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Der junge Butler Isaac Finley ist unentschlossen: Soll er die neue Stellung bei Lady Enderby annehmen? Er weiß, dass sie eine Spezialistin für das Übersinnliche ist. Dass sie als Beraterin für die britischen Polizeibehörden arbeitet, wann immer ein mysteriöser Fall ihre Hilfe verlangt. Und dass eine Anstellung bei ihr ihn mit dem Unerklärlichen und Schaurigen in Kontakt und in Gefahr bringen wird!
Bevor er sich entscheiden kann, taucht Lady Enderby bei ihm auf - in Begleitung von Chief Inspector Vince Ferrow. Und Isaac Finley muss seine womöglich neue Dienstherrin in den Ort Dreary begleiten, wo ein neuer Fall auf sie wartet. Es geht um ein junges Mädchen, das unter grausigen Umständen zu Tode gekommen ist. Um einen längst vergessenen Friedhof. Und um eine schreckliche Kreatur, die in dieser Gegend ihr Unwesen treibt ...
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Der Leichentuch- Fresser
Vorschau
Impressum
Der Leichentuch-Fresser
von Henry Cardell
Der Friedhof lag mitten im Dreary Forest. Tief in einem Teil des Waldes, der seit Ewigkeiten zugewuchert und beinahe unzugänglich war. Fernab jeglicher Zivilisation und versteckt vor neugierigen Blicken, von der Natur im Laufe der Jahrzehnte in Besitz genommen.
Früher hatten sich Legenden um diesen dunklen und geheimnisvollen Ort gerankt. Geschichten, die man sich in den Dörfern der Umgebung nur zugeflüstert hatte. Erzählungen, die von unheimlichen Vorgängen und Ereignissen berichteten. Etwa davon, dass Besucher ein widerwärtiges und grauenvolles Schmatzen aus der Tiefe hörten. Ganz so, als würde dort eine unvorstellbare Kreatur lauern und gierig auf etwas herumkauen.
Inzwischen aber war der Friedhof bei den meisten in Vergessenheit geraten. An den Schrecken, der angeblich dort hauste, erinnerten sich nur noch die älteren Einheimischen.
Doch alles, was vergessen ist, kann eines Tages wiederkehren ...
Südengland, 1968
Der Donnerschlag folgte so unmittelbar auf den grellen Lichtblitz, dass der Wanderer ängstlich zusammenzuckte.
Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass der Wald, der ihn umgab, erbebte. Das dumpfe Vibrieren, das er unter seinen Füßen spürte, schien ihm bis in die Haarspitzen zu ziehen, und er bildete sich ein, dass es seine Zähne zum Klappern brachte. Nach zwei Sekunden war dieser Eindruck verschwunden, und um ihn herum kehrte wieder Stille ein. Zumindest vorläufig.
Vorsichtig hob der junge Mann den Kopf und blickte hinauf zu den Baumwipfeln, die sich wie dunkle Schatten vor dem grauen Abendhimmel abzeichneten. Vor wenigen Minuten hatte noch absolute Windstille geherrscht, doch jetzt wankten die Äste und Zweige in einem hektischen, windgetriebenen Tanz, begleitet vom lauter werdenden Rauschen und Rascheln der Blätter.
Genauso schnell, wie die heftigen Windböen und der Donner aufgekommen waren, hatten sich dicke Gewitterwolken über den Himmel geschoben. Sie hatten die Umgebung innerhalb weniger Minuten auf unheimliche Weise verdunkelt, wie es um diese Uhrzeit nicht zu erwarten war.
Der Wanderer im grünen Parka rümpfte die Nase. Wenn er die Anzeichen richtig deutete, musste das Unwetter genau über ihm sein, und wie auf ein unsichtbares Zeichen hin setzte tatsächlich ein heftiger Regen ein.
Er zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf , doch es war weniger der Regen, der ihm Sorgen machte. Vielmehr quälte ihn der Gedanke, dass ein Blitz in einem Baumstamm einschlagen konnte, während er direkt daneben stand. Er musste diesen verdammten Wald auf dem schnellsten Weg verlassen.
Wie konnte er nur so leichtsinnig gewesen sein, sich während der letzten Rast von der Gruppe zu trennen? Und wie dumm und peinlich war es, sich im Anschluss an diese dämliche Aktion im Wald zu verlaufen?
