Gib mir dein Wort - Harald Schmidt - E-Book

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Harald Schmidt

4,8

Beschreibung

Als der vierzehnjährige Claudio ungewollt durch einen Freund in die Drogengeschäfte der ›Organisation‹ hineingezogen wird, beginnt sein Leidensweg. Verrat und Misstrauen bringen ihn in allergrößte Gefahr. Zu seiner eigenen Sicherheit muss er Kalabrien, Familie und Freunde verlassen. Auf sich selbst gestellt, begibt er sich auf den steinigen Weg nach Deutschland. Hier hofft er, sich aus dem Netz der Mafia, der Ndrangheta, befreien zu können. Doch das Leben zeigt ihm mit aller Härte, was es bedeutet, der Vergangenheit entfliehen zu wollen. Kann Claudio untertauchen in einer für ihn völlig fremden Welt? Wird er eine Zukunft mit eigener Familie aufbauen können? Findet er ›LA DOLCE VITA‹ auch in Deutschland? Inspiriert von einer wahren Geschichte, schildert der Roman in ungeschönten Bildern, wie das Verbrechen Leben zerstören kann. Ein Sumpf von Gewalt, Drogen und Korruption, aber auch tiefe Freundschaften begleiten den Jungen auf der Suche nach einer neuen Heimat.

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Dank sagen möchte ich an dieser Stelle den Menschen, die mir bei der Herstellung dieses Werkes Maßgeblich zur Seite standen. Besonders genannt werden sollten Claudio Gabriele und seine liebe Gattin Giovanna, die nicht nur als Namensgeber für meine Protagonisten herhielten, sondern mir auch wertvolle Tipps für Inhalte zur Story geben konnten. Ohne die Hilfe der Lektorin Simona Turini wäre die Geschichte nur Stückwerk geblieben. Sie feilte und formulierte um, bis jeder Fehler, jede Unlogik beseitigt war. Es tat gut, bei einem Roman, der teilweise in Italien spielt, italienische Freunde an seiner Seite zu wissen.

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann

Ein verhängnisvoller Schwur

Mailand

Eine andere Welt

Heimkehr

Zurück in Neuss

Falsches Spiel

Ein todsicherer Coup

Auf eigenen Beinen

Neuer Versuch

Die gute Tat

Die Waffe

Wieder zuhause

Besuch

Bindung fürs Leben

Gemeinsame Zukunft in Deutschland

Ein bedeutender Schritt

Spiel auf Zeit

Der Schwager

Die Feier

Späte Gäste

Das letzte Versprechen

Treue- und Verschwiegenheits-Eid der ’Ndrangheta

Ein gutes Abendessen und eine gesegnete Nacht an unsere heiligen Brüder.

Genau an diesem gesegneten Abend in der Stille der

Nacht und unter dem Licht der Sterne und des strahlenden Mondes schließe ich die heilige Kette.

Im Namen von Garibaldi, Mazzini und La Marmora.

In Demut nehme ich an der heiligen Gesellschaft teil.

Sprecht mir nach:

Ich schwöre, alles abzustreiten bis zur siebten

Generation,

um die Ehre meiner weisen Brüder zu bewahren.

Unter dem Licht der Sterne und der Schönheit des

Mondes forme ich die heilige Kette.

Im Namen von Garibaldi, Mazzini und La Marmora

wähle ich Buttà G.

Wenn ich ihn früher als einen weisen Bruder kannte,

dem ich nicht treu ergeben war, ab diesem Augenblick

kenne ich ihn nur als meinen weisen Bruder an.

Unter dem Licht der Sterne und dem Strahlen des

Mondes löse ich nun die heilige Kette.

Im Namen von Garibaldi, Mazzini und La Marmora

in Demut löse ich die gesegnete Gemeinschaft.

* Quelle: Polizeivideo der italienischen Ermittler von November 2014

Wie alles begann

Ungeduldig schlug Annunziata Zanetti gegen den Fensterladen - ihre Augen blitzten gefährlich. Ständig musste sie auf den Bengel warten. Das Essen hatte sie vorgekocht, da heute der Wocheneinkauf anstand. Das bedeutete für sie, entlang der Viale Aldo Moro runter ins Zentrum zu gehen. Claudio versuchte stets, sich davor zu drücken, doch sie alleine konnte die Tüten nicht tragen.

»Wo bleibst du nur? Um sechs kommt Papa von der Arbeit.«

Begeisterung sah anders aus. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen zeigte das Gesicht des Jungen deutlich, was er von dieser Aktion hielt. Der Klaps auf den Hinterkopf erinnerte ihn an seine Aufgaben.

»Du trägst Taschen und Rucksack. Los geht’s.«

Der Weg vom höher gelegenen Teil Roccas hinunter ins Tal führte über eine Serpentine, hier ließ die Hanglage einen Blick bis zum Horizont zu. Sie kamen an der Säule vorbei, in der die Statue von Francesco di Paola, dem Schutzpatron Kalabriens, auf Gläubige wartete. Automatisch blieb Claudio stehen, er ertrug geduldig Mamas gewohnte Prozedur, sie sprach ihr Gebet. Die Zeit, in der sie mit dem Stein palaverte, nutzte er, um gelangweilt über die Häuser des trostlosen Ortes zu sehen. Die Hitze des Tages ließ die Luft über den roten Dächern flimmern. Beim dritten Versuch schaffte er es, mit dem Kiesel eine Orange zu treffen, die mit einem dumpfen ›Platsch‹ auf dem staubigen Boden aufschlug.

»Du Lausebengel könntest ebenfalls ein Wort an den Heiligen richten, damit er dir die Flausen austreibt.«

Mama stupste Claudio an, trieb ihn in Richtung Stadtkern. Sein Shirt hatte bereits bessere Tage gesehen; das war zu einer Zeit, als es von dem älteren Bruder Nicola getragen wurde. Mit den Sandalen, in die er noch hineinwachsen musste, wirbelte er mutwillig den Staub auf. Quittiert wurde das mit einem erneuten Nackenschlag.

Der Einkauf war umfangreich und der gefüllte Rucksack drückte unangenehm auf Claudios Rücken. Er wusste, den Abschluss bildete der Besuch der Parfümerie. Mutter hielt gezielt nach preiswerten Haarwaschmitteln Ausschau. Die Zeit nutzte Claudio, um sich zwischen den Düften umzusehen.

Den schweißtreibenden Rückweg bergauf schafften sie lange vor Papas Rückkehr. Jetzt hatte Claudio endlich die Gelegenheit, im Zimmer zu verschwinden. Grinsend saß er auf dem Bett und betrachtete die vier Parfümflaschen, die er in der Parfümerie organisiert hatte, das brachte zusätzliches Taschengeld. Gedankenverloren sortierte er im Kopf die Abnehmer, die für Düfte infrage kamen. Das Geräusch der aufspringenden Tür ließ ihn erstarren, Mama erschien wie ein Geist im Raum. Sie sah nicht ein, warum sie in ihrem eigenen Haus vor dem Öffnen an die Türen der Kinder klopfen sollte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er versuchte spontan, die Beute notdürftig mit dem Laken abzudecken.

