Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen - Patricia Highsmith - E-Book
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Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Groteske Geschwüre, die auf einem Friedhof in Österreich ins Unermessliche wachsen; riesige Kakerlaken, gegen alle Insektenmittel resistent, die in einem New Yorker Apartment-Haus das Kommando übernehmen; eine UNO-Mission, die in Afrika grausam endet; Wale, der Papst, ein waffenverliebter US-Präsident sie alle bilden den Stoff, aus dem moderne (natürliche oder unnatürliche) Katastrophen sind. Bei Patricia Highsmith entsteht das Grauen dadurch, dass die Menschen sich so verhalten, wie sie sich eben verhalten, ohne dass übersinnliche böse Mächte ins Spiel kommen.

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Patricia Highsmith

Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen

Stories

Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Alle handelnden Personen sind frei erfunden

Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen

Dieses Buch ist, und zwar weder ehrerbietig noch untertänigst, einer bohrenden Frage gewidmet: Wer hat am 11. Oktober 1985 in Santa Ana, Kalifornien, Alex Odeh vom Leben zum Tode befördert?

Der geheimnisvolle Friedhof

Am Rande der Kleinstadt G. im Osten von Österreich liegt ein geheimnisvoller Friedhof, kaum einen Hektar groß. Hier ruhen vor allem die sterblichen Überreste der Armen, in Gräbern ohne Grabsteine – oder bestenfalls mit Bruchstücken solcher Steine versehen, von denen sich inzwischen keines mehr an der richtigen Stelle befindet. Und doch ist der Friedhof für seine seltsamen Gewächse oder Wucherungen berühmt geworden: Knollige kleine Figuren, blaugrün oder cremeweiß, ragen auf unheimliche Weise aus dem Boden. Manche erreichen eine Höhe von gut zwei Metern, andere dieser pilzartigen Wucherungen sind nur fünfzig Zentimeter groß, ein paar sogar kleiner. Alle aber wirken sie grotesk, nichts anderem in der Natur vergleichbar, nicht einmal Korallenformationen. Als sich einige dieser kleinen Wucherungen über dem matschigen, grasbewachsenen Boden zeigten, machte der Friedhofswärter eine Schwester aus dem gleich gegenüberliegenden Allgemeinen Krankenhaus darauf aufmerksam. Der Friedhof lag hinter dem roten Backsteingebäude des Hospitals, deshalb war er leicht zu übersehen, wenn man sich ihm auf der einzigen Straße näherte, die daran vorbeiführte. Eine Abzweigung verband sie mit dem Krankenhauseingang.

Der Friedhofswart, Andreas Silzer, berichtete, er habe ein paar dieser Wucherungen mit der Hacke abgeschlagen und sie auf den Komposthaufen geworfen, wo sie verrotten sollten. Aber sie waren nicht verrottet.

»Das ist nur ein Pilz, doch da kommt noch mehr von dem Zeug«, sagte er. »Ich habe Unkrautvernichter versprüht – was Stärkeres will ich nicht nehmen, damit die Blumen nicht eingehen.« Andreas kümmerte sich treusorgend um die Stiefmütterchen, Buschrosen und anderen Blumen, die ein paar Verwandte von Verstorbenen gepflanzt hatten. Ab und zu bekam er ein Trinkgeld für seine Mühen.

Die Krankenschwester antwortete nicht gleich. Dann sagte sie: »Ich spreche mit Dr. Müller. Danke, Andreas.«

Die Schwester, Susanne Richter, gab jedoch nicht weiter, was Andreas ihr berichtet hatte. Sie hatte ihre Gründe (oder besser, Ausreden) dafür: Zum einen übertrieb Andreas wahrscheinlich – er dürfte ein paar große Schwämme auf den Grabsteinen gesehen haben, wegen des vielen Regens der letzten Wochen; zum anderen wußte sie, wo ihr Platz war (schlecht war er nicht), und wollte ihre Arbeit behalten und nicht in den Ruf geraten, eine Wichtigtuerin zu sein, die dort herumschnüffelte, wo sie nichts zu suchen hatte, auf dem Friedhof nämlich.

Praktisch betrat nämlich niemand das dunkle Feld hinter dem Allgemeinen Krankenhaus, außer eben Andreas. Er war etwa fünfundsechzig und wohnte mit seiner Frau in der Stadt. An drei Tagen in der Woche radelte er zum Friedhof hinaus. Andreas arbeitete auf Altersteilzeit (er war schon halb im Ruhestand) und erhielt zusätzlich zu seiner Rente monatlich ein kleines Gehalt für die Pflege der Grünanlagen des Krankenhauses und des Friedhofs. Die Begräbnisse dort, durchschnittlich drei pro Monat, wurden gewöhnlich von dem örtlichen Pfarrer erledigt, der ein paar Worte sagte, und von den Totengräbern begleitet, die neben dem Grab standen, um es später aufzufüllen. Nur in etwa der Hälfte der Fälle waren auch Verwandte der Verstorbenen anwesend. Manche der alten Männer und Frauen, die im Spital starben, waren ganz allein auf der Welt – oder ihre Kinder lebten weit weg. Ein trauriger Ort, das Allgemeine Krankenhaus von G.

Allerdings nicht für einen jungen Medizinstudenten der Universität G. namens Oktavian Ziegler. Zweiundzwanzig war er, groß und schlank, und steckte voll Energie und Humor, was ihn bei den Mädchen beliebt machte. Außerdem war er als Student geradezu brillant und stand bei seinen Professoren hoch im Kurs. Oktavian – der Name kam daher, daß sein Vater, ein Oboist, den Komponisten Richard Strauss regelrecht anbetete und gehofft hatte, sein Sohn werde ebenfalls Komponist werden – Oktavian also war sogar eingeladen worden, an einigen Experimenten mitzuwirken, die Ärzte des Spitals zusammen mit ein paar Medizinprofessoren an Patienten mit Krebs im Endstadium durchführten. Diese Versuche fanden in einem großen Raum im obersten Stockwerk des Spitals statt; dort gab es lange Operationstische, mehrere Spülbecken und gutes Licht. Die sanitären Bedingungen waren nicht weiter wichtig, weil die Versuche in diesem Geschoß an Leichen stattfanden. Oder aber an Krebsgewebe, das noch lebenden Patienten entnommen worden war. Oder an einer Leiche vor deren Überführung auf den Friedhof. Die Ärzte wollten mehr über die Ursachen und mögliche Heilung von Krebs erfahren, auch über die Gründe für das Wachstum der Tumore, sobald sich der Krebs eingenistet hatte. In diesem Jahr hatten amerikanische Forscher entdeckt, daß ein bestimmter genetischer Defekt einer jener Faktoren war, die zu Krebs führten, doch die gefürchtete Krankheit benötigte noch einen zweiten Faktor, damit sich bösartige Tochterzellen bilden und metastasieren konnten: Karzinogene, so hieß der Sammelbegriff für alle Substanzen, die bei Meerschweinchen oder bei jedem anderen Lebewesen Krebs auslösen konnten, sofern der Wirtsorganismus von Natur aus den ersten Faktor, den Gendefekt, mitbrachte. Soweit war alles bekannt. Die Ärzte und Forscher am Allgemeinen Krankenhaus in G. wollten nun mehr herausfinden, mehr über die Gründe für das Wachstum der Tochterzellen und deren Vermehrungsrate, mehr über die Reaktion des bösartigen Tumors, wenn massive Dosen karzinogener Stoffe in bereits vom Krebs befallenes Gewebe injiziert wurden. Solche Experimente ließen sich an lebenden Menschen nur schwer durchführen, aber mühelos an einem Organ oder einem Stück menschlichen Gewebes, das unabhängig vom Körper etwa an einer kleinen Pumpe hing, die für die Blutzirkulation sorgte. Reinigen ließ sich das Blut, ganz gleich, wie wenig es war, nur durch ein Filtersystem (oder indem man ständig frisches Blut nachpumpte), doch keiner der Ärzte wollte ein einzelnes Experiment über Wochen fortführen.

