Gestohlene Zukunft - Harald Schmidt - E-Book

Gestohlene Zukunft E-Book

Harald Schmidt

4,9

Beschreibung

Ein Kindermörder treibt sein Unwesen in deutschen Städten. Seine grausamen Taten verknüpfen sich unaufhaltsam mit dem Schicksal einer bis dahin glücklichen Essener Familie. Auch dort kommen eines Tages Erinnerungen aus der Kindheit hoch. Missbrauch an Kindern, der täglich in unserer direkten Nachbarschaft begangen und doch in den meisten Fällen verschwiegen wird. Eine SoKo setzt alles daran, dieser Bestie das Handwerk zu legen. Mit sehr viel Einfühlungsvermögen beschreibt der Autor die Jagd auf den Täter. Es bleibt am Schluss die Frage, ob Täter eventuell auch Opfer sein kann. Konfliktstoff, der in diversen Dialogen ausführlich dargestellt wird.

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Seitenzahl: 217

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Danken möchte ich an dieser Stelle denen, die mir Mut machten, überhaupt mit dem Schreiben zu beginnen. Besonderen Dank den Menschen, die mir gnadenlos Fehler vor Augen führten, die eigentlich jeder Autor zu Beginn macht. Hier überschütte ich besonders meine Lektorin Andrea Weil mit Dank, die mir die Augen öffnete für angenehmen Schreibstil, ohne mich dabei zu verbiegen. Sie verstand es, aus meinem Geschreibsel ein lesbares Buch zu formen. Das außergewöhnliche Buchcover entwarf mir Sarah Engelhardt, nachdem Eigenentwürfe schlussendlich nicht meine Zustimmung fanden. Ich danke meiner Schwester Ingrid und meiner ehemaligen Nachbarin Anne dafür, dass sie mir geduldig zuhörten, wenn ich sie mit Lesungen aus meinen Erstentwürfen quälte.

Inhaltsverzeichnis

Fundort Essener Stadtwald

Morgendliches Chaos

Gespräch unter Frauen

SoKo Stadtwald nimmt die Arbeit auf

Besuch im Zoo

Serientäter

Behütetes Leben

Erste Risse

Falsches Versprechen

Abendessen mit Folgen

Geschäfte

Verzweifelte Suche

Ein großer Schritt vorwärts

Verdacht

Polizeibesuch im Hotel

Tag der Wahrheit

Böser Empfang

Eine Welt zerbricht

Die Ängste einer Mutter

Andeutungen

Geteiltes Leid

Überwachungsalltag

Vertrauliche Gespräche

Heimkind

Eskorte

Die Hölle nistet sich ein

Die Kinder erfahren die Wahrheit

Geiselfrühstück

Mörder zum Kaffee

Späte Strafe

Die Erlösung

Das Verhör

Epilog

Fundort Essener Stadtwald

»Was habe ich dem Tag getan, dass er mich schon so früh bestraft?«, murmelte Wilms mit Blick auf das vor ihm auftauchende Chaos. Eigentlich sollte dies ein ruhiger Tag werden, da ihm die beiden letzten Einsätze einen Berg an Überstunden beschert hatten. Allerdings dachte man bei einem Tatort wie diesem nicht über das eigene Wohlbefinden nach. Kindermord ist das Letzte und das Verwerflichste für einen Polizisten.

Einsatzfahrzeuge der Polizei blockierten einen Fahrstreifen Richtung Essen-Rellinghausen, der Verkehr bewegte sich im Schneckentempo auf der Frankenstraße. Auch der Dienstwagen des Hauptkommissars fand hier kein Durchkommen. Wilms trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, schlug dann ein und nahm die Abkürzungen durch die angelegten Randbeete. Das Grünflächenamt wird fluchen, dachte sich Wilms.

Schaulustige bildeten mittlerweile Rudel, ihre Hälse reckten sie in Richtung Wald. Uniformierte Polizisten drängten allzu Neugierige zurück, die nicht einsehen wollten, warum ihnen der Zugang verwehrt wurde. Schließlich war das ihr Wald, der Ort, an dem der sonntägliche Spaziergang stattfinden sollte.

Walter Höfner, der Leiter der Schutzpolizei, führte Wilms zum Tatort. Die wartenden Journalisten überfielen ihn vor der Absperrung sofort mit Fragen. Verärgert schob er sie zur Seite, ohne darauf zu antworten.