»Claudio, hast du die Milch ...?«

Mitten im Satz brach sie ab. Sie starrte auf die Beute, die er nicht komplett hatte verstecken können. Mit einem Ruck warf sie die Decke zurück.

»Was ist das? Das ist doch nicht etwa ...?«

Ungläubig starrte sie abwechselnd auf die Düfte und auf ihren Sohn.

»Du stiehlst, während ich im Geschäft einkaufe? Das hast du tatsächlich getan?«

Mit einem kräftigen Stoß schleuderte sie die Tür ins Schloss, während Sie gleichzeitig in Claudios Haarschopf griff. Die Schläge trafen ihn hart ... überall, der Lärm schallte durch das Haus. Francesco Zanetti, der zwischenzeitlich eingetroffen war, stürmte entsetzt in den Raum.

»Was ist hier los?«, stammelte er. Er fasste seiner Frau in den Arm und versuchte, ihr den Lederriemen aus der Hand zu winden, den sie vorsorglich hinter der Tür zu Claudios Zimmer an der Wand hängen hatte.

»Du schlägst den Jungen ja noch zum Krüppel. Annunziata, hör auf damit.«

»Weißt du, was der Bengel heute angestellt hat? Der klaut in meinem Beisein in der Parfümerie.«

Sie rang nach Atem und fuchtelte mit den Armen.

»Er stiehlt, während die Mutter einkauft! Der demütigt uns im gesamten Ort, oh Gott, warum hat mich der Allmächtige mit diesem Kind gestraft?«

Erneut wollte sie auf ihn einschlagen. Claudio hielt schützend den Arm über den Kopf, Vater Zanetti schob sich zwischen beide.

»Ist das wahr, Sohn?«

Claudio hatte den Blick gesenkt, er nickte stumm und wischte mit dem Ärmel eine Träne ab, die er nicht hatte unterdrücken können.

»Siehst du, Francesco, der Bengel ist durch und durch verdorben. Das wird er mir büßen.«

Mit drohend erhobenem Zeigefinger verließ sie den Raum und verschwand in der Küche. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein Familienmitglied eine Vorstellung davon, was sie damit meinte.

Mutter Annunziata saß mit wutverzerrtem Gesicht auf dem Beifahrersitz. Erstaunt empfing der Inhaber Pietro Calabrese die drei.

»Buonasera, habt ihr was vergessen?«, fragte er nichts ahnend.

»Los, du Mistkerl, sag es ihm.«

Heftig stieß Annunziata ihren Sohn zur Theke. Claudio trat von einem Fuß auf den anderen, er hatte aufgegeben und akzeptierte das Schicksal.

»Signor Calabrese, ich möchte ... ich soll Ihnen das hier zurückgeben.«

Mit gesenktem Kopf hielt er dem erstaunten Inhaber die vier Fläschchen entgegen, die der zögernd entgegennahm.

»Hast du die etwa bei mir ...?«

Mit Unglauben sah er Claudio an, der wortlos dastand, der Schlag in den Nacken kam unerwartet.

»Gib gefälligst Antwort. Gestehe deine Tat bei Signor Calabrese.«

Die Aufforderung drang als Zischlaut durch die gepressten Lippen der Mutter.

»Entschuldigen Sie ... es tut mir leid.«

Er schrie die letzten Worte, obwohl ihm der Trotz den Hals zuschnüren wollte. Er fühlte, wie die Szene seinen Stolz verletzte, in ihm eine unbändige Wut hochkochen ließ. Er stürzte auf die Straße, denn keiner durfte sehen, dass ihm die Tränen über die Wange rollten. Im Augenblick ahnte er nicht, dass der Rachefeldzug der Mutter erst begann.

Der Gang zur Kirche bedeutete für Familie Zanetti eine heilige, sonntägliche Pflicht, wie sie es für jeden gottesgläubigen Italiener war. Padre Cornetti sprach über die ausgesprochen erfolgreiche Ernte und lobte das Engagement der Frauen bei den Vorbereitungen zum kommenden Dorffest. Das Vaterunser beendete den Gottesdienst. Die ersten Besucher rafften ihre Kleider und Taschen zusammen, alle freuten sich darauf, auf dem Vorplatz die obligatorische Passeggiata, das Schwätzchen, abzuhalten. Annunziata Zanetti stand auf, sie sah in die Runde und erhob die Stimme.

»Padre, bitte. Darf ich für einen Moment das Wort an Gott und die Gemeinde richten?«

Sie hatte augenblicklich die volle Aufmerksamkeit aller. Ein allgemeines Geraune setzte ein, Köpfe wurden zusammengesteckt, selbst Francesco blickte überrascht auf.

»Signora Zanetti, sprechen Sie, wir hören.«

»Padre, geschätzte Gemeinde. Alle kennen mich hier als eine gottesfürchtige Frau. Niemals würde ich Dinge tun, sie auch nur zulassen, in denen unser Herr Sünde sieht. Das verlange ich auch von meiner gesamten Familie. Niemand darf gegen die Gebote Gottes und der Gemeinschaft verstoßen.« Sie schlug ein Kreuz. »Ich muss hier im Angesicht des Herrn, im Angesicht der Anwesenden gestehen, dass eines meiner Kinder ein Unrecht beging. Mein Sohn Claudio hier ... steh sofort auf ... hat gegen die Gesetze des Herrn verstoßen, er hat gestohlen. Aber er bereut. Das tust du doch ... oder?«

Sie zog ihn am Kragen des Sakkos hoch, ihr Blick duldete keinen Widerspruch. Claudios Kopf glich einer überreifen Tomate, pures Entsetzen erfüllte ihn. Jeder im Gotteshaus sah auf ihn ... nein, sie starrten ihn an. Alle nahmen die Spannung auf, die im Augenblick zwischen Mutter und Sohn entstand.

»Bereust du deine Tat, mein Junge?«, richtete der Padre das Wort an ihn.

Er hatte die Situation erfasst und versuchte, sie zu entschärfen. Claudio sah ihn an, er war nicht in der Lage, zu antworten. Erst nach dreimaligem Schlucken presste er heraus: »Padre, ich ... ich bereue meine Tat.«

»Das ist im Sinne unseres Herrn, Gott wird dir vergeben, er vergibt dem reuigen Sünder. Sei deiner Mutter ein gehorsamer Sohn, damit sie stolz auf dich sein kann. Lasst uns den Gottesdienst nun beschließen. Einen gesegneten Sonntag wünsche ich allen Anwesenden. Der Herr segne und beschütze Euch.«

Zufrieden in die Runde blickend drängte Mama Zanetti ihre Familie zum Gehen, sie mischte sich auf dem Vorplatz unter eine Frauengruppe. Die Blicke der restlichen Dorfgemeinschaft suchten immer wieder Annunziata. Es war deutlich spürbar, dass dieses Thema heiß diskutiert wurde, die Gemeinde hatte Gesprächsstoff. Claudio schritt steif zur Gruppe der engsten Freunde, er stierte stumm in die Ferne, während alle gleichzeitig auf ihn einredeten. Er bebte vor Zorn, das wollte er Mama niemals verzeihen.