Allerdings beobachteten die Ärzte und Oktavian bei einer krebsbefallenen Lebergewebeprobe eines verstorbenen Patienten, daß das kranke Gewebe nach Zugabe karzinogener Substanzen noch weiter wuchs, selbst als die Blutzufuhr unterbrochen und alles Blut abgesaugt worden war. Die Ärzte sahen keinen Sinn darin, herauszufinden, wie groß der Tumor werden würde; jedoch bewahrten sie Gewebeproben auf, um sie unter dem Mikroskop zu betrachten – nur für den Fall, daß sich daraus neue Erkenntnisse gewinnen lassen sollten. Die letztlich nicht mehr benötigten Überreste dieser Gewebeproben wurden im Keller des Krankenhauses entsorgt, wo sich ein ausreichend großer Brennofen befand, der vom normalen Heizungskreislauf abgekoppelt war und ausschließlich für die Verbrennung von Verbänden und anderem verschmutzen Material aller Art verwandt wurde.

Anders war das bei den durchschnittlich anfallenden drei Leichen pro Monat; sie wurden auf dem Friedhof begraben, ohne einbalsamiert worden zu sein, manchmal nur in einem Leichentuch statt in einem Holzsarg. Bei ein paar Krebspatienten injizierten die Ärzte in den letzten Lebenstagen, wenn das Morphium die Sinne der Sterbenden betäubt und die Lokalanästhesie den Rest erledigt hatte, karzinogene Substanzen in der Hoffnung auf das, was Journalisten einen »sensationellen Durchbruch« nennen würden – die Ärzte dagegen hätten solche Worte nie in den Mund genommen. Die Krebsgeschwülste wuchsen, die sowieso todgeweihten Patienten starben, und wegen der Versuche sogar nicht in jedem Fall schneller. Manchmal wurden die gewachsenen Tumore herausgeschnitten, manchmal aber auch nicht.

Oktavian wurde die Aufgabe übertragen (passend für einen Studenten, denn sie galt als niedere Arbeit), dafür zu sorgen, daß die »Testleichen« über den großen alten Lift hinten vom obersten Stockwerk zum Friedhof hinuntergeschafft wurden – nach einem kurzen Zwischenstopp im Keller (wegen des Sarges oder des Leichentuchs). Die Totengräber erledigten nebenbei auch andere Arbeiten; Oktavian mußte ein paar von ihnen anrufen, nicht selten kurzfristig, und sie taten, was sie konnten. Einer der Männer war gewöhnlich angetrunken, doch das nahm Oktavian hin, er scherzte mit den Männern und sorgte dafür, daß sie das Grab tief genug aushoben. Manchmal mußten sie eine Leiche auf oder neben eine andere legen; manchmal mußten sie ungelöschten Kalk streuen. All das war natürlich nur für die ärmeren Toten vorgesehen, die keine Verwandten hatten, die zur Beisetzung kommen konnten. Es war bei einer dieser Beerdigungen, im Herbst, als Oktavian die knubbeligen Wucherungen bemerkte, die Andreas nur wenige Tage zuvor der Krankenschwester gemeldet hatte. Oktavian entdeckte sie, als er, wegen der Kälte mit den Füßen aufstampfend, eine seiner seltenen Zigaretten rauchte. Er wußte sofort, was diese Dinger waren und woher sie kamen. Aber er sagte kein Wort zu den neben ihm grabenden Arbeitern. Einmal allerdings wollte er der Sache bei einer Wucherung nahebei auf den Grund gehen (mindestens zehn konnte er sehen) – er ging hin und stolperte unterwegs über einen umgestürzten Grabstein – die Nacht war ziemlich finster. Das eine Gebilde war bläulichweiß, rund fünfzehn Zentimeter hoch und oben halbkugelförmig abgerundet. Bis etwa zur Mitte ragte eine Kerbe oder Falte am Stamm empor, die in der Erde verschwand. Oktavian war zugleich verblüfft, amüsiert und besorgt: Im Vergleich zu dem, was seine Vorgesetzten und er im Labor zustande gebracht hatten, waren diese Wucherungen riesig. Und wie groß mußten sie erst unter der Erde sein, wenn sie fast zwei Meter nach oben bis ans Licht durchgestoßen waren?

Oktavian kehrte zu den Totengräbern zurück; er merkte, daß er den Atem angehalten hatte. Er vermutete, nein, er war sich fast sicher, daß die Wucherungen dort draußen in der Dunkelheit stark verseucht waren: In ihnen dürften sich die von den Ärzten gespritzten Krebserreger mit den ursprünglich wild mutierten Zellen, die den malignen Tumor ausgelöst hatten, verbunden haben. Wie groß würden sie werden? Und wovon ernährten sie sich? Erschreckende Fragen. Wie die meisten Medizinstudenten schickte auch Oktavian gelegentlich ein seltsames Stück der menschlichen Anatomie an seine Kommilitonen – es war fast ein Freundschaftsbeweis, wenn jemand solch ein Geschenk von einer Studentin in einem Päckchen zugesandt bekam. Aber so etwas? Nie und nimmer.

»Treten wir sie fest!« sagte Oktavian zu den Arbeitern und ging mit gutem Beispiel voran, indem er die frisch aufgeworfene Erde niederstampfte, die das neue Grab markierte. Alle vier trampelten sie gemeinsam und traten die Erde fest. Doch Oktavian fragte sich: Wie lange noch, bis eine neue totenbleiche Wucherung durch die Erde ans Licht drängte?

Der junge Student behielt sein Geheimnis bis zum folgenden Samstagabend für sich, bis zum Rendezvous mit Marianne, dem Mädchen, das ihn seit rund einem Monat mehr als alle anderen interessierte.

Sehr hübsch war sie nicht; sie studierte wie besessen, nahm sich kaum die Zeit, auch nur Lippenstift aufzulegen, ja, sie kämmte nur selten ihr hellbraunes Haar, bevor sie mit ihm ausging, aber Oktavian war ganz vernarrt in ihr Lachen und ihre Lebensfreude. Nach Stunden und Stunden über den Büchern konnte sie explodieren vor Lebenslust und Freiheitsdrang, sobald sie die Bücher zugeklappt hatte, und Oktavian wollte gerne glauben (auch wenn er eigentlich zu realistisch dazu war), daß er der einzige sei, der diese Verwandlung in ihr auslösen konnte.

»Heute abend machen wir etwas ganz Besonderes«, sagte er, als er sie unten in der Eingangshalle des Studentenwohnheims abholte. Sie solle Gummistiefel anziehen, hatte er vorher gesagt, und die trug sie nun auch. Oktavian besaß ein Motorrad mit Rücksitz.

»Doch nicht etwa eine Wanderung im Dunkeln?«

»Wart’s ab.«

Es nieselte, ein kalter Wind wehte. Eine scheußliche Nacht, aber es war Samstagabend … Marianne schlang die Arme um Oktavian, zog den Kopf unter dem Helm ein und duckte sich an ihren Freund, der durch das offene Land dahinraste.

»Hier ist es!« sagte er schließlich und hielt an.

»Das Krankenhaus?«

»Nein. Der Friedhof«, flüsterte er und nahm sie bei der Hand. »Komm mit.«

Den ganzen Weg über ließ er ihre Hand nicht los. Die gespenstischen, bleichen Gewächse schienen noch größer geworden zu sein, dachte er – oder bildete er sich das nur ein? Marianne hatte es die Sprache verschlagen, so schockiert war sie. Das Lachen blieb ihr im Halse stecken, sie keuchte und stöhnte vor Verblüffung laut auf. Oktavian erklärte ihr, worum es sich handelte; er hatte eine Taschenlampe dabei: Eine der knolligen Wucherungen war fast einen Meter hoch! Marianne sagte, das Ding sehe einem Fötus ähnlich, in jenem Entwicklungsstadium, wenn Fische und Säugetiere unter dem späteren Kopf Ansätze von Kiemen oder Lungen zeigten. Marianne hatte eine künstlerische Ader – Oktavian wäre so etwas wohl niemals aufgefallen.

