Gespenster-Krimi 39 - Rafael Marques - E-Book

Gespenster-Krimi 39 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Der Herr von Corvingham Castle ist seit Monaten tot. Trotzdem arbeiten seine Haus- und Hofangestellten weiter auf dem Anwesen. Elf insgesamt. Und das, obwohl niemand mehr dort wohnt. Ein Butler, drei Hausmädchen, eine Köchin, zwei Gärtner, der Stallmeister, sein Gehilfe und zwei Handwerker. Sie alle gehen ihrer Arbeit nach, als wäre nichts gewesen ...

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Dunkle Seelen

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati/BLITZ-Verlag

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-9630-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Dunkle Seelen

(Teil 1 von 2)

von Rafael Marques

»Hör zu«, sagte Thomas Carver, schob die Flasche Single Malt beiseite und sah Roy direkt in die Augen. Seine Miene verfinsterte sich, und ein Hauch Traurigkeit verschleierte seinen Blick. So war es stets, wenn er sich gezwungen sah, über seine Familie zu sprechen. »Es geht um Corvingham Castle. Mein Vater ist jetzt seit ein paar Monaten tot, trotzdem arbeiten seine Angestellten weiter auf dem Anwesen. Elf insgesamt. Und das, obwohl niemand mehr dort wohnt. Ein Butler, einschließlich Rose Callahan drei Hausmädchen, eine Köchin, zwei Gärtner, der Stallmeister, sein Gehilfe und zwei Handwerker. Für die gibt es eigentlich immer was zu tun, und sie gehen alle ihrer Arbeit nach, als wäre nichts gewesen. Dad hat mir all das hinterlassen, neben dem ganzen Geld, das ich nicht brauche. Weil ich der letzte Erbe der Earls of Corvingham bin. Am liebsten würde ich dieses verfluchte Schloss auf der Stelle verkaufen. Wie auch immer. Seit einigen Tagen berichten sie allerdings von merkwürdigen Erscheinungen. Einem Geist, Schatten, was weiß ich. Rose hat etwas gesehen, Bradshall, der Butler meines Vaters, auch. Ansonsten ist nichts passiert, zumindest bis jetzt. Roy, ich weiß besser als jeder andere, über welche Kräfte du verfügst, und auch wenn es dir lächerlich vorkommen mag – komm mit mir, und sieh es dir an. Bitte.«

Warum Roy Delgado die Worte seines besten Freundes Thomas Carver gerade jetzt einfielen, wusste er selbst nicht. Es konnte sein, dass es daran lag, dass sie das Ende ihrer langen Fahrt erreicht hatten. Oder daran, dass der Kater, den der Alkohol mit sich brachte, ihm immer wieder vor Augen führte, was in der vergangenen Nacht so alles geschehen war.

Sie hatten auf alte Zeiten angestoßen, Thomas und er. Seit dem Studium in London waren sie beste Freunde – bis heute. Und das, obwohl Roy sich zwei Jahre lang zurückgezogen hatte, auch von Thomas, obwohl er dafür nichts konnte. Thomas war damals der Einzige gewesen, der Verständnis für seine Entscheidung hatte aufbringen können, gerade auch, weil er von seinen besonderen Fähigkeiten wusste und sie auch schon einiges zusammen erlebt hatten.

Alles hing mit dem zusammen, was vor etlichen Jahren mit ihm geschehen war, mit seiner Gabe. Damit, dass er einst Pfarrer gewesen war und dem Teufel einen Teil seiner Seele opfern musste, um seinen Sohn vor einem wahnsinnigen Kindermörder zu retten. Seitdem trug er ein Erbe der Hölle mit sich – sein linkes Auge, das er seither unter einer schwarzen Lederklappe verbarg, strahlte stets tiefrot und versetzte ihn dabei in die Lage, durch die Augen schwarzmagischer Gestalten zu blicken und Visionen von Wesen dieser Art aufzufangen, gut wie böse.