Am 15. August feierte Italien mit viel Trara Ferragosto. Die vier Jungen hingen im Nachbarort Scandale ab. Pietro, der bis vor drei Jahren in Rocca gewohnt hatte, freute sich über den Besuch der Freunde an seinem zwölften Geburtstag. Er hatte nur Mario, Guerino und Claudio eingeladen. Die Via Milano lag in absoluter Ruhe vor ihnen. Sie nuckelten im Vorgarten gelangweilt an ihrer Coke und Guerino erzählte zum gefühlt dreißigsten Mal die gleiche Meerschweinchen-Story, immer wiederholte er sie gebetsmühlenartig. Einst hatten sich die drei Freunde aus Rocca in den Grotten die Zeit vertrieben. Das Geschäft mit Meerschweinchen wurde mit Begeisterung betrieben, die Zucht, die Renato Crasci dort angelegt hatte, ließ den Burschen keine Ruhe. Sie vertraten die Meinung, dass damit Dollars zu verdienen waren, also verabredeten sie eines Nachts, dass sie die Käfige aufbrechen wollten. Mehrere Familien in Rocca kauften ihnen das Viehzeug paarweise ab. Jedes Mal, wenn die Geschichte aufgetischt wurde, klopften sie vor Vergnügen auf die Schenkel.

»Mario, hatte dir nicht eines der Biester in den Anorak gepisst? Deine Mama wird gejubelt haben, als du stinkend nach Hause kamst.«

Selbst Mario musste an der Stelle mitlachen.

»Dafür bekam ich doppelt so viel Knete für meine Viecher«, konterte er.

Guerino spuckte bei dem Gegröle seine Cola zurück in die Flasche und Claudio hielt sich den Bauch. Er versuchte dabei vergeblich, einen Kräcker in den Mund zu schieben. Einer der drei Männer, die schräg gegenüber im Schatten einer ausladenden Pinie um einen Tisch herum saßen, sah belustigt herüber und winkte ihnen zu. Ihr Gespräch dauerte schon den gesamten Vormittag, ab und zu nippten sie an ihren Rotweingläsern.

Pietro, der in der Gruppe zurückhaltender war und bei Erzählungen mehr im Hintergrund blieb, sah den roten Alfa zuerst. Unauffällig rollte er mit mäßigem Tempo heran und hielt gegenüber von dem Haus, vor dem die Männer in ihre Diskussion vertieft saßen. In dem Augenblick, in dem sich die beiden Türen öffneten, kam Bewegung in die Runde. Alle drei sprangen wie nach einem geheimen Kommando auf, riefen sich etwas zu und suchten nach einer Deckung.

Erst erschienen die Läufe der Maschinenpistolen. Ihnen folgten zwei Gestalten, die ohne jede Hektik auf das Gebäude zugingen. Die Schüsse peitschten aus den Mündungen ihrer Waffen, Geschosse schlugen in die Körper, Schmerzensschreie zerrissen die Stille. Ein dickleibiger Mann wurde gegen die Hauswand geschleudert, das austretende Blut sprenkelte den weißen Hintergrund. Das Gesicht drückte pures Erstaunen aus, während er versuchte, mit den Händen die Blutung der Bauchwunden zu stoppen. Langsam rutschte er an der Wand herunter und hinterließ dabei einen blutigen Streifen. Der zweite Mann stand, bei jedem Einschlag erneut zuckend, am Stamm der Pinie, woran er im Zeitlupentempo herunterrutschte. Der Brustkorb war von mehreren Geschossen zerrissen worden, er bestand nur noch aus einer breiigen Masse. Der Dritte hatte hinter einer Hecke Schutz gesucht. Unablässig jagten die beiden Killer ihre todbringenden Geschosse in Richtung Haus – überzogen den Vorgarten mit ihren Salven. Geduckt hinter ihren Stühlen verfolgten die Jungen das Geschehen. Auch sie suchten den dritten Mann, der weitergerobbt war und jetzt versuchte, hinkend ins Haus zu gelangen. Dort schaffte er es, die Haustür mit der Schulter aufzustoßen. Mit einer Hand versuchte er, die stark blutende Wunde abzudecken, ein Geschoss hatte ihm den Oberschenkel aufgerissen. Der Schatten tauchte in die dahinter liegende Dunkelheit ein, die Tür fiel mit Getöse ins Schloss. Einer der beiden Schützen ging, unablässig die Tür beobachtend, auf den Eingang zu. Der zweite Killer verschwand seitlich vom Gebäude.

Gespenstische Stille. Die Gardinen der Nebenhäuser ließen ab und zu Bewegungen erkennen, bevor die Läden schützend vorgelegt wurden. Die vier Jungen saßen starr vor Angst auf dem Boden hinter ihren Stühlen, nicht einer von ihnen schaffte es, den Blick von der Szenerie abzuwenden. Mit einem brutalen Tritt öffnete der erste Schütze die Haustür und spähte mit angeschlagener Maschinenpistole in den Flur. Beängstigende Stille – selbst die Vögel hatten ihr Gezwitscher eingestellt. Die Straße, der Ort, alles wirkte ausgestorben, kein Gesicht, kein Auto. Der Mörder betrat geduckt das Haus. Das nur schwach einfallende Licht ließ es nicht zu, das Ende der Diele zu erkennen. Eine steile Treppe führte in die oberen Stockwerke, sie gab dem Killer den Blick auf zwei verschlossene Türen frei, sein Partner tauchte einem Phantom gleich am Ende des Korridors auf. Lediglich der Schatten zeichnete sich gegen den Hintergrund des hellen Zimmers ab. Mit einer kurzen Bewegung der Mündung zeigte der Erste ihm an, dass er nach oben gehen sollte. Leise knarrende Stufen begleiteten die Schritte.

Die vorspringende Gestalt am oberen Treppenabsatz ließ ihm nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, zu reagieren. Es war ein Wimpernschlag, den er brauchte, um die Waffe hochzureißen und das gesamte Restmagazin in den sich aufbäumenden Körper des Gegners zu entleeren. Die Pistole fiel aus der Hand des Getroffenen, seine Lippen formten einen stummen Schrei, bevor er über den Rand des Geländers stürzte. Die Augen drückten neben der Angst, Unglauben aus. Ein Schritt zur Seite genügte dem Killer, damit der Körper an ihm vorbei auf der untersten Stufe aufschlagen konnte. Der Getroffene blieb dort unnatürlich verkrümmt liegen. Ein Treffer war unterhalb des Kiefers in den Kopf eingetreten und hatte Teile der Schädeldecke zerfetzt, sein Gehirn lag weit verteilt auf dem Flurboden.

