Geschüttelt, aber ungerührt - Marion Löhndorf - E-Book

Geschüttelt, aber ungerührt E-Book

Marion Löhndorf

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Beschreibung

Dass Großbritannien anders tickt, ist Kontinentaleuropäern spätestens seit der Brexit-Abstimmung klar. Besonders England pflegt einen nostalgischen Stolz auf seine Historie. Zugleich jedoch zeigt es sich entschieden zukunftsorientiert und innovationsfreudig. Ausgeprägte Spannungen zwischen den sogenannten somewheres und den anywheres, die im Brexit kulminierten, sind die Folge. Wie sich die besondere Mischung aus Traditionsbewusstsein und Weltoffenheit im gesellschaftlichen Leben ihrer Wahlheimat niederschlägt, führt uns Marion Löhndorf anhand von Erfahrungen aus dem Alltag vor Augen und fragt: Was ist eigentlich typisch englisch? Ihre Beobachtungen bieten eine unverzichtbare Orientierungshilfe für das Selbstverständnis und die politische Situation jenseits des Kanals.

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MARION LÖHNDORF

Geschüttelt, aber ungerührt

Was England anders macht

zu Klampen

Marion Löhndorf arbeitete zunächst als freie Publizistin für das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Von 2001 bis 2004 war sie Kulturkorrepondentin der dpa in London und im Anschluss daran im Kommunikationsbereich eines deutschen DAX-Unternehmens tätig. Im Jahr 2010 kehrte sie als Kulturkorrespondentin der »Neuen Zürcher Zeitung« zurück nach London, eine Tätigkeit, die sie bis heute innehat. Sie ist Autorin und Co-Autorin mehrerer Filmbücher. Sie lebt in der Nähe von London.

Inhalt

Cover

Titel

England und ich

Ein Land setzt sich in Szene. Rituale, Idole, Mythen

Brexit, der lange Abschied: Argumente, Akteure, Reaktionen

England auf der Intensivstation. Corona und der National Health Service

Das Eigene und die Fremden. Vom Zusammenleben der Kulturen

London: ein Haus mit fünftausend Zimmern

Wo das Geld verdient wird: die Stadt in der Stadt

God Save the Queen. Das berühmteste Königshaus der Welt

England ist Klasse. Von der Schwierigkeit, aufzusteigen

Auf dem Land, an der Küste. Wo die Armen und wo die Reichen wohnen

Der Garten: Quintessenz des englischen Landlebens

Shakespeare war erst der Anfang. England in Kunst und Kultur

Das große Loslassen. Pubs und Clubs, Hooligans und Schlagzeilen

Langeweile verboten. Vom Umgang miteinander

Das Empire wird zur Insel. Von besonderen Verhältnissen

Zum Weiterlesen

Impressum

Endnoten

England und ich

Als ich 1981 zum ersten Mal nach England kam, an den trüben Küstenort Grimsby, verliebte ich mich gleich in die Menschen, die ich dort traf; nicht in einen Einzelnen, das kam später, sondern in alle. In ihren Humor, ihre Großzügigkeit, ihre charmante Frechheit, in ihren Sinn für das Wirkliche und für das Mögliche – all das spürte ich schon bei meinem ersten Besuch auf der Insel, und später sollte es sich bestätigen. Als ich mich viele Jahre nach diesem Aufenthalt entschloss, in England zu leben, war das der Beginn einer neuen Liebesgeschichte.

Dieses Mal war es eine Stadt, die mich faszinierte. Mir gefiel alles an London, die ständige Anwesenheit gelebter, vergangener Zeit und die schnelle, fordernde Gegenwart. Ich liebte sogar seine Hässlichkeit und Unbequemlichkeit, die durchgesessenen Sitze auf den alten Routemaster-Bussen, die damals noch durch die Straßen keuchten, den Lärm, den Schmutz und den Regen, der durchs Dach meiner Wohnung ins Badezimmer tropfte. Alles kam mir verkommen und zugleich glanzvoll, reich und verheißungsvoll vor.

Das Beste waren wieder die Menschen, die mir gleich zu verstehen gaben, dass ich dazugehörte, obwohl ich damals weder einen Job noch einen festen Wohnsitz in der Stadt hatte. In London lernte ich, dass es kein Weltuntergang ist, eine Zeitlang ohne Arbeit zu sein, dass sich schwere Krankheiten und andere Lebenskatastrophen überleben lassen, mit etwas Glück. Ein Star des Nachtlebens, genannt Princess Julia, sagte einmal: »Falling over, getting back up again, we do that a lot in London and have a right good laugh about it.« Dieselbe robuste, pragmatische Energie ging von vielen Menschen aus, denen ich begegnete und mit denen ich mich im Laufe der Zeit anfreundete. Sie haben mich verändert, so, wie England mich verändert hat.

Dabei lief längst nicht immer alles glatt. Der britische Optimismus kommt derzeit oft an seine Grenzen. Die Pandemie traf das Land schwer. Es ist gut möglich, dass das Experiment Brexit ohne Happy End bleibt. Wie es mit England weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Eines aber ist sicher: Langweilig wird es nie.

Ein Land setzt sich in Szene. Rituale, Idole, Mythen

England war ein Land, das man von Europa aus leicht lieben konnte. Bis der Brexit von einem Tag auf den anderen alles veränderte. Gelegenheitstouristen, Anglophile und selbst vermeintliche England-Kenner überraschte oder schockierte das Ergebnis der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Sie stellten plötzlich fest, dass England ganz anders war, als sie geglaubt hatten. Dass sie einem Irrtum aufgesessen waren. Um die Lücke zwischen unserem eigenen Verständnis und der Wirklichkeit der Volksabstimmung zu schließen, mussten wir uns das Land noch einmal anders, gründlicher vielleicht, ansehen. Wie ein Buch, das man noch einmal von Anfang an liest, weil sein Ende eine so überraschende Wende bereithält, dass man sich fragt, wieso man sie nicht hat kommen sehen. Die Wiederentdeckung gestaltet sich als Spurensuche.

