Gestohlenes Leben - Ethel Scheffler - E-Book

Gestohlenes Leben E-Book

Ethel Scheffler

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Beschreibung

Karl Meissner wird tot nahe des Elsterflutbeckens in Leipzig aufgefunden. Spuren? Fehlanzeige. Die Suche nach dem Mörder wird der erste Fall der Kriminalhauptkommissarin Karen Goldtotter als frischgebackene Chefin der Mordkommission. Gesundheitlich angeschlagen und noch in Trauer um ihren Freund Paul, übernimmt sie den Fall. Unterstützung bekommt sie von einem Kollegen aus Hamburg sowie von ihrem Schwager Jörg Hagelgans, der als Hausmeister arbeitet und selbst gern ein Kriminaler geworden wäre. Als noch eine zweite Leiche gefunden wird, verstärkt Staatsanwalt Eberhard Sander den Druck auf sie. Er zweifelt an Karens kriminalistischen Fähigkeiten, droht, dass LKA einzuschalten.

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Danksagung

Ethel Scheffler

Gestohlenes Leben

Ein Leipzig-Krimi

Ruhrkrimi-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023, Ethel Scheffler

© 2023 Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim an der Ruhr

Coverbild: istockphoto-1080365662

ISBN 978-3-947848-79-9

Auch als eBook erhältlich.

1. Auflage (Originalausgabe)

Der Kriminalroman spielt in Leipzig. Die Gegebenheiten der ausgewählten Schauplätze meiner fiktiven Geschichte habe ich natürlich etwas verändert.

Disclaimer:

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://ruhrkrimi.de

Ethel Scheffler ist eine waschechte Leipzigerin. Nach Abitur und Lehre zur Finanzkauffrau studierte sie Finanzwirtschaft. Sie arbeitete im Handel und führte als Inhaberin von 1998 bis 2019 eine Hausmeisterfirma. Seit 2006 schreibt sie fiktive schwarzhumorige Kurzgeschichten, die regelmäßig in Anthologien erschienen. Außerdem widmet sie sich dem True Crime, dazu veröffentlichte sie ein Sachbuch über authentische Kriminalfälle in Leipzig, worüber der MDR zur Leipziger Buchmesse berichtete. Ein Krimiautor kann auch anders. Es entstanden mehrere regionale Bücher über die liebenswerten Eigenschaften der Sachsen. Sie ist Vorsitzende des Vereins »FürWort« – der Verein für Mitteldeutsche Literatur e.V. und Mitglied bei den »Mörderischen Schwestern«, einer Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen.

Prolog

Der Mann fuhr hinter einem Kleinwagen her. Ihm fiel es schwer, nur die auf diesem Straßenabschnitt erlaubten 30 km/h zu fahren. Mit seinem PS-starken Wagen überholte er gerne. Aber nicht heute.

Noch war es finster. Doch mit jeder Minute mischte sich das Schwarz der Nacht mit dem Blau der beginnenden Dämmerung. Für das magische Farbenspiel am Himmel hatte der Mann am Steuer keinen Blick.

Er passierte die nächste Kreuzung. Auf dem Schleußiger Weg war er allein und setzte zügig seine Fahrt fort. Nachdem er an einem Gartenverein und einen alten Garagenhof vorbeigefahren war, ging er vom Gaspedal. Fast geräuschlos rollte er nach rechts auf den kleinen Parkplatz zu. Das dichte Blattwerk einer stachligen Brombeerhecke versperrte die Sicht von der Straße. Zwei Seiten der asphaltierten Fläche grenzten an ein Waldstück, das sich am Elsterflutbecken entlang zog.

Der Mann fuhr bis zum hinteren Rand des Stellplatzes. Dort wuchsen ausladende Eichen. Farne und Goldruten bildeten mit einer Reihe von Sträuchern ein sperriges Unterholz.

Das Licht der Scheinwerfer leuchtete strahlenförmig in die Dunkelheit. Einzelheiten konnte der Mann nicht unterscheiden. Das war auch nicht notwendig. Schon vor Wochen hatte er sich eine Stelle ausgesucht, wo es besonders abschüssig ins Unterholz ging. Mit dem Auto fuhr er ganz nah an diese Stelle.

Er parkte den Wagen mit der Kofferraumklappe in Richtung Unterholz. Wolken verdeckten den Mond mit seinem verräterischen Licht. Nachdem der Mann die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte, gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Horchend ließ er den Blick über den Waldrand und die naheliegenden Sträucher schweifen. Hier und da knackte es, aber niemand war zu sehen. Dichter Nebel schwebte in weißen kleinen Gebilden vom Fluss über das flache Ufer. Es roch nach Erde und altem Laub.

Der Mann öffnete die Autotür. Sofort drang feuchte Kühle in den Innenraum. Heute hatte er den Nadelstreifen gegen einen Trainingsanzug getauscht. Jeder hätte ihn tagsüber für einen Jogger gehalten.

Doch nach Laufen stand dem Mann nicht der Sinn. Er ging zum Heck des Autos und streifte Einmalhandschuhe über. Dabei glitt sein Blick über den leeren Parkplatz und in das dichte Unterholz. Nur Dämmerung und aufziehende Nebelschwaden. Sehr gut. Für einen Moment sog er die kühle Morgenluft ein und drückte den Rücken durch. Ein Eichelhäher stieß in der Ferne einen Warnschrei aus.