Der junge Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte. Das Ganze hatte ein lustiges Wochenende werden sollen, an dem er mit seinen Kommilitonen den Beginn der Semesterferien feiern wollte. Weit weg von nervigen Eltern, strengen Professoren und unzähligen Büchern, die durchgeackert werden mussten. Dafür ein paar Tage mit viel Natur und reichlich Bier und in weiblicher Gesellschaft.
Am Arsch, dachte er verbittert. Bis auf die Knochen durchnässt irrte er stattdessen durch ein abgelegenes Waldgebiet und hatte nicht den Hauch einer Ahnung, in welcher Richtung sich seine Freunde oder das nächste Kaff mit einem warmen Pub befanden.
Frustriert mit sich und der Welt zog er eine klobige Stablampe aus der Seitentasche des Parkas und leuchtete damit auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk. Doch im Bruchteil einer Sekunde war das Uhrenglas von unzähligen Regentropfen benetzt, und er konnte die Zeiger trotz der Lampe nicht mehr richtig erkennen.
Ein weiterer gleißender Blitz in Verbindung mit einem krachenden Donnerschlag löste den Studenten aus seiner Starre. Er durfte mit der Suche nach einem sicheren Unterstand nicht länger warten. Wenn ihn schon kein Blitz traf, war die Möglichkeit immerhin recht groß, dass er sich eine Lungenentzündung zuzog, falls er weiterhin schutzlos in Regen und Wind verharrte.
Entschlossen straffte er die Schultern, hielt den Strahl seiner Taschenlampe vor sich auf den Boden und lief ohne genaues Ziel in eine willkürlich ausgewählte Richtung los.
Während er auf seinem verzweifelten Weg durch den Wald damit beschäftigt war, so vielen Unebenheiten wie möglich auszuweichen, zuckte der Schein der Lampe hin und her. Er erzeugte bizarre Schatten zwischen den Baumstämmen und Sträuchern.
Der Student versuchte, sich krampfhaft einzureden, dass er ruhig bleiben und sich konzentrieren musste. Doch mit jedem Yard, den er tiefer in den Wald lief, und mit jeder Minute, die verging, beschleunigte er unbewusst seine Schritte ein klein wenig mehr.
Den nicht schwächer werdenden Sturmgeräuschen nach schien ihn das Gewitter auf beunruhigende Weise zu verfolgen.
Ständig fragte er sich, ob es sinnvoller wäre, die Richtung zu wechseln und auf einem anderen Weg sein Glück zu versuchen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass es ratsam war, immer geradeauszulaufen, falls man sich verirrt hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm das, auch wenn er wusste, dass es in dieser Dunkelheit schwer sein würde, überhaupt einen geraden Weg einzuhalten.
Die Nervosität in ihm wuchs. Verzweifelt versuchte er abzuschätzen, welche Zeitspanne vergangen war, seit er sich von der Gruppe getrennt hatte. Es konnte mittlerweile durchaus mehrere Stunden lang her sein, schätzte er. Wie viele, vermochte er allerdings nicht zu sagen.
Er fragte sich gerade, ob seine Freunde nach ihm suchten (oder vielleicht sogar die Polizei über sein Verschwinden informiert hatten), als sich sein rechter Fußknöchel in einer Wurzel verfing.
Ihm entfuhr ein lautes Keuchen, als er der Länge nach auf dem regennassen Waldboden schlug und sich beinahe ein Stück der Zunge abbiss. Die Stablampe entglitt seiner Hand, holperte davon und blieb außerhalb seiner Reichweite liegen.
Der junge Mann unterdrückte einen üblen Fluch, der ihm auf den Lippen lag. Dann rappelte er sich mühevoll auf und verharrte für einen Augenblick kniend auf dem feuchten Waldboden. Er musste dringend Luft holen und starrte dabei keuchend in die undurchdringliche Finsternis.
Ein erneuter Blitz fuhr vom Himmel und tauchte die Umgebung für den Bruchteil einer Sekunde in ein taghelles Licht.
Überraschend schälte sich in diesem Moment direkt vor der Nase des Wanderers ein Grabstein aus der Dunkelheit.