Wer einmal beginnt, England von der Brexit-Entscheidung aus zu betrachten, entdeckt viele Hinweise, die in diese Richtung deuten – historische, geographische, gesellschaftliche, kulturelle. Doch die Frage ist: Führen tatsächlich alle Wege zum Brexit? Die gegenwärtigen Reaktionen auf den Volksentscheid spiegeln die Tendenz, das Gewebe der englischen Gegenwart und Aspekte seiner Vergangenheit in Zusammenhang mit dem Brexit zu sehen. Solange die europäischen Wunden, die dieses Ereignis geschlagen hat, noch frisch sind, wird die Neigung groß sein, das Land unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten – und die Frage, wie es dazu kommen konnte.

Die vom Brexit ent täuschten Europäer sind kritischer mit dem Land jenseits des Ärmelkanals geworden, als sie es je waren. Andere sehen in der Loslösung von Europa ihre eigenen Vorbehalte bestätigt. Jedenfalls hat der Brexit die gefestigten Auf fassungen von Großbritannien gründlich erschüttert. Mag sein, dass nach jahrhundertelanger Verklärung ein Rückschlag einsetzt oder Ernüchterung und von besonders Europa-affinen Seiten auch Hohn. Jedenfalls ist es ein guter Zeitpunkt, Übersehenes im vermeintlich Vertrauten zu entdecken.

Was ist typisch britisch? Damit fängt das Problem schon an. Wer von England spricht, meint manchmal Großbritannien (England, Schottland, Wales), manchmal aber auch das Vereinigte Königreich (England, Schottland, Wales und Nordirland) oder eben: England. Im folgenden wird im wesentlichen England gemeint sein, auch wenn manchmal von den Briten die Rede ist oder von Großbritannien. Denn die Schotten, Iren und Waliser möchten nicht mit den Engländern verwechselt werden. Im Deutschen hat man sich darauf geeignet, sie als Regionen oder Nationen zu bezeichnen. Bei aller Zusammengehörigkeit beharren die Schotten, Iren und Waliser auf dem Eigenen. Zumal die Engländer auf den britischen Inseln den Ton angeben. Und was wäre nun typisch englisch zu nennen? Existiert so etwas wie eine nationale Identität überhaupt? Im Alltag wird das bejaht und je nach Gutdünken und Standpunkt mit Behauptungen oder Beispielen untermauert. Besonders genau Denkende aber lehnen schon die Frage ab und sehen sie als Anlass für unzulässige Pauschalisierungen. In der Wissenschaft ist die Idee eines Nationalcharakters verpönt: Unverrückbare nationale Eigenschaften werden als Konstrukte entlarvt, die Vorurteile, Ängste oder politische Absichten und ideologische Manipulationen spiegeln oder verdecken.

In einer einflussreichen Studie hatte der englische Politologe Ernest Barker 1927 erklärt, dass pathetische und polemische Zuspitzungen bei der Beschreibung des Nationalcharakters nach dem Ersten Weltkrieg ausgedient hätten. Er machte das Zusammenwirken materieller und spiritueller Faktoren für das Entstehen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls verantwortlich und maß dessen Authentizität an der Ausweitung demokratischer Partizipation. Kultur und Politik hielt er für die prägenden Kräfte, die geographischen Gegebenheiten für eine wichtige, aber nicht entscheidende Komponente. Die Geschichte der Besiedlung und Eroberung mit der daraus folgenden Durchmischung habe in England eine Tradition der Toleranz und des Individualismus ermöglicht.

Diese liberale These fand breite positive Resonanz, blieb aber nicht unwidersprochen. Die Versuche, die Eigenheiten einer Nation zu dokumentieren – als etwas von außen an die Menschen Herangetragenes oder vielleicht gar als etwas, mit dem sie sich freiwillig identifizierten, haben naturgemäß spekulativen Charakter, aufgrund der schwer zu greifenden und je nach Neigung zu interpretierenden Faktenlage. Und so liegt es in der Natur dieser gedanklichen Ansätze, dass sie sich widersprechen.

Ein Mann, auf dessen Expertise sich auch heute noch viele Spurensucher der »Englishness« einigen können, ist der sozialistische Autor George Orwell. Er gab bei seinen Betrachtungen über die »englische Zivilisation« nicht vor, mit wissenschaftlichem Maß zu messen. Doch fand er, jeder, der Augen im Kopf habe, sehe doch, dass es sie gebe, die englische Zivilisation: »It has a flavour of its own.« Sie habe ihren eigenen Geschmack. Orwells England-Betrachtungen waren von ihrer Entstehungszeit geprägt. Die Essays schrieb Orwell im Zweiten Weltkrieg, während feindliche Flugzeuge seine Heimat bombardierten. Unter dem Eindruck des Krieges war Orwell einem Patriotismus zugeneigt, der sich als Widerstand gegen Nationalsozialismus und Stalinismus begriff (und keinesfalls, wie er betonte, als Konservatismus). Er hielt an den Unterschieden zwischen den Nationen fest und daran, dass der Patriotismus eine starke Kraft sei. Und doch werden »England Your England«, »The English People« und »My Country Right or Left« immer wieder zitiert, wenn es um die Qualitäten und die Essenz dessen geht, was man für englisch hält. Diese Schriften wurden später von ihm selbst abschätzig als »Propaganda für den British Council« bezeichnet – die Kulturinstitution für wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen. Der ehemalige Eton-Schüler, der später über seine Erfahrungen als Obdachloser berichten und mit »1984« den stalinistischen Terror beschreiben würde, spürte den verbindenden Wesensmerkmalen seiner Landsleute mit den Mitteln der Beobachtung, der Erfahrung und der dichterischen Intuition nach.