Der Mann ließ die Kofferraumklappe mit einem knarrenden Ruck aufspringen. Noch ein Kontrollblick auf den Parkplatz. Leer. Er drückte die Kofferraumklappe vollständig nach oben. Ein lebloser, verkrümmt und fest in Plastikfolie eingepackter Körper lag vor ihm. Wie ein Paket hatte er ihn verschnürt.

Mit angespannten Muskelnhob der Mann das Bündel aus dem Kofferraum und zerrte es nah ans abschüssige Gelände. Erst dann durchtrennte er die Schnüre und wickelte die Leiche aus der Folie. Fast vier Meter rollte der Körper in das tiefer gelegene Unterholz und prallte dumpf gegen eine Buche. Arme und Beine waren eigenartig verdreht. Das Gesicht hatte sich in den weichen Waldboden gegraben.

Gut, dachte der Mann, gut, dass du auf die Erde blickst und die Sonne nicht auf dein Gesicht scheint. Auch nicht ein letztes Mal, bevor dich die Würmer fressen. Du hast es verdient.

Er raffte lose Zweige und verrottetes Laub zusammen und verdeckte damit den Körper.

Zurück am Auto verstaute er Plastikfolie, Schnur und Handschuhe in einer Tüte. Sacht drückte er die Kofferraumklappe ins Schloss. Ein letztes Mal musterte er den Wald und den Parkplatz, während er zur Fahrertür ging. Er setzte sich ans Steuer und startete den Motor. MitwenigGas rollte er vom Parkplatz auf die Straße. Erst hier schaltete er das Licht ein und erhöhte das Tempo. Schon nach einigen hundert Metern kamen ihm die ersten Autos auf dem Weg zur Arbeit entgegen. Doch das störte ihn jetzt nicht. Alles war planmäßig verlaufen.

1

»Hallo, Frau Goldtotter, hallooo?«

Karen öffnete die Augen. Sie schaute sich um: weiße Wände, eine Neonröhre an der Decke, neben sich ein Beistelltisch. Leicht zugedeckt lag sie auf einer Liege am Fenster im Aufwachraum der Gastro-Praxis.

Ja, sie hatte die Magenspiegelung wirklich hinter sich. Sie hob den Kopf und wollte sich aufstützen. Doch es gelang ihr nicht. Kraftlos sank sie zurück auf das Kopfkissen. Es drehte sich alles und ihr Kopf schien dreimal so groß und schwer. Die Nachwirkungen der Betäubungsspritze wirbelten ihre Sinne durcheinander, wie nach einer durchzechten Nacht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Schwester Monika, dieKarenbeobachtete.

»Ja«, antwortete Karen. Ihre Zunge ließ sich kaum bewegen.

»Bleiben Sie noch ein paar Minuten ruhig liegen. Frau Dr. Härtig ruft Sie dann herein und wertet den Befund mit Ihnen aus.«

Karen nickte nur. Zum Glück war ihr nicht übel. Für diesen Termin hatte sie sich extra den ganzen Montag frei genommen. Niemand sollte wissen, dass ihr Magen sie in der letzten Zeit mit Übelkeit, Aufstoßen und Sodbrennen quälte. Ihre Hausärztin hatte sie mit Engelszungen zu der Untersuchung überreden müssen. Karen wollte keinen Schlauch schlucken. Schon der Gedanke daran verursachte ihr Unwohlsein. Erst als Dr. Härtig ihr im Aufklärungsgespräch versichert hatte, dass es eine leichte Narkose gab, bei der sie nichts von der Untersuchung spüren würde, hatte Karen eingewilligt.

Nun hatte sie die Untersuchung geschafft und war auch ein bisschen stolz auf sich.

Karen dachte an den Befund. Wie würde er ausfallen? Hoffentlich nichts Schlimmes. Sie drehte den Kopf zur Seite. Ein riesiger Haselnussstrauch versperrte die Sicht durchs Fenster hinaus auf den Park. Auf einem der unteren Zweige saß eine Taube. Sie reckte keck ihr grau gefiedertes Köpfchen und blickte Karen direkt an.

Karen lächelte und hob den Arm. Sie atmete tief aus, dankbar, dass sie nicht allein war. Jemand schaute nach ihr, auch wenn es nur dieses kleine Geschöpf war.

Schwester Monika kam wieder ins Zimmer und reichte Karen ein Glas Wasser. Sie setzte sich auf und nahm es gern. Mit kleinen Schlucken spülte sie die Trockenheit in ihrem Mund hinunter.

»Geht es Ihnen wirklich gut?«, fragte Schwester Monika erneut.

»Jetzt geht es mir schon viel besser. Danke für das Wasser.« Sie gab das leere Glas zurück.

»Frau Goldtotter, dann können Sie jetzt zur Auswertung Ihres Befundes zur Ärztin gehen, rechter Gang, Zimmer vier.« Schwester Monika zeigte in die angegebene Richtung. Karens Blick folgte der Handbewegung, sah dabei auf die Tür, wo der Fluchtplan für Notfälle hing und nickte.

