Sofa gehen brauchen, wo er lag. Wie schön haben es andere Mädchen, sinnierte sie; sie verlieben sich und verheiraten sich. Dann sind sie glücklich. Aber sie sehnte sich durchaus nicht nach dem, was man Liebe nennt, – ganz im Gegenteil. Dies Gefühl hatte sie bisher in so abschreckender Gestalt auftreten sehen, daß sie nur Geringschätzung dafür hatte. Nur der Wunsch, beschützt zu werden, lebte in ihr, und dann zwei Empfindungen: die der Verlassenheit und eine nagende Reue.
Es klopfte und Frau Bender trat ein. »Warum machen Sie denn kein Licht, Fräulein Mirbeth?« rief sie erschrocken. Sie sah nur einen regungslosen Schatten am Fenster und ging darauf zu. Sie nahm Melys Hand und sagte herzlich: »Es tut mir so leid, Sie können mir’s gar nicht glauben. Nein, so gemein, so gemein! Regen Sie sich nur nicht auf. Ich habe ihm schon gekündigt, und morgen wird er ausziehen. Jetzt kommen Sie mit und trinken noch ein Glas Punsch mit mir und Helene.«
Mely schüttelte den Kopf. »Nein, ach nein, heute nicht.« Dann sagte sie leise und preßte die Hand der vor ihr Stehenden: »Frau Bender, es ist schrecklich, daß er das gesagt hat. O, ich schäme mich so sehr, ich schäme mich. Alle Leute glauben es, ich weiß. Aber es ist mir egal, alles ist mir jetzt gleich. Raten Sie mir, Frau Bender, was soll ich tun? Ich – –« Sie stockte, und trotz der Dunkelheit wandte sie sich ab.
Frau Bender tröstete in ihrer weichen, hinreißenden Art. Sie mußte nicht nach Worten suchen, sondern sie flossen natürlich und eindringlich von ihren Lippen. Doch Mely wurde dadurch nicht beruhigt. Je mehr die kleine Frau sprach, desto erregter wurde Mely. Die Leiden, die sie in sich verschlossen halten mußte, drückten ihr das Herz ab; denn sie hatte den Trieb, sich mitzuteilen. Frau Bender irrte auf ihr eigenes Leben ab, ja, sie verlor sich in Jugenderinnerungen. Sie vergaß, wo sie war, und berichtete mit feuriger Hingabe von ihrem Elternhaus, von ihrer Heirat und von der Flucht ihres Mannes nach Amerika. Schließlich erging sie sich in so heftigen Klagen, daß sich nun Mely genötigt sah, zu trösten und zu ermutigen. »Kommen Sie, Frau Bender, wir wollen vorgehen. Ich will noch bei Ihnen bleiben,« sagte sie, ihren Vorsatz vergessend.
»Ja, ja, trinken wir, ich werde einen famosen Punsch brauen,« entgegnete die kleine zapplige Dame, plötzlich heiter werdend.
Als sie im Korridor vor der Türe des Fräuleins von Erdmann vorbeigingen, hörten sie pathetische Worte: »Ja, lieber Doktor, das ist der blutige Hohn meines Lebens! Er schleicht hinter mir her und wird mich verschlingen. Bitte, – nein, bleiben Sie noch, Sie wissen ja, wie Sie mich beglücken, mit diesen Genieaugen, Sie Abscheulicher!«
Die Lauscherinnen verschlossen beide den Mund mit den Händen, um nicht herauszuplatzen. Dann flohen sie auf den Zehen.
Mely lachte viel und übermäßig in den zwei Stunden, die sie noch mit den Damen vom Haus verbrachte. Ja, sie trieb zum Schluß Narrenspossen, und sie schien alles vergessen zu haben, was über sie ergangen war. Sie war begeistert für diese gewinnende, gutherzige Frau Bender und diese zutrauliche, kluge Helene. Bessere Menschen gibt es gar nicht, dachte sie sich.
Inhaltsverzeichnis
Am andern Morgen, es war ein Samstag, erhielt Mely ein Billet vom Oberst. Mit zitternden Händen erbrach sie das Kuvert. »Liebe Melusine,« schrieb er. »Ich bitte Dich heute zum Abendessen, da ich mittags durch den Direktor Skolny verhindert bin. Ich erwarte von Dir, daß Du auch weiterhin ein gutes Kind sein wirst. Beifolgendes Efeublatt erhielt ich einst aus Gens. Erinnerst Du Dich? Herzlichen Gruß. Wolfgang.«
Der Regen fiel in Strömen, und in den Zimmern hatte man zum ersten Mal geheizt. Als um elf Uhr die kleine Dele, Frau Benders sechsjähriges Töchterchen, aus der Schule kam, hatte sie Wangen rot wie Kirschen.
