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Erst seit wenigen Monaten ist Isaac Finley der Chefbutler von Lord Mortimer und seiner Familie, da erbt Seine Lordschaft ein uraltes Herrenhaus in Nordengland. Daraufhin verlassen die Mortimers London und ziehen mit Sack und Pack und allen Dienstboten in die North York Moors, eine trübe, düstere, abgelegene Gegend, in der sich der junge Butler Isaac so gar nicht wohlfühlt.
Außerdem ist da noch die Legende von Black Shuck, einem schwarzen Geisterhund, der es angeblich auf die Mortimers abgesehen hat und erscheinen soll, wenn die Familie jemals wieder in die North York Moors zurückkehrt. Und tatsächlich bricht schon bald das Grauen über die Mortimers herein - und auch über ihren Butler Isaac Finley ...
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Die Rache des Höllenhundes
Vorschau
Impressum
Die Rachedes Höllenhundes
von Henry Cardell
Als sich nach Einbruch der Nacht die Dunkelheit über das kleine Städtchen Stapleton legte, dauerte es nicht lange, bis ein dichter Nebel vom nahe liegenden Moor her aufzog, durch die engen Straßen und Gassen kroch und sich schließlich auch im letzten Winkel des kleinen Dorfes festgesetzt hatte.
Der Zweihundert-Seelen-Ort Stapleton, der abgeschieden inmitten der North York Moors knapp dreißig Meilen von der nächsten Stadt Middlesbrough entfernt lag, war in allen Belangen das, was man gemeinhin als verschlafenes Nest bezeichnete. Die Einwohner, allesamt Nachfahren einstiger Landwirte, Jäger und Schafzüchter, störten sich jedoch nicht daran. Man war zufrieden mit dem einfachen und entschleunigten Leben fernab der Hektik der Großstädte und Touristengebiete und genoss die altmodische Gemütlichkeit der Umgebung.
Am gegenüberliegenden Ende des Dorfes lag der obligatorische Pub mit dem für einen Außenstehenden seltsam anmutenden Namen ›The Black Hound‹. Über der dunklen Eingangstür hing, in der Kälte sanft hin- und herschwingend, ein großes Schild, auf dem das Abbild des namensgebenden Hundes gemalt war. Mit rabenschwarzem Fell und heraushängender roter Zunge schien er sich auf ein kleines Lamm zu stürzen, das ängstlich am Rand kauerte und auf sein unvermeidliches Schicksal wartete.
Hinter den mit dicken Vorhängen verdeckten Fenstern des Pubs konnte man einen fahlen Lichtschein erahnen, der zusammen mit Stimmengewirr darauf hinwies, dass die Kneipe trotz der späten Stunde noch geöffnet war.
Die Fachwerkfassade des Gebäudes mit ihren schwarzen Balken und dem schmutzig weißen Verputz zeigte auf einen kleinen geschotterten Platz, der als Abstellmöglichkeit für die Autos der Besucher diente. Da allerdings jeder Gast des Pubs aus Stapleton stammte und zu Fuß kam, war der Anblick eines Wagens, der dort stand, eher die Ausnahme.
Tagsüber stellte man hier bei sonnigem Wetter einige Stühle und Tische auf, damit die Menschen im Schatten eines gewaltigen Bergahorns, der seit Ewigkeiten neben dem Gebäude stand, ihren wohlverdienten Feierabend genießen konnten. In den Abendstunden und in der Nacht war der Platz im Normalfall ständig leer. Heute jedoch nicht.
Zwischen dem Pub und dem riesigen Baum, an einem Punkt, an der sich der Nebel besonders dicht zu ballen schien, schälte sich langsam, wie das bizarre Spiegelbild des Kneipenschilds, der Umriss eines echten schwarzen Hundes aus der Finsternis.
Zögernd schlich das Tier aus der Dunkelheit, jedoch nicht weiter als an den Rand eines Lichtkreises, den eine Straßenlaterne auf den Platz warf. Dort senkte der Hund den Kopf und schnupperte am Boden, wo der Dunst seine breiten Pfoten umspielte.
Eine Zeit lang waren die hektischen Schnüffelgeräusche der einzige Laut, der in der Stille der Nacht über den leeren Platz drang. Doch nach einem Augenblick war, zunächst undeutlich, dann immer hörbarer, der Klang von Stiefeln zu vernehmen, die auf dem feuchten Asphalt der Dorfstraße stapften.