Der unerwartete Anblick hatte zur Folge, dass der junge Mann einen Schrei ausstieß, den jedoch ein weiterer Donnerschlag völlig verschluckte.
Obwohl der Sturz über die Wurzel dafür gesorgt hatte, dass ihm beide Knie schmerzten, fuhr der Student in die Höhe und taumelte gleichzeitig einige Schritte zurück.
Der Wald um ihn herum war mitsamt dem einsamen Grabstein wieder in Dunkelheit versunken.
Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, näherte er sich vorsichtig der Stablampe und hob sie auf. Dann lenkte er ihren Strahl behutsam auf das Objekt, das ihn so erschreckt hatte.
Sein besorgter Verstand hatte ihm keinen Streich gespielt, es war tatsächlich ein Grabstein. Er war sehr alt, entsprechend stark verwittert und von Moosflechten und eingetrocknetem Vogeldreck übersät.
Der Student beugte sich nach vorne und konnte auf dem Stein mit einiger Mühe den Vornamen HORACE entziffern. Der dazugehörige Nachname war jedoch unlesbar. Dem darunter eingemeißelten Datum zur Folge hatte jener unbekannte Horace diese irdischen Gefilde bereits im Jahr Siebzehnhundert-Soundso verlassen, was dem jungen Mann ein verblüfftes Aufstöhnen entlockte. Das war mindestens dreihundert Jahre her. Wo, zur Hölle, war er hier gelandet?
Langsam schob er sich wieder in die Höhe und ließ dabei den Schein der Taschenlampe zur Seite wandern.
Und dann wurde ihm klar, wo er sich befand.
Er stand mitten auf einem uralten Friedhof!
†
Um sich herum sah er unzählige Grabsteine, Engelsstatuen und Kreuze in den unterschiedlichsten Größen, Formen und Stilen, die nach einem nicht erkennbaren Muster im Wald verteilt waren. Die meisten von ihnen ragten schief aus dem Boden, und einige waren im Lauf der Zeit zur Seite gekippt. Allen gemein war ihr ausgeprägt verwitterter Zustand, der dem des ersten Grabsteins ähnelte, den der Student zu Gesicht bekommen hatte.
Überall rankte sich gelbes und braunes Unkraut empor, und zwischen den Grabstätten standen vereinzelt dürre, kahle Bäume. Der Boden des Totenackers war mit nassem Laub und Gestrüpp überzogen.
Was, in aller Welt, hatte ein Friedhof mitten im Wald verloren? Und wer, zum Teufel, lag hier begraben?
Ein Schauer rann dem jungen Mann über den Rücken, der eindeutig nichts mit der Kälte des Regens zu tun hatte. Die Überraschung, die ihn übermannt hatte, seit der erste Grabstein so unerwartet vor ihm aufgetaucht war, sorgte sogar dafür, dass er vergessen hatte, immer noch völlig durchnässt inmitten eines heftigen Gewitters zu stehen.
Ihn ergriff das unbestimmte Gefühl, dass er nicht mehr allein auf dem Friedhof war. Es machte den Eindruck, als könne er plötzlich hinter all den Klängen, die der Sturm ohne Unterlass verursachte, wie dem Prasseln des Regens und dem klagenden Heulen des Windes, weit beunruhigendere Geräusche vernehmen.
Ein leises Rascheln hier, ein knackender Zweig dort. Die Angst, irgendetwas könne in der Dunkelheit auf ihn lauern und beobachten, packte den Studenten und ließ ihn nicht mehr los. Er war davon überzeugt, dass es nicht lange dauern würde, bis eine grässliche Gestalt zwischen den Bäumen auftauchte, um sich auf ihn zu stürzen.
Er schüttelte den Kopf und zwang sich zur Vernunft. Das war ausgemachter Blödsinn. Er war völlig allein, und wenn man es genau nahm, war das ja im Moment sein größtes Problem.
Gerade, als er beschlossen hatte, diesen verwunschenen und unheimlichen Ort zu verlassen, erregte etwas sein Interesse. Ein Schatten in der Dunkelheit vor ihm, der größer als alle anderen in der Umgebung schien, aber nicht wirkte, als stamme er von einem gefährlichen Lebewesen.