»Fürchterliche Schmeißfliegen, diese Zeitungsleute. Das macht mich immer wieder aggressiv«, bemerkte er gegenüber dem Kollegen, als sie außer Hörweite waren. »Wer hat den Jungen gefunden?«

»Ein Passant und sein Enkel. Die beiden stehen dort drüben. Sie gehen hier jeden Sonntag spazieren. Der Junge fand den Müllsack, der etwas versteckt hinter dem Distelstrauch dort hinten lag, beim Spielen. Herrn Schnell, so heißt der Mann, kam das nicht ganz geheuer vor, also benachrichtigte er mit dem Handy die Polizei. Er meinte, der Geruch war schon sehr penetrant«, antwortete der Einsatzleiter.

»Danke. Wo steckt denn wieder dieser Trokut?« Wilms sah sich nach seinem Assistenten um.

»Ach, Sven, nehmen Sie bitte die Aussage von Herrn Schnell auf. Der hat das Opfer gefunden, besser gesagt, sein Enkel. Aber nehmen Sie ein wenig Rücksicht in Ihrer Wortwahl. Ich meine nur, wegen des Jungen.«

»Was haben Sie immer mit meiner Wortwahl, Chef? Ich beherrsche die deutsche Sprache schon recht lange und kann mich gut verständlich machen«, erwiderte Trokut.

»Das glaube ich Ihnen ja. Doch der Junge muss nicht jede Einzelheit erfahren, das ist noch ein Kind. Verstehen Sie? Ich spreche derweil mit der Spurensuche.«

Ein Gebiet in der Größe eines Fußballfeldes war mit Absperrband gesichert. Ermittler in weißen Schutzanzügen, die Aliens glichen, bewegten sich um einen zentralen Punkt, immer darauf bedacht, keine Spuren zu zertreten. Sie sicherten jeden noch so bedeutungslos erscheinenden Gegenstand in diesem Bereich. Selbst Zigarettenkippen wurden mit Pinzetten aufgehoben und verschwanden in Plastikbeuteln.

Die Szene hatte etwas Unwirkliches. Dichter Laubwald, der lediglich einzelnen Strahlen der Sonne gestattete, den Boden zu erhellen. Dieser Wald durfte seine Natürlichkeit behalten, indem das Unterholz nicht ausgelichtet wurde. Herabgefallene Äste blieben, wo sie die Natur platziert hatte, lediglich der Müll der Besucher wurde regelmäßig entfernt.

Wilms mochte die Spaziergänge durch den Stadtwald. Schon als Kind hatte er immer diesen Weg genommen, wenn er mit Freunden zum Schwimmen an den Baldeneysee wollte. Selbst heute, mit achtundvierzig, wo sein gelichtetes Haupthaar die ersten grauen Strähnen zeigte, nahm er sich immer mal wieder Zeit, um hier abzuschalten.

Wilms zog die Schultern hoch und dachte in diesem Augenblick an Joel, seinen neunjährigen Sohn, den er vor zwei Stunden von der Schule abgeholt und zu Claudia, seiner Exfrau, gebracht hatte. Was wäre, wenn dort sein Kind gelegen hätte? Allein die Vorstellung ließ ihn die Fäuste ballen.

Claudia hatte sich nie richtig mit seinem Beruf abfinden können und sie hatten sich mit den Jahren auseinandergelebt. Der Job hatte nicht nur seine Ehe zerstört, sondern ihm auch diverse Sorgenfalten verpasst. Humor und Lockerheit waren ihm mit den Jahren abhanden gekommen. Das war wohl das Los eines jeden Kriminalbeamten.

Dass er sich gerade die frisch polierten Schuhe verdreckte, war Wilms völlig egal, als er sich dem Tatort näherte. Auch er stülpte sich vor dem Betreten der Sperrzone Plastikschoner über die Schuhe.

»Hi, Hermann. Was hast du für mich?«

Wilms konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Gerade musste er sich wieder daran erinnern: Er hatte sich bei ihrer ersten Begegnung vor etwa fünfundzwanzig Jahren darüber amüsiert, dass ausgerechnet ein Rechtsmediziner Dr. Todt hieß.

Dieser erhob sich ächzend aus der knienden Position und sah Wilms an. Nur sein Gesicht war nicht von Schutzfolie verdeckt. Schon lange nicht mehr hatte Wilms diesen sonst so abgebrühten und zu sarkastischen Scherzen neigenden Mediziner so nachdenklich erlebt.