Der nervenzerfetzende Schrei einer Frau zerriss die eingetretene Stille, die Mörder rissen gleichzeitig ihre Waffen nach oben. Sie stand, scheinbar aus dem Nichts kommend, am Treppenabsatz, die Hand vor Entsetzen auf den Mund gepresst. Ihr Blick war starr auf den Leichnam gerichtet, der nun als blutige Masse auf dem geblümten Teppich lag. Das strähnige, leicht ergraute Haar hing ihr wirr in der Stirn und verdeckte nur teilweise die weit aufgerissenen Augen, die ihr ganzes Entsetzen zum Ausdruck brachten. Die Killer verständigten sich mit einem stummen Blick, denn der durchdringende Schrei war auch in der Nachbarschaft zu hören gewesen und ließ das Blut in den Adern gefrieren.

Claudio, der den Kopf gehoben hatte, sah als Erster die zwei Schatten in der offenstehenden Haustür. Die beiden Killer sicherten den Fluchtweg, die Schatten ihrer schwarzen Hutkrempen verdeckten die oberen Gesichtshälften. Ohne Eile gingen sie zurück zu ihrem Auto. Kurz bevor sie die Fahrzeugtüren öffneten, verharrten sie, da sie die beobachtenden Jungen bemerkt hatten. Beide flüsterten miteinander, dann richteten sie die Läufe ihrer Maschinenpistolen auf die entsetzt blickenden Burschen.

Keiner der Freunde bewegte einen Muskel, lähmende Angst stand in ihren Augen, die Pupillen waren unnatürlich vergrößert. Lediglich Marios verhaltenes Wimmern durchschnitt die Stille, seine Tränendrüsen gaben jetzt jede Zurückhaltung auf, auch Guerino bemühte sich, Herr seiner Schließmuskeln zu bleiben. Die Beine schlotterten. Beide Männer legten an und fixierten ihr Ziel. Nach endlosen Sekunden senkten sie die Waffen und einer von ihnen hob warnend den Zeigefinger. Er zeigte in ihre Richtung, um dann den Finger auf den Mund zu legen ... Die Nachricht war eindeutig. Der Alfa schoss mit Höllentempo davon. Die Straße und sämtliche Häuser blieben wie ausgestorben, eine Starre hatte sich über die Menschen gelegt. Jeder hier wusste, dass Schweigen oberstes Gebot war.

Das durchdringende Geräusch der Polizeisirenen holte die vier aus ihrer Starre, die Furcht saß in allen Gliedern. Niemand sah den anderen an, denn keiner wollte die Angst eingestehen; Grabesstille, nur schweres Atmen. Der Überfall hatte lediglich drei Minuten gedauert ... ihnen kam es vor wie Stunden.

Durch einen Nebel nahmen sie die eintreffenden Carabinieri wahr, die das Grundstück umstellten. Das Gelände wurde großräumig abgesperrt und von mehreren Seiten drangen die Beamten mit gezogenen Waffen in das Haus ein. Minuten später führten sie vorsichtig eine Frau hinaus, die von der Besatzung eines Notarztfahrzeuges übernommen wurde. Stumm verfolgten die Jungen das Geschehen.

»Was war das denn?«

Claudios Frage zerriss die Stille.

»Mir ist schlecht. Ich glaub, ich muss kotzen«, steuerte Mario bei.

»Kotz mir nicht auf die Schuhe, du Weichei. Ich schneid dir die Zunge raus.«

Claudio hatte sich zuerst gefangen und sah Mario vorwurfsvoll an.

»Leute, eines ist klar, wir haben nicht einen der Killer erkannt, wir haben auch kein Nummernschild gesehen. Niemand von uns wird sich daran erinnern, welche Farben ihre Anzüge oder ihr Auto hatten. Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, wie viele sie waren, ist das klar?«

Er sah in die Runde. Guerino und Pietro nickten.

»Mario, auch du hast nichts gehört und gesehen, du warst ohnmächtig. Hast du das kapiert?«

»Ich habe wirklich nichts gesehen, das könnt ihr mir glauben«, versicherte Mario.

»Doch, Mario, dir glaub ich das, du hast dir bestimmt vor Angst die Augen zugehalten. Hoffentlich hast du dir nicht in die Hose geschissen«, bemerkte Guerino und blickte umher, da er Beifall erwartete.

Zwei Carabinieri kamen direkt auf sie zu und blieben vor der Hecke stehen.

»Alles in Ordnung? Ist euch nichts passiert?«

Mit Ausnahme von Mario schüttelten sie stumm die Köpfe, bis Guerino ihm vor das Schienbein trat. Mario spürte schmerzhaft, dass man von ihm Zustimmung erwartete, er nickte ebenfalls.

»Wir brauchen eure Aussage. Das Beste wird sein, Ihr beschreibt uns den Ablauf. Habt ihr den oder die Mörder erkannt, könnt ihr uns sagen, wie viele es waren? Welches Auto fuhren die?«

Er zog den Notizblock hervor und wartete. Claudio war der Meinung, dass er für alle sprechen sollte.

»Ich glaube, dass keiner von uns was Brauchbares weiß. Als die Ballerei losging, haben wir uns alle auf den Boden geworfen und gehofft, dass die Kerle uns nicht entdecken. Haben die ja auch nicht, wie man sieht, sonst wären wir jetzt wohl auch tot.«

»Bevor die geschossen haben, müsst ihr doch was bemerkt haben«, versuchte es einer der beiden Beamten erneut.

»Hat keiner von euch was erkannt? Das Auto, die Farbe oder sonst irgendwas ... kommt schon, raus damit.«

Claudio sah die Freunde an.

»Nö, nichts gesehen, hab mich sofort hingeschmissen«, erwiderte Guerino, Pietro und Mario nickten zustimmend.

»Na gut, lassen wir das für den Augenblick. Wir schreiben auf jeden Fall eure Namen und Adressen auf und kommen noch einmal auf euch zurück. Jetzt befragen wir die Bewohner der umliegenden Häuser.«

Der Mord wurde nie restlos aufgeklärt. Es sickerte lediglich durch, dass es hier einen abtrünnigen Boss der ’Ndrangheta aus Rocca di Neto treffen sollte. Dass dabei gleichzeitig zwei der Unterführer draufgingen, war nicht geplant gewesen. Die Aktion ging aus einem anderen Grund in die Annalen der Mafia ein. Strafaktionen der ’Ndrangheta konzentrierten sich ausschließlich auf zuvor festgelegte männliche Personen, Kinder und Frauen mussten auf jeden Fall verschont bleiben.