»Frau Dr. Härtig wartet schon auf Sie.« Schwester Monika lächelte kurz und verließ den Aufwachraum.

Bevor Karen aufstand, blickte sie zum Fenster, zu dem Haselnussstrauch. Doch die Taube, die über sie gewacht hatte, war verschwunden. Schade. Oder hatte sie die Taube nur geträumt?

Sie schaute auf die Uhr am Handgelenk, schon halb elf. Eigentlich hätte die Betäubung doch nur etwa eine Viertelstunde nachwirken sollen. Sie hatte viel länger gebraucht, bis sie richtig munter geworden war. Aber egal. Jetzt ging es nur darum, was die Untersuchung ergeben hatte.

Eilig schlüpfte Karen in ihre ausgetretenen Sneakers. Mit geübten Handgriffen raffte sie ihre Lockenmähne nach hinten und gab dem Zopf mit einem dicken Haargummi halt. Mit ihrer Umhängetasche über der Schulter schritt sie über das glänzende mintfarbene Linoleum und schaltete ihr Handy ein. Sofort vibrierte es in ihrer Hand. Sie erkannte die Telefonnummer vom Kommissariat 11, der Kriminalinspektion Leipzig. Das konnte nur der Leiter der KI, ihr ganz großer Chef, sein. Karen ahnte, dass ihr freier Tag futsch war.

Sie drückte den grünen Hörer und den Rücken durch, als sie die Stimme von Ingo Holzer vernahm.

»Karen, ich weiß du hast heute deinen freien Tag. Aber wir haben einen Leichenfund am Schleußiger Weg. Wahrscheinlich ein Tötungsdelikt. Ich möchte, dass du den Fall übernimmst. Fahr also hin.« Seine Stimme klang energisch.

»Tötungsdelikt? Ich soll ...« Karen fuhr sich mit der Hand über den Magen und blieb mitten im Gang stehen. Vorbeieilende Personen nahm sie nicht wahr. »Ich soll den Fall übernehmen?« Ungläubigkeit mischte sich mit Stolz. Holzer traute ihr die Lösung eines Falles zu. Das würde ihr erster eigner Fall nach Mühles Weggang sein. Er hatte bis jetzt die Mordkommission geleitet. Unter seiner Regie hatten sie gemeinsam viele Mordfälle gelöst.

»Ja, oder habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«, polterte seine Stimme durch das Telefon.

Karen ignorierte seinen ungehaltenen Ton. Sie kannte Holzer als verträglichen Chef, der allerdings kaum Gefühle zeigte. Nur manchmal hörte man einen Anflug davon, zwischen den Sätzen heraus. »Nein, natürlich. Wer ist mit im Team?«

»Setze Mila, als Aktenführerin ein. Und, dann kommt ja noch der Neue aus Hamburg, Dirk Rheinbach. Der kann gleich mal zeigen, was er kann. Hat sich extra für Leipzig beworben. Alles klar?«

»Ja. Ich fahre gleich hin.«

»Sehr gut.« Das klang schon viel weicher.

Karen ließ das Handy in die Tasche gleiten und holte tief Luft. Mit Mila verstand sie sich bestens. Wie der Neue tickte, würde sich dann ja zeigen. Oh man, ich habe meinen ersten eigenen Fall. Unglaublich. Sie hätte jubeln können, wäre da nicht gleich das Arztgespräch. Sie ging den Gang entlang. Ah hier, Zimmer vier. Dr. Härtig stand auf einem weißen Schild neben der Tür in Augenhöhe. Karen klopfte kurz an und trat ein.

Dr. Härtig saß in einem braunen Ledersessel vor dem Computer. Die Sonne strahlte in das Zimmer und brachte die gelben Wände noch mehr zum Leuchten. Dr. Härtig blickte auf und wies mit einer Handbewegung auf den Platz neben ihrem Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich. Einen kleinen Moment noch.« Mit dem zurückgekämmtes Haar und der schwarze Brille wirkte sie streng. Dabei huschten ihre Finger über die Tastatur vor ihr.

Karen blieb vor dem Schreibtisch stehen. »Ich muss sofort weg, Frau Dr. Härtig. Es tut mir sehr leid. Kann ich Sie später anrufen?«

»Frau Goldtotter, Sie haben eine akute Entzündung der Magenschleimhäute. Damit sollten Sie nicht leichtfertig umgehen«, sagte Dr. Härtig im mahnenden Ton.

Karen holte tief Luft: »Ich muss zu einem Fundort, eine Leiche - wahrscheinlich ein Gewaltverbrechen.« Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Schließlich war sie hergekommen, um Hilfe zu erhalten. Aber sie hatte soeben ihren ersten Fall übernommen.

»Dem oder der Toten kann niemand mehr helfen.« Dr. Härtig schüttelte den Kopf. »Ich schicke die Auswertung an Ihren Hausarzt. Holen Sie sich wenigstens Ihr Rezept am Empfang ab. Und vermeiden Sie Stress sowie Hektik.« Dr. Härtig verabschiedete sich ohne ein Lächeln.