»Ist das mit deinem Meniskusschaden immer noch nicht behoben?« fragte Wilms, während er ihm hochhalf.

»Ach, da ist doch nichts mehr zu machen. Die Schmerzen werden bleiben, Holger. Alles klar bei dir? Wie geht es Claudia und Joel, siehst du die beiden ab und zu?«

Dr. Todt strich sich das Laub von den Hosenbeinen. Der Schutzanzug schlotterte geradezu um seinen ausgemergelten Körper. Wer diesen Mann nicht näher kannte, unterschätzte sehr oft seinen ausgeprägten Scharfsinn. Kaum jemand im Dezernat lieferte so exakte Hinweise wie Dr. Todt.

»Doch, doch. Eigentlich verstehe ich mich mit Claudia heute besser als früher. Die Distanz hat uns zu mehr Toleranz verholfen. Mit Joel bin ich oft unterwegs. Er möchte später einmal Polizist werden. Kannst dir sicher vorstellen, wie begeistert Claudia von dem Gedanken ist.«

Todt fuhr fort, nachdem er mit der Grundreinigung zufrieden war.

»Übrigens, das sind genau die Fälle, die ich lieber den Kollegen überlassen würde. Also, zur Sache: männliche Leiche, Alter etwa fünf Jahre, wahrscheinlich erwürgt, tot seit zirka zwei Tagen, unbekleidet und weist im Analbereich stärkere Verletzungen auf. Mehr kann ich dir im Augenblick nicht geben. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie sagen. Ach ja: auf der Zunge des Jungen fanden wir Kratzspuren, so als ob sich eine Hand in seinem Mund befand. Da könnten beim Täter Bisswunden entstanden sein.«

Wilms konnte Hermann verstehen, solche Fälle ließen keinen Beamten kalt. Hier nistete sich trotz aller Abgeklärtheit des langen Berufslebens stets ein Hass gegen den Täter ein. Natürlich hatten sie alle, die hier ermittelten, in vielen Seminaren von Psychologen gehört, dass Pädophile anders zu sehen seien – sie seien krank und könnten diesen Trieb nicht in den Griff bekommen. Doch wer brachte im Angesicht dessen, was hier vor ihnen lag, Mitgefühl für den Verbrecher auf? Verständnis für den Mörder, wenn dieser Junge vielleicht stunden- oder tagelang gelitten hatte, bevor der Täter ihn wie Abfall beseitigte?

Es war den grimmigen Gesichtern der umstehenden Ermittlungsbeamten anzusehen, dass jeder von ihnen alles daran setzen würde, diesen Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Wilms hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Sein Blick hing wie gebannt an diesem schmutzigen Müllsack, unter dessen dünner Oberfläche sich die Konturen des kleinen Körpers abzeichneten. Der Mörder hatte dieses Kind zumindest an einem Stück entsorgt. Wie viele Schmerzen hatte der Kleine erleiden müssen! Wie arglos war er in sein Verderben gelaufen! Kinder waren noch nicht mit dem Misstrauen der Erwachsenen ausgestattet. Sie glaubten noch an das Gute im Menschen.

»Hallo, Holger, ist da jemand zu Hause?«

Dr. Todt fasste Wilms am Arm und schüttelte ihn aus seinen trüben Gedanken. »Die Kollegen der Spurensicherung möchten dir was zeigen. Ich fahr in die Pathologie und warte dort auf den Jungen. Wir kriegen das Schwein schon, Holger. Bis dann.«

Dr. Todt legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und verschwand.

»Was habt ihr für mich?« fragte Wilms den Gruppenleiter der Spurensicherung. Der hatte seinen Mundschutz nach unten gezogen, sodass Wilms trotz des Schutzanzuges den Kollegen Remmert erkennen konnte. Er hielt einen Gipsabdruck mit einem sehr deutlichen Reifenprofil in der Hand.