»Was geschieht denn jetzt mit denen?« flüsterte sie. »Wissen die Ärzte denn nichts davon?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Oktavian. »Irgendwer wird die Sache schon melden.«

Er hatte sie zur Mitte des dunklen Feldes ziehen wollen. Dahinter und zu ihrer Linken ragte das fünfstöckige Krankenhausgebäude auf; die Hälfte seiner Fenster war erleuchtet. Im ganzen obersten Stockwerk brannte Licht. »Sieh dir das mal an!« rief Oktavian. Der umherwandernde Lichtstrahl seiner Taschenlampe hatte etwas erfaßt: eine Doppelwucherung, nicht viel anders als ein Paar Siamesischer Zwillinge, an den Hüften zusammengewachsen, mit zwei Armen. Am Ende der Arme Hände, nicht mit fünf Fingern, aber mit zwei oder drei. Sicher reiner Zufall, jedoch seltsam und unheimlich. Oktavian grinste gezwungen, lachen konnte er darüber nicht. Marianne zog ihn am Arm. – »In Ordnung, wir gehen«, sagte er. »Aber ich könnte schwören … Ich glaube, ich hab einen gerade wachsen sehen!«

Das Mädchen ging voran, zurück zum Motorrad. Oktavian fand es erstaunlich, daß kein Arzt, keine Schwester nach draußen geschaut und entdeckt hatte, was auf dem Gräberfeld vor sich ging. Eine merkwürdige Vorstellung: Nicht nur alle Mediziner, ob Ober- oder Assistenzärzte, sondern auch sämtliche Schwestern und Pfleger waren wohl so mit ihrer Arbeit beschäftigt, daß sie nicht einmal die paar Sekunden für einen Blick aus dem Fenster übrig hatten. Geschweige denn die Zeit für einen kurzen Spaziergang.

Eine halbe Stunde später saßen Marianne und Oktavian in einem kleinen Gasthaus, aßen dampfend heißes, scharf gewürztes Gulasch, und im nahen Kamin prasselte gemütlich ein Feuer. Nun lachten sie schließlich doch noch über die ganze Sache, allerdings ein bißchen nervös und verkrampft.

»Ich muß es unbedingt Hans erzählen!« sagte Oktavian. »Der flippt glatt aus!«

»Und Marie-Luise. Vor allem auch Jakob!« Marianne zeigte ihr typisches Grinsen.

»Machen wir lieber eine Party. Und zwar bald. Denn die Zeit wird knapp.« Oktavian, über den Tisch gelehnt, sprach ernst und eindringlich.

Marianne wußte, was er meinte. Sie schmiedeten Pläne, schrieben eine Liste mit einem Dutzend Gästen auf. Nächsten Dienstagabend sollte die Fete steigen, beschlossen die beiden. Am kommenden Samstagabend könnte es schon zu spät sein; im Krankenhaus würde man vielleicht bis dahin die Vorgänge auf dem Friedhof entdeckt und etwas unternommen haben.

»Eine Gespensterparty«, sagte Marianne. »Wir verkleiden uns, mit Bettüchern. Auch wenn es regnet.«

Oktavian sagte nichts, aber Marianne kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er nicht abgeneigt war. Er überlegte gerade, ob Regenwasser das Wachstum dieser aberwitzigen Tumore gefördert haben könnte. Oder der Humus. Könnten die gierigen Versorgungsadern der Tumore, nachdem der Blutkreislauf in den Leichen versiegt war, dazu übergegangen sein, Würmer und Maden anzuzapfen, um an deren (magere) Nährstoffe zu gelangen? Oder waren jene Adern gar in der Lage, bis zur nächsten Leiche vorzudringen? Wie immer die Antworten auf diese Fragen auch ausfallen mochten, eines war sicher: Das Absterben des Wirtskörpers bedeutete nicht zugleich auch den Tod des Tumors.

Als Oktavian und Marianne diskret zu einer »Echten Gespensterparty« einluden, am Dienstag abend auf dem Friedhof des Allgemeinen Krankenhauses von G., grinsten einige verächtlich, andere zynisch und ungläubig. »Bring ein Bettlaken mit, und komm um Viertel vor zwölf«, so lautete die Anweisung.

Am Dienstag abend nieselte es wieder, nach ein paar trockenen Tagen. Oktavian hatte gehofft, das gute Wetter würde anhalten. Nun dämpfte der leichte Regen die Stimmung der gut ein Dutzend angehenden Mediziner nicht, die mehr oder weniger pünktlich am Friedhof eintrafen. Einige waren mit dem Rad gekommen, denn sie waren gewarnt worden, keinen Lärm zu machen, weil niemand wollte, daß das Krankenhauspersonal sie zur Rede stellte.

Gedämpfte »Oohs!« und »Aahs!«, als die verhüllten Studenten und Studentinnen den Friedhof erforschten. Oktavian hatte alle ermahnt, leise zu sein. »Das sind doch Fälschungen! Plastikbälle! Du alter Schlawiner!« flüsterte ein Mädchen nicht gerade leise Oktavian zu.

»Nein, nein!« zischte er zurück.

»Igittigitt! Mein Gott, schaut euch das an!« Der junge Mann dämpfte seine Stimme.

»Krebspatienten? Zum Teufel, Tavi, was geht denn hier vor? Was sind das für Versuche?« fragte ein junger Mann neben Oktavian betroffen.

In Laken gehüllte Gestalten umkreisten den Friedhof, wanderten in der mondlosen Nacht zwischen den Grabsteinen umher, leuchteten mit ihren Taschenlampen umsichtig vor sich, um nicht zu stolpern und Aufmerksamkeit zu erregen oder gar entdeckt zu werden. Oktavian hatte sich vorgestellt, ein Geisterballett rings um den Friedhof tanzen zu lassen, doch fürchtete er, seine Stimme zu erheben – und Anweisungen waren auch gar nicht nötig: Aus ihrer nervösen Erregung heraus, aus Angst oder allgemeiner Verwirrung begannen seine Kommilitonen zu tanzen, zuerst ungeordnet, doch bald schon in einer Richtung, formiert zu einem Kreis, der sich gegen den Uhrzeigersinn drehte. Die Tänzer strauchelten, richteten sich wieder auf, hielten sich an den Händen, summten und kicherten leise, und ihre fahlen, nassen Laken wogten und wallten im Wind.

Die Lichter des Krankenhauses brannten wie immer; fast die Hälfte der Fenster war hell erleuchtet. Oktavian hielt Marianne an der einen und einen jungen Burschen an der anderen Hand.

»He, seht euch das mal an. Seht doch nur!« Die Stimme eines Jungen. Er leuchtete mit seiner Lampe auf etwas, was hüfthoch neben ihm aufragte. »Das Ding ist unten rosarot. Pink! Ich schwör’s!«

»Halt die Klappe, um Himmels willen!« zischte Oktavian ihn an.

In diesem Moment sah er einen jungen Mann auf der anderen Seite des Kreises gegen einen bleichen Klumpen treten – und hörte ihn laut lachen: »Die stecken fest in der Erde! Sind aus Gummi, die Dinger!«

Oktavian hätte ihn umbringen können. Der Kerl hatte seine Zulassung als Arzt nicht verdient! »Die sind echt, du Idiot!« sagte er. »Und Schnauze jetzt!«

»Masern, Milchfluß, Mumps und Maden!« sangen die Studenten und schwangen die Beine im Gleichtakt dazu, wie Revuetänzer, in einer Reihe aufgestellt. Langsam drehte sich der Kreis.

Ein gellender Pfiff ertönte.