»Ich danke Ihnen.« Karen wandte sich der Tür zu. DieÄrztinhatte ja Recht. Mit einem Rezept für ihren Magen verließ Karen eilig die Praxis. Magenschleimhautentzündung, das war mit einem Säureblocker reparabel. Ich werde die Tabletten regelmäßig nehmen, dann wird der Magen schon wieder ausheilen. Im Aufzug nach unten zur Tiefgarage lächelte Karen. Es hätte sie viel schlimmer treffen können. Nicht auszumalen, wenn…

Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie hatte einen Fall zu lösen.

2

Mist, Karen hätte das Blaulicht einsetzen sollen. Ständig musste sie hupen. Ein paar Polizisten hielten mit Mühe den Verkehr im Fluss. Karen nutzte die erste Gelegenheit zum Wenden. Der eingesetzte Rückstau auf dem Schleußiger Weg ließ sie nur schleppend vorwärtskommen. Zudem gaffte jeder Fahrer neugierig in Richtung der Absperrung. Dadurch fuhren die Autos quälend langsam an dem von der Polizei blockierten Fahrbahnstreifen vorbei.

Dreiste Schaulustige hatten ihr Auto einfach auf den Fußweg geparkt und damit auch den Fahrradweg versperrt. Sie wurden angewiesen, sofort in ihre Autos zu steigen und wegzufahren. Ohne Eile kamen sie der Aufforderung nach.

Endlich erreichte Karen das rot-weiße Absperrband. Polizeiobermeister Uwe Kenter kam ihr entgegen und winkte sie durch. Auf einem kleinen Rasenstück parkte sie parallel zur Straße und stieg aus. Die Junisonne versprach einen herrlichen Sommertag. Karen hielt kurz inne. Mein erster Fall, also los Karen, vergeig ihn nicht. Sie hob den Kopf und grüßte die Einsatzkräfte der Spurensicherung mit einem freundlichen Hallo. Einige kannte sie von anderen Ermittlungen, diese nickten kurz zurück. Gerade durchsuchten sie jeden Quadratzentimeter des Parkplatzes nach verwertbaren Spuren ab. Karen staunte. Diesen Parkplatz hatte sie noch nie so richtig wahrgenommen. Er war ungewöhnlich groß, was sie von der Straße aus nicht erwartet hatte. Wie auch, die Sträucher versperrten den kompletten Einblick. Die angrenzenden Bäume nach der Asphaltfläche kündigten den Wald neben der Elster an.

Karen ging auf Kenter zu. Bisher hatte sie mit ihm noch nicht zu tun gehabt, ihn allerdings bei zwei anderen Einsätzen gesehen. Schon da war ihr sein langes lockiges Deckhaar aufgefallen, welches in die Stirn fiel und im Gegensatz zu den kurz geschnittenen Seiten stand. Dies fand sie sehr modisch für eine Diensthaarfrisur, aber es stand ihm gut.

Hastig zog Kenter sein Notizblock aus der Tasche. Mit: »Uwe Kenter«, stellte er sich vor.

»Karen Goldtotter, Kripo.«

»Ja, ich weiß«, sagte er und schaute kurz auf seine Schuhe.

Karen lächelte. War er aufgeregt? »Wir haben uns schon gesehen und da können uns ruhig duzen.«

Kenter strahlte sie an. Wurde aber sogleich wieder ernst und las von seinen Notizen ab: »Die Meldung erfolgte heute, um 10.15 Uhr.« Er blätterte um. »Der Rentner Hartmut Bleichert spazierte gegen 10.00 Uhr mit seinem Collie auf dem unteren Weg am Elsterflutbecken entlang.« Er deutete hinter den Parkplatz. Dieser lag höher und so konnte Karen sehen, dass ein Weg vom Parkplatz zum Elsterufer führte, aber das Ufer oder den Uferweg konnte sie wegen des Höhenunterschiedes nur ahnen. Auch der Fundort der Leiche blieb für Karen von ihrem Standort aus verborgen.

»Plötzlich sei der Hund losgelaufen und auch nicht zurückgekommen, als sein Herrchen ihn gerufen hat.« Kenter blätterte wieder um. »Hartmut Bleichert ist nichts anderes übrig geblieben, als seiner Cassie zu folgen, denn der Hund hat nicht mehr aufgehört zu bellen. An der angezeigten Stelle hat Cassie dann unter Laub und Zweigen den Körper erschnüffelt. Bleichert hat den toten Körper mehr erahnt als gesehen.«

Karen zog die Plastiküberzieher für die Schuhe aus der Tasche. Eine Leiche unter Laub und Zweigen? Das konnte nur ein Gewaltverbrechen sein, dachte sie, während Kenter weiter sprach.

»Bleichert hat sofort die 110 gewählt, und wir sind informiert worden. Polizeiobermeisterin Inge Dauber und ich trafen als Erste hier ein. Bei dem aufgefundenen Körper handelt sich um eine Leiche. Die Kollegen vom Erkennungsdienst wurden benachrichtigt und trafen wenig später ein. Sie haben die Leiche freigelegt und suchen nach weiteren Spuren. Heilmann ist auch schon da. Er wurde sofort angefordert. Thomas Drechsler macht die Fotos.«

»Danke. Wo ist dieser Bleichert jetzt?« Karen wandte den Kopf. Der Streifenwagen stand etwas abseits am Rand des Parkplatzes. Nur schemenhaft waren im Innern ein großer Mann und eine Frau in Uniform zu erkennen.