Hier war eine unbeteiligte Bewohnerin des Hauses zwar nicht getötet worden, doch auch ein psychischer Schaden war auf keinen Fall mit den Gesetzen der Familie vereinbar ... Niemals durfte ein Unschuldiger leiden. Kurze Zeit nach dem Anschlag wurde das Gebäude komplett abgerissen und an gleicher Stelle neu gebaut.

»Ich möchte bei Ihnen arbeiten ... Signor Colucci, ich möchte mich bei Ihnen als Autoschlosser bewerben ... Scheiße, ich krieg das nicht hin! ... Signor Colucci, ich bin mit der Schule fertig und möchte ...«

Stets aufs Neue stammelte Claudio die Worte auf dem langen Weg zur größten Autowerkstatt des Ortes. Die Schule hatte er abgebrochen, er war immerhin dreizehn Jahre alt. Endlich wollte er einen Beruf mit eigenem Einkommen erlernen, denn erst mit einem Job würde er zum Mann werden. Vater hatte ihn eines Morgens mitgenommen in die Schlosserei, in der er arbeitete. Dass es eine schmutzige Arbeit war, störte Claudio nicht, es war schließlich ehrlich verdientes Geld. Papa schaffte es, davon die Familie zu ernähren. Nun wollte Claudio allen beweisen, dass mehr in ihm steckte, als der Taugenichts, der Streiche ausheckt und krumme Sachen anzettelt.

Weil der geschlossene Kragen des Hemdes ihm die Luft nahm, löste er den obersten Knopf. Den Anzug hatte er schon bei Tante Amalias Beerdigung getragen, Mama hatte lediglich den Saum aus den Hosenbeinen gelassen. Sie war der Meinung, dass die Änderungen ausreichten, wenn er die Jacke offen trug.

Die Fabrik baute sich wie ein unüberwindbarer Berg vor ihm auf, einen Augenblick blieb er nachdenklich stehen. Durch die flimmernde Luft sah er die gewaltige Werkshalle und das danebenliegende Bürogebäude, in dem er sicherlich Signor Colucciantreffen würde. Das Vorstellungsgespräch hatte er heimlich verabredet, Vater und Mutter sollten stolz auf ihn sein, wenn er ihnen den Lehrvertrag vorlegte. Die Geschwister, die ihn stets hänselten, würden staunen.

Laster rangierten auf dem Hof, verschwanden in den Hallen oder verließen das Gelände. Claudio knöpfte den Hemdknopf zu, entschlossen straffte er den Körper.

»Na Junge, wo willst du hin?«

Die Stimme kam scheinbar aus dem Nichts, kurz bevor er sich an dem Pförtnerhaus vorbeischieben wollte. Hinter der Scheibe hatte er niemanden gesehen, sodass ihn der stämmig gebaute Mann seitlich des Hauses überraschte. Lässig stand er an die Wand gelehnt, beide Hände auf der Brust verschränkt, ein müdes Lächeln umspielte die wulstigen Lippen.

»Bin mit Signor Colucci verabredet ... ja, verabredet ... möchte hier arbeiten. Wo finde ich den?«, stotterte Claudio.

»Bleib da stehen!«, kam es zurück. Der Kleiderschrank verschwand im Pförtnerstübchen und telefonierte. »Komm mit!«

Die Tür des Verwaltungsgebäudes öffnete automatisch, nachdem ein Code auf einer Tastatur eingegeben worden war. Claudio stieg eine Stahltreppe hinauf, der Hüne wurde von einem zweiten Anzugträger begrüßt. In Gedanken verglich Claudio ihn mit einem Wiesel. Das ›Wiesel‹ drückte ihn in einen Stuhl, wobei er ihn gleichzeitig abtastete. Minuten vergingen, Claudios Mut sank mit jeder Minute des Wartens. Er wünschte sich, tausend Kilometer entfernt zu sein, denn ein Gefühl sagte ihm, dass hier Gefahr lauerte. Während er die Hände gefaltet zwischen die Oberschenkel presste, nahmen seine Augen jedes Detail im Raum auf. Die Fischaugen des ›Wiesels‹ beobachteten ihn belustigt, was Claudios Unsicherheit nur noch verstärkte.

»Kann reinkommen!«, schallte es durch die verschlossene Tür in die Stille.

Mit einer kurzen Kopfbewegung wies ihn das ›Wiesel‹ an, dass er ihm folgen sollte. Claudio prallte zurück, als sich der Zigarrenrauch wie eine Wand vor ihm aufbaute. Die vergilbte Tapete bewies untrüglich, dass sie das schon viele Jahre ertragen musste.

Nie zuvor hatte Claudio so viel Menschenmasse auf einem Haufen gesehen. Die fleischigen, nackten Arme bedeckten die Stuhllehnen komplett. Der Oberkörper nahm jegliche Sicht auf das Rückenteil des Drehsessels. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Qualle weitere Tentakel hervorgezaubert hätte, hier wirkte selbst der überbreite Schreibtisch eher zierlich. Überzogen mit Zeitungen und Schnellheftern gestattete er den Blick auf einen Riesenaschenbecher, der mit Zigarrenstummeln überfüllt war, die Asche verteilte sich auf der Tischplatte. Da Claudio bisher keinen Gefallen am Rauchen gefunden hatte, bereitete ihm der Mief des Zimmers Unwohlsein und er unterdrückte ein Würgen.

»Setz dich! Was kann ich tun?«

Die fleischige Hand zeigte auf einen Riesensessel. Claudio saß kerzengerade auf der Vorderkante. Sein Blick glitt ängstlich durch den Raum, blieb dann an den Augenschlitzen seines Gegenübers hängen.

»Ich ... ich will einen Beruf erlernen, Schlosser, Autoschlosser oder was Ähnliches. Papa ist ...«

Hier wurde er vom Bass der Qualle unterbrochen.

»Ich weiß, dein Vater ist Schlosser, ein fleißiger, ehrenwerter Arbeiter. Habe mich erkundigt. Du bist Claudio Zanetti, den sie im Ort den ›Meisterdieb‹ nennen, wusstest du das? Jetzt stelle ich mir die Frage: Warum sollte ich in meiner Werkstatt einen ›Meisterdieb‹ beschäftigen ... einen Typen, der mir das Werkzeug aus den Fächern klaut? Warum, he? Nein, Freundchen, das Risiko ist mir zu groß.«

Claudios Körper erschlaffte, mit dem Gesprächsverlauf hatte er niemals gerechnet. Das war’s für ihn, er zuckte mit den Schultern und stand auf.

»Tja, wenn das so ist, dann entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit geraubt habe.«

»Setz dich wieder hin – du ›Meisterdieb‹ und hör mir zu!«

Ein belustigtes Funkeln zeigte sich in den Schweinsaugen, als er fortfuhr.