Der Hund hob den Kopf, spitzte die Ohren und lauschte angespannt in die Nacht. Er zog die Lefzen nach oben und leckte sich mit der Zunge über die spitzen Zähne, während er instinktiv einen Schritt zurück in die Dunkelheit machte.
Es war eindeutig ein Mensch, der dort die Straße entlangkam und sich schnell dem Pub näherte.
Im Körper des Tieres spannte sich jeder Muskel, als es weiterhin mit funkelnden Augen die Straße hinabblickte, aus der das Geräusch kam.
Zunächst erschien nur ein menschlicher Schatten, den die Straßenlaternen auf die umliegenden Häuserfassaden warfen. Doch schon bald kam ein hagerer alter Mann um die Ecke und steuerte, zwar schwankend, aber zielgerichtet den Pub an.
Er trug einen heruntergekommenen Armeeparka, fingerlose Wollhandschuhe und schwere Arbeitsstiefel, deren Schrittgeräusche nur dürftig vom Nebel verschluckt wurden. Sein zerfurchtes Gesicht mit der spitzen Nase und den kleinen dunklen Augen ging in eine faltige hohe Stirn über. Ein Kranz übrig gebliebener Haare war von grauen Streifen durchzogen und fiel ihm in langen Strähnen bis auf die Schultern. Ungepflegte Bartstoppeln an Wange, Kinn und Hals waren von derselben Farbe.
Während sich der alte Mann dem Platz vor dem ›Black Hound‹ näherte, wanderte sein Blick unstet von einer Seite zur anderen. Ganz so, als wäre er auf der Suche nach etwas oder jemandem.
Der schwarze Hund im Schatten des Bergahorns duckte sich leicht in den Nebel und schien bereit, sich jeden Moment auf den Menschen zu stürzen, sobald er in Reichweite kam.
Als der Alte den leeren Platz betrat, knirschte der Schotter unter seinen Füßen, was für den Hund scheinbar das Zeichen war, loszurennen. Mit einem gewaltigen Sprung sprengte er aus dem Nebel und fegte auf den Mann zu, der für einen Moment erschrocken innehielt.
Als der Hund nahe genug herangekommen war, machte er einen langen Satz und sprang den Mann an. Der wankte kurz einen Schritt zurück und drückte den Hund dabei instinktiv nach unten.
Schließlich ging er stöhnend in die Hocke und kraulte dem Tier das Fell hinter den Ohren.
»Hector, du Töle!«, sagte er, und der Hund hechelte ihn freudig an, den Schwanz heftig wedelnd. »Hab dich schon überall gesucht. Bist wohl schon allein vorgelaufen, hä?«
Hector leckte seinem Herrchen kurz über die Wange, löste sich aus dessen Griff und begann, den Mann zu umkreisen.
»Kannst wohl nich' erwarten, ins Warme zu kommen.« Der Alte erhob sich ächzend, wischte sich mit der behandschuhten Hand übers Gesicht und setzte seinen Weg zum Pub fort.
Der Hund namens Hector machte währenddessen damit weiter, den Boden des Parkplatzes zu beschnüffeln und aufgeregt hin- und herzuwandern.
Als der Mann die Eingangstür des Pubs erreichte, legte er die Hand auf die Klinke, trat seine schmutzigen Stiefel an der Fußmatte ab und warf dem Hund einen ungeduldigen Blick zu.
»Na komm schon«, zischte er. »Is' verdammt kalt geworden!« Hector gehorchte und trottete auf sein Herrchen zu. »Außerdem möchte ich heute Nacht nich' länger als nötig hier draußen bleiben.«
Der Mann warf einen letzten nervösen Blick über den Parkplatz, drückte die Tür nach innen und ließ Hector durch den Spalt schlüpfen. Dann folgte er ihm in den Pub.
†
Augenblicklich umfing ihn eine dumpfe Wärme, die von einem kleinen Holzofen stammte, der in einer Ecke des Gastraumes munter vor sich hin bollerte. Hector tänzelte mit klackernden Pfoten auf den Ofen zu und rollte sich mit einem Seufzer auf dem Boden davor zusammen.
Unter der Decke des Raumes ballte sich dicker Tabakqualm. Obwohl seit Jahren in allen englischen Pubs ein Rauchverbot herrschte, scherte sich die Besitzerin des ›Black Hound‹ nicht sonderlich darum. Und die Gäste aus Stapleton waren ihr für ihren Mut sehr dankbar. Sie liebten es, sich an den Tischen in ihre Rauchwolken einzuhüllen, in einer Hand eine Zigarette oder Pfeife, in der anderen den obligatorischen Bierkrug haltend.