»Los, lauft!« rief Oktavian. Ein Krankenhauswächter mußte sie gesehen oder gehört haben, vielleicht der Alte, der jede zweite Nacht gleich hinter dem Eingang saß und schlief. Oktavian rannte mit Marianne zu seinem Motorrad, das auf dem Seitenstreifen stand.

Die anderen folgten lachend, fielen hin, riefen etwas. Manche hatten Autos, doch die standen ein Stück weiter weg.

»Ihr zwei da!« fuhr Oktavian einen Jungen und ein Mädchen gleich hinter ihm an. »So leise wie möglich, ja? Weitersagen!«

Als sie sich in alle Richtungen verstreuten, ging das überraschend ruhig vonstatten. Die Bettlaken wurden gefaltet, wie in der Armee gelernt; Oktavian schob sein Motorrad ein Stück, bevor er den Motor anließ. Hinter ihm gingen langsam Gestalten mit Taschenlampen – Leute aus dem Krankenhaus, die den Friedhof absuchten.

In den nächsten Tagen ließ sich Oktavian möglichst nicht blicken. Er hatte jede Menge an der Uni zu tun, die anderen ebenso. Aber sie warfen einen Blick in den Anzeiger, die Lokalzeitung von G.: nichts, nicht mal eine Kurzmeldung über »nächtliche Ruhestörung« oder »Vandalismus« auf dem Krankenhausfriedhof. Oktavian hatte nichts anderes erwartet: Die Behörden konnten sich keine Berichte leisten, in denen es hieß, irgendwelche Leute hätten auf den Gräbern herumgetrampelt oder Blumentöpfe umgeworfen, weil sie dann die Verwandten der Verstorbenen auf dem Hals hätten, die auf den Friedhof gehen, die Schäden beheben und sich über die mangelhafte Pflege der Anlage beschweren würden. Das Krankenhaus aber wollte nicht, daß die Öffentlichkeit von den merkwürdigen Wucherungen dort erfuhr, die inzwischen so zahlreich waren, daß sie jedem ins Auge fallen mußten. Im Krankenhaus dürften Ärzte, Schwestern und Pfleger äußerst beunruhigt sein, dachte Oktavian.

Am Donnerstag abend ging er wie gewöhnlich um neun Uhr ins Krankenhaus, zu den versammelten Ärzten im obersten Stock. Als er sein Motorrad abstellte, warf er einen kurzen Blick zum Friedhof hinüber: Dunkel wie immer lag das Gräberfeld da, und doch waren ihm die knolligen Formen auf dem Feld aufgefallen, sechs oder sieben, nicht anders als vorher. Im obersten Geschoß war die Stimmung anders als gewohnt. Dr. Stefan Roeg, der jüngste Arzt und derjenige, mit dem Oktavian stets am besten ausgekommen war, sagte »Guten Abend« und dann, fast im selben Atemzug, »Gute Nacht«. In den Händen trug er seine Überschuhe und einen Regenschirm, obwohl es gar nicht regnete – offensichtlich war er nur gekommen, um seine Sachen zu holen. Der alte Professor Braun, ein völlig abgehobener Träumer ohne akademische Bodenhaftung, kahl auf dem Kopf bis auf lange dünne graue Strähnen über den Ohren, war der einzige unter den sieben Anwesenden, der sich genauso gab wie sonst. Er wollte gern über die »Fortschritte« sprechen, die seine Gewebeproben unter den Glasdeckeln seit letzter Woche gemacht hatten. Oktavian wurde klar, daß die anderen das Ganze aufgegeben hatten. Sie lächelten aufgesetzt freundlich, als sie dem Professor eine gute Nacht wünschten.

»Die Sache ist gefährlich«, sagte ein Arzt in aller Eile noch zu dem alten Mann, bevor er ging.

Auch Oktavian gelang es, sich zu verdrücken. Ob der alte Professor Braun wohl noch bis nach Mitternacht weiterarbeiten würde, ganz allein? Oktavian und die Ärzte gingen schweigend die fünf Etagen des Treppenhauses hinunter; er hielt es für besser, keine Fragen zu stellen. Sie alle wußten um ein furchtbares Geheimnis. Und die Ärzte behandelten ihn, den einfachen Studenten, wie einen der ihren. Hatten sie einen Plan? Wußten sie, was sie tun wollten? Oder würden sie einfach nur schweigen?

Irgendwo aber war ein Leck, ein Maulwurf: Jemand mußte etwas gesagt haben, denn ein paar neugierige Leute aus der Stadt spähten aus sicherer Entfernung auf den Friedhof. Oktavian bemerkte sie, als er kurz darauf zu seinem Motorrad ging. Die knappe Handvoll Schaulustiger wagte sich nicht bis auf den Friedhof vor, sondern starrte vom Rand auf die Gewächse, die im Halbdunkel der Abenddämmerung angebundenen Luftballons glichen. Gespenster waren das, hieß es später, die bösen Geister der Verbrecher und an grausigen Krankheiten Gestorbenen, die dort beerdigt waren – nein, das war das aberwitzige Ergebnis des radioaktiven Fallouts nach den Atombombenversuchen – nein, die Folge der sanitären Zustände im Allgemeinen Krankenhaus, das, wie jeder wußte, nicht gerade zu den modernsten Spitälern Österreichs gehörte. Marianne gab einige dieser Erklärungsversuche an Oktavian weiter; sie hatte sie von den Hauseltern ihres Studentenwohnheims gehört (die den Friedhof noch nicht einmal mit eigenen Augen gesehen hatten).

Eine kurze Meldung, ein Absatz nur im städtischen Anzeiger, meldete den Tod von Andreas Silzer: »ein treuer Gärtner und Friedhofswärter am Allgemeinen Krankenhaus«. Gestorben war er an »Tumormetastasen«. Der arme alte Andreas mußte den Wucherungen auf dem Friedhof über Monate hinweg ausgesetzt gewesen sein, dachte Oktavian. Ob die Behörden das Gräberfeld jemals entseuchen würden?

Eines Abends, an einem Samstag, fuhr Oktavian mit Marianne zum Krankenhaus und sah zwei große Laster auf dem Spitalsparkplatz stehen. Am Friedhof sorgten ein paar auf den Boden gestellte Laternen für eine fahle Beleuchtung. Die beiden sahen Gestalten umhereilen. Bei näherem Hinsehen bemerkten sie, daß die Gestalten OP-Masken, graue Uniformen und Handschuhe trugen; sie arbeiteten mit Spitzhacken und Schaufeln.

»Leute von der Müllabfuhr!« flüsterte Marianne. »Sieh doch nur! Sie stopfen die Dinger in große Plastiksäcke!«

Oktavian sah, was sie meinte. »Und dann? Was machen sie mit den Säcken?« Wie zu sich selbst. »Los, komm. Verschwinden wir.«

Nur zwei Tage später erlitt ein Müllmann einen Kreislaufzusammenbruch. Seine Frau weigerte sich, ihn ins Allgemeine Krankenhaus einliefern zu lassen – sie sagte, er sei durch die Friedhofsarbeiten krank geworden. Als sie im örtlichen Anzeiger mit diesen Worten zitiert wurden, brachen die Dämme: Sofort klagten andere »Stadtreinigungsarbeiter« über Schwäche und Übelkeit. Der Friedhof und ein cordon sanitaire von ein paar Metern rings um das Feld wurden durch einen starken Maschendrahtzaun abgesperrt; alle paar Meter hingen Totenkopfschilder und warnten vor Lebensgefahr. Durch ein breites Tor im Zaun fuhr ein Schaufelbagger, der die Erde aufriß und umpflügte. Alle möglichen Desinfektionsmittel wurden auf die aufgerissene Erde gestreut, geschüttet und gesprüht, von maskierten Arbeitern in Schutzanzügen. Personal und Patienten des Krankenhauses wurden evakuiert, das ganze Gebäude wurde gründlich gereinigt. Im Anzeiger hieß es, der Friedhof sei dem Angriff eines merkwürdigen Pilzes ausgesetzt, und bis das Gesundheitsamt mehr über diesen in Erfahrung gebracht habe, hielten die Behörden es für das Klügste, das Gräberfeld für die Öffentlichkeit zu sperren.