Seine Versuche, das Englische zu beschreiben, werden von links und rechts bis heute geschätzt, auch wenn die Zeit manche seiner Feststellungen eingeholt hat. Orwells Englandbild ist vielleicht deshalb so langlebig, weil es sich nicht ideologisch einordnen läßt, aber möglicherweise auch, weil es nach keiner Seite geglättet ist und Widersprüche zulässt. Er verurteilte die selbstgefälligen Erzkonservativen, die so genannten »Blimps«, und die parasitären Reichen. Doch die linksgerichtete, realitätsferne Intelligenzija überzog er mit Hohn: Beide schienen ihm trotz ihrer gegenseitigen Dauerfehde geistig geradezu verbunden zu sein, oder jedenfalls auf demselben Level zu operieren. Seine Liebe zur Nation hingegen gründete in dem, was er als klassenübergreifende gemeinsame Werte, Erinnerungen und Einstellungen betrachtete, und nicht in Institutionen und sichtbaren Emblemen des Englischen – oder auch der Landschaft.

Die politische Stärke, die Orwell bei seinen Landsleuten wahrnahm, war paradoxerweise gerade ihre Abneigung dagegen: Im Grunde zeichne die Engländer die Liebe zum Privaten, zur Kultivierung des Gartens, das Pflegen ihrer Hobbies vom Briefmarkensammeln bis zum Taubenzüchten und der Genuss einer Tasse Tee aus. Selbst gemeinschaftlich genossene Vergnügungen wie der Besuch eines Pubs oder eines Fußballspiels seien ja eher nur das Persönliche betreffende, nichtöffentliche Beschäftigungen. Diese ausgeprägt individualistische Neigung habe ihnen Abwehrkräfte gegen Massenbewegungen wie den Nationalsozialismus verliehen. Wie sich bei der Gelegenheit des Brexit-Votums dann zeigte, war der berühmte britische Eigensinn, der immer wieder gegen die herrschenden Lehren auf dem Kontinent opponiert hatte, kein harmloser Spleen und noch bestens intakt.

Die Freiheit im Privaten und die Freiheit, ein eigenes Haus zu haben, gingen seinen Landsleuten über alles, schrieb Orwell. Dagegen sei es ihnen ein Gräuel, etikettiert, koordiniert und gezählt zu werden – dass dies bis heute in mancher Hinsicht stimmt, ist etwa an der englischen Allergie gegen Personalausweise ablesbar. Da die »identitiy card« unter ebendiesem Verdacht steht, stemmt man sich seit Jahren gegen deren Einführung. Dass London heute mehr Überwachungskameras als jede andere europäische Stadt besitzt (In diesem Ranking liegt es laut »Die Welt« auf Platz drei weltweit.) und als Metropole der Späher gilt, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen der englischen Mentalität.

Einer ihrer besten, allgemein geschätzten Kenner ist Peter Ackroyd, der in vielen Büchern der Essenz des Englischseins nachspürte und dabei das Faktische und das Mythische stilvoll übereinanderlagerte, mit eindrücklichen Effekten und Resultaten. Seine unorthodoxe Methode erscheint manchen zwar suspekt und mehr auf Dichtung denn auf Wahrheit zu beruhen. Doch schuf er unbestreitbar faktenreiche und atmosphärisch dichte Beschreibungen dessen, was er als spezifisch englisch erkennt, in seinem großen Buch über London, das er als »Biographie« der Stadt bezeichnet und in anderen kulturgeschichtlichen Werken wie »The Origins of English Imagination«.

Talent zur Selbstvermarktung

Überhaupt lässt es sich leichter über England sprechen, als über viele andere Nationen. Denn erstens tut England es gern selbst. Und zweitens sorgte es schon immer dafür, etwas Besonderes zu sein und diese Besonderheiten beizubehalten, im Guten und im weniger Günstigen. So schien vor Jahren dem Literaturwissenschaftler und damaligen Korrespondenten Karl Heinz Bohrer das Land gerade in seiner geschlossenen Form »hermetisch und nur die eigenen Muster variierend« als idealer Gegenstand einer gesonderten Betrachtung. Die Musterhaftigkeit des Landes würde von den natürlichen Bedingungen, dem Meer, dem Regen, den Bäumen suggeriert: »Seine Ferne schafft Stilisierung für den kontinentalen Blick.«1 Diese Gegebenheiten macht England sich zunutze. Auf die Feier des Nationalen und auf dessen Stilisierung versteht es sich bestens und kann aus einem reichen Bestand nationaler Folklore schöpfen, der alle Lebens- und Kulturbereiche umfasst: Die »Last Night of the Proms« mit ihrem »Land of Hope and Glory«, Royal Ascot, die Henley Regatta, Wimbledon, das Bootsrennen zwischen Cambridge und Oxford, Gurkensandwiches und Pimm’s. Rolls Royce, Aston Martin und der Mini. Country-Idyll und Großstadtfeier.