Bei der erwähnten Besitzerin, die sich über die üblichen Gesetze und Verordnungen hinwegsetzte, handelte es sich um eine junge schwarzhaarige Frau mit grünen Augen namens Mary. Ihr genaues Alter war ihr schwer anzusehen. Allein anhand ihres Aussehens konnte man sie auf kaum mehr als dreißig Jahre schätzen. Wenn man sich allerdings ein wenig mit ihr unterhielt, merkte man schnell, dass hinter ihren Worten und Aussagen manchmal eine Tiefgründigkeit und Lebenserfahrung steckte, die man von einem solch jungen Menschen nicht unbedingt erwartete.
Hectors Besitzer stapfte zielstrebig auf Mary zu. »Gib mir 'nen Doppelten«, sagte er und nickte ihr auffordernd zu.
Ohne einen Kommentar abzugeben, fischte Mary eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus dem Regal und goss den Inhalt zweifingerbreit in ein Whisky-Glas. Währenddessen ließ der Mann seinen Blick durch die Gaststube wandern.
Der Raum war leer, bis auf ein halbes Dutzend Männer unterschiedlichsten Alters, die lebhaft miteinander diskutierten.
Ein fetter Kerl mit feistem Gesicht hob seinen Bierkrug und prostete dem Mann an der Theke zu.
»Hey, Fletcher!«, rief er quer durch den Pub, und seine Stimme verriet, dass er schon einiges getankt hatte. »Was führt dich denn zu so später Stunde aus deinem Wäldchen heraus?«
Der alte Mann namens Fletcher legte den Kopf in den Nacken und kippte den Whisky in einem Zug in die Kehle. Dann stellte er das Glas betont bedächtig zurück auf die Theke und wischte sich mit dem Jackenärmel den Mund ab.
»Noch einen, Mary«, flüsterte er und starrte mit glasigem Blick an der Schulter der Pub-Besitzerin vorbei in den trüben Spiegel, der hinter ihr hing. Die schwarzhaarige Frau zögerte kurz und schenkte ihm dann eine zweite großzügige Menge Whisky in das Glas.
»Alles in Ordnung, Fletcher?«, fragte sie. »Du siehst furchtbar aus.«
»Da hast du vollkommen recht, Mary«, keifte der fette Kerl am Tisch. »Zumindest sieht er noch furchtbarer aus als sonst. Als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Einige Sekunden lang zeigte der Angesprochene keinerlei Reaktion, bevor er mit einem lauten Knall das Whiskyglas auf den Tresen hämmerte.
»Dir wird das Lachen noch vergehen, wenn du hörst, was ich zu erzählen hab.«
Fletcher stieß sich von der Theke ab und näherte sich schwankenden Schrittes dem Tisch der Männer.
»Ich war vor Einbruch der Dunkelheit mit dem Fahrrad unterwegs, wenn ihr's wissen wollt. Ein Stück außerhalb Stapletons. Beim leer stehenden Herrenhaus der Mortimers.«
Bei der Erwähnung des Herrenhauses schien sich eine bedrückende Stille über den Gastraum zu legen.
»Und wenn ihr Volltrottel wüsstet, was ich dort gesehen hab, würden sich eure Spatzengehirne vielleicht mit wichtigeren Gedanken beschäftigen, als den Rugbyergebnissen vom Wochenende oder was euch eure Weiber morgen Abend zum Fressen auf den Tisch stell'n werden.«
Er baute sich vor den Männern auf und funkelte jeden Einzelnen durchdringend an.
»Was hast du dort gesehen, Fletcher?« Die Frage hatte Mary gestellt, die langsam hinter dem Tresen hervorkam.
»Rege Betriebsamkeit«, sagte er, jede Silbe betonend. »Handwerker, Umzugswägen, Bedienstete und was weiß ich nicht alles. Die schleichen alle da oben rum.«
Die Männer am Tisch wechselten beunruhigende Blicke miteinander.