»Also, Chef. Ich kann noch nicht sagen, ob diese Spuren tatsächlich vom Täterauto stammen, doch verkehren hier in der Regel nur Fahrzeuge der Forstverwaltung. Und die haben Geländereifen drauf. Das hier ist aber der Sommerreifen eines Pkws, etwa 245er Breite. Ein Auto der Oberklasse. Wir werden den Reifentyp ermitteln, dann haben wir auch schon eine gute Eingrenzung auf den Fahrzeughersteller.«

Wilms wandte sich an seinen Assistenten Tokrut, der mittlerweile mit der Befragung des Augenzeugen fertig war und einige Schritte hinter ihm interessiert zuhörte. Den Schreibblock hielt er in den Händen und machte sich fleißig Notizen. Wilms nahm diese Tatsache wohlwollend auf.

»Sven, kommen Sie mal zu mir! Ich denke, Sie haben jetzt die Aussage des Herrn Schnell? Machen Sie sich bitte daran, die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser zu befragen, ob sie in dem Zeitraum Dienstag bis Mittwoch hier zufällig einen verdächtigen Pkw haben entlangfahren sehen. Ein Fahrzeug so aus dem Bereich Mercedes, BMW oder Audi. Ich meine, hier auf dem Hauptweg oder auf dem Parkplatz dort hinten.«

Wieder an Remmert gewandt fuhr er fort.

»Sind die Untersuchungen an dem Opfer beendet? Dann organisiert bitte den Transport in die Rechtsmedizin. Wir treffen uns alle morgen um neun im Besprechungsraum im Präsidium.«

Wilms sah sich noch einmal um. Nein, hier gab es für ihn im Augenblick nichts mehr zu tun. Die Verabredung mit Torsten und Freddy zum Skat heute Abend konnte er sich trotzdem abschminken. Wenn derartige Fälle auftraten, war das gesamte Präsidium im Ausnahmezustand. Es gab dort viele Väter.

Wilms machte sich auf den Weg zu seinem Fahrzeug. Gedankenverloren bewegte er sich auf dem Hauptweg, als er aus dem Augenwinkel heraus den Schatten auf sich zueilen sah. Schon an seiner übertrieben gestylten Frisur und dem ausgeflippten Outfit erkannte Wilms, dass es nur der Pressemann sein konnte, den er in der Vergangenheit schon öfter wegen der Verbreitung von Halbwahrheiten bei der Blöd-Zeitung in die tiefste Hölle gewünscht hatte. Der Kerl verstand es immer wieder, sich aus unbekannten Quellen vage Informationen zu besorgen. Daraus strickte er sich seine eigene Story.

»Valentin, wie schaffen Sie es immer wieder durch die Absperrung? Ich kann und will Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen, zumal wir derzeit noch keinerlei Spuren verfolgen können. Einzig das: toter Junge, zirka fünf Jahre. Aus. Alles Weitere auch für Sie morgen in der Pressekonferenz. Und jetzt ab die Post! Gehen Sie hinter die Absperrung!«

»Ist dieser Junge vergewaltigt worden? Ist es ein Sexualdelikt?« Valentin ließ hier nicht locker.

»Valentin, Sie sollten die Wattestäbchen nur zum Reinigen der Ohren benutzen und danach wieder entfernen. Schluss, aus, nichts mehr. Alles Weitere kommt morgen. Tschüss.«

Wilms setzte den Weg zum Dienstwagen fort und ignorierte den Spinner einfach. Er rief aus dem Wagen mit dem Handy sein Büro an. Die Stimme von Silke Kappel am anderen Ende.

»Ja Chef, was gibt´s?«

»Kappel, Sie könnten bitte zwei Dinge für mich tun? Erstens brauche ich für morgen früh um neun Uhr den Besprechungsraum. Ich schätze, etwa fünfunddreißig Mann. Zweitens sehen Sie bitte nach, ob es aktuell vermisste Jungen gibt, die etwa fünf Jahre alt sind. Ach ja, blondes Haar, wenn ich das richtig gesehen habe. Bin in etwa zwanzig Minuten da.«

»Alles klar, Chef, ist so gut wie erledigt. Schreckliche Sache. Mein Sohn ist auch erst acht. Haben wir schon etwas Brauchbares, damit diese Bestie schnell gefasst werden kann? Ich darf gar nicht daran denken, dass hier ein Kindermörder frei herumläuft.«

Wilms konnte diese Ängste gut nachvollziehen und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.