Das ist alles so verbrieft qualitätvoll und Old School wie ein Cricket-Match im Sommer und Erdbeeren mit Schlagsahne. Und »very British«, ein Etikett, das England immer wieder mit neuen Lebensfarben und alten Inhalten zu füllen versteht. Die schwarzen Londoner Taxis, deren Fahrer alles wissen und zu allem eine Meinung haben. Die roten Doppeldeckerbusse, die in ihrer modernen Reinkarnation durch den Designer Thomas Heatherwick nicht viel von ihrem Charme einbüßen mussten. In der Nationalmannschaft zeigt sich der englische Fußball zwar seit langem nicht mehr von der Gewinnerseite, wird aber von seinen Fans so glühend verehrt wie in lang vergangenen Siegertagen. Nur die berühmten roten Telefonzellen konnten der Mobiltelefone wegen vorm Aussterben nicht bewahrt werden.

»Ikonisch« werden die Embleme der nationalen Identität gern genannt – eine in die Tradition hineinreichende Verlängerung des »Trendigen«. Die Medienschöpfung »Cool Britannia« kündigte in der Blair-Ära die Neubelebung des Nationalgefühls als eine angesagte Sache an.

Konventionen, Traditionen und Klassen-Stereotype verbinden sich mit einem Getränk, das wie kein anderes zu diesem Land gehört. Eine Tasse Tee, so glaubt man in England, bringe die Welt in jeder noch so schwierigen Lage wieder in Ordnung. Sie ist das Allheilmittel. Ein klassisches Getränk der Mäßigung. Es schraubt die Seelentemperatur auf einen komfortablen Mittelwert. Man werde sich nach seinem Genuss besser fühlen, heißt es, selbst bei schlimmstmöglichem Befinden: »Was Du brauchst, ist eine Tasse Tee«. Gefolgt von einem der meist gesagten Sätze in britischen Haushalten: »I’ll put the kettle on.« Dabei trinkt man selten edle Sorten, sondern Beuteltees von Allerweltsmarken wie Tetley, Yorkshire Tea oder Typhoo, dem der Maler David Hockney 1961 auf der Leinwand ein Denkmal setzte. Wenn von einer »netten Tasse Tee«, a nice cup of tea, kurz: cuppa, die Rede ist, geht es um ein einfaches Gebräu, im Volksmund der Mittelklasse auch builder’s tea genannt, Bauarbeitertee. Dabei würden Bauarbeiter ihn niemals so nennen. Die Redewendung wird vielmehr von deren Kunden benutzt, um ihre bewundernswerte Solidarität mit dem Proletariat kundzutun. Wer von builder’s tea spricht, befindet sich tatsächlich in größtmöglicher sozialer Ferne von wirklichen Bauarbeitern und möchte die Welt dies auch wissen lassen. Klassenbewusstsein durchdringt alles, vom Reden über den Tee bis zur Auswahl der Lebensmittel beim Besuch im Supermarkt. Auch das ist typisch englisch, auch darüber werden in England ganze Bücher geschrieben.2

Dass Inhalte und Personal der britischen Folklore ihrer sorgsam gepflegten Langlebigkeit wegen weltbekannt sind, ist von bedeutendem Vorteil im Prozess des nationalen Branding, das auf der Insel so gut gelingt wie nirgends sonst. Folglich gilt das so sorgfältig gepflegte Image Englands auch auswärts als erstrebens-, nachahmens- und erkundenswert. Im Land selbst wird es in einem erstaunlichen Maß gelebt und sentimental oder wenigstens ironisch mitgetragen, so dass sich Klischee und Wirklichkeit mischen; wie ja im Klischee immer auch Wahrheit enthalten ist.

Schon die britische Flagge signalisiert nicht mehr allein eine nationale Identität. Der sogenannte Union Jack kommt als Dessin in der Mode und allen angrenzenden Bereichen pausenlos und selbstverständlich zum Einsatz: vom Kissen bis zum Fussabtreter, vom Pullover bis zum Plattencover. Nur die Amerikaner besitzen eine ähnlich beliebte Flagge. Wie zugkräftig diese heftig vermarkteten Objekte nach dem Brexit und den wirtschaftlichen, kulturellen und damit auch touristischen Verheerungen der Corona-Epidemie noch sein werden, die in Großbritannien schlimmer gewütet hat als in anderen europäischen Ländern, bleibt abzuwarten.

Mit weniger Nachdruck übrigens pocht das Land auf sein schönes Wappen, das neben dem Löwen, den es sich mit anderen Ländern teilt, auch ein Einhorn zeigt, das England ganz allein gehört. »Gesehen hat es noch keiner«, schrieb Karl Heinz Bohrer über das Fabeltier. »Hier ist es jedoch zuweilen vorstellbar. Man ist darauf gefasst, ihm wirklich zu begegnen.«3 Auch das Mystische, Märchenhaft-Bizarre weht über die Insel.

Vergangenheitssehnsucht – Rituale der Selbstvergewisserung

Die Widerstandsfähigkeit seiner nationalen Embleme gründet in der Vergangenheitsbesessenheit der Briten. Die Nostalgie ist eine englische Krankheit. Keine andere Nation leidet so gern daran und schwelgt so begeistert in Gestrigem, auch wenn es ein Schweizer war, der den Begriff im 17. Jahrhundert prägte. Und wenngleich das Heimweh nach einer besseren Welt noch weiter zurückreicht, das Wort manche Bedeutungsverschiebungen erlebte und in vielen Ländern Fuß fasste, haben sich die Briten doch als Experten der Vergangenheitssehnsucht etabliert. Die »follies« genannten künstlichen Ruinen englischer Landschaftsparks des 18. Jahrhunderts sind beispielhaft für die damals schon grassierende Nostalgie-Manie. Der Thronfolger, Prinz Charles, hängt mit seiner Liebe zur alten Architektur und seinem energischen Vorgehen gegen manch unliebsame Neubauten ähnlichen Idealen nach. Auch der Brexit hat in Teilen mit der Sehnsucht nach den echten oder erträumten Idealen einer vergangenen Welt zu tun.