»Neugierig wie ich bin, hab ich mir einen von den Arbeitern geschnappt. Einen, der noch grüner hinter den Ohren zu sein schien als du, Riley. Und den hab ich gefragt, was da eigentlich los sei. Wisst ihr, was er mir gesagt hat?«
Obwohl die Männer die Antwort erahnten, hielten sie doch den Mund. Vielleicht hatte sich der Alte nur geirrt, hofften sie. Was beileibe nicht das erste Mal gewesen wäre.
Fletcher ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Ein gewisser Lord Mortimer kommt mit seiner gesamten Familie aus London hierher nach Stapleton und wird mit Mann und Maus noch diesen Monat in das alte Herrenhaus einziehen.«
Als er in die bleich gewordenen Gesichter starrte, die ängstlich und beunruhigt auf die zerkratzte Tischplatte vor sich blickten, hätte er fast laut aufgelacht. Allerdings wusste er selbst am besten, was diese weitreichenden Neuigkeiten für den gesamten Ort und seine Einwohner bedeuteten, und so blieb ihm das Lachen im Hals stecken.
»O ja«, sagte er stattdessen mit leiser Stimme. »Nach beinahe vierhundertfünfzig Jahren kommen die Mortimers zurück zu uns ins North York Moor. Und ihr wisst ganz genau, was das heißt, nich' wahr?«
Die Stille im Black Hound schien noch bedrückender zu werden, falls das überhaupt möglich war. Nach einer endlos scheinenden Pause flüsterte der junge Riley schließlich die beiden Worte, an die alle in diesem Moment dachten. Die Worte, die niemand anderes laut auszusprechen wagte.
»Black Shuck!«
»Black Shuck«, bestätigte der alte Mann. »So is' es.«
Riley hob seinen Bierkrug an und starrte erschüttert auf die Schaumkrone. »Wird der Erbe Mortimers auf sein Herrenhaus zurückkehren« zitierte er bedeutungsschwanger die Geschichte, die jeder am Tisch auswendig kannte, »kündigt das ebenso an, dass die Rückkehr des Geisterhundes Black Shuck bevorsteht. Der, der Tod und Verderben mit sich bringen wird.«
Dann setzte er den Krug an die Lippen und leerte ihn mit einem Zug. Alle anderen taten es ihm gleich.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Riley in die Runde, nachdem er den leeren Bierkrug vor sich auf den Tisch abgestellt hatte. Hilfesuchend wandte er seinen Blick an Fletcher, als wäre ausgerechnet er die Lösung des Problems.
Der zuckte nur mit den Schultern, drehte sich zu Mary um und orderte einen weiteren Whisky.
»Gott steh uns bei«, flüsterte Riley und umklammerte hilflos den Bierkrug.
»Gott steh uns bei«, wiederholte Fletcher mit zitternder Stimme und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tresen.
Ein betretenes Schweigen legte sich über den Gastraum, während sich die Anwesenden nach und nach der Tragweite der soeben ausgesprochenen Neuigkeiten vollends bewusst wurden.
Einige am Tisch bekreuzigten sich...
†
Zu behaupten, ich hätte begeistert reagiert, als Lord Mortimer entschlossen hatte, London mit Sack und Pack den Rücken zu kehren, um den Rest seines Lebens im trostlosen North York Moors zu verbringen, wäre eine glatte Lüge gewesen.
Es lag erst neun Monate zurück, seit ich das renommierte ›British Butler Institute‹ in unserer Hauptstadt London mit einem erfolgreich absolvierten Abschluss verlassen und die prestigeträchtige Stelle des Chefbutlers bei der Familie Mortimer angetreten hatte. Verständlicherweise lag mir deshalb mit meinen achtundzwanzig Jahren nicht viel daran, bereits jetzt den hektischen, aber herrlichen Trubel, den ich in meiner spärlichen Freizeit so genossen hatte, mit der ländlichen Langeweile des nördlichen Englands einzutauschen.
Zu meinem Bedauern war jedoch erst kürzlich ein Onkel Lord Mortimers im hohen Alter von einhundertundzwei Jahren verstorben. Ironischerweise war für sein Ableben ein verschluckter Hühnerknochen verantwortlich gewesen, an dem er erstickte, und nicht die Altersschwäche, wie man vielleicht vermuten könnte.