Aber die Wucherungen kamen wieder: erst als kleine Rundungen flach über dem Boden, überall auf dem durchwühlten Friedhof, die binnen vierzehn Tagen bis zu ein, zwei Meter empor wuchsen. Künstler kamen, hockten auf Campingstühlen und zeichneten sie. Andere Leute machten Schnappschüsse; die Vorsichtigeren blieben auf Abstand und schauten durch Ferngläser hinüber. Man redete davon, das gesamte Erdreich des Friedhofs bis zu einer Tiefe von zwei, ja drei Metern abzutragen. Doch wohin mit dem ausgehobenen Boden? Eine Naturschutzorganisation hatte schon vor Wochen eine Verfügung durchgebracht, dergemäß der Aushub aus dem Allgemeinen Krankenhaus in G. nicht ins Meer gekippt werden durfte. Bauern und Grünenpolitiker im ganzen Land protestierten gegen das Vergraben der Erde vom Friedhof auf ihrem oder auf öffentlichem Land, ganz gleich, wie tief. Und die Grenzwachen der Anrainerstaaten überprüften Laster, die Österreich verließen, besonders genau, für den Fall, daß sie heimlich Friedhofsabfall geladen haben sollten.

Also entschied man sich fürs Verbrennen. Die Gefahrenzulagen für die Männer in den Kränen, die das Erdreich in Container luden, erreichten groteske Höhen. Die Container wurden zur Hintertür des Krankenhauses geschafft, durch die so viele Leichen das Gebäude in umgekehrter Richtung verlassen hatten. Der große alte Heizungsofen und der Krematoriumsofen des Krankenhauses brannten wieder, sonst funktionierte im ganzen Gebäude nichts mehr.

Die ausgebrannte Asche nahm weniger Raum ein als die Erde; sie war schwarz oder dunkelgrau und wurde von den Arbeitern nicht weniger vorsichtig angefaßt als die Erde. Sollte diese Asche nun im Meer verklappt werden? Nein, auch das war verboten. Also konnte man das Zeug nur in schwere, dicke Plastiksäcke füllen und in der Leichenhalle im Keller des Krankenhauses sowie im Erdgeschoß bis auf weiteres zwischenlagern.

Und immer noch wuchsen die Dinger aus der Erde, so als seien durch all das Umgraben und Umpflügen Hunderte von Pilzsporen auf dem Gräberfeld verstreut worden – doch das war ein Hirngespinst, mußte sich Oktavian eingestehen, denn Sporen verursachten keine Krebsgeschwülste. Trotzdem, es war schon erstaunlich, wie fruchtbar diese Friedhofserde war! Während er für sein Abschlußexamen lernte, dachte er allerdings nicht mehr an das Krankenhaus. Marianne hatte noch ein Studienjahr vor sich. Danach wollten sie heiraten.

Trotz lautstarken Protests von offizieller Seite (aber unter dem Applaus der Radikallinken aus der Künstlerszene) zeigten Bildhauer in ihren Ausstellungen erste Arbeiten, inspiriert von den Formen, die sie auf dem Friedhof des Allgemeinen Krankenhauses in G. gesehen und skizziert hatten. Diese Skulpturen waren nicht unansehnlich, bestanden sie doch aus vielen Rundungen: Hintern oder Brüste, je nachdem, was man in ihnen sehen wollte. Einige der Arbeiten wurden preisgekrönt. Eine fast abstrakte Skulptur ähnelte einer dicken Frau mit einem Wasserball, eine andere, eine sitzende Figur, trug den Titel: »Mutterschaft«.

Das Friedhofsfeld lag zwar jetzt tiefer, wegen des Aushubs, brachte aber weiterhin seine seltsamen Früchte hervor. Arbeiter mit Atemschutzmasken und Handschuhen, vor allem alte Rentner, trennten sie mit Hacken knapp über dem Boden ab, so wie sie zu Hause im eigenen Garten hartnäckiges Unkraut jäten mochten. Die Wurzeln mancher dieser Gewächse reichten so tief hinab, daß die Arbeiter sich zu dem Vorschlag genötigt sahen, das ganze Erdreich noch einmal auszuheben und zu verbrennen. Die städtischen Behörden waren die ganze Sache gründlich leid; sie hatten schon mehrere Millionen Schilling ausgegeben. Man beschloß einfach, das ganze Gebiet abzuzäunen und dann möglichst schnell zu vergessen. Die Straße dorthin führte am leerstehenden Krankenhaus vorbei und dann nirgendwohin, nur weiter hinauf in die Berge, dort verlief sie sich zu einem Waldweg, der vor allem von Wanderern genutzt wurde. Man würde den Friedhof also vergessen. Die Presse hatte das Thema bereits fallengelassen. Daß Ärzte am Allgemeinen Krankenhaus Versuche durchgeführt hatten, die irgendwie mit Krebs zusammenhingen, war bekannt. Doch die Verantwortung für den Zustand des Friedhofs ließ sich auf so viele Häupter verteilen, daß sie weder einzelnen Ärzten noch Verwaltungsleitern des Krankenhauses angelastet werden konnte.

Die Behörden irrten allerdings in der Annahme, die Öffentlichkeit werde den Friedhof vergessen: Er wurde eine Sehenswürdigkeit für Touristen, die das Geburtshaus eines nicht allzu bedeutenden Dichters in G. an Beliebtheit weit übertraf. Postkarten vom Friedhof verkauften sich blendend. Künstler aus vielen Ländern kamen und auch Wissenschaftler – deren Untersuchungen von Boden- und Gewebeproben aus dem Friedhof zeitigten allerdings keine neuen Erkenntnisse zur Entstehung und Heilung von Krebs. Künstler und Kunstkritiker bemerkten, daß das Designertalent der Natur, das sich an den Gewächsen auf dem Friedhof beweise, selbst die komplexen Strukturen von Kristallen an Einfallsreichtum übertreffe und daß die Wucherungen auch in ästhetischer Hinsicht nicht zu verachten seien. Manche Philosophen und Dichter verglichen die grotesken Gebilde mit dem vom Menschen selbstverschuldeten Ruin seiner Seele oder führten sie auf das aberwitzige Herumpfuschen im Handwerk von Mutter Natur zurück – ähnlich dem Wahnsinn, der zur verfluchten Atombombe geführt habe. Andere Philosophen konterten: »Ist Krebs nicht etwas für den Menschen ganz Natürliches?«

Oktavian sagte zu Marianne, eine solche Frage lasse sich leicht stellen, denn die Antwort könne sowohl ja wie auch nein lauten. Oder je nachdem: ja für die einen und nein für die anderen. Und das Reden über die ganze Sache werde niemals ein Ende finden.

Moby Dick II oder Der Minenwal

Mitten in der warmen Jahreszeit war es, die Sonne schien hell auf das blaue Wasser, und die kleinen Fische tummelten sich unter der Meeresoberfläche. Er zog seine Bahn neben seiner Gefährtin und sonnte sich wie sie im wärmenden Wasser, ging manchmal auf Tiefe, nur zum Vergnügen, tauchte dann auf und warf sich wie ein Delphin aus dem Wasser zum Sprung, um dann klatschend wieder auf der weichen See aufzuschlagen. Seine Gefährtin würde bald ihr Kalb zur Welt bringen, und sie schwamm bereits langsamer, lugte neugierig in die eine oder andere Bucht der Insel hinein. Beide wußten, daß Inseln gefährlich waren: Menschen lebten auf Inseln, doch eine trächtige Walkuh gebiert nun einmal gern in flachen Gewässern.