»Sitzt im Streifenwagen. Inge ist bei ihm. Er ist ziemlich fertig.«

»Gut, ich befrage ihn gleich, dann kann er gehen. Noch weitere Zeugen?«

»Nein.« Kenter zuckte mit den Schultern.

»Ich muss jetzt erst einmal zum Fundort.«

In kleinen Schritten folgte sie den vorgezeichneten Weg über den Parkplatz. Dabei schaute sie ständig in die Runde und ließ den Platz auf sich wirken. Wieder wunderte sie sich über dessen Größe. Doch dann erinnerte sie sich, dass sich vor den Garagen ein Gartenverein befand. Sicher nutzten die Besitzer und die Besucher eines Schrebergartens diesen Platz, um ihre Autos abzustellen. Am Ende des Parkplatzes blieb sie stehen. Weiter unten kauerte Ulli Heilmann im weißen XXL-Ganzkörperanzug zwischen den Farnen und Büschen im Unterholz. Unten, denn das Gelände fiel von der Kante des Parkplatzes aus einige Meter ab. Der kleine Weg, der vom Parkplatz an das Elsterufer führte, war vor vielen Jahrzehnten aufgeschüttet worden. Von dieser Stelle aus sah Karen nun auch das Elsterufer.

Der gekennzeichnete Weg führte in einem weiten Bogen zu Ulli. Damit war das Gefälle nicht so stark und der Weg gut begehbar. Karen setzte vorsichtig jeden Schritt auf den weichen Waldboden, nur um ja keine Spuren oder eventuelle Markierungen der Kollegen zu übersehen. Doch auf dem Weg zu dem Fundort der Leiche gab es keine Markierungen.

Beim Näherkommen sah sie, dass Ulli neben der Leiche hockte und diese betrachtete. Karen fielen als Erstes die nackten Füße und die dünnen Beine an dem Körper auf, die aus einem angeschmutzten Leinenhemd hervorschauten. Thomas fotografierte jede von Ulli ausgeführte Lageveränderung. Dabei wechselte er immer wieder seine Position. Anschließend kontrollierte er die Aufnahmen im Display seines Fotoapparates.

Karen hob den Kopf. Oben stand niemand. Aufgrund der großräumigen Absperrung konnten Schaulustige die Leiche nicht sehen, weshalb die Kollegen auch kein Zelt gegen neugierige Blicke aufgestellt hatten.

Ulli drehte sich zu ihr: »Hallo! Na erster Fall?«

Karen und Ulli kannten sich seit Jahren. Er war der netteste Kollege aus der Rechtsmedizin, den sie kannte. Er hatte etwas Väterliches an sich. Karen nickte mit einem kleinen Lächeln.

Ulli kam aus der Hocke. »Na, dann: Toi toi.« Aufgrund seiner 1,91 Meter sah er jetzt auf Karen herab. »Siehst heute aber ein bissel blass aus.«

Karen zuckte nur mit dem Schultern. Er konnte ja nicht wissen, dass sie eine Magenspiegelung hinter sich hatte. Wie sollte sie da schon aussehen? Und gegessen hatte sie auch noch nichts.

»Hallo, Thomas«, grüßte Karen ihn und lenkte von sich ab. Thomas sah kurz auf und nickte. Schon im nächsten Moment beugte er sich wieder über die Leiche und der Auslöser surrte.

»Na Ulli, was kannst du mir schon sagen?« Der Tote lag in Bauchlage mit dem Gesicht nach unten. Karen fiel die grobe Struktur des Leinenhemdes auf.

»Der Mann ist circa 50 bis 60 Jahre alt.« Ullis Handbewegung zeigte hin und her, als wäre er sich nicht ganz sicher. »Ich habe gerade die Körpertemperatur gemessen. Vorläufig würde ich sagen: Der Tod trat gestern etwa zwischen 18 und 20 Uhr ein. Lange liegt er noch nicht hier. Die Leichenstarre ist vollkommen ausgeprägt, aber hat sich noch nicht wieder komplett gelöst. Ich vermute, der Mann wurde im Morgengrauen hier abgelegt.«

Karen ließ den Blick über den toten Körper gleiten. »Ich sehe gar keine Verletzungen oder Blut.«

»Äußerliche Verletzungen habe ich auch nicht erkennen können.« Ulli ruckelte den Einmaloverall zurecht, der ziemlich knapp saß. Ein Wunder, dass es für diesen Bauchumfang auch noch eine Größe gab. »Aber für einen Mann seines Alters sieht er mir recht ausgemergelt aus.« Ulli zeigte auf die dünnen nackten Waden. »Er hat nichts bei sich gehabt. Das Leinenhemd hat auch keine Taschen« Ulli rieb sich die Knie.