Schon Shakespeare zog es vor, die Probleme seiner Zeit im Spiegel einer legendären Vergangenheit zu zeigen (allerdings auch aus Zensurgründen). Und der Viktorianer Alfred Tennyson erklärte, er habe schon als Kind eine Leidenschaft für die Vergangenheit besessen, die ihn nie verlassen habe.4 Dass die Pop-Musik auf der Insel vom Recycling-Business lebt, ist so bekannt wie die Proustschen Madeleine-Erlebnisse, von denen es in der englischen Literatur nur wimmelt – von Evelyn Waughs »Brideshead Revisited« bis hin zu L. P. Hartleys Roman »The Go-Between«, der mit den schönen, inzwischen geflügelten Worten beginnt: »The past is a foreign country: they do things differently there.«

Auch die Liebe zur Tradition hat Tradition in England. Schon im frühen Mittelalter gab es die Vergangenheitssehnsucht, oder das, was der Literaturhistoriker G. T. Shepherd als »the fierce glory of the past« bezeichnete. Die englische Romantik trug den unterirdischen Strom der Vergangenheitsliebe in allen Kunstformen an die Oberfläche. Und das späte viktorianische Zeitalter, das die fortschreitende Industrialisierung und die Entstehung einer neuen urbanen Zivilisation erlebte, blickte bei allem Streben nach Innovationen leidenschaftlich gern zurück. Die Neuerer schöpften Trost aus der Nostalgie und der Erinnerung an ein mittelalterliches England – man denke an die Kunst und das Kunsthandwerk von William Morris und die Malerei der Präraffaeliten. Die Vorstellung von etwas Bleibendem, Dauerhaftem angesichts einer sich schnell drehenden, ständig verändernden Welt, in der Skeptizismus und Unglaube blühten, wirkte stabilisierend. Und Vergangenheit schmiedet Zusammenhalt.

Der schon zitierte George Orwell erklärte sich das Phänomen der Vergangenheitsfixierung 1941 in »England Your England« sarkastisch mit dem Überlebenswillen der herrschenden Klasse. Nur dank ihrer Unfähigkeit zu begreifen, dass es die Möglichkeit zur Verbesserung gebe, sei es ihr gelungen, die englische Gesellschaft in ihrer bestehenden Form zu erhalten. Dies wiederum habe sie durch einen starren Blick auf die Vergangenheit erreicht, und die damit einhergehende Weigerung, Veränderungen wahrzunehmen: »They had to feel themselves true patriots, even while they plundered their countrymen. Clearly there was only one escape for them – into stupidity. They could keep society in its existing shape only by being unable to grasp that any improvement was possible. Difficult though this was, they achieved it, largely by fixing their eyes on the past and refusing to notice the changes that were going on round them.«

Doch nicht nur der englische Adel richtet seinen Blick gewohnheitsmäßig auf die Vergangenheit. Allen Klassen gemeinsam ist ein Beharrungsvermögen auf ihren Werten und eine Vielzahl von Ritualen, an denen jahrhundertelang festgehalten wird, eisern. Darin kann man auch einen der Gründe für die Fortdauer der englischen Monarchie, des Oberhauses oder der Privilegien der Londoner City sehen. Oder man denke an die Fuchsjagd, einen seit 1660 existierenden ländlichen Brauch, der vor allem den Landadel unterhielt, von Tierschützern aber als Blutsport angeprangert wurde. »Das Unaussprechliche in Verfolgung des Ungenießbaren« nannte der Ire Oscar Wilde diese Betätigung, die schließlich per Sondergesetz des Unterhauses abgeschafft wurde und seit Februar 2005 verboten ist: Vorangegangen war ein sieben Jahre währender, zäher Streit zwischen dem Unterhaus und den konservativen Lords des Oberhauses, die immer wieder ihr Veto einlegten, bis der Sprecher des Unterhauses durch die Anwendung des bisher erst dreimal zum Einsatz gekommenen »Parliament Act« von 1949 die Umsetzung des Gesetzes erzwang. Die Fuchsjagd hatte die Nation gespalten, als ginge es um ihr Leben – oder wenigstens um ein identitätsstiftendes Heiligtum. Doch mit dem juristischen Beschluss fand die Saga um das rothaarige Tier noch längst kein Ende: Heute, so heißt es, würden mehr Füchse gejagt, als je zuvor, da die Jäger sich eine Lücke des so heiß umkämpften Gesetzes zunutze machten. Und in ländlichen Gebieten zu früher Morgenstunde ist ohnehin schwer zu kontrollieren, wer da durch Nebel und Wind reitet. Nur die Umweltschützer kommen den Gesetzesbrechern offenbar immer wieder auf die Schliche, und beide Seiten liefern sich handgreifliche Gefechte.