Im Südpazifik fuhren nicht viele Schiffe dort, wo die beiden sich gerade aufhielten, und die wenigen, die dort fuhren, waren groß und lang, lagen tief im Wasser und hielten steten Kurs. Die kleinen Inseln, die so harmlos wirkten, waren viel gefährlicher, wegen der Katamarane und auch der Kanus, die manchmal Jagd auf sie machten, nicht zu vergessen das eine oder andere Motorboot mit Außenborder, das manchmal eine Harpunierkanone mitführte.

Der Wal und seine Gefährtin hatten ihr ganzes Erwachsenenleben zusammen verbracht. Nun erwarteten sie ihr zweites Kalb. Das erste, ein Weibchen, war lange mit ihnen gezogen, hatte sie ein paarmal verloren, jedoch später dank der Stimmen und Gesänge der ängstlichen Eltern immer wiedergefunden, und war endlich allein seiner Wege geschwommen.

An einem sonnigen Nachmittag drehte seine Gefährtin auf ein flaches, gelbliches Stück Land zu, und er folgte ihr in einiger Entfernung. Das Wasser war nicht tief, und wenn er nur ein kleines bißchen tauchte, konnte er mit dem Bauch den Sand berühren. Gelb-schwarz gestreifte Fische schossen sich windend vor ihm davon, mit aller Kraft, die ihre kleinen Körper hergaben. Er hätte ein paar fangen und einen kleinen Happen genießen können, aber er wedelte nur einmal sanft mit der Fluke, brachte sich näher an die Insel heran und hing dann reglos im Wasser und lauschte nach seiner Gefährtin. Weit in der Ferne vernahm er ein schwaches Störgeräusch.

Nun würde sie endlich ihr Kalb zur Welt bringen.

Eine kleine Säule aus Wasser und Luft zeigte ihm, wo sie war – nicht weit von dem goldgelben Strand, dessen Palmen sich in der Brise wiegten.

»He-ho!« rief eine Menschenstimme.

Unter Wasser sendete der Wal eine Warnung an seine Gefährtin. Menschenstimmen hatte er schon oft zuvor gehört, sie waren immer anders und doch irgendwie auch immer gleich. Unter Wasser sah er sie sich winden, das Junge war schon halb heraus. Jetzt schoben die Männer ein Boot ins Wasser, sie stießen schrille Schreie aus. Er hob den Kopf und sah den ersten Speer fliegen.

Sie schwamm ihm unstet entgegen, suchte das tiefere Wasser. Ein Speer ragte aus ihrem Rücken. Er schwamm unter ihr durch, weiter zu dem Boot, erwischte es nahe an der Spitze und warf es hoch, so daß es sich überschlug. Ein Speer traf ihn nicht weit vom Schwanz.

Jetzt waren die Menschen alle im flachen Wasser, sie stolperten und schwammen, alle mit Speeren in den Händen, und seine Gefährtin war umzingelt. Der Wal stieß vor und zerquetschte zwei Männer zwischen seinen Kiefern.

Schreie ertönten. Blut färbte das Wasser rot.

Ein Speer traf ihn an der Stirn und blieb stecken. Die Menschen zogen seine Gefährtin an den Strand. Andere Männer wandten ihre Aufmerksamkeit jetzt ihm zu.

Der Wal schlug gezielt mit der Fluke, und ein Mann flog in die Luft, sein Körper zerbarst, Blut regnete aufs Meer wie Tropfen eines Wolkenbruchs. Wieder stieß der Wal vor, sein Maul weit aufgerissen: Ein kleiner Mensch und die Beine eines anderen stießen gegen seine Unterlippe und wurden kurz darauf zerquetscht. Der Wal drückte die Zunge oben gegen den Gaumen und preßte das Meerwasser samt dem blutenden Menschenfleisch aus dem Maul hinaus. Die vielen Speerstiche schmerzten ihn, und er suchte das tiefere Wasser, hob dabei den Kopf, um soviel Luft einzusaugen wie möglich, und tauchte dann ab.

Sie waren in einem Boot hinter ihm her, das er jedoch nicht zu fürchten brauchte, weil es keinen Motor hatte. Aber die Stiche schmerzten, sein Körper tat weh, und er war sehr wütend. Weit draußen vor der Insel stieg er empor, sichtete das Boot und tauchte wieder ab. Als er die schlanke Form des Bootskörpers über sich sah, schwamm er einen Kreis und zielte mit seinem Kopf auf die Bootsseite knapp unter der Wasseroberfläche: Sein Anprall zertrümmerte das Boot und warf es um. Die drei, vier schreienden Männer im Wasser schlug er mit der Fluke bewußtlos und schwamm weg.

Das gab ihm Ansporn, und er hielt wieder auf die Küste zu, wo seine Gefährtin sicher im Sterben lag. Oder schon tot war. Zwei weitere Boote waren hinausgefahren, und er griff das nähere der beiden an, indem er unter dem Boot emporschoß und die Männer von den Sitzen ins Wasser warf. Aus dem zweiten Boot wurden Speere geschleudert, einer blieb in seiner Flanke stecken. Er tauchte zur Sicherheit, wendete unter Wasser, erblickte das zweite Boot, das über ihm herumschlingerte, und rammte es. Dann schwamm er weiter, auf das Ufer zu, den Bauch nur knapp über dem Sand. Die Schreie der Männer wurden lauter, schriller. Der Wal hob den Kopf: Mit einem Auge sah er die kleinen braunen Männer um den Leib seiner Gefährtin herumstolzieren. Der Drang überkam ihn, alle diese Männer zu rammen, sich geradewegs auf den Strand zu werfen – doch der Impuls schwand so schnell, wie er gekommen war. Der Wal schlug einmal mit der Fluke und schwamm weg.

Als er auf einen großen Hai traf, ein Männchen, schoß er auf ihn zu, nur weil er sehen wollte, wie der Hai wie ein weißer Blitz ängstlich und fluchtartig das Weite suchte.

Diese kleinen braunen Männer – sie waren ihm verhaßt. Ihm war klar, daß es diese Bestien gewöhnlich erst gar nicht mit einem Geschöpf aufnahmen, das so groß war wie er oder wie seine Gefährtin. Die kleinen Männer griffen Seekühe an, die nur ein Viertel seiner Masse erreichten. Vor Haien hatten sie schreckliche Angst. Lustlos schwamm der Wal weiter, wohin, war ihm egal, nur suchte er unbewußt kühlere Strömungen, wegen seiner Wunden.

Er war jetzt südlich vom Äquator, und immer noch schwamm er nach Süden. Er zog stetig weiter, bis seine Wut sich ein bißchen gelegt hatte, und als er zum Atmen auftauchte, stand die Sonne schon tief über der Kimm. Vor Einbruch der Dunkelheit traf er auf einen riesigen Schwarm kleiner Fische und pflügte mit offenem Maul mitten hinein.

In den nächsten Tagen und Wochen schwamm er träge dahin, da er um diese Jahreszeit keinen Grund hatte, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Die Gewässer um den Äquator im Pazifik waren eine riesige Welt. Und es war seltsam, nach fünf Jahren mit einer Gefährtin wieder allein zu sein – nach fünf Jahren, in denen er sie stets irgendwo in seiner Nähe gewußt hatte, wo er sie bald finden konnte, selbst wenn er sie für eine Weile nicht zu sehen bekommen hatte. Immer hatten sie einander wiedergefunden, immer waren sie einträchtig in dieselbe Richtung geschwommen, die in der Regel er vorgab.