Er schlich näher heran, hob die Stablampe – und leuchtete damit die Fassade eines kleinen Mausoleums ab, das mitten auf dem Friedhofsgelände stand.
Der gedrungene Bau war äußerst schlicht gehalten, soweit der junge Mann das auf den ersten Blick beurteilen konnte. Die einzigen Verzierungen, die ihm auffielen, waren die beiden schmalen Säulen, die die Eingangstür flankierten. Vor ihnen standen zwei gewaltige Pflanztöpfe aus rissigem Stein, aus denen büschelweise altes Unkraut ragte.
Er lenkte den Strahl der Lampe in die Höhe, sah in deren Licht einen flachen Dachgiebel, in dessen Mitte, direkt über der Tür, eine nicht entzifferbare Inschrift zu erkennen war.
Die Verwitterung war so weit fortgeschritten, dass es sich bei den Buchstaben genauso gut um den Namen des Verstorbenen handeln konnte als auch um einen alten Fluch.
Der gesamte Zustand des Gebäudes ähnelte dem Rest des heruntergekommenen Friedhofs, was den Studenten kaum überraschte.
Das Gestein war ebenso korrodiert und überwuchert wie all die Grabsteine ringsum. Einzig die schmale Eingangstür schimmerte im typisch grünen Ton von oxidiertem Kupfer.
Beim Anblick der Tür kam dem Studenten eine wahnwitzige Idee, die sich sofort in seinem Kopf festsetzte. Möglicherweise ließ sich der Eingang zum Mausoleum ja öffnen.
Die Vorstellung, die Nacht in einem Grabmal zu verbringen, gefiel ihm zwar nicht, doch bei diesem Unwetter bleib ihm wohl keine andere Wahl. Außerdem fürchte er sich noch immer vor einem Blitzeinschlag.
Die Tür machte auch keinen allzu stabilen Eindruck.
Schnell überwand er die zwei flachen Steinstufen, die zum Portal des Mausoleums führten, und legte zitternd vor Erwartung eine Hand auf den kühlen Türgriff. Der Gedanke an einen geheimnisvollen Verfolger zwischen den Bäumen war mittlerweile vollkommen verflogen.
Die Klinke hakte ein wenig, und der Wanderer musste viel Kraft aufwenden, um sie nach unten zu drücken, aber einige Versuche später ließ sich die Tür knarrend aufdrücken und gab einen schwarzen Schlund frei, der alles andere als einladend wirkte. Trotzdem konnte der junge Mann sein Glück kaum fassen.
Vorsichtig betrat er das höhlenartige Innere der Gruft und war froh, als die Regentropfen nicht mehr auf seine Kapuze prasselten und der Wind nicht mehr an seinem Parka zerrte. In diesem Moment kam ihm ein Songtext der Rolling Stones in den Sinn. Erst vor Kurzem hatte er ihre neue Single »Jumpin' Jack Flash« gekauft und sie auf seiner Bude stundenlang rauf und runter gehört. Dort gab es die Textzeile I was drowned, I was washed up and left for dead. Und so ähnlich fühlte er sich gerade.
Er schob die Tür hinter sich zu, aber nur so weit, dass ein Spalt frei blieb. Dort hinein stellte er den Armee-Rucksack – den hatte er sich wie die Stablampe von seinem Vater ausgeliehen –, um ein Zufallen der Tür zu verhindern. Nicht auszudenken, sie würde hinter ihm ins Schloss fallen, sich nicht mehr öffnen lassen, und er wäre hier gefangen, bis ihm irgendwann die Atemluft ausging.
Er versuchte das mulmige Gefühl, das wieder in ihm aufkeimte, zu unterdrücken. Das Ganze war eine absolut surreale Situation, dessen war er sich bewusst, doch was hätte er sonst tun sollen?
Erneut fragte er sich, ob ihn seine Studienfreunde bereits suchten, konnte sich das bei diesen Wetterbedingungen aber nicht recht vorstellen. Egal, morgen früh war das Unwetter mit ziemlicher Sicherheit vorbeigezogen, und bei Tageslicht dürfte es nicht mehr ganz so schwer sein, aus diesem verfluchten Wald herauszufinden.