Jedenfalls war dieses unscheinbare Stück Knochen nicht nur am Tod des alten Mannes schuld, sondern auch daran, dass an die Stelle meines gewohnten Lebens in der Großstadt für eine unbestimmte Zeit die Ruhe eines einsamen Herrenhauses treten musste. Denn als der Anwalt der Familie das Testament verkündet und den trauernden Anwesenden mitgeteilt hatte, dass zum gewaltigen Erbe des Onkels (neben diversen Aktienanleihen, einem mit wertvollen Kunstgegenständen voll gestopftem Penthouse in der Londoner Innenstadt, sowie einigen Rennpferden) ebenfalls ein leer stehendes Herrenhaus im idyllischen Nordengland gehörte, war der Entschluss Lord Mortimers beinahe sofort in Stein gemeißelt.
Wohl war mir bei dem Gedanken nicht, die nächsten Jahre meines Lebens in der Einöde eines nahezu verlassenen Moores zu verbringen. Aber da ich während meiner Ausbildung gelernt hatte, dass Loyalität zu einer der absolut wichtigsten Tugenden eines Butlers gehört, nahm ich die Entscheidung des Lords zähneknirschend in Kauf.
Wir, das heißt außer mir noch Lord und Lady Mortimer, sowie ihr gemeinsamer Sohn Frederick, hatten London also am festgelegten Umzugstag nach dem Mittagessen verlassen und uns in einem zwanzig Jahre alten Rolls-Royce Silver Seraph auf die weite Reise quer durch England gemacht.
Ich saß am Steuer der schwarzen Luxuslimousine, da meine Position als Butler der Mortimers ebenfalls die Tätigkeit als Chauffeur beinhaltete. Die meisten anderen Bediensteten waren mit dem Großteil des Gepäcks bereits seit einigen Wochen im Herrenhaus zugange und richteten das Anwesen für die Ankunft der Familie ein. Was dort fehlte, waren letztendlich nur die Herrschaften des Hauses inklusive ihres Chefbutlers.
Während der vier Stunden langen und äußerst monotonen Autofahrt in Richtung Norden hatte sich meine Laune mit jeder Meile, die wir uns von London entfernten, verschlechtert. Doch spätestens, als wir die A1 verließen und in die Hochebene der York North Moors eintauchten, geschah etwas Faszinierendes. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass mich der erste Anblick auf meine zukünftige Heimat so verzauberte, dass ich all die Sorgen und Bedenken für den Moment vergaß.
Es war kurz vor Sonnenuntergang, und auf mich machte es tatsächlich den Eindruck, als ließen wir die Zivilisation hinter uns, um in eine völlig andere Welt einzutauchen. Die weitläufige Landschaft bestand zum Teil aus schmalen Flusstälern, aus denen sich vereinzelte Kalksteinformationen in die Höhe streckten.
Die in der Gegend vorherrschenden sanften Hügel schienen beinahe ausschließlich aus einer weiten Heidelandschaft und farnbewachsenen Hängen zu bestehen. Unterbrochen wurde diese unberührte Natur gelegentlich von grünen Feldern und Weiden, wo sich unzählige Schafe tummelten. Hier und dort lagen kleine Birken-, Hasel- und Kiefernwälder verstreut, zwischen denen sich winzige Dörfer oder einzelne Häuser versteckten.
Klare Seen, auf deren Oberfläche sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelte, komplettierten das unglaubliche Bild, welches sich mir durch die Windschutzscheibe des Rolls-Royce präsentierte. All das hätte genauso gut als Werbeposter für ein lokales Touristenbüro dienen können.
Das Einzige, das in der Umgebung eine latente Unruhe verströmte – und auch nur, wenn man davon wusste –, war das Moor, das überall unter der atemberaubenden Oberfläche lauerte. Es war mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass einem unachtsamen Spaziergänger, der fremd in der Gegend und ohne einheimischen Führer unterwegs war, ein tödliches Schicksal drohte. Zweifellos waren die North York Moors gefährlich, trotz ihrer Schönheit.
In diesem Augenblick war ich jedoch so gefesselt von dem Anblick, der sich mir bot, dass ich an so etwas Düsteres wie im Morast versinkende Wanderer keinen Gedanken verschwendete. Das überall hin- und herwogende violette Heidekraut, der orangefarbene Sonnenuntergang und die saftig grünen und gelben Wiesen und Wälder waren schlicht zu wundervoll, um auch nur einen Hauch von Trübheit aufkommen zu lassen.
Leider hatte die Familie Mortimer, die hinter mir im Fond des Wagens saß, keinerlei Sinn für die Schönheit der Umgebung. Seit Beginn unserer Reise schienen sie in einem fort miteinander zu zanken.