Er mied die Inseln (obwohl die kleinen Fische in Strandnähe dort gut schmeckten, wie auch die grünen Pflanzenteppiche). Einmal, in einem Moment der Achtlosigkeit, sprang er, nicht einmal hoch, aus dem Wasser, und als er im Zurückfallen die hohe weiße Säule seines Spauts ausblies, sah er mit dem linken Auge ein Schiff. Noch weit weg zwar, aber es wies die dunkle und gedrungene Form der Schiffe auf, die Wale jagten. Und diese Schiffe hatten einen Motor. Sofort war er getaucht, mit wenig Luft in den Lungen, und schwamm unter Wasser im rechten Winkel vom Kurs des Schiffes weg. Nun ging es darum, selber einen Zickzackkurs zu halten und durch Täuschung zu entkommen, dabei aber dennoch oft genug Luft zu holen, um schnell schwimmen zu können. Schon oft war er solchen Schiffen entkommen – warum nicht auch diesmal? Doch diesmal war es blutiger Ernst.

Die Jagd ging immer weiter, eine halbe, dann eine ganze Stunde. Der Wal ließ das schwankende, stampfende Schiff ziemlich nahe an sich herankommen – oder besser, an die Wasserwirbel, die er hinterließ, nachdem er zum Atemholen aufgetaucht war. Dann ging er auf Tiefe, schwamm unter dem kleinen Schiff achteraus durch und in entgegengesetzter Richtung weiter. Mehrere Minuten lang hatte das Schiff seine Beute verloren. Beim Wenden ließ es die Motoren mit voller Leistung aufheulen, so daß es hart überholte bei seinen ratlosen Suchmanövern.

Er schwamm, so lange er konnte, bevor ihn die Anstrengung zum Auftauchen zwang. Wieder mußte er ausblasen, bevor er Luft holen konnte: Das Schiff stand zwar jetzt weit weg, aber der Wal wußte, daß er gesichtet worden war. Er holte Luft, wieder und wieder, solange er es wagte, dann schwamm er knapp unter der Oberfläche eine Finte nach links und wechselte danach unter Wasser auf seinen alten Kurs zurück. Hellichter Tag, leider, leider!

Zwei weitere Stunden vergingen. Als das Schiff erneut sehr nahe aufgekommen war, fehlte dem Wal die Kraft, schnell zu schwimmen, außerdem brauchte er Luft.

Eine Harpunenkanone krachte. Die Harpune verfehlte ihn, ihre Zeitzünderladung detonierte unter Wasser, mindestens eine Körperlänge vom Wal entfernt. In aberwitziger Wut packte er das Metallkabel der Harpune mit dem Maul und zog daran, als könnte er das Schiff so zum Kentern bringen oder es gar mit sich schleppen. Das dünne Kabel war steif und starr und schnitt ihm ins Maul, wenn auch nicht tief.

Es schnitt auch in die riesengroße, aber empfindliche Zunge des Wals, und der Mann an der Winsch sah das rote Blut im Wasser. Sie fierten ein Boot weg und drosselten den Motor des Schiffes. Die starke Winde an Deck holte das Kabel allmählich ein.

Der Wal spürte den Zug des Kabels in seinem Maul, hörte das Aufklatschen des Bootes und wußte, was das bedeutete: ein Boot mit Lanzen, welche die tödlichen Stöße bringen sollten – hinter die Finne, in die Augen und tief in das Atemloch hinein. Dann Taue, um den Kadaver am Schiff festzumachen. Diese Narren in ihrem kleinen hölzernen Boot!

Langsam schwang der Wal seine Fluke, bis er genau die Stelle vor sich hatte, von wo er das Klatschen auf dem Wasser gehört hatte. Jetzt konnte er den Bootsboden auch sehen. Er rammte das kleine Boot von unten und hob es mit dem Rücken hoch. Im selben Moment traf ihn eine Lanze vorn in den Schwanz, streifte das Ende seines Rückenmarks: ein jäher, stechender Schmerz. Der Wal tauchte ab.

Vom Walfänger wurden den drei im wirbelnden Wasser treibenden Männern Leinen heruntergeworfen. Das Holzboot war in zwei Hälften zerbrochen, Leinen und Lanzen trieben in der See. Die Schreie nahmen kein Ende: Ein Mann hatte sich den Arm an den scharfen Zacken eines Brettes aufgerissen und blutete stark, ein anderer trieb regungslos mit dem Gesicht nach unten in der See, und ein dritter enterte an einem Tau an der Bordseite ab, um den Bewußtlosen zu retten. Die Winsch hatte eine explodierte Harpune ohne Wal heraufgeholt. Und ein paar Männer auf dem Schiff sahen überrascht, wie die eine Hälfte des Holzboots rasch davontrieb. Die letzte geschleuderte Harpune hatte den Wal getroffen, das Ende der Harpunenleine war an einem Metallbolzen im Schanzdeck des Bootes befestigt. Natürlich hätten sie die Spur des Wals verfolgen können, die nun viel besser zu sehen war. Doch wie der Wal schwamm, entsprach zum einen nicht ihrem eigentlichen Kurs, zum anderen war mehr als die Hälfte der Mannschaft mit der Rettung der Seeleute vor dem Ertrinken und mit der Bergung der vielen Lanzen, Taue und Taljen beschäftigt. Sie bargen, so viel sie konnten, bevor sie das Wrack aufgeben mußten. Dieser verrückte Wal war gewaltig, das sagten sie alle. Ein Tier mit dem Teufel im Leib!

Der Wal spürte, daß er etwas hinter sich herschleppte. Als er das erste Mal zum Luftholen aufgetaucht war, hatte er den Holzklumpen hinter sich nicht gesehen, beim zweiten Mal aber schon. Er hatte einen gewissen Widerstand gespürt, wenn er auf eine bestimmte Tiefe ging, allerdings war er in der Lage, die Bootshälfte unter Wasser zu ziehen und dort zu halten. Die Leine war weich, nicht starr wie das Kabel, und vielleicht dreimal so lang wie er selber. Aber das Bootswrack plagte ihn. Die Vernunft gebot ihm, so tief zu schwimmen, daß es unter Wasser blieb. Doch wenn er zum Atmen auftauchte – und er mußte oft und lange tief atmen, um ordentlich Luft für einen Tauchgang zu holen –, dann trieb die Bootshälfte hinter ihm auf.

In der Folgezeit kursierten auf den Inseln, die der Wal passierte, einige merkwürdige Geschichten: Kinder und ältere Jungen erzählten von einem Bootswrack, das eine Weile auf dem Meer getrieben hätte, dann aber plötzlich verschwunden sei. Die Geschichte machte die Runde von Insel zu Insel; sie wurde von Männern und Jungen weitererzählt, die sich auf ihren Fischerbooten trafen – man lachte leise darüber, doch völlig unglaubwürdig erschien sie nicht, weil so viele verläßliche Männer geschworen hatten, das Wrack gesehen zu haben.

»Das ist Magie!« verkündete einer der Männer ehrfurchtsvoll – und seine Leute hatten Respekt vor Magie.

Aber war es ein guter oder ein böser Zauber? Könnte er Gutes verheißen oder ein großes Unglück, etwa einen gewaltigen Sturm mit einer Riesenwelle, die über ihre Insel rasen, ihre Häuser einreißen und jeden von ihnen ins Meer schleudern würde? Auf einigen Inseln lebten ein paar weiße Männer; sie behaupteten, über Taifune und Erdbeben, über Mond- und Sonnenfinsternisse Bescheid zu wissen. Vielleicht. Doch das Boot, das immer wieder auftauchte und verschwand, das war etwas anderes. Die Weißen würden über die Geschichte nur lachen. Aber nicht immer wußten sie, was wichtig war und was nicht. Wie sollten sie auch? Schließlich waren sie auch nur Menschen.