Die Gründe für die Liebe zum Ritual mögen in der Homogenität eines Landes liegen, das tausend Jahre lang keine Invasionen erleben musste und auf die Kontinuität einer langen Geschichte zurückblickt, eines Landes, das keine geschriebene Verfassung besitzt, aber auf einigende, gemeinsame Symbole zurückgreifen kann. Natürlich besteht eine Verbindung zwischen dem Drang, Vergangenes zu bewahren und einem Konservativismus im Sinne der Konservierung. Diese geistige Strömung reicht tief. Sie läßt sich auch im Alltäglichen ablesen, wie etwa an der Uniformität englischer Reihenhäuser: Seit Jahrhunderten werden Häuser nach dem gleichen oder ähnlichen Mustern gebaut. Die Straßen folgen oft uralten Fahrbahnen, die auf römische Erbauer zurückgehen. Die City of London erhebt sich zwischen und über einer Vielfalt von Altem und Vergangenem, das nur teilweise noch sichtbar ist. Ihre Verwaltungsgebäude gehen auf angelsächsische Bauten, die denselben Zweck erfüllten, zurück. Und wer heute ein Haus kauft, der zahlt für ein windschiefes Cottage oder ein kleines, zugiges viktorianisches Reihenhaus einen weitaus höheren Preis als für ein moderneres, größeres Modell in derselben Gegend. Das Alte gilt als vornehmer und charaktervoller. Das Neue besitzt längst nicht so viel Prestige.

Zum englischen Festhalten an der Vergangenheit gehört auch eine Seite, die vorübergehenden Besuchern nicht so deutlich wird wie jedem, der einmal in diesem Land gelebt hat. Es ist die unablässige Beschäftigung mit der eigenen Kriegsgeschichte, insbesondere der vergangenen beiden Weltkriege. Keine Nation befasst sich so obsessiv damit wie Großbritannien. Fast täglich nimmt sich irgendein Fernsehprogramm vergangener Luftschlachten und anderer Aspekte der kriegerischen Historie an. Archivbilder ergänzen die Erinnerungen von Veteranen, und Churchill schreitet durch alte Wochenschauen. Als während der Corona-Pandemie der 100-jährige Weltkriegskämpfer Thomas Moore mit seinem Rollator Runden drehte, um Spenden für das Gesundheitssystem zu sammeln, war sein Heldenstatus schnell etabliert. Unter dem Namen »Captain Tom« wurde der ehemalige Offizier zum Publikumsliebling, mit dessen Optimismus und pragmatischer Toughness sich die Nation identifizieren konnte – sein Einsatz im Weltkrieg stand für die Kontinuität, die man im Land so schätzt und festigte den Ruhm dieses fragilen Helden.

In London gedenkt das erst vor ein paar Jahren aufwändig renovierte und immer gut besuchte Imperial War Museum der Kriege des Königreichs, und Churchills unterirdische Kommandozentrale aus dem letzten Weltkrieg ist in der Nähe der Parlamentsgebäude zu besichtigen. Der 11. November wird als Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs Jahr für Jahr als patriotischer Akt des kollektiven Gedenkens mit so viel Gefühl und Pathos wie möglich begangen. Viele stecken sich rote Mohnblumen aus Plastik oder Papier an, die an die blutgetränkten Schlachtfelder erinnern sollen, legen Kränze nieder. Zur Erinnerung an den hundert Jahre zurückliegenden Kriegsbeginn ergoss sich 2014 aus dem Tower of London ein Strom von 888 246 Keramik-Mohnblumen in den Burggraben, die in genauer Zahl an die Gefallenen erinnern sollten. Gesten wie diese fügen sich in eine britische Erinnerungskultur, die dem Great War von jeher einen hohen Stellenwert beimaß. Trotz der schweren Verluste, die Großbritannien in beiden Kriegen erlitt, ging das Land doch als Sieger aus ihnen hervor.

Unsterbliche Idole

Das Festhalten am Althergebrachten gehört zur Ausstattung der Englishness. Die derzeitige Monarchin genießt als Teil des forterzählten englischen Märchens schon zu Lebzeiten den Ruhm der Unantastbarkeit, der normalerweise nur verstorbenen Größen zuteilwird. Hilfreich ist die Beständigkeit ihrer Requisiten, die kein Drehbuchschreiber besser hätte erfinden können – Kopftuch, Corgis, Handtasche und das Tragen bonbonfarbener Kleider, die sie aus jeder Menschenmenge herausstechen lassen. Wie jeder echte Star besitzt die Queen hohen Wiedererkennungswert. Auch Winston Churchill ist längst über die Geschichtsbücher hinausgewachsen. Der Hut, die Zigarre, die Victory-Geste und seine Bonmots gingen in die kollektive Phantasie ein.

Das Charisma der englischen Berühmtheiten ist mit oft jahrhundertelanger Haltbarkeit versehen – auch dank sorgfältiger (Traditions-)Pflege. So verursachte 2012 der Fund eines Skeletts unter einem Parkplatz in Leicester einen wahren Medientaumel. Es wurde dem vermeintlich bösenKönig Richard III. zugeordnet. Mit allem Pomp wurde er schließlich, 530 Jahre nach seinem Tod 1485, standesgemäß zu Grabe getragen. Um Richards schlechten Ruf hatte sich bereits Shakespeare gekümmert, mit nachhaltiger Wirkung.