»Man darf sein wahres Talent nicht einfach so vergeuden. Schlosser, was ist das schon? Willst du nur im Dreck wühlen, ständig Sorgen haben, womit du die Rechnungen der Familie bezahlst? Du solltest dein helles Köpfchen für Lukrativeres nutzen. Das Geld liegt auf der Straße, du kannst bei mir lernen, es zu sehen, es aufzuheben. Du darfst bei mir in die Lehre gehen, doch nicht in der Werkstatt. Das heißt, dass du zwar offiziell dort beschäftigt bist, die Finger bleiben sauber. Was sagst du dazu, wenn du für mich Botengänge erledigst? Du lieferst von A nach B, ich bezahle dich dafür gut.«

Claudio hatte von solchen Botengängen gehört. Jeder wusste, was das bedeutete. Er kannte einige der Boten, die sich damit in der ›Familie‹ hochgearbeitet hatten, sie warfen jetzt mit Geld um sich. Sie saßen in den Cafés und hielten die hübschesten Mädchen frei. Er hatte auch von denen gehört, die von der Polizei kassiert wurden. Es gab Gerüchte, dass es denen in der kurzen Zeit, in der sie einsaßen, gut ging. Sie hatten ihre Ruhe vor den anderen Knastbrüdern. Er hörte aber auch von denen, die einfach so verschwanden, nie mehr auftauchten. Er spürte den lauernden Blick, mit dem ihn die Qualle fixierte, man erwartete eine Antwort.

»Darf ich mir das überlegen, Signor Colucci? Das kommt überraschend, ich möchte aber eine Nacht drüber schlafen. Hört sich gut an und grundsätzlich hätte ich Lust. Nur, Sie verstehen, ich muss da noch Papa fragen, der weiß noch nichts davon, dass ich mich beworben habe.«

»Hm, gut mein Junge. Wenn du mir bis übermorgen kein Okay gegeben hast, ist das Angebot vom Tisch. Claudio, dein Vater erfährt nur von der Anstellung als Autoschlosser, capito?«

»Geht klar, Signor, kann ich jetzt gehen?«

Er hatte sich erhoben und wollte nur noch weg. Der abschätzende Blick des Fleischbergs folgte ihm.

»Luca ...!«, schrie Colucci zur Tür, die Sekunden später aufgerissen wurde. Das ›Wiesel‹ erschien in der Türöffnung. »Gib dem Jungen Taschengeld mit auf den Heimweg, er hat es verdient.«

Er deutete etwas mit den Fingern an, das Claudio nicht einordnen konnte, es schien dem ›Wiesel‹ eine Summe anzuzeigen. Aus einer Geldrolle, die er in der Hosentasche aufbewahrte, zählte Luca einige Scheine ab, die er Claudio in die Einstecktasche neben dem Revers presste. Wortlos begleitete er den Jungen bis zur Ausgangstür und schob ihn Richtung Pforte. Da Claudio seinen Gedanken nachhing, ging er grußlos an dem Kleiderschrank vorbei, der zwischenzeitlich seinen Platz seitlich vom Pförtnerhaus wieder eingenommen hatte.

Ohne die Kippe aus dem Mundwinkel zu nehmen, fragte der: »Na Kleiner, hat alles geklappt?«

»Na klar«, antwortete Claudio abwesend.

Er machte sich bereits Gedanken darüber, wie er den Eltern die Neuigkeit glaubhaft verklickern sollte.Hier und da andere Jungen verhauen, ein Schutzgeld erpressen, an der Tanke Benzin klauen ... das war eine Sache. Die Familie belügen ... nein, das war nicht sein Ding. Er konnte auf keinen Fall den eigenen Vater anflunkern, das war unmöglich. Auf dem Weg zum elterlichen Haus setzte ihm die sengende Hitze zu. Bevor er die Jacke über die Schulter warf, griff er in die Brusttasche. Es verschlug ihm den Atem, als er einhunderttausend Lire in der Hand hielt. Noch nie zuvor hatte er so viel Geld besessen. Seine Entscheidung für den Job fiel genau in diesem Augenblick, jetzt fehlte noch Vaters Segen.

»Reichst du mir bitte die Oliven rüber, Claudio«, bat Gilda ihren Bruder.

Sie breitete abwartend die Hände aus und in Gedanken vertieft reichte er der Schwester die Schüssel. Wie an jedem Abend hatte sich die gesamte Familie beim Abendessen versammelt, es war die beste Gelegenheit, um Neuigkeiten auszutauschen. Dass Gilda ein Stück Ciabatta in Claudios Tomatensoße eintauchte, fiel ihm nicht auf.

»Claudio, hör auf zu träumen – he, hörst du mich überhaupt?«

Vater Zanetti stieß ihn an und fuhr kauend fort: »Wo hast du dich heute Nachmittag rumgetrieben? Dein Zimmer solltest du aufräumen.«

»Ich hab mir einen Job besorgt.«

So, als hätte jemand einen Pausenknopf gedrückt, trat augenblicklich Ruhe ein. Die ausgestreckten Arme blieben in der Luft hängen.

»Du hast was?«, wollte sein Bruder Matteo wissen. »Wer gibt dir freiwillig einen Job?«

»Was willst du damit sagen? Warum sollte er keine Arbeit kriegen, ihr habt doch auch einen Job bekommen? Lass hören, Claudio.«

Alle Blicke waren auf den Jüngsten gerichtet, nur zögernd setzte man das Abendessen fort.

»Ich habe heute bei Signor Colucci vorgesprochen. Der hat die Autowerkstatt unten im Ort und stellt mich gerne ein, ihr Idioten.«

Wütend funkelte er Matteo an. Er wunderte sich allerdings darüber, dass die Eltern Blicke tauschten, ohne weiter auf das Thema einzugehen, sie sahen wortlos auf ihre Teller.

»Wir sprechen gleich nach dem Essen, iss jetzt.« Die Geschehnisse im Ort standen wieder im Mittelpunkt.

»Ich sage noch einmal: Auf gar keinen Fall, dabei bleibt es, Claudio! Keinen Handschlag wirst du in der Werkstatt tun. Ich verstehe dich nicht, du bist ein aufgeweckter Bursche und hast deine Lauscher überall da, wo krumme Geschäfte laufen. Hier spielst du den Ahnungslosen? Glaubst du wirklich, dass du Milchkannen oder Fleischbällchen transportieren sollst? Hast du nie davon gehört, was da abgeht? Die Carabinieri sind da schon fast zuhause, willst du in den Jugendknast kommen? Maledetto, hast du den Verstand verloren?«

Francesco Zanetti hatte sich in Rage geredet und lief quer durch den Raum. Claudio hatte den Blick auf seine knetenden Hände gerichtet, die Strafpredigt ließ er stumm über sich ergehen. Wie gut, dass er Vater nichts von dem Geld erzählt hatte, er würde bestimmt von ihm verlangen, dass er es zurückbrachte. Das Verschweigen sah er nicht als Lüge, es war eben nicht die ganze Wahrheit, basta.

»Ich werde Montag mit meinem Chef sprechen, ob wir dich bei uns unterbringen können. Du kannst dann immer bei mir mitfahren und ich habe dich besser unter Kontrolle.«

Die Idee gefiel Papa, er setzte sich Claudio gegenüber und sah ihm ins Gesicht.