Er drehte sich um und schwenkte die Stablampe im Halbkreis, um sich ein erstes Bild vom Inneren seines Unterschlupfs zu machen.
Obwohl er nicht genau wusste, was er erwartet hatte, war das Ergebnis relativ ernüchternd.
Der fensterlose Raum mochte bestenfalls drei Schritte im Quadrat messen und war ebenso hoch. Eine fingerdicke, seit wer weiß wie vielen Jahren unberührte Staubschicht bedeckte den Boden, und abgesehen von einem schlichten Steinsarg, der an der gegenüberliegenden Wand auf einem niedrigen Podest stand, war das Innere der Gruft erstaunlich leer.
Im Schein der Taschenlampe waren keine Inschriften oder Reliefs auf den Seiten des Sarkophags zu entdecken. Er war ebenso glatt wie die ihn umgebenden Mauern, und sein Anblick, obwohl ihn der Student erwartet hatte, verursachte ein leichtes Schaudern. Dazu kam der durchdringende Geruch von Moder und kaltem Stein.
Der junge Mann unterdrückte die unheimlichen Fantasien, die wieder in ihm aufsteigen wollten, und ging in einer Ecke neben der Tür in die Hocke. Dann kauerte er sich so weit wie möglich von dem Sarg entfernt zusammen und wartete, dass diese verfluchte Nacht vorüberging.
Nach einiger Zeit begann er zu frösteln, weshalb er sich aus dem nassen Parka befreite und ihn neben sich drapierte. Jetzt ärgerte er sich über das Fehlen eines Schlafsacks oder einer Decke. Außerdem hatte er es dummerweise versäumt, Proviant einzupacken. In seinem Rucksack lagen zwar einige Bierflaschen, aber aus irgendeinem Grund hielt er es für besser, nüchtern zu bleiben.
Während er in den nächsten Minuten verzweifelt versuchte, ein wenig Schlaf zu finden, warf er unwillkürlich immer wieder einen Blick auf den Sarg am anderen Ende der Gruft. Das unbestimmte Gefühl, dass damit irgendetwas nicht stimmte, wollte nicht weichen. Immer wieder sagte er sich, dass es nur ein normaler Steinsarg war, dessen Anblick im Licht der Taschenlampe verständlicherweise ein bisschen unheimlich wirkte, von dem aber keinerlei Gefahr ausging.
Und doch ... irgendetwas an ihm (oder in ihm?) zog ihn auf magische Weise an. Etwas, das weit über die übliche Neugier eines Menschen hinausging.
Der Student versuchte sich abzulenken und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Geräusche außerhalb des Mausoleums. Das unveränderte Prasseln des Regens, das sich auf dem Dach der Gruft wie Trommelschläge anhörte. Das Heulen des Windes, der um die Grabsteine und durch den schmalen Türspalt pfiff. Das Knarzen der Bäume und die vereinzelten, nicht leiser werdenden Donnerschläge. Das verfluchte Unwetter schien sich keinen Deut vom Friedhof zu entfernen.
Obwohl Müdigkeit und Erschöpfung in jeder Faser seines Körpers steckten, schaffte er es nicht, einzuschlafen. Zu unbequem war der harte Steinboden, und die niedrige Temperatur ließ ihn immer noch frieren. Der junge Mann war sich sicher, dass am nächsten Tag alle Knochen in seinem Leib schmerzen und er eine Erkältung bekommen würde.
Krampfhaft versuchte er weiterhin einzuschlafen, doch immer wieder wanderte sein Blick in Richtung des Steinsargs. Der Anblick ließ ihn nicht los, und letztendlich hegte er die Befürchtung, dass vielleicht der Sarkophag die Schuld daran trug, dass er nicht zur Ruhe kam. Da war diese nervtötende Stimme in seinem Verstand, die ihm ständig zuflüsterte, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, bevor er nicht herausgefunden hatte, welches Geheimnis drinnen verborgen lag.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Mit knackenden Knien erhob er sich vom Boden und spürte bereits jeden Knochen im Leib. Er griff wieder nach die Taschenlampe, die er die ganze Zeit über wegen einer irrationalen Angst vor der Dunkelheit kein einziges Mal ausgeschaltet hatte, und näherte sich langsam dem anderen Ende der Gruft.