»Na, du siehst schön zerzaust aus,« sagte Mely, nahm sie bei den Armen und küßte sie ab.
»Ja, die dummen Buben laufen uns immer nach und lassen uns net in Ruh’,« entgegnete das Kind und schob die Unterlippe noch weiter heraus, als sie von Natur schon vorhing. »Ich werd’s jetzt meiner Lehrerin sagen.«
»Recht so, Schatz,« pflichtete Mely bei, die mit dem Mädchen völlig zum Kind wurde. Dele sagte auch du zu ihr.
»Ich möchte nur wissen, was sie von uns wollen,« fuhr die Kleine fort. Sie runzelte klug die Stirn. »Du,« sprang sie plötzlich ab, »heut früh hat die Puzzi Junge bekommen, hast es gesehen?«
Mely verneinte. Dele zog einen Zettel aus der Tasche, der mit den steilen, zurückgebogenen Schriftzügen Helenes beschrieben war. Es stand darauf: Die Geburt von vier gesunden Jungen zeigen hocherfreut an: Frau Puzzi, Kater Jonas. Mely lachte.
»Wundernette Katzerln sind’s,« sagte Dele und setzte sich der großen Kameradin auf den Schoß. »Viere. Ich war dabei. Ich hab’s ganz genau gesehn.« Sie kicherte geheimnisvoll und fragte dann flüsternd: »Du (sie begann fast triumphierend jeden Satz mit diesem du), kommt zu den Katzen auch der Storch?«
»Natürlich,« gab Mely zur Antwort.
»Gell, zu denen kommt der Katzenstorch?«
Als Mely laut lachte, wußte das Kind nicht, was es vor Verlegenheit anfangen sollte, und feuerrot werdend, gab es dem durch diese Fragen verblüfften jungen Mädchen einen schallenden Kuß.
Gegen Mittag wurde vor der Korridortüre ein ungestümes Bellen laut. »Jetzt kommt Pitt!« rief Mely freudig und sprang hinaus, um dem Hund zu öffnen. Es war ein Foxterrier, der dem Oberst gehörte, aber fast nur Mely gehorchte. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Pitt wollte gar nicht aufhören, mit seinem Schwanzrestchen hin-und herzupendeln. –
Drei Tage vergingen. Mely hatte alles unterlassen, um ihre Lage irgendwie zu klären. Nicht einmal nachgedacht hatte sie darüber. »Nicht daran denken« war in solchen Fällen ihr ganzes Nachdenken, und immerfort war sie geschäftig, um sich zu betäuben. Unstät, beklommen und furchtsam verbrachte sie diese Tage.
Am Mittwoch schrieb der Oberst wieder, aber an Frau Bender. Er schrieb, daß sich Fräulein Mirbeth von ihm losgesagt habe, und daß er ihr dies mitteile, um spätere Gelddifferenzen zu vermeiden; für diesen Monat wolle er noch bezahlen, doch lehne er für die Zukunft jede Verbindlichkeit im Voraus ab.
Als Mely dies erfuhr, lächelte sie verächtlich, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich zum Tod elend. Nun steh’ ich da und habe niemand auf der Welt, dachte sie. Kein Mensch wird sich um mich kümmern, und ich werde zu Grund gehen. Diese Frau Bender macht schon ein recht langes Gesicht. Ja, so sind eben die Leute. Dies alles dachte sie in einem Augenblick, während Frau Bender mit dem Brief vor ihr stand und sie etwas dumm anlächelte. »Losgesagt – losgesagt,« murmelte sie finster. »Ich bin halt nimmer hinüber, das ist alles.« Eine dumpfe Wut wachte in ihr auf. »Sehn Sie, Frau Bender, so werd’ ich behandelt,« sagte sie weich, als ob sie Vertrauen und Glauben suche. Aber dabei überlegte sie im Innern: lauter Feinde sind das. Diese Frau, dann Helene ja sogar das Kind, – lauter Feinde. Einem Funken gleich fiel ein verzweifelter Entschluß in ihre Seele. Ich werde schon etwas tun, schloß sie ihre Betrachtungen. Heute nachmittag, – oder nein, morgen…
Dies »Morgen« tröstete sie. Welch eine Ewigkeit, bis morgen!