Morgendliches Chaos

»Frühstück ist fertig«, rief Tina Kleinert durch das Treppenhaus. Lagen die Kinder etwa immer noch in den Betten? Nein, da rauschte Wasser und das Geräusch einer elektrischen Zahnbürste war zu hören, wenigstens einer war im Bad. Sie hatte heute nur wenig Zeit und musste sich sputen, um den Lieferanten der neuen Kollektion pünktlich um halb zehn in der Boutique zu empfangen. Tinas Freundin Pia, die ihr stets zur Hand ging, war in der Regel schon vor ihr im Laden. Doch die Auswahl, die heute geliefert werden sollte, wollte sie selbst begutachten.

Ralf blockierte immer noch das Elternbad. Nach jedem Joggen folgte intensives Duschen. Er legte sehr viel Wert darauf, immer gut frisiert und durchgestylt im Büro zu erscheinen. Na ja, da brauchten auch Männer ihre Zeit. Sie musste anerkennen, dass ihr diese Eitelkeit sogar gefiel. Er war schon eine imposante Erscheinung mit seinen zweiundvierzig Jahren: Das schwarze Haar, das neuerdings an den Schläfen graue Strähnen erahnen ließ, trug er relativ kurz und stets perfekt geschnitten. Leichte Falten bildeten sich an den Stellen, die einen Mann noch interessanter erscheinen ließen. Sein meist lächelnder Mund unter der markant geschnittenen Nase wirkte zumindest auf Tina sinnlich. Sie wusste allerdings, dass dieses Lächeln auch Menschen täuschen konnte, die sich mit ihm einließen. Als Juniorchef eines großen Verlages konnte er sich kaum Schwächen leisten.

Es hatte sie am Anfang ihrer jetzt vierzehnjährigen Ehe schon etwas gestört, wenn sie beobachten musste, dass die Damenwelt im Verlag die Arbeit für einen Augenblick ruhen ließ, wenn dieser ein Meter zweiundneunzig große Mann das Gebäude betrat. Tina lernte allerdings damit umzugehen und es sogar zu genießen –die neidischen Blicke eben jener Frauen. Ralf war kein Lebemann und sie hatte vollstes Vertrauen in ihn. Als die Kinder klein gewesen waren, war er sich nicht zu schade gewesen, ihnen auch einmal die Windeln zu wechseln und sie zu füttern. Abends waren seine Gute-Nacht-Geschichten bei den Kleinen sehr beliebt. Besonders Tinas Mutter schwärmte für ihren Schwiegersohn.

Ein gehauchter Kuss auf ihren Hals riss Tina aus ihren Tagträumen. Feste Hände legten sich um ihre Taille und wanderten zum Bauch.

»Dein Parfum riecht toll, was hast du heute drauf?« wisperte ihr Ralf ins Ohr. Das war der Mann, der es verstand, ihren Tag gut beginnen zu lassen. Ein lautes Poltern auf dem Treppenabsatz durchbrach die friedliche Stimmung.

»Mami, wo ist mein Brotbeutel, hast du ihn schon in der Küche?«, schrie Leon.

»Er ist hier unten, Spatz – schon neu gefüllt. Jetzt beeil dich, dein Frühstück wartet. Bitte sag auch Mia Bescheid, dass sie sich sputen soll. Ich muss heute früher weg.«

»Ich kann die Kinder doch heute zur Schule fahren, habe keinen wichtigen Termin. Du kannst dann schon mal los«, sagte Ralf leise und drehte sie zu sich herum.

Spontan schlang Tina ihre Arme um seinen Hals und sah ihm tief in die Augen.

»Danke, du bist ein Engel.«

»Ach, jetzt geht das wieder los«, erklang Mias spöttische Stimme vom Treppenabsatz. Ihre Tochter war gerade zwölf Jahre alt und konnte der Küsserei noch nicht viel abgewinnen – zum Glück!

»Könnt ihr euch nicht einmal richtig streiten, damit ich in der Schule auch was zu erzählen habe?«, beklagte sich Mia lachend.

Beim Frühstück sprach die Familie über den Tagesablauf und den zum Wochenende bevorstehenden Besuch von Onkel Walter und Tante Karin, Tinas Bruder und seine Frau. Bei schönem Wetter wollten sie gemeinsam in den Zoo Gelsenkirchen gehen, abends zum Essen ins Ryokan, das Restaurant in der Tropenhalle. Der Zuspruch der Kinder war ihnen gewiss, denn sie liebten Tiere über alles.

Tina verabschiedete sich etwas hektisch, küsste alle zum Abschied und bemerkte beim Weggehen: »Schließt bitte gut ab und ...«

»... macht überall das Licht aus«, erklang es gleichzeitig aus allen drei Mündern.