»Ja, das letzte Hemd hat keine Taschen. Das sagt ja schon der Volksmund.« Karens zeigte auf die Füße des Mannes. »Er hat keine Schuhe an.«

Der Waldboden war von üppigen Farnen überwuchert.

»Er muss welche getragen haben. Die Fußsohlen sind sauber. Vielleicht werden die Schuhe noch gefunden.«

»Gibt es Anzeichen auf ein Tötungsdelikt?«

Ulli wischte sich den Schweiß von der Stirn, kein Wunder bei den Temperaturen und dann so eingepackt. »Ich würde sagen: Ja. Die Leiche war wirklich ganz mit Laub und Zweigen bedeckt. Hier ist vermutlich nur der Ablageort. Deshalb gehe ich von einem Gewaltverbrechen aus. Aber an was er letztendlich gestorben ist, das kann ich dir erst sagen, wenn ich ihn untersucht habe.«

Das war Ullis Standardsatz.

»Jaja, ich weiß schon.« Karen wandte sich an Thomas. »Sag mal, kennst du die Ecke hier im Südwesten genauer?«

Thomas, der gerade abgeknickte Zweige und niedergedrückte Farne im Makromodus fotografierte, nahm den Finger vom Auslöser und richtete sich auf. »Ja, ich fahre hier oft Rad.« Er kontrollierte erneut sein Display, bevor er weitersprach. »Es ist eine beliebte Strecke für Jogger. Bei sonnigem Wetter kannst du mit einem Paddelboot auf der Elster rudern. Ach, und von der Bushaltestelle aus bist du mit wenigen Schritten im Wald.« Er zeigte in Richtung Stadtzentrum. »Auf der anderen Seite des Elsterufers befindet sich die Pferderennbahn mit einem tollen Freisitz. Dort gibt es Eis und Aperol Spritz. Es ist eine richtig grüne Ecke, hier mitten in der Stadt.«

Kein Wunder, dass Karen das Gebiet nicht kannte. Joggen war nicht ihr Ding und Rad war sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gefahren.

»Ist es da nicht riskant für den Täter, die Leiche in so einem Gebiet abzulegen?« Karen überlegte laut.

»Im Morgengrauen wird hier niemand joggen«, warf Ulli dazwischen. Er zog eine Folientüte aus seiner Arzttasche und ging erneut in die Hocke. Seine Knie knackten und er stöhnte. Behutsam legte er die rechte Hand der Leiche in die Tüte und verschloss den Beutel mit einem Klebeband.

»Okay. An einen Spaziergänger mit Hund hat der Täter vielleicht nicht gedacht. Sonst wäre die Leiche wahrscheinlich später entdeckt worden und wäre auch viel schwerer zu identifizieren gewesen.« Karen beobachtete Ulli, wie er auch die zweite Hand verpackte. »Hast du etwas an den Händen entdeckt?«

»Unter den Fingernägeln ist etwas Weißes. Keine Ahnung, was es ist.«

»Könnte vielleicht Sand oder Farbe sein?« Karen beugte sich hinunter, um die Hand besser sehen zu können. »Die Fingernägel sind auch beschädigt, wie abgewetzt.« Vielleicht war der Mann irgendwo eingesperrt und hatte sich befreien wollen. Karen musste abwarten. Erst mit Ullis Untersuchungsergebnissen konnte sie hoffentlich weitere Schlussfolgerungen ziehen. Noch einmal blickte sie nach oben zum Parkplatz. Die Leiche lag einige Meter vom Weg entfernt. Ein Spaziergänger würde sich bei der ansteigenden Strecke vom Uferweg bis zum Parkplatz nach vorn konzentrieren und kaum zur Seite schauen.

Thomas trat an Karen heran und zeigte ihr die ersten Fotos, die er von der Hand gemacht hatte. Sie schirmte Display vor dem Sonnenlicht ab. Auf den Fotos verbargen noch Zweige und Blätter den Körper.

»Die Leiche wäre wirklich nicht zu sehen gewesen. Danke, Thomas«, sagte Karen und blickte in sein ernstes Gesicht, aus dem eine viel zu große Nase herausschaute. Im nächsten Moment war er wieder ganz bei seiner Aufgabe.

Ulli drückte sich aus der Hocke. »Bist du nachher bei der Obduktion dabei?«

»Nein, heute nicht. Ich muss gleich noch ins Büro. Es geht wirklich nicht. Ich muss …« Sie brach den Satz ab. Mist. Um ein Haar hätte sie sich verplappert. Wenn sie ein Rezept erwähnte, würde Ulli bestimmt nachfragen und wüsste Bescheid.

»Gut.« Er nickte nur. »Dann gebe ich dir eben morgen einen ersten Bericht.«

»Unbedingt. Und du kannst mich zu jeder Zeit anrufen.« Mit achtsamen Schritten ging Karen den Weg zurück in Richtung Parkplatz und steuerte den Streifenwagen an.

Bleichert saß mit hängenden Schultern auf dem Rücksitz. Die Collie-Hündin lag zu seinen Füßen und hob den Kopf, als Karen sich näherte.