Persönlichkeiten, die England tief verehrt, werden zelebriert, in Büchern, Filmen, Zeitungen, auf dem Theater, im Netz. Egal ob sie tot, lebendig oder erfunden sind. Die Lieblingsdichter der Nation zum Beispiel, William Shakespeare und Charles Dickens. Die Beatles. David Bowie. Aber auch fiktionale Helden leben mit so unheimlicher Selbstverständlichkeit im Bewusstsein der Nation, als ob sie je geboren worden wären. Jane Austens Mr. Darcy und Emily Brontës Heathcliff, zwei große Liebende der Weltliteratur, wurden 2018 auf dem angesehenen englischen Literaturfestival in Cheltenham verrissen, ausgebuht, moralisch vernichtet. Das war, als die MeToo-Debatte in eine besonders intensive Phase ging. Mr. Darcy wurde damals als »manipulativer heuchlerischer, selbstbezogener Depressiver« beschimpft. Noch schlechter kam Brontës Held weg. Die Frage »Heathcliff versus Darcy: Who is the Bigger Shit?«, entschied der Anti-Held Heathcliff für sich. Was nach einer Niederlage für die bösen Buben der Literatur klang, bestätigte in Wirklichkeit, dass sie im Lauf der Jahrhunderte die Sphäre der Literatur längst verlassen haben. Sie werden wie echte Menschen behandelt, an deren Verfehlungen man hemmungslos herummaulen und die man an zeitgenössischen Standards messen kann. Zugleich liebt England seine Bad Boys, eine Neigung, die auch die Auswüchse der MeToo-Bewegung überleben wird. Siehe Richard III.

Auch Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes ist einer von ihnen. Er sei »der größte Londoner, der nie gelebt hat und nie sterben wird«: Mit diesen Worten kündigte das Museum of London seine Schau über den berühmtesten aller literarischen Detektive an. Der kokainsüchtige Musikliebhaber, Freak und Gentleman aus 221 B Baker Street hatte längst den Weg aus der literarischen Vorlage in die Wirklichkeit gefunden. »Was ist es heute, Kokain oder Morphium?« fragt Watson seinen Freund im ersten Kapitel von »The Sign of Four« (1890). Die Nation und die Welt lieben den cleveren Exzentriker, den hoch intelligenten Soziopathen mit seiner Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen – oder zu haben. In immer neuen Filmen und Serien wird die Figur aktualisiert. Es sind Beiträge zu Sherlocks Unsterblichkeit. Die übrigens daran erinnern, dass England den Kriminalroman und Kriminalfilm als Standardgattungen durchgesetzt hat.

In mancher Hinsicht ähnelt Sherlock Holmes dem 1953 von Ian Fleming erfundenen James Bond. Der Geheimagent Ihrer Majestät ist, wie Holmes, ein Außenseiter und ein Exzentriker, der mit unkonventionellen Methoden letztlich für nichts geringeres als den Erhalt der englischen Gesellschaft kämpft. Zum Ausdrucksrepertoire dieser britischen Idole gehören die knappe Bosheit, der Sarkasmus und die leicht affektierte Ironie. Sie sind im Grunde ihres Herzens blasierte Melancholiker, legen Wert auf untadelige Haltung, kennen die Regeln und brechen sie, wenn nötig. Ihre Grausamkeit beruht auf einer realistischen Einschätzung der Dinge. Trotzdem oder gerade deswegen sind wir immer auf ihrer Seite.

Auch Bonds Unverwüstlichkeit erwächst aus seiner Fähigkeit, sich den Zeitläuften anzupassen. Im Film änderte sich sein Charakter mit jedem Darsteller, und in der Romanserie aktualisierte Ian Fleming sogar seine Herkunft: Die erste Verfilmung mit dem Schotten Sean Connery begeisterte Fleming so sehr, dass er den Bond seiner nächsten Bücher mit schottischer Verwandtschaft versah. Auf den sardonischen Connery folgte der sanft-ironische Roger Moore, um zwei der markantesten Darsteller zu nennen.

Daniel Craigs heutiger Bond ist schweigsamer und weltverdrossener als seine Vorgänger mit ihrer selbstbewussten, gutgelaunten Überheblichkeit. Und es war Craig, der darauf bestand, dass eine Frau das Drehbuch des letzten Films mitgestalten sollte: Die mit Witz und feministischem Gespür gesegnete Phoebe Waller-Bridge soll 007 in »No Time to Die« (2021) eine coole Landung im MeToo-Zeitalter ermöglichen. Denn den Agenten Ihrer Majestät kann nichts erschüttern. Seine Landsleute sehen sich gern in ihm. In »Casino Royale« (2006) strebt Craig zur Bar, bestellt den berühmtesten aller Bond-Drinks, einen Vodka Martini. Der Barmann fragt: »Geschüttelt oder gerührt?« Bond gibt sich tiefgekühlt: »Do I look like someone who gives a damn?« Geschüttelt, aber ungerührt.

Brexit, der lange Abschied: Argumente, Akteure, Reaktionen

Europa hatte nie richtig geglaubt, was sich am Morgen nach dem Referendum am 23. Juni 2016 bestätigte: Dass England und seine Medien die EU schon immer für ein nationales Unglück hielten und allem aus Brüssel Kommenden mit tiefem Misstrauen begegneten. Man musste auch begreifen lernen, dass es mehr als nur einem harmlosen Spleen zu verdanken war, warum die Briten am Pfund Sterling, am Pint, der Unze, an der Meile und am Fahren auf der »richtigen« Straßenseite festgehalten hatten. Doch nicht nur Europa war im Schockzustand. Die halbe Welt rieb sich die Augen.