Für einige Zeit hatte er seine Fähigkeiten verschiedenen Behörden zur Verfügung gestellt, um so Fälle aufzuklären, die den Rahmen des Normalen sprengten. Bis er die Visionen und Bilder einfach nicht mehr ertragen konnte und sich in die Hütte seines Vaters in den einsamen Wäldern der Highlands zurückzog.

Damit war es inzwischen seit einigen Monaten vorbei. Er war wieder in sein altes Leben zurückgekehrt, zumindest etwas. Nach den Ereignissen in Frankfurt, die viele Menschenleben und seine Freundin Julia Brenner den Job gekostet hatten, von ihrer Schwester ganz zu schweigen, wollte er sich nicht noch einmal zurückziehen.

In der letzten Zeit pendelte er quasi zwischen Deutschland und den britischen Inseln, einmal, um wieder in die normale Welt zurückzufinden, und zum anderen, weil er Julia liebte und sie nicht noch einmal so verletzen wollte.

Die Reihen der Bäume lichteten sich und gewährten einen Blick auf das steinerne Schloss – Corvingham Castle. Es lag versteckt in den Wäldern der schottischen Kleinstadt Nairn, nicht weit von der Grenze zu den Lowlands entfernt. Nicht nur für Thomas, der bis zu seinem Studium sein ganzes Leben hier verbracht hatte, war es eine Rückkehr in die Heimat. Roy war selbst Schotte, auch wenn seine Eltern aus Spanien stammten.

Im Gegensatz zu vielen anderen Gemäuern gleichen Alters – es war bereits vor über vierhundert Jahren erbaut worden – sah es noch sehr gepflegt aus. In der Mitte befand sich ein massiver, mit vier kleinen Erkern versehener Donjon, ein einstiger Wohn- und Wehrturm, der von zwei direkt angrenzenden Wohngebäuden umschlossen wurde. Die mattgrau schimmernden Mauern wirkten wie frisch geputzt. Etwas Efeu rankte sich an den Gebäuden hoch. Vor dem Schloss war eine Rasenfläche angelegt. Eine breite Treppe führte zur zweiflügeligen Eingangstür hinauf.

Während Thomas den Lexus auf den Parkplatz lenkte, auf dem bereits zwei andere Wagen standen, nahm Roy für kurze Zeit seine Augenklappe ab, mit der er meist sein rot leuchtendes Auge verdeckte. Eine Vision oder eine sonstige Botschaft, wie es oft geschah, wenn er es direkt mit dunklen Mächten konfrontierte, erhielt er nicht. Bevor er ausstieg, zog er das Lederband wieder über.

Spuken sollte es hier, ein Umstand, mit dem er sich nicht so ganz anfreunden konnte. Immerhin war er schon einmal hier gewesen, während der Semesterferien, und da war das einzig Unheimliche das Verhalten von Thomas’ Vater gegenüber seinem Sohn gewesen.

Zudem war da noch die andere Seite der Medaille: Seit den Ereignissen in Frankfurt war Roy vom Teufel und allen anderen Gestalten der Hölle in Ruhe gelassen worden, warum auch immer. Er fürchtete sich zwar nicht davor, dass es damit jetzt vorbei war, ein mulmiges Gefühl überkam ihn aber schon.

Thomas wirkte weiterhin etwas verlegen, ihn überhaupt gebeten zu haben, ihn zu dem Schloss seiner Vorfahren zu begleiten, noch dazu aus so einem merkwürdigen Grund. Es war nicht das erste Mal, dass sie nach Roys Rückkehr gemeinsam unterwegs waren, doch bisher war er diesem Thema stets ausgewichen.

Sein bester Freund hatte sich in den zwei Jahren kein bisschen verändert. Er war ein stämmiger Mann mit dichten, mittellangen, braunen Haaren. Seine Gesichtszüge zeigten immer eine gewisse Härte, was wohl nicht nur an seinem intensiven Fitnesstraining lag. Er war Millionär, hatte mehrere international agierende Firmen selbst aufgebaut, vergaß dabei jedoch niemals seine sozialen Verpflichtungen. Und seine Freunde.