Aber der nächste Tag kam und verging, auch der zweite Tag und die ganze Woche verging mit dem Trost für morgen. Sie wußte selbst nicht, wie die Stunden verflogen, so langweilig einzeln und so flüchtig im ganzen. Spät stand sie vormittags auf; dann tändelte sie mit dem Kind. Zum Lesen hatte sie keine Lust, und so nähte sie an ihren Kleidern in den langen Nachmittagsstunden. Die halben Nächte verwachte sie und träumte mit offenen Augen. Sie komponierte ganze Romane, wie sie, reich geworden, in Ansehen und Luxus lebte, eine Sklavenschar um sich. Aber für diese glücklichen Phantasien rächte sich der Schlaf durch böse Träume, die wie ein Alp auf ihr lagen, – tagelang. Es waren immer Träume, in denen sie bedroht war, in denen sie sich allein sah auf einem weiten Plan, in einem Wald, in Schluchten. Und da wurde sie verfolgt, bis sie zu müde war, um weiterfliehen zu können. –
»Nun, was wollen Sie denn jetzt beginnen, Fräulein Mirbeth?« fragte einmal Frau Bender mit demselben dummverlegenen Lächeln, mit dem sie stets von dieser Angelegenheit sprach.
»Ja was denn, was denn!« flüsterte Mely bestürzt wie ein Schuldner, der sich gemahnt und bedrängt sieht. Heute, – gewiß heute tu’ ich’s, dachte sie im Stillen. »Ach Helene,« fügte sie verzweifelt hinzu, und lehnte sich in den Fauteuil zurück, den Kopf in die gefalteten Hände legend.
Helene sah verständnislos über Melys Schulter hinweg und lächelte ebenso einfältig, wie ihre Mutter. Sie wissen alle beide, daß ich nichts habe, dachte Mely. Wo ist jetzt diese ganze Liebenswürdigkeit und Freundschaft? Sie redete sich in einen bitteren Menschenhaß hinein. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Bender,« sagte sie kühl. »Sie werden durch mich um nichts kommen.«
»Fassen Sie das nicht so auf, Fräulein, »entgegnete Frau Bender mit großer Herzlichkeit. »Ich bin nur besorgt um Sie, Wie schlecht sehen Sie aus, ganz mager sind Sie im Gesicht geworden. Sie müssen doch etwas tun, irgend etwas!«
Mely antwortete nichts. Sie nagte an ihrer Unterlippe, daß die Haut riß. Mit weitgeöffneten Augen saß sie da und blickte nach oben, ein Bild der Hilflosigkeit.
Kurze Zeit darauf kleidete sie sich an und ging fort. Bald überfiel sie die Müdigkeit, und ihr Gesicht hatte einen klagenden und bekümmerten Ausdruck. Das leuchtende Blaß ihrer Haut unter dem schwarzen Schleier hatte etwas Krankhaftes, und auch ihr lässiger Gang hatte gleichsam dies Klagende, Zielunbewußte. Sie fühlte Hunger und suchte ein vornehmes Restaurant im Innern der Stadt auf. Aber als das Essen vor ihr stand, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte, denn sie brachte keinen Bissen hinunter. Sie bemerkte mit Schrecken, daß sie fieberte; es fror sie. Rasch zahlte sie und ging, von zahlreichen, bewundernden Männerblicken verfolgt.
Sie betrat ein Waffengeschäft und kaufte einen sechsläufigen Revolver für fünfzehn Mark. Sie ließ sich den Mechanismus erläutern und dann bestieg sie eine Droschke. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen war mit Schneeflocken vermischt. Sie hatte Kopfschmerz und ihre Zähne klapperten. »Ich habe nichts mehr zu leben,« sagte sie sich, während sie wie erstarrt im Wagen lehnte und die Beine ausstreckte. »Was soll ich noch leben, das hat ja gar keinen Wert.«
Sie stand in ihrem Zimmer, ohne daß sie wußte, wie sie heraufgekommen war. Sie erinnerte sich nicht, den Kutscher bezahlt zu haben. Lange Zeit hindurch – länger als eine Viertelstunde blickte sie in den Spiegel. Da lächelte sie bisweilen hochmütig, aber sie erschien sich fremd. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr das denken, was sie denken wollte. Sie dachte nicht an den Tod, den sie doch suchte, und den sie doch mehr als jeder andere Mensch fürchtete, sondern sie dachte: das Roastbeef, das ich mir da im Restaurant geben ließ, sah sehr schön aus. Schade, daß ich es nicht gegessen habe. Oder: mein Schleier hat ein großes Loch; man kann nicht mehr damit ausgehen. Oder sie hatte den Wunsch, ein Erdbeben möchte eintreten und das Haus, die Stadt möchten zerstört werden, nur damit dies langsam Erdrückende ihrer Lage ein Ende habe.