Einer der Gründe für die Überraschung war ein altes Klischee mit hohem Wahrheitsgehalt: Liebe macht blind. Europa verdrängte die Möglichkeit der Zurückweisung, des Bruchs. Man glaubte an die Gegenseitigkeit des Gefühls. Die verklärende Sicht auf Großbritannien hat Tradition. Sie steht im Zusammenhang mit der oft romantisierten – und häufig sehr einseitigen – Liebe zu allem Englischen: Weltweit werden die Anglophilie und ihre hysterische Schwester, die Anglomanie, von vielen Menschen geteilt. Die Englandliebe verbindet Thomas Mann mit Madonna und T. S. Eliot (eigentlich ein Europhiler), Quentin Tarantino und Bill Bryson. Schon Voltaire begeisterte sich in seinen »Lettres philosophiques« (1733/34) für das ihm vorbildlich erscheinende Inselreich, das er aus mehrjähriger eigener Anschauung von innen kannte. Das Buch verärgerte die französischen Landsleute, was prompt zu seinem Verbot im eigenen Land führte. Französische Aufklärer wie Voltaire vermittelten die Wertschätzung der britischen empirischen Philosophie des 18. Jahrhunderts auch nach Deutschland. Montesquieus »De l’esprit des loix« (1748) galt als das wichtigste Werk und als Trendsetter der politischen Anglophilie seiner Zeit, und fortan gehörte es auch in Deutschland zum guten Ton, den liberalen Geist des Inselreichs zu rühmen. Heinrich Heine meldete 1827 in seinen »Englischen Fragmenten« zwar Zweifel am umfassenden Freiheitsbedürfnis des Landes an, stellte aber fest: »Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen, und wehe dem rotgeröckten Burschen, der sich in ihr heiliges Schlafgemach drängt – sei es als Galant oder als Scherge.«

Im Laufe der Zeit entstand in vielen Teilen der Welt eine tief wurzelnde Begeisterung für die englische Kultur, sowohl für die hohe wie auch für die populäre. Das Königshaus mit seinen markanten Ritualen bündelte Märchensehnsüchte demokratischer Europäer. Die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit« nahm den Brexit zum Anlass für einen Aufruf, die Engländer über ihren – selbst herbeigeführten! – Verlust der EU-Mitgliedschaft durch einen »Candystorm« hinwegzutrösten. Als es zum Bruch kam, schrieben sich Tausende von Lesern ihre Liebe zu allem Britischen vom Herzen: von Fish and Chips bis hin zum frittierten Schokoriegel kam verklärend jede Eigenheit und jeder Konsumartikel zur Sprache, der für das Königreich als typisch gilt. Geschmeichelt berichtete die BBC darüber. Hätte ein Austritt irgendeines anderen Landes aus der EU einen ähnlichen Effekt gehabt wie der britische Abschied?

Für die Briten war all das am Morgen nach dem Referendum nicht mehr wichtig – wenn es das je gewesen war. Doch auch in Großbritannien selbst reagierten viele überrascht. Zeichen hatte es viele gegeben, im Kleinen wie im Großen, in der Politik und im Alltag. Man hätte es kommen sehen müssen. Wie konnte das passieren?

Reaktionen im eigenen Land

Keineswegs ist es so, wie oft behauptet wird: Dass die Nation anhaltend, lange und unter leidenschaftlicher Beteiligung der Bevölkerung im Vorfeld über diese Entscheidung diskutiert hätte. Im Gegenteil. Das öffentliche Gespräch darüber in den Jahren, die zwischen der Ankündigung des Referendums und dem Wahltag lagen, schleppte sich lustlos dahin, von den meisten eher aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Es war das vage Desinteresse einer Zeit, die nicht an große Veränderungen im Königreich glaubte und annahm, dass alles beim Alten bleiben werde. Drei Jahre verstrichen, in denen Klärungen und Erklärungen versäumt wurden. Erst in den letzten Monaten vor der Wahl verfielen die Medien in aufgeregte Betriebsamkeit und die Pro- und Contra-Kampagnen liefen plötzlich auf Hochtouren. Auch eine vertiefte Diskussion über den Brexit setzte am Ende noch ein, endlos, betäubend, alles überdröhnend. Nachdem die Entscheidung gefallen war.

Am Morgen nach der Abstimmung erwachte das Land schlagartig aus seiner politischen Lethargie. Die »Leaver« konnten ihr Glück kaum fassen, während die »Remainer« aufgestachelt in verzweifelten Aktionismus verfielen, als ob es noch etwas umzukehren gäbe. Auf einmal fanden sie sich zu Demonstrationen zusammen, zu lautstarken Meinungsbekundungen, aber auch zur kritischen Selbstbetrachtung. Man habe so lange in seiner liberalen »Blase« gelebt, dass man einen Großteil der Bevölkerung offenbar gar nicht wahrgenommen habe. Stellvertretend für viele »Remainer« bezichtigten sich Künstler wie der Musiker Brian Eno und der Töpfer Grayson Perry der politischen Blindheit. Sie nahmen den Brexit reuig als Weckruf wahr.

Doch der Volksentscheid war nur der Anfang des langen Abschieds von Europa. Erst nach fast einem halben Jahrzehnt, zwei Neuwahlen und einem zweimaligen Auswechseln des Regierungschefs trat Großbritannien Anfang 2020 aus der EU aus. Und am 1. Januar 2021 verließ es schließlich den Binnenmarkt und die Zollunion mit einem hauchdünnen Brexit-Deal. War es ein harter oder ein weicher Brexit? Am Ende ließ es sich kaum mehr sagen. Der Ressourcenverschleiß war enorm, der Prozess für das ganze Land zermürbend und lähmend.

Das Volk hatte sich mit einer extrem hohen Beteiligung bei der Abstimmung zu Wort gemeldet. Mit über 72 Prozent lag sie noch deutlich über den 66,1 Prozent, die sich für die Unterhauswahlen 2015 registriert hatten. Insgesamt 46,5 Millionen Menschen hatten an der Brexit-Wahl teilgenommen, bei einer Einwohnerzahl von damals 65,38 Millionen in Großbritannien.