Dass sein Geburtsname nicht Thomas Carver, sondern Thomas Arthur Corvingham lautete, wusste kaum jemand. Nach dem letzten Streit mit seinem Vater hatte er jegliche Verbindungen zu ihm und seiner Familie gekappt.

Das Plätschern eines nur wenige Meter entfernt fließenden Baches drang an Roys Ohren. Zwischen den Bäumen entdeckte er einige Rehe, die schnell wieder zwischen den dicht stehenden Stämmen verschwunden waren.

Menschen waren bisher nicht zu sehen. Sein Blick wanderte über die Fassade des Schlosses. An einem der Fenster entdeckte Roy eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren. Ein Sonnenstrahl, der gerade hinter einer Wolke hervorstach, blendete ihn. Er blinzelte kurz, und als er wieder zu dem Fenster sah, war die Frau verschwunden.

War das nur ein Zufall? Eine Angestellte, die kurz aus dem Fenster gesehen hatte und dann wieder ihrer Arbeit nachgegangen war? Oder hatte er gerade tatsächlich so etwas wie einen Geist gesehen?

»Was ist?«, fragte Thomas, als er bemerkte, dass sein Freund stehen geblieben war. Dabei streifte er sich zum wiederholten Mal nervös über seinen braunen Pullover.

Roy wischte sich über sein freies Auge. »Ach, nichts, glaube ich.«

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Hast du etwa …?«

»Keine Ahnung. Ich habe etwas gesehen, aber wahrscheinlich nur eines der Hausmädchen.«

»Das werden wir schon herausfinden.«

Thomas ging wieder vor. Zögernd folgte Roy ihm. Kurz zog er noch einmal die Augenklappe ab, doch als er erneut zu dem Fenster hochsah, war niemand an der Scheibe zu erkennen.

Unter seinen Schuhen knirschte der Kies, der vor der Grasfläche, die das Schloss umgab, aufgeschüttet worden war. In dem Rasen erkannte er ein Muster, so etwas wie ein Wappen, das er schon einmal innerhalb des Schlosses gesehen hatte. Es war das Coat of Arms der Earls of Corvingham.

Die breite Treppe zum Haupteingang bestand nur aus wenigen Stufen. Noch bevor Thomas und er sie hinter sich gelassen hatten, wurde die Tür von innen geöffnet. Eine etwa sechzig Jahre alte, etwas korpulente Frau mit graubraunen Haaren erschien. Sie trug ein braunes Kleid und eine weiße Schürze darüber. Es war Rose Callahan, die Haushälterin, von der Roy wusste, dass sie für ihn weit mehr war als nur eine Angestellte.

Ihr Lächeln schien ehrlich zu sein. »Thomas, … ich meine, Lord Cor…«

Thomas hob beide Hände an. »Rose! Bitte, sprich ich es nicht aus. Ich bin nur froh, dich wiederzusehen.«

Freudig umarmte er die etwa einen Kopf kleinere Frau und drückte sie für einen Moment fest an sich. Langsam bekam Roy einen Eindruck davon, wie tief die Freundschaft zwischen ihm und Rose wirklich ging.

»Entschuldige, Thomas«, sagte Rose, nachdem sie sich wieder aus der Umarmung gelöst hatte. »Dein Vater wollte immer so angesprochen werden, und jetzt, wo er tot ist … Es ist schon erstaunlich. Du siehst noch genauso aus wie vor zehn Jahren. Nicht eine Falte. Wenn ich das nur von mir behaupten könnte.«

»Ach, rede doch keinen Unsinn.«

Rose lachte kurz, bevor sie betrübt zu Boden blickte. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass dein Vater in seinen letzten Jahren viel von dir gesprochen hat, aber das hat er nicht. Er war noch verschlossener als sonst. Die letzten Wochen hat er immer nur in seinem Arbeitszimmer gesessen und aus dem Fenster gestarrt.«