»Guten Tag, Herr Bleichert.« Sie lächelte dem alten Mann zu. »Ich bin Kriminalhauptkommissarin Karen Goldtotter. Der Kollege hat mir schon alles berichtet. Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«

Bleichert blickte zu ihr auf. Mit hängenden Schultern saß er vor ihr. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«

Karen spürte, dass ihm das Geschehene noch immer zu schaffen machte. Niemand will eine Leiche entdecken. Karen ließ ihm einen Moment zum Überlegen. »Haben Sie vor der Entdeckung der Leiche etwas bemerkt? Kam Ihnen jemand entgegen? Vielleicht auf dem Weg, unten am Elsterflutbecken?«

Cassie legte den Kopf schräg, als dächte sie nach. Karen beugte sich zu ihr herunter und strich über das glänzende Fell. »Hast du fein gemacht. Ganz toll.«

Die Hündin blickte zu ihr auf, wobei sie ihr weißes Gebiss zeigte.

»Nein, da war niemand außer mir«, antwortete Bleichert. »Das hat mich der junge Mann schon alles gefragt.« Sein Blick ging zu Kenter. Karen schaute ebenfalls zu ihm. Er scheuchte die Neugierigen hinter das Absperrband und forderte sie auf, die Handys einzustecken. Trotzdem hielten einige ihre Handys in die Höhe, betätigten Auslöser und hofften auf einen Schnappschuss, den sie auf Instagram oder Twitter teilen konnten.

Karen schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Bleichert zu. »Sie waren also ganz allein hier draußen?«

Bleichert nickte.

»Dann vielen Dank. Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.« Karen gab ihm ihre Visitenkarte, die er mit zitternder Hand entgegennahm. »Sie müssen auf alle Fälle aufs Revier kommen und Ihre Aussage unterschreiben.«

»Ja, das mache ich.«

»Sollen wir Sie nach Hause fahren?« Karen gab ihm die Hand und hielt sie einen Moment.

»Nein, nein, ich wohne hier in der Pistorisstraße. Das ist gleich um die Ecke.« Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken und schob sich vom Sitz des Einsatzwagens. Als er neben ihr stand, legte sie ihm kurz die Hand auf die Schulter.

Bleichert verließ mit Cassi den Parkplatz. Mit seinem trippelnden Gang und den leicht gebogenen Beinen erinnerte sie der Alte an ihren verstorbenen Vater. Die beide tauchten hinter der Absperrung in der Menge unter.

Karen war leicht übel, ihr Magen knurrte. Wegen der Untersuchung hatte sie heute noch nichts gegessen. Auch erinnerte sie das Magenknurren daran, dass sie das Rezept noch einlösen musste.

Sie zückte das Handy und organisierte die Befragung mit den Kollegen in der Nachbarschaft, bevor sie Mila Weber anrief. Mit ihr hatte sie schon oft zusammengearbeitet. Karen schätzte ihre Umsicht und ihre Recherchequalitäten. Außerdem vergaß sie nie den Geburtstag eines Kollegen.

»Hallo Mila, ich habe meinen ersten Fall. Du arbeitest natürlich bei mir als Aktenführerin. Einige Kollegen habe ich schon beauftragt, die Laubenpieper aus dem nahen Gartenverein und dann die Bewohner der umliegenden Häuser zu befragen. Du könntest schon prüfen, ob ein etwa fünfzigjähriger Mann vermisst wird, vielleicht so in den letzten drei Wochen. Ich komme gleich ins Büro, dann besprechen wir alles Weitere.«

»War wohl nichts mit deinem freien Tag?«

»Ja, das macht jetzt gar nicht.« Das war der freie Tag Wert, wenn nur ihr kranker Magen nicht wäre. Sie musste mit den Tabletten beginnen, heute noch.

»Bis du hier bist, hole ich uns belegte Brötchen vom Bäcker. Du hast doch bestimmt noch nichts gegessen.«

»Das stimmt und ich habe wirklich Hunger. Danke dir.« Mila war eben pragmatisch und unkompliziert.

Karen stand noch immer auf den Parkplatz. Es stimmte, was Thomas gesagt hatte: Die Bushaltestelle befand sich in Sichtweite. Dem Parkplatz schräg gegenüber gab es eine alte geteerte Straße, die früher als Hauptstraße zum Klingerweg führte und heute von Radfahrern und Spaziergängern genutzt wurde. In dieser verbreiterten Einfahrt zu diesem Weg verkaufte ein Mann aus einem kleinen roten Holzkiosk Erdbeeren und Kartoffeln aus regionalem Anbau.

Karen verabschiedete sich von Kenter. Daubner winkte sie aus der Ferne zu und fuhr zur Kriminalinspektion Leipzig in die Dimitroffstraße.

Karen zog die unterste Schublade des Rollcontainers unter ihrem Schreibtisch auf. Routiniert stellte sie ihre Tasche darauf und ließ sich in den Drehstuhl fallen. Das Thermometer auf dem Fensterbrett zeigte schwülwarme 25 Grad. Doch das Blätterdach eines riesigen Ahornbaumes bot ihr hier im dritten Stock etwas Schatten. Es war schon später Nachmittag. Sie trank ein Schluck Wasser, und atmete tief durch. Sie dachte an Ulli. Es würde noch dauern, bis Ulli die Leiche untersuchen konnte und dann Ergebnisse hätte. Ein Anruf konnte sich sparen. Sie musste Geduld haben.