Tina musste automatisch mitlachen. Der Mini Cooper preschte kurz darauf aus der Garageneinfahrt.

»So, ihr Lieben, jetzt aber hurtig in die Jacken und ab zur Schule! Ich hole schon einmal den Wagen. Mia, du schließt gut ab und achte darauf, dass Leon sein Brot einpackt.«

»Ich mache auch das Licht aus.« Mia verdrehte die Augen.

»Hopp, hopp, die Zeit läuft!«, rief Ralf, während er die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett fingerte. Sein Aktenkoffer stand immer direkt darunter, um nicht vergessen zu werden. Die Kinder warfen ihre Taschen auf den Rücksitz und kletterten, sich gegenseitig stupsend, in den BMW. Die Fahrt dauerte nicht lang und sie verabschiedeten sich beim Aussteigen mit einem fröhlichen Winken. Ralf sah ihnen noch einen Augenblick nach und ließ dann seufzend den Motor an, um über die A40 nach Bochum zum Verlagsgebäude zu fahren.

Der Pförtner öffnete die Schranke, als er den BMW des Juniorchefs erkannte, und grüßte aus seinem Häuschen. Ralf betrat den Verlag heute durch das Hauptportal und erwiderte die überschwängliche Begrüßung der Empfangsdame an der freistehenden Rezeption. Ralf machte einen kurzen Schlenker zum Pult und beugte sich leicht über die Theke:

»Das Kleid habe ich ja bei Ihnen noch nie gesehen. Das steht Ihnen wirklich sehr gut, Frau Klein.« Das Resultat war, dass sich ein seliges Leuchten in ihre Augen stahl und sich die ohnehin schon beachtenswerte Körbchengröße nochmals um eine Nummer erweiterte. Mit einer Hand fuhr sie durch das üppige blonde Haar und sie versuchte, ein Dankeschön zu formulieren, was jedoch völlig misslang. Während sie einen zweiten Versuch startete, war der Chef schon im Aufzug verschwunden.

Lisa Kraus, Ralfs Sekretärin, die ihn von oben beobachtet hatte, begrüßte ihn ebenfalls mit einem Lächeln. Sie fand es lobenswert, dass er für jeden ein nettes Wort bereithielt.

Das Büro hatte Ralf sich durch einen Innenarchitekten im italienischen Stil einrichten lassen, wobei der weiße Schleiflackschreibtisch mit seiner futuristischen Form sein ganzer Stolz war und den optischen Mittelpunkt bildete. Zwei einladende schwarze Ledersessel, die davor standen, sorgten für eine gewisse Gemütlichkeit. Man musste sich in seinem Arbeitsfeld wohlfühlen, war seine Devise. Wandbilder, die Landschaften aus der Toskana zeigten, ließen ahnen, wo seine Urlaubsvorlieben lagen. Als Ralf hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, erschien Lisa mit der Terminmappe.

»Was haben wir denn heute Morgen als Erstes, Lisa? Haben Sie übrigens das Meeting mit Frau Roschek und Herrn Wiesborn organisiert?«

»Die beiden wissen Bescheid. Termin elf Uhr dreißig. Danach habe ich für Sie eine Pause eingeplant.«

»So, so, eine Mittagspause. Sie sind spitze, Lisa. Wenn ich Sie nicht hätte! Also, was haben wir denn jetzt auf dem Plan?«

Die Antwort blieb Lisa Kraus schuldig, da die Tür aufgestoßen wurde und Josef Kleinert, der Seniorchef, eintrat. Er hatte es sich nie angewöhnt, vorher zu klopfen, was Ralf erheblich störte. Es war allerdings vergebene Liebesmühe, ihn darauf hinzuweisen. Es war keine Unhöflichkeit, einfach nur Gedankenlosigkeit. Der Vater bemerkte die gespielt vorwurfsvollen Blicke von Ralf und Frau Kraus und verließ mit einem schelmischen Lächeln wieder das Büro, um von außen an die geöffnete Tür zu klopfen. Ein entschuldigendes Schulterzucken begleitete seinen zweiten Auftritt. Er wandte sich an Lisa Kraus und deutet mit einem Lächeln einen Handkuss an. Lisa winkte belustigt ab und zog sich in ihr Büro zurück.

»Kaffee für die Herren?«, rief sie über die Schulter.