Oft dümpelte der Wal, während er treibendes Grünzeug abweidete oder kleine Fischschwärme fraß, träge auf dem Wasser dahin und genoß die Wärme der Sonne auf seinem Rücken. Gewöhnlich war dann keine Insel in Sicht, doch auch die Inseln waren keine Gefahr, wenn er Abstand hielt. An einem solchen trägen Tag jedoch, als er den Kopf aus dem Wasser hielt, sah er einen Katamaran unter Segeln auf sich zusteuern. Jedenfalls sah es so aus. Dieses plötzliche, lautlose Näherkommen weckte Angst und Abwehrbereitschaft in dem Wal; er tauchte weg, wendete und bot dem Boot die Stirn. Der Katamaran war so klein, daß der Pottwal, wenn er wollte, ihn zerschmettern oder schwer beschädigen konnte.

Der Wal erkannte, daß die Aufmerksamkeit der Männer auf das Bootswrack gerichtet war, das nun neben seiner Flanke trieb. In dem Katamaran standen zwei Männer, der eine hielt eine Leine in der Hand. Der andere Mann sah ihn, rief etwas und hob schnell den Speer. Der Wal schlug mit der waagerechten Fluke aufs Wasser und griff an: Er glitt unter den Ausleger des Katamarans, rammte die Nase gegen die Flanke des Bootes und drückte sie ein. Der Mann mit dem Speer fiel ins Wasser, und der Wal zog einen Kreis schäumenden Wassers um den Katamaran und biß dem Mann beide Füße ab. Der andere Mann war die leichtere Beute. Der Wal preßte ihm einfach die Luft aus dem Körper und erdrückte ihn.

Der Mast des Katamarans stand schräg, das Segel hing schlaff herab. Der Wal hätte noch bleiben und weitere Schläge austeilen können, aber als er den Kopf hob, um kurz Luft zu holen, hörte er kreischende Männerstimmen, aus der Ferne, doch klar vernehmlich: ein weiteres Boot? Ohne abzuwarten, tauchte er sofort weg und schwamm von den Geräuschen fort.

Die Männer waren erledigt – dem einen hatte er Rippen und Lungen eingedrückt, der andere war verblutet, beide waren tot. Ein zweiter Katamaran hatte von einer nahen Insel abgelegt, wohl um die beiden zu retten. Die Männer an Bord hatten den Wal nicht gesichtet, wohl aber hatten sie die Havarie des ersten Katamarans nicht weit vom treibenden Bootswrack gesehen und kurz darauf das Verschwinden der Bootshälfte unter Wasser. Also näherten sie sich dem immer noch treibenden, aber auseinandergebrochenen Katamaran mit einiger Vorsicht, und einer der Männer wollte umkehren, solange das noch ginge.

»Ein böser Zauber!« rief er. »Versteht ihr nicht? Das Boot ist in zwei Teile zerschlagen – die werden jetzt weiter auf dem Wasser treiben und andere Boote von uns zum Sinken bringen. Und wir werden sterben!«

Ein Mann erblickte eine dahintreibende Leiche: »Das da ist mein Bruder!«

Leichen – das hatten sie nicht erwartet. Die zwei Männer verwundet vorzufinden, das ja, an das Wrack des Katamarans geklammert.

Als ein Junge rief, er habe eine zweite Leiche in einem See von Blut entdeckt, beschlossen alle sofort und einmütig umzukehren.

»Schaut das Boot nicht an!« schrie einer. »Schaut weg!«

Sie sahen weg, der Katamaran wendete, die Männer paddelten, bis ihre Arme schmerzten und die Männer nach Luft schnappten. Einer, der kein Paddel führte, stimmte einen Gesang zur Abwehr böser Geister an. Zurück auf der Insel, erzählten die Männer ihre Geschichte: abgehackt, stoßweise, vor Angst schlotternd. Den ganzen Tag lang bis in den Abend wagten die anderen Inselbewohner nicht, einen der vier Ausfahrer anzufassen.

So machte die Geschichte die Runde und wurde immer weiter aufgebauscht: Das berühmte, wie von Zauberhand erscheinende und wieder verschwindende Bootswrack hatte einen Katamaran lediglich berührt – und er war in zwei Hälften zerborsten! Und die beiden Männer an Bord waren augenblicklich gestorben, wie von einem bösen Geist geschlagen.

Das halbe Boot wurde vor anderen Inseln gesichtet. Und gemieden wie die Pest. Jemand erwähnte sogar die Möglichkeit, das Bootsteil könne von einem Hai oder Wal geschleppt werden, doch wenn ja, dann von einem Gespensterwesen, das unsterblich war und doch selber mühelos töten konnte, was und wen es töten wollte, und jedes Boot nur durch seine Arglist vernichten.

Der Wal schwamm weiter in gemäßigte Breiten, immer weniger geplagt von dem stumpfen Schmerz kurz hinter seiner Fluke: Der stammte von der Harpune, die durch seine Speckschicht gedrungen war wie eine Nadel durch Stoff. Was ihm Ärger bereitete, war das mitgeschleppte auftreibende Boot. Der Wal glitt durch scharfzackige Korallengärten unter Wasser, in der Hoffnung, das Tau werde durchscheuern oder das Boot sich zwischen den Korallen losreißen, doch vorerst ohne Erfolg. Er wurde schwermütig und trübsinnig, so ganz allein. Drei andere Pottwale begegneten ihm, eine junge Walkuh und zwei Bullen, und vielleicht hätte er sich ihnen angeschlossen, um eine Weile Gesellschaft zu haben, aber einer der Walbullen scheute vor dem Boot zurück, das er unter Wasser hinter sich herzog. Der Wal wurde gemieden.

Also sang der Wal allein in der Tiefe: »Uuu-wa-aah-uu«, ein ziemlich hoher Ton – so redete er mit sich selber. Früher hatte er sich mit seiner Gefährtin so verständigt; er hatte sie wissen lassen, wo er war, hatte sie vor einem Feind gewarnt oder ihr mit einem tieferen Ton gemeldet, daß er auf Nahrung zuschwamm.

Eines Morgens, als er knapp unter der Oberfläche dahinglitt und ab und zu kurz den Kopf aus dem Wasser hob, um entspannt Luft zu holen, hörte er das Plätschern eines Paddels. Mit seinem linken Auge sah er ein kleines Boot, darin nur eine Menschengestalt, die jedoch nicht auf ihn zuhielt, sondern auf das Holzwrack, das gerade seitlich hinter ihm trieb. Keine Herausforderung, dieser Winzling, dennoch suchte der Wal den Horizont nach anderen Booten ab – und nach einer Insel. Und entdeckte tatsächlich einen flachen Streifen Land in einiger Entfernung. Er tauchte ein bißchen ab und schwamm unter Wasser weiter.

Der Junge im kleinen Boot erblickte den Wal, erschauerte und erhob sich, halb hingeduckt, das Paddel fest in beiden Händen. Die Ausfahrt war eine Mutprobe gewesen, und eben noch hatte er sich gesagt: »Mir ist es eins, ob ich lebe oder sterbe.« Die Worte hatten ihn tollkühn gemacht. Er hatte sich vorgestellt, daß er wie von Zauberhand erschlagen wurde, von einem Wesen, das er weder sehen noch verstehen konnte. Gesehen aber hatte er etwas, und zwar einen Wal, größer als alle, von denen er je gehört hatte. Er mußte mit ansehen, wie das grauglänzende Ungetüm sein Boot knapp unter Wasser umkreiste und es wild zum Schaukeln brachte. Er fiel hintenüber und verholte instinktiv sein langes Paddel innenbords, zur Sicherheit. Die Leine, mit der das halbe Boot am Wal hing, glitt am Bug des kleinen Kanus vorbei, streifte es, und das Boot des Jungen drehte sich. Mit der Rechten stieß er das Wrack weg, weil es sonst sein Kanu hätte beschädigen können. Der Leviathan zog weiter seine Kreise: Der Junge bemerkte die lange, schimmernde Harpune, die Haut und Fleisch und Speck des Wals durchstoßen hatte. Die Lanze hatte eine prächtige Spitze, sie war ganz aus Metall und viel länger, als der Junge groß war. Er wollte sie unbedingt haben. Ob er sie wohl erbeuten könnte?