»Du musst aufwachen, das ist eine fremde, eine gefährliche Welt. Das ist anders, als nur Meerschweinchen klauen. Wenn du da einmal drinsteckst, kommst du niemals mehr frei ... du gehörst diesen Menschen. Verstehst du? Sie gestatten dir kein Aussteigen, keine eigenen Entscheidungen. Du kennst ihre Strukturen nicht - einmal Familie, immer Familie!«

Claudio gestand sich in dem Augenblick ein, dass Vater wie immer recht hatte. Natürlich hatte er von der ›Familie‹ gehört. War Colucci auch einer von denen? Er konnte den Job nicht annehmen. Der Virus, schnelles Geld machen zu wollen, saß aber schon in ihm.

»Mein Name ist Claudio Zanetti. Können Sie mich mit Signor Colucci verbinden? Ich soll ihn anrufen.«

»Warten Sie einen Augenblick. Er ist gerade unten in der Halle, ich verbinde.«

Sekunden später erklang der Bass Coluccis.

»Es gefällt mir, dass du pünktlich anrufst. Wann möchtest du anfangen?«

Claudio hatte seinen gesamten Mut aufgebracht, um den Anruf zu tätigen, jetzt versagte seine Stimme.

»Bist du noch dran, Claudio? Hast du meine Frage nicht verstanden? Oder ... warte ... möchtest du mir sagen, dass du das Angebot doch nicht annehmen willst?«

Claudio spürte etwas Lauerndes in Coluccis Stimme, er glaubte, dass der Hörer in seiner Hand immer heißer wurde. Ihm wurde klar, dass der Mann ein bloßes Nein nicht akzeptieren würde. Er wechselte den Hörer in die andere Hand und räusperte sich.

»Herr Colucci, mein Vater möchte, dass ich in der Firma unterkomme, in der er arbeitet. Er glaubt, dass es für alle leichter wäre und er mich dann immer im Auto mitnehmen könnte. Das Geld, Signor Colucci, werde ich Ihnen natürlich wiedergeben. Habe noch keine Lira davon ausgegeben. Ich bringe es schon morgen bei Ihnen vorbei ... das verspreche ich.«

Claudio vernahm nur das leise Atmen Coluccis und ab und zu Geräusche aus der Werkhalle. Das Warten zerrte an den Nerven und der Schweiß durchdrang sein Shirt.

»Das sind keine guten Nachrichten, mein Freund, überhaupt nicht gut, hatte dich eigentlich schon eingeplant.«

»Es tut mir leid, Signor ...«

»Sei ruhig, ich überlege.«

Mit schweißnassen Fingern wartete Claudio darauf, dass Colucci weitersprach. Nach mindestens dreißig Sekunden hörte er die tiefe Stimme.

»Claudio, betrachte das Geld, sagen wir, als Geschenk von mir. Möchte dich allerdings um einen kleinen Gefallen bitten. Könntest du ein einziges Päckchen für mich an einen anderen Boten übergeben, der in Crotone am Bahnhof auf dich wartet? Luca fährt dich dorthin, du musst nur einen kurzen Weg bis zum Treffpunkt laufen. Dann hast du schon alles erledigt und Luca bringt dich zurück. Niemand wird jemals davon erfahren, falls du Sorgen wegen deinem Vater hast. Könntest du mir diesen kleinen Gefallen tun?«

Claudio fiel ein Stein vom Herzen. Hunderttausend Lire für eine Fahrt nach Crotone ... das war ein gutes Geschäft. Er betrachtete die Geldscheine, die er in der Hand drehte.

»Das ist doch überhaupt kein Problem, Signor Colucci.«

»Eine gute Entscheidung, Claudio. Das werde ich dir nie vergessen.«

Das Ziel war Le Fontanelle. Die Pizza hier war nach Meinung der Freunde unübertroffen. Der Inhaber Jacobo hatte da sein Geheimnis bei der Zubereitung ... behauptete er zumindest. Die dreizehnjährigen Schnösel nahmen ihm das ab. Ein weiterer Grund für die Besuche lag woanders, denn nirgendwo in dem trostlosen Nest versammelten sich schönere Mädchen. Argumente, die pubertierende Jungen auf Anhieb überzeugten. Claudio war froh, der häuslichen Enge und dem langweiligen Nachmittagstreiben der Geschwister entfliehen zu können. Sie gingen ihm gehörig auf den Keks mit ihrem Gezanke. Außerdem hatte Vater ihm angedeutet, dass er heute Abend nochmals mit ihm über seine Zukunft reden wollte. Zukunft in diesem Nest? Was durfte er erwarten von Rocca di Neto? Man wohnte nicht nur am Stiefelende von Italien, sondern am Arsch von Kalabrien? Sollte er die ›Grotte rupestri‹ für Touristen ausfegen oder an der örtlichen Tankstelle die Zapfpistole polieren? Nein, Claudios Zukunft lag in einer Großstadt, notfalls im Ausland.

Mario riss ihn aus seinen Gedanken, denn er rannte ihn fast um, als er aus der Seitengasse kam.

»Buongiorno, Claudio. Habe vorhin mit Guerino gesprochen. Hast du gewusst, dass Giovanni uns treffen will, bevor wir ins Fontanelle gehen? Keine Ahnung, was der vorhat. Hat davon gequatscht, dass ein größeres Ding läuft und wir unbedingt dabei sein sollten, ist ne Menge Kohle drin.«

Giovanni war für sie alle ein Vorbild an Cleverness. Der war schließlich schon fünfzehn, mit irre guten Verbindungen nach ganz oben, aber darüber sprach er nicht ... war einfach zu gefährlich ... meinte er. Mario hatte heute die halbhohen, ausgelatschten Lederschuhe geputzt, na ja, zumindest den vorderen Teil. Das Gesicht zeigte die Abgrenzungen, die das Waschwasser erreicht hatte. Das war für alle ein klares Indiz dafür, dass er seinen Schwarm Greta in der Pizzeria vermutete, die war allerdings auch schon fünfzehn und sah zugegebenermaßen unverschämt gut aus. Aber von Mario wollte sie absolut nichts wissen, da hatte Giovanni eher Chancen, zumal er auch ihre Coke bezahlen konnte.