»Das sieht ihm ähnlich«, erwiderte Thomas und gab Rose die Sicht auf Roy frei. »Vielleicht kennst du noch meinen besten Freund, Roy Delgado. Er war vor vielen Jahren mal hier auf dem Schloss zu Besuch.«

»Natürlich«, sagte sie, ging auf Roy zu und gab ihm die Hand. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Mister Delgado.«

»Sagen Sie ruhig Roy.«

»Rose. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Sie … ich meine, du wolltest doch einmal Pfarrer werden, ist das richtig? Ich werde langsam alt, doch manche Dinge kann ich mir noch gut behalten.«

»Ich bin Pfarrer geworden, aber … das ist schon länger her.« Er tippte auf seine Augenklappe. »Ich hatte einen Unfall und musste meinen Beruf deshalb aufgeben. Das ist eine lange Geschichte.«

»Ach, die kannst du mir ja ein andermal erzählen. Kommt erstmal rein, bevor Ihr euch hier draußen alles abfriert.«

Während Rose Callahan bereits wieder ins Haus lief, grinste Thomas ihm zu. »Na, ist sie nicht reizend? Sie hat sich kein bisschen verändert – abgesehen von den Haaren.«

»Langsam verstehe ich, was du an ihr findest.«

Thomas lachte kurz und folgte seiner alten Freundin ins Schloss hinein. Auch Roy trat in die breite, steinerne Eingangshalle und erhielt den Eindruck, eine Zeitreise ins neunzehnte Jahrhundert gemacht zu haben. An den Wänden hingen Gemälde, die Geschichten von mächtigen Männern und großen Schlachten erzählten, daneben Artefakte wie Masken und Fetische aus allen Ländern der Welt, die von Thomas’ Vorfahren bereist worden waren. Von der Decke baumelte ein gewaltiger Kronleuchter. Der Boden war mit rotbraunem Teppich bezogen. Alles war so, wie er es von seinem letzten und bisher einzigen Besuch in Erinnerung hatte. Als wäre hier schon vor langem die Zeit einfach stehen geblieben.

»Mein Vater hat anscheinend nichts mehr von moderner Inneneinrichtung gehört«, kommentierte Thomas den Anblick.

Roy erinnerte sich an einen Bericht seines Freundes, wonach er als Kind einmal eines der Gemälde mit einem Eimer Farbe beworfen und ihm sein Vater daraufhin eine Tracht Prügel versetzt hatte.

Rose hob die Schultern. »Er war eben ein Mann, der viel Wert auf Tradition gelegt hat. Ebenso wie deine Mutter. Ich weiß, Ihr habt euch nicht verstanden, aber er hatte sicher auch seine Gründe für sein Verhalten.«

»Rose«, begann Thomas. »Ich will mich nicht mit dir über ihn streiten. Mir tut es nur leid, dass du und ich uns so lange nicht mehr gesehen haben.«

Rose Callahans Blick wurde wieder etwas trauriger. »Ich weiß, Thomas, ich weiß. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass dein Vater dich wirklich enterbt hätte. Meine Sachen waren bereits gepackt, als sein Anwalt hier aufgetaucht ist und gesagt hat, dein Vater hätte das Schloss auf dich überschrieben. Ich denke, er wollte dir damit ein letztes Geschenk machen.«

»Ich denke eher, dass er Angst um die Linie der Earls of Corvingham hatte, und da ich sein einziges Kind bin, hat er als letzten Akt mir genau das gegeben, was ich nie haben wollte.«

Da Roy sich bei dem Gespräch etwas deplatziert führte, trat er einige Schritte zur Seite und sah sich weiter um. An der gegenüberliegenden Wand standen einige alte Sessel. Zwar war der Staub abgewischt worden, trotzdem konnte man erkennen, dass hier schon seit vielen Jahren niemand mehr gesessen hatte. Was für ein Leben mochte Thomas’ Vater hier vor seinem Tod geführt haben?