Wenn Ralf seinen Vater ansah, war es wie in die Zukunft zu blicken. So würde er in einem Vierteljahrhundert aussehen. Es war vollkommen unmöglich, seine Herkunft zu verleugnen. Selbst den Charme, zog ihn Tina gerne auf, habe er von Kleinert Senior übernommen. Allerdings hatte er auch den geschäftlichen Scharfsinn geerbt, mit dem der Senior das Unternehmen aufgebaut hatte.

»Was ist gestern in der Druckerei passiert? Warum hatten wir zwanzigtausend Drogerie-Prospekte als Makulatur entsorgt?«, kam sein Vater auch gleich zum Punkt.

»Ich habe mir sagen lassen, dass bei den Farben falsch eingekauft wurde und enorm viel Farbstaub entstand. Der verteilte sich in der Maschine und führte zu Schmierereien. Warum die Drucker das erst nach zwanzigtausend Andrucken gesehen haben, muss ich heute abfragen. Habe gleich mit dem Produktionsleiter Wiesborn einen Termin. Die Zeitverzögerung hat obendrein dazu geführt, dass wir den Folgeauftrag weit in die Nacht hinein verschieben mussten.«

»Ich möchte noch vor der Mittagspause mit dem Einkaufsleiter sprechen. Kannst du das organisieren?«

»Aber Vater, das kann ich doch auch übernehmen.« Ralf wollte seinen alten Herrn gerne entlasten. Er war der Meinung, dass er jetzt im Alter mehr Ruhe verdient hatte.

»Nein, Ralf, das mache ich selbst. Ich möchte dem Herrn deutlich machen, dass falsche Sparsamkeit letztendlich die teurere Variante ist. Ich werde ihm nicht den Kopf abreißen. Doch möchte ich sichergehen, dass sich solche Dinge nicht wiederholen. Den Farben-Lieferanten werden wir auf jeden Fall aus dem Programm nehmen. Wann hast du eigentlich den Termin in Frankfurt wegen der Vorbereitung zur Buchmesse?«

»Anfang der nächsten Woche. Wollte diesmal vielleicht Frau Roschek aus dem Lektorat mitnehmen. Die kann sich um die Einzelheiten kümmern, während ich den Aufbau des Messestandes bespreche.«

Ralf nahm seiner Sekretärin, die gerade den Raum betrat, galant das Tablett mit dem Kaffee ab.

»Danke, Frau Kraus.« Vater Kleinert lächelte ihr zu, während sie das Büro verließ.

Gespräch unter Frauen

»Pia, wie viel würdest du als Kundin hierfür zahlen?«

Tina Kleinert hielt eine brombeerfarbene Bluse in die Höhe und blickte gespannt auf ihre Freundin. Sie versuchten sich immer bei der Preisgestaltung abzustimmen. Zwar konnte Tina in der Rüttenscheider Boutique einen etwas höheren Preis erzielen als in anderen Essener Stadtteilen, doch gleichzeitig war die Konkurrenz riesengroß. Den Mittelweg zu finden zwischen zu teuer und zu preiswert, war immer eine große Aufgabe.

»Wenn wir die gute Verarbeitung und den zeitlosen Schnitt bedenken, könnten wir schon fünfundneunzig Euro ansetzen«, sinnierte Pia. »Wir können ja später im Winter immer noch reduzieren.«

Nachdenklich betrachtete Tina die Bluse und machte sich daran, das Preisschild zu schreiben. Sie hatte volles Vertrauen in Pia Masbachs Erfahrung. Anfangs hatte diese das Geschäft geleitet, bevor Tina ihr es abgekauft hatte. Pias damalige Trennung von ihrem Mann hatte sie an den Rand des Ruins getrieben, sodass sie händeringend einen Käufer gesucht hatte. Tina war damals eine gute Kundin gewesen und mochte diese kleine Boutique wegen der gediegenen Atmosphäre. Pia hatte ein gutes Auge für aktuelle Mode und was sich gut verkaufen ließ. Als Tina davon erfuhr, dass der Laden verkauft werden sollte, konnte sie Ralf sehr schnell von der guten Investition überzeugen. Außerdem erfüllte sie sich damit den Traum von einer eigenen Boutique auf der berühmten »Rü« in Essen-Rüttenscheid.