Es war dunkel geworden. Sie zündete die Kerze an. Der Regen klatschte an die Scheiben. Im Korridor machte Dele mit einer Spielgenossin großen Lärm. Die Hausfrau hantierte in der Küche. Alles war verstimmend, freudlos, hoffnungslos für die Sinne Melys. Sie glaubte jetzt ganz ruhig zu sein, und sie sagte sich das auch. Ja, sie sagte es leise vor sich hin und verwunderte sich noch im Stillen darüber. Bald aber schlug ihr das Herz wie ein Hammer so kräftig, es schlug zum Zerspringen. Sie wollte die Tür verriegeln, doch fand sie, daß sie es schon vorhin getan hatte. Sie lachte einmal laut auf, ohne zu wissen weshalb. So eine Dunkelheit herrschte in ihren Gedanken.
Plötzlich nahm sie die Schußwaffe in die Hand und sagte dabei laut: »Es ist ja ein Unsinn, aber ich tu’s doch.« Ihr Arm zitterte heftig; eigentlich war es kein Zittern, sondern ein Auf-und Niederfahren, genau im Takt der Herzschläge. Sie war wie besinnungslos. »Das Licht sollte ich auslöschen,« flüsterte sie. »Aber nein, nein, nein,« entschied sie dann trotzig, »es mag brennen bleiben.« Und sie nickte der Flamme flüchtig zu.
Sie spannte den Hahn und drückte. Es knackte wohl, aber der Schuß ging nicht los. Sie wartete einige Sekunden. Sie war verstört, einer Ohnmacht nahe. Sie probierte am Schloß der Waffe, aber ihre Bemühungen waren erfolglos.
Sie setzte sich aufs Sofa. Die Füße waren bleischwer. Die alte Unruhe und die alte Angst kamen wieder. »Nun, ich werde morgen zu dem Verkäufer gehen und den Revolver untersuchen lassen,« beschloß sie achselzuckend. Sie wußte genau, daß sie diesen Vorsatz nicht ausführen würde.
Man klopfte an die Tür. Die Magd bat zum Abendessen. Mely, froh, daß ihr Alleinsein ein Ende habe, kleidete sich rasch um, verlöschte die Kerze und ging hinaus.
Als sie das Eßzimmer betrat, sah sie einen jungen Mann am Tisch sitzen. Frau Bender stellte vor: »Herr Falk – Fräulein Mirbeth.«
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Herr Falk hat sich entschlossen, bei uns zu essen,« erklärte Frau Bender. »Er will seine Einsamkeit endlich ein bißchen verlassen.«
Mely antwortete mit einer höflichen Grimasse. Sie betrachtete ihren grauen Schlafrock und ärgerte sich, daß sie nicht eleganter erschienen war. »Wo ist denn Fräulein von Erdmann heute?« fragte sie.
»Herr Doktor Brosam besucht mit ihr das Theater,« erwiderte Frau Bender lachend. »So zum Abschied, wissen Sie. Ach, sie liebt ihn doch so,« flötete sie mit komischer Innigkeit.
»Ja, denken Sie, und nicht einmal ein Liebesdrama wird aufgeführt,« sagte die boshafte Helene.
»Wir bekommen jetzt eine noch ältere Dame, ein Fräulein von Mahnke,« erzählte die Hausfrau. »Auch eine Gelehrte oder so was Ähnliches.«
»Hoffentlich nur was Ähnliches, denn etwas Schlimmeres gibt es nicht,« bemerkte Falk. Er hatte bis jetzt seine junge Nachbarin noch nicht betrachtet. Nun sah er sie an, wandte aber sofort den Blick wieder ab.
»Wie werden Sie da erst über mich urteilen!« sagte Mely.
»Warum?«
»Fräulein Mirbeth malt,« erläuterte Helene, das letzte Wort ironisch betonend.
»Ach, eigentlich nur ein wenig. Ich lerne ja noch,« setzte Mely hinzu. »Ich habe nicht viel Talent und nicht viel Lust. Aber ich muß,« fügte sie rasch bei, als sie den erstaunten Blick des jungen Mannes bemerkte. »Ich muß,« wiederholte sie schüchtern. »Man muß doch etwas sein.«
»So–o! – Was malen Sie? Porträt?«
»Landschaft – nur Landschaft,« sagte sie mit blitzenden Augen, denn der geringschätzige Ton seiner Stimme reizte sie. »Sie wollen wohl auch, daß die Frauen stumpfsinnig bei der Kocherei und bei der Näherei bleiben?« fragte sie, schon erschreckend über ihre Kühnheit.