Wieder wanderten seine Gedanken zu den seltsamen Erscheinungen, von denen die Hausangestellten berichteten. Von vielen Schlössern in Schottland erzählte man sich, dass in ihnen Geister umgingen, doch dieser Spuk hier – wenn es denn wirklich einer war – schien neu zu sein. Sonst hätte Thomas sicher schon in seiner Kindheit etwas davon erfahren. Bedeutete das, dass der Ausgangspunkt dieses Phänomens in der nicht allzu fernen Vergangenheit lag?

Er wusste nicht warum, aber eines der Gemälde erregte Roys besondere Aufmerksamkeit. Es hing etwa zwei Meter über ihm und zeigte ein sehr altes Familienporträt. Vater, Mutter und drei Kinder. Jedes der Gesichter war detailliert gezeichnet worden, nur eines, das eines Jungen, wirkte so verwaschen, dass die Züge nicht mehr zu erkennen waren. Es schien, dass es sich dabei um eine nachträgliche Änderung handelte. Nur, warum sollte jemand das Gesicht eines Kindes unkenntlich machen?

Leicht hob er seine Augenklappe an, ohne dass es zu einer Reaktion kam, weshalb er sie schnell wieder herunternahm. Das merkwürdige Bild wollte ihm jedoch nicht aus dem Kopf.

»Hast du etwas entdeckt?«, fragte Thomas, der plötzlich neben ihn trat. »Ich habe Rose gerade erklärt, dass ich dich mitgebracht habe, damit du dem Geist oder Schatten hier etwas auf den Grund gehst.«

»Ich weiß nicht, ob es eine Entdeckung ist. Sieh dir mal das Bild da oben an. Hast du eine Ahnung, warum das Gesicht des Jungen so verwaschen ist?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist mir noch nie aufgefallen.«

Auch Rose trat zu ihnen heran und betrachtete das Bild genauer. »Ich glaube, das Bild zeigt einen der ersten Earls. Kurz nachdem das Schloss erbaut wurde. Mehr weiß ich auch nicht. Mir ist das verwaschene Gesicht auch schon einmal aufgefallen, als ich den Rahmen geputzt habe. Ein bisschen unheimlich ist das schon, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Glaubst du etwa, dass …?«

»Keine Ahnung«, unterbrach Roy sie. »Ich habe es nur gesehen.«

»Entschuldige, dass ich frage, aber wie genau willst du eigentlich nach den Geistern suchen?«

»Ich habe eine Art … Gabe.« Er tippte erneut auf die Augenklappe. »Das hat etwas mit meinem Unfall zu tun.«

»Ich verstehe. Du möchtest nicht darüber reden. Das ist in Ordnung. Ich hoffe nur, du kannst uns wirklich helfen.«

»Ist denn noch etwas passiert?«

»Na ja. José, unser Stallmeister, hat letzte Nacht noch einmal so etwas wie einen huschenden Schatten im Kerzenschein wahrgenommen. Viel mehr kann ich dir auch nicht erzählen. Zwei Mal habe ich so etwas wie einen hellen, durchsichtigen Fleck in der Luft schweben sehen. Und da war noch etwas, von dem ich Thomas noch nichts erzählt habe. Das Klingeln eines Glöckchens. So eines, das man Kindern früher geschenkt hat. William hat es auch gehört, als er den Geist gesehen hat.«

Roy nickte. »Hast du auch eine Stimme gehört?«

»Nein. Nur das Glockenspiel. Aber es war da, da bin ich mir ganz sicher.«

»Keine Sorge, ich glaube dir.«

Rose lächelte. »Danke. Langsam habe ich nämlich das Gefühl, verrückt zu werden. Das geht allen hier so, die die Erscheinungen gesehen haben.«