Auf Bitten von Tina blieb Pia jedoch weiter als Teilhaberin im Geschäft. Dass ihr damit ein großer Teil der Stammkunden erhalten blieb, war ein schöner Nebeneffekt. Die beiden Frauen hatten vom ersten Tag an ein freundschaftliches Verhältnis gehabt und vertrauten einander die intimsten Geheimnisse an. Auch in diesem Augenblick sinnierte Tina vor sich hin und teilte den plötzlich aufkommenden Gedanken mit ihrer Freundin.

»Pia? Hörst du mich?«

»Was gibt es?«, fragte Pia aus der hinteren Ecke, während sie weiter die Seidenschals umsortierte.

»Ich wollte dich schon lange etwas fragen. Als dich Manfred damals wegen dieser neuen Flamme verlassen hat ... Wenn du heute zurückblickst, war das eine Befreiung oder belastet dich das immer noch? Ich meine, so wie damals?«

»Tina, gibt es da etwas, was du mir sagen möchtest? Stimmt es bei euch nicht mehr?« Pia reckte den Kopf über den Ständer und sah gespannt rüber zu Tina.

»Ach, totaler Quatsch. Zwischen Ralf und mir ist alles in bester Ordnung«, beeilte sich Tina klarzustellen. »Keine Sorge. Das interessiert mich nur so. Wie wird man damit fertig, wenn man verlassen wird?«

Pia hielt beim Umsortieren kurz inne und blickte gedankenverloren auf einen fiktiven Punkt an der Wand, bevor sie antwortete.

»Ach, Tina. Am Anfang glaubst du, dass es für dich danach kein Leben geben kann. Du hast plötzlich kein Ziel mehr. Du bist von der ganzen Welt verlassen. Du verkriechst dich in einen Panzer, durch den niemand eindringen darf. Du suchst nach Gründen, ihn zu hassen, weil er dich ja verletzt hat. Nein, besser gesagt, du konzentrierst deinen Hass auf die Neue. Sie trägt die alleinige Schuld daran, dass du deinen Partner verloren hast. Die Schuldige ist schnell gefunden.«

Tina schaute sich schnell um, doch es war niemand im Laden. Sie trat näher an die Freundin heran.

»Es dauert sehr lange, bis du erkennst, dass die Neue ja eigentlich nur die Folge ist, nicht das Problem. Manfred hat in unserer Beziehung irgendwas vermisst, aber wollte nicht mit mir darüber reden. Vielleicht dachte er auch, dass er mit mir nicht mehr darüber reden kann. Und dann trifft er diese Frau, die viel besser zu ihm zu passen scheint. Er verliebte sich in die Lösung, nicht in die Frau. Mit Schmetterlingen im Bauch übersieht ja jeder die kleinen Fehler beim andern, nicht wahr?«

Pia schluckte. Sie hatte, während sie erzählte, einen Schal fest um ihren Arm gewickelt.

»Ich hätte nicht fragen sollen«, sagte Tina und legte ihr die Hand auf den Arm.

Doch Pia lächelte wieder und winkte den Einwand fort.

»Sie war so perfekt für ihn, dass er das Gewohnte, das Abgetragene, also mich, einfach ablegen wollte. Es konnte für ihn ja nur besser werden. Hab ich dir eigentlich erzählt, dass ihre Beziehung nur zwei Jahre gehalten hat? Wer nach neuen Ufern sucht, vergisst dabei, dass es keine perfekte Partnerschaft gibt. Es kann nur Kompromisse geben. Auf die muss man sich einlassen und dem Partner kleine Fehler erlauben. Wer nach dem ultimativen Partner sucht, kann nur immer wieder neu enttäuscht werden.« Pia lachte plötzlich auf. »Uff, jetzt bin ich aber ins Philosophieren gekommen und habe die Schals zwischen die Gürtel gepackt.«

Sie wühlte in ihrem Ständer und sortierte um, während Tina fasziniert und gedankenverloren die Bluse an ihre Brust drückte.

Als sich Tina längst wieder abgewandt hatte, fuhr Pia fort: »Übrigens habe ich ihm diese ganze Aktion längst verziehen. Ich hab ein neues Leben gefunden und in mir Dinge entdeckt, die ich schon glaubte, verloren zu haben. Natürlich hatten wir eine schöne und erlebnisreiche Zeit zusammen. Die will ich nicht als vertan oder nutzlos bezeichnen ... ganz im Gegenteil. Aber Glück lässt sich nicht zwingen.