»Nein, nein,« entgegnete Falk stirnrunzelnd. »Sie müssen schon verzeihen« – er errötete und machte eine linkische Geste – »aber ich meine, wen es dazu treibt, der soll’s treiben. Das ist ja selbstverständlich. Ich spreche ungern darüber, weil man immer dieselben Dinge sagen muß. Gewiß, die Frau soll nicht beschränkt sein in dem, was sie tut, aber auf zehn talentvolle Männer wird doch höchstens eine talentvolle Frau kommen, die es auch um der Sache willen tut. Bei den meisten Frauen ist die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst nichts als eine verfehlte Heirat. Aber das ist ja alles so oft gesagt worden und so selbstverständlich.«
»Ja, Sie haben recht,« pflichtete Mely bei. Sie sah Vidl Falk ein wenig träumerisch an, ohne sich dessen bewußt zu werden. Durch ein verstecktes Lächeln, das um seine Lippen spielte, erwachte sie gleichsam, und errötend pickte sie mit den Fingern die Brotkrumen vom Tischtuch.
Das Mahl ging unter gleichgültigen Gesprächen zu Ende.
»Sie sehen sehr abgespannt aus, Fräulein,« sagte Falk beim Tee zu Mely. »Als ob Sie eine große Fußreise gemacht hätten.«
»Ja, ich habe Kopfweh,« entgegnete sie rasch mit gesenkten Lidern. Seltsam, aufs neue, aufs quälendste erwachte gerade in diesem Augenblick die Reue in ihr. Die Worte Falks erwärmten sie. So vergessen von aller Welt erschien sie sich, daß diese in fast besorgtem Ton gemachte Bemerkung, die doch möglicherweise eine bloße Redensart sein konnte, ihr wie eine Liebkosung erschien. Sie preßte die Hand an die Stirn, wie um zu beweisen, daß sie große Schmerzen habe.
Frau Bender hatte um Entschuldigung gebeten. Sie lag auf dem Diwan und war dort eingeschlafen. Helene, in der altjüngferlichen Haltung, die ihr oft eigen war, saß im Stuhl zurückgelehnt und hörte zu, bald Beifall lächelnd, bald grundlos errötend. Eine Riesenrose aus Kreppstoff hing über dem Milchglassturz der Hängelampe und hüllte die eine Hälfte des Raumes in Dunkelheit. Der Diwan mit der schlafenden Frau Bender, das Pianino, die Türe nach dem Schlafzimmer der Familie und ihre braune Portieren, ein Stahlstich nach einem Hobbema und ein Genrebildchen von Horstik, – das alles lag in Dämmerung. Falk rauchte, und der blaue Dunst schwebte in Schlangenlinien, in feinen Schleiern, in verschnörkelten Figuren, gegen das Licht, über welchem er, von dem heißen Luftstrom erfaßt, blitzschnell nach der Decke emporwirbelte.
»Haben Sie sehr große Schmerzen?« fragte Falk. »Ich kann sie lindern. Oft schon hab’ ich das getan. Ich brauche nur die Hand auf Ihre Stirn zu legen.«
»Nein –?«
»Gewiß, – gewiß,« beteuerte er und seine Augen funkelten. Er stand auf und stellte sich vor Mely hin. Dann nahm er ihre beiden Hände in seine beiden und forderte sie auf, ihn unverwandt anzublicken. Sie zögerte lange, mit scheuem Lächeln streifte sie die überlegen dreinschauende Helene, und endlich wagte sie es, den jungen Mann anzusehen. Aber sie ertrug es nicht, sie mußte den Blick zu Boden senken. Auch schämte sie sich, daß sie gelogen hatte, denn in Wahrheit hatte sie gar keine Schmerzen. Doch es war, als ob sein Blick sie zwänge die Augen aufzuschlagen, und sie gehorchte. Sie begegnete seinem Blick und ein paar Sekunden lang sah sie ihn ganz starr an. Dabei lag etwas Staunendes in ihren Augen und zugleich etwas Flehendes.
Er nahm nun ihre zwei Hände in seine Rechte. Ihre Hände waren kalt wie Stein und glatt und trocken. Mit seiner Linken bedeckte er ihre Stirn. Da schüttelte sie energisch den Kopf, und unwillig stand sie auf. Falk war bestürzt, aber nur deshalb, weil er nicht länger in diese glänzenden Augen sehen konnte, in denen sich der Augapfel so überaus rein von dem milchigen Weiß des übrigen Auges abhob.