»Eine Frage habe ich noch: Arbeitet eines der Hausmädchen gerade im dritten Stock des linken Wohngebäudes?«

»Ja, Carissa Freeman. Wieso?«

»Ach, ich hatte nur vorhin jemanden am Fenster gesehen.«

Roy schalt sich innerlich einen Narren, dass er geglaubt hatte, am Fenster wirklich einen Geist gesehen zu haben. Stattdessen war es nur ein Hausmädchen gewesen. Einzig das verwaschene Gesicht gab ihm Rätsel auf, obwohl es dafür alle möglichen Erklärungen geben konnte. Er würde wohl die Nacht abwarten müssen, um sich ein abschließendes Urteil bilden zu können.

»Da du angekündigt hast, dass du mit deinem Freund kommen würdest, habe ich dir von unserer Köchin Leanne dein Lieblingsgericht zubereiten lassen«, erklärte Rose an Thomas gewandt.

Thomas’ Augen begannen zu strahlen. »Doch nicht etwa …«

»Genau. Scharfer Haggis mit Kartoffeln und Rüben. Er ist aber noch nicht ganz fertig. Zwanzig Minuten musst du dich noch gedulden, vielleicht auch weniger.«

Während sich Rose lächelnd abwandte und zu einer der Türen ging, schob sich Roy unbemerkt von ihr den Finger in den offenen Mund. Mit gespielter Entrüstung sah Thomas ihn scharf an. Sein Freund wusste genau, was er von seiner Leibspeise hielt.

»Du musst ja nicht mitessen«, sagte Thomas, nachdem Rose verschwunden war.

»Ich kann mich noch genau an den eiskalten Blick deines Vaters erinnern, als ich meinen Teller bei meinem Besuch damals angewidert zur Seite geschoben habe.«

»Das war das Einzige, bei dem mein Vater und ich einer Meinung waren. Na ja, wir sollten die Zeit nutzen und uns noch etwas im Schloss umsehen.« Er wies auf die mit Holz verschlagene Treppe, die in das obere Stockwerk des Donjons führte. »Vielleicht finden wir da oben ja den Geist.«

»Falls es ihn wirklich gibt.«

»Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du schon so etwas wie eine Ahnung hattest.«

»Ich dachte es, aber anscheinend war es falscher Alarm.«

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf. Roy wusste noch von seinem ersten Besuch, dass die oberen Bereiche des alten Donjons einst von den Schlossherren bewohnt und zur Lagerung von Waffen genutzt worden waren. Das hatte sich bereits vor etwa zweihundert Jahren geändert.

Stattdessen befanden sich in diesem Gebäude nun eine Kunstsammlung sowie zahlreiche Hinterlassenschaften vergangener Generationen wie Rüstungen, Schwerter, Schilder, Fahnen und Kleider.

Als er die Treppe hinter sich gelassen hatte, merkte Roy schnell, dass sich auch hier kaum etwas verändert hatte. Auf kleinen Podesten standen mit Schwertern und Lanzen ausgestattete Rüstungen, während die alten Schilder und die Fahnen mit dem Wappen der Earls of Corvingham an den Wänden hingen. Alles wirkte wie ein großes Privatmuseum, das niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte.

Roy ging an den Reihen der ausgestellten Waffen vorbei, an denen teils dunkle Flecken zu sehen waren. Ein Zeichen dafür, dass es sich bei ihnen nicht nur um Ausstellungsstücke handelte. Früher hatte es sicher auch Kämpfe gegeben, in die die Corvinghams involviert gewesen waren. Er wusste nur wenig über die Geschichte der Familie, aber kaum ein schottischer Clan hatte sich jeglichen Konflikten entziehen können.

Da Rose nun nicht mehr in seiner Nähe war, zog er die Augenklappe ganz ab. Doch wiederum geschah nichts. Nichts deutete darauf hin, dass hier etwas Übernatürliches vorging.