Die letzten zweihundert Meter liefen sie um die Wette. Mario hatte die längeren Beine und gewann mit zwei Metern Vorsprung. Vor dem Eingang warteten Guerino und Giovanni, müde erhoben sie sich von der Bordsteinkante. Giovanni knipste lässig einen Kippenrest auf das Pflaster. Mit einer knappen Kopfbewegung signalisierte er, dass es losging. Das sollte cool wirken und die Jüngeren beeindrucken. Mit in den Taschen vergrabenen Händen marschierte das Quartett die Straße runter zu einem imaginären Treffpunkt. Selbst dieser blieb für alle, außer ihm selbst, erst einmal geheim. Die Jungen spürten eine gewisse Anspannung, hier lag etwas in der Luft. Claudio fragte sich, während sie runter zum Flussufer stiefelten, was Giovanni in der Umhängetasche über seiner Schulter versteckte. Mit der linken Hand hielt er sie wie einen Schatz umklammert. Kurz bevor sie das ausgetrocknete Bett des Neto erreichten, fiel ihr Blick auf einen weißen Fiat, an dem sich zwei Fremde mit einem Reifenwechsel abmühten.

»Können wir helfen?«, bot Mario an.

Sein Vater hatte eine Werkstatt im Ort, er kannte sich in solchen Dingen aus.

»Nein, danke, das kriegen wir schon hin, Jungs.«

Die Männer konzentrierten sich wieder auf ihre Arbeit, also gingen die Jungen weiter Richtung Treffpunkt. Nur Sekunden hatten sich die vier abgewendet, da stoppte sie der klare Befehl: »Bleibt genau da stehen und keine Bewegung mehr!«

Wie vom Blitz getroffen, erstarrten sie, Mario und Giovanni spürten Pistolenläufe am Hinterkopf. Trotz der hohen Nachmittagstemperatur von sechsunddreißig Grad zog ein kalter Schauer über ihren Rücken, nackte Angst beherrschte sie. In den Augen aller war das Entsetzen, die pure Angst erkennbar. Während die Männer Claudio und Guerino neben die beiden anderen zerrten, setzte bei Mario ein Zittern ein, das ihn durchschüttelte. Die polierten Schuhe ließen den Urin abperlen, der im Sand versickerte. Tränen bedeckten die Wangen und der Blick war flehentlich zum Himmel gerichtet. Einer der Männer, der bis dahin kein Wort gesprochen hatte, zog vorsichtig die Tasche von Giovannis Schulter, die Pistole richtete er weiterhin auf dessen Hinterkopf.

»Die Flossen bleiben oben. Ist das klar?«, wiederholte er die Drohung.

Der schlaksige Typ hinter Giovanni steckte die Waffe ein und untersuchte die Tasche.

»Sì, ha colpito ... Volltreffer! Die haben wir am Arsch!«

In der Hand hielt er triumphierend zwei Päckchen, die eine braun-grüne Substanz enthielten. Sogar für die drei Grünschnäbel war spätestens jetzt klar, dass man sie mit Gras erwischt hatte. Der Abend war gelaufen.

Auf der Fahrt zur Provinzhauptstadt Crotone wurde den Burschen bewusst, dass jetzt die Unschuld vom Lande vorgespielt werden musste.

»Setzt euch auf die Bank und haltet die Klappe, bis ihr aufgerufen werdet!«

Alle vier trotteten mit gesenkten Köpfen zur angezeigten Ecke in der Polizeistation, die Handschellen verhinderten eine bequeme Sitzposition. Der unangenehme Geruch von Marios Pisse stieg in die Nase der Freunde, er wurde mit respektvollem Abstand an das Bankende verbannt. Einer der Kommissare, die sie festgenommen hatten, beobachtete sie fortwährend durch die Glasscheibe, während er an seinem Bericht arbeitete. Das Warten zerrte an den Nerven und trieb die Anspannung ins Unerträgliche.

»Wer von euch ist Claudio Zanetti?«

Die Stimme des Polizeibeamten, der direkt neben ihnen auftauchte, schallte durch den langen Flur. Sie schlug wie ein Pistolenschuss bei Claudio ein.

»Hier, ich Signore.«

Er hatte sich erhoben.

»Mitkommen!«, war die knappe Anweisung des Uniformierten.

Ein Türschild wies darauf hin, dass sie das Büro des Oberkommissars Paletta betraten.

»Setz dich da hin, der Chef kommt sofort!«

Der bullige Polizist baute sich neben der Tür auf, der Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Es hieß warten ... ein Psychospiel, das Claudio zur Genüge kannte. Jugendstreiche hatten ihn zum Stammgast in der kleinen Wache in Rocca gemacht, in Crotone hatte er heute Premiere.

Das Öffnen der Tür in seinem Rücken bemerkte er nicht. Erst als der Oberkommissar, einem Phantom gleich, neben ihm auftauchte, schrak Claudio heftig zusammen und sprang auf.

»Bleib sitzen!«, forderte der ihn auf, bevor er hinter dem Schreibtisch in den Drehstuhl sank. Während der Oberkommissar in Unterlagen blätterte, hatte Claudio Zeit, ihn einzuschätzen. Innerlich musste er schmunzeln. Der drahtige, kleinwüchsige Mann in dem verknitterten Anzug verschwand fast hinter dem Riesenschreibtisch. Alles in dem Büro war altmodisch, herrschaftlich, dunkles, mit Intarsien versehenes Mobiliar verlieh dem Raum sogar etwas Bedrohliches.

Oberkommissar Paletta schob den Stuhl zurück, um den eindringenden Sonnenstrahlen zu entgehen. Sofort eilte der Uniformierte zum Fenster und zog an dem schweren Vorhang. Dankbar nickte Paletta ihm zu und betrachtete seinen Gast.

»Habe mit Obermeister Livio in Rocca telefoniert. Ein Claudio Zanetti ist dort ein alter Bekannter, ein Dauergast, wenn man das so sagen darf, du scheinst dich ja auf Polizeiwachen wohlzufühlen. Ich sehe, dass du es mit dem Gesetz nicht genau nimmst, allerdings war bisher noch kein Drogenhandel gelistet. Doch, wie wir sehen, das entwickelt sich.«

Schon mit der Einführung versuchte der Kommissar, ihn einzuschüchtern.

»Herr Oberkommissar ...«, wollte Claudio einwenden.

Die erhobene Hand gebot ihm Schweigen.

»Ich kann dir den aktiven Drogenhandel bisher nicht nachweisen, doch zumindest eine Beteiligung, mein junger Freund. Wollen wir die Sache einmal in aller Ruhe betrachten. Da wird ein Posten Gras auf dem Markt angeboten, meine Leute erfahren davon, zeigen beim Anbieter Interesse. Der Preis steht und die Übergabe wird verabredet. Wir überraschen am Übergabeort eine Gruppe Jungspunde, die im Besitz von Marihuana sind.

Halten wir fest: Wir haben Drogendealer auf frischer Tat erwischt. Wir bringen die Verbrecher vor Gericht, dann für etwa zwei bis drei Jahre hinter Gitter. Siehst du, so einfach läuft das in unserem Rechtssystem.«

Paletta hatte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte gestützt und die Fingerspitzen zusammengelegt, sein Blick ruhte unablässig auf Claudio. Er ließ die Ansprache wirken, wartete auf Reaktionen. Das unruhige Wippen der Beine entging ihm nicht, es zeigte ihm, dass es in Claudio arbeitete.