Karen sah Mila winken. Die eine Zimmerseite ihres Büros war bis auf einen meterhohen Sockel völlig aus Glas mit eingebauten Türen, die zu Milas und weiteren Büroabteilen führten. Schon kam sie mit einer Bäckertüte und einer Flasche Mineralwasser in ihr Büro und legte alles auf den Besprechungstisch. Karen stand auf und holte zwei Gläser und weiße Teller aus der Miniküche, die aus einem Schränkchen mit Kaffeemaschine, einem kleinen Kühlschrank und einer Spüle auf der anderen Seite des Raumes bestand.

Karen öffnete zischend das Wasser, und Mila legte die Brötchen auf die Teller. »Komm, jetzt essen wir erst mal.«

Kaum saßen sie, griff Karen nach einem knusprigen Salamibrötchen und biss hinein. Die Salami schmeckte würzig, das Brötchen schien gerade aus dem Backofen gekommen zu sein. Brötchen gab es bei Karen sonst nur am Sonntag. Das waren ein paar Sonntagsminuten an diesem Montag. Das tat gut.

»Mal schon vorab«, Mila trank ein Schluck Wasser aus ihrem Glas, stellte es ab. »Ich habe die Vermisstenmeldungen durchgeforstet. Seit über einer Woche wird ein 49-jähriger Mann vermisst, ein Karl Meissner. Alle anderen Vermisstenanzeigen liegen länger zurück.« Jetzt griff auch sie nach einem Brötchen.

Der Zeitraum passte. Das könnte er vielleicht sein. »Sehr gut. Wir machen morgen um 8 Uhr die erste Besprechung. Dann haben wir schon die Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin von Ulli und auch erste Ergebnisse aus den Befragungen rund um den Fundort.«

Mila nickte. »Bis dahin wird die Akte von Meissner da sein. Ich pinne die Infos an die Magnetwand und benachrichtige Konrad Lüttmann von der Presse. Wer ist denn von der Staatsanwaltschaft mit von der Partie?«

»Sander«, antwortete Karen knapp. Sie schaute durch die Glasscheibe, in ein leeres Büroabteil. Dort stand der Schreibtisch ihres ehemaligen Chefs und Mentors, Kriminalhauptkommissar Ernst Mühle. Karen musste schlucken, als hätte sie einen Kloß im Hals.

Erst vor wenigen Tagen war Mühle in Rente gegangen. Zum Abschied hatten sie alle ein Glas Sekt getrunken und ihm Blumen und kleine Geschenke überreicht. Laut gelacht hatten sie, als er eine besonders witzige Karte mit Rentner-Sprüchen aus dem Blumenstrauß zog und vorlas. Auch eine CD mit Udo Jürgens »Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an« befand sich unter den Geschenken der Kollegen. Mühle hatte gelächelt und sich artig bedankt. Aber Karen war an diesem Tag das Gefühl nicht losgeworden, dass ihm eigentlich zum Heulen war. Er, der ganz harte Burschen hinter Gitter gebracht hatte, hatte bei all den gut gemeinten Ratschlägen für die kommende Freizeit feucht glänzende Augen bekommen. Karen vermisste den alten Haudegen schon jetzt. Bei aller Hektik und Stress war er ein liebenswerter optimistischer Mensch geblieben.

Sie wischte die Gedanken beiseite. Als Mühles Nachfolgerin leitete sie jetzt ihren ersten Fall und musste die Entscheidungen selbst treffen. Mühle hatte eine sehr hohe Aufklärungsquote gehabt, und das spornte sie an. Eine Verstärkung im Team konnte da nur von Vorteil sein.

»Morgen kommt ja der Neue«, sagte Karen. »Dirk Rheinbach.«

»Ich bin schon gespannt.« Mila grinste. »Soll gut aussehen, meint der Buschfunk.«

»Das ist mir egal. Hoffentlich taugt er was.« Karen griff nach dem Mineralwasser. Nur schön, nützte ihr nichts. »Herr Rheinbach wird an dem Fall mitarbeiten. Morgen Vormittag soll er eintreffen.« Die auf den Teller gefallene Gurke verspeiste Karen zum Schluss. »Mila bereite alles für die Frühbesprechung morgen vor. Ich muss heute noch ein paar private Dinge erledigen, tut mir wirklich leid.«

Mila schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, nickte aber nur.

Karen gab ihr keine weiteren Erklärungen, was sollte sie auch sagen? Dass sie ihr Rezept noch einlösen musste? Was ihr die Ärztin empfohlen hatte? Sie nahm ihre Tasche. Mit dem Fuß schubste sie die Schublade zu und holte einem Fünf-Euro-Schein aus dem Portemonnaie für die Brötchen. Sie legte ihn auf den Tisch. »Danke.« Mit geschulterter Handtasche und einem, »Bis morgen« verließ sie das Büro.

»Ja, bis morgen.« Mila räumte die Teller ab.

3

Karen lief über den aufgeheizten weichen Asphalt zu ihrem Auto. Argwöhnisch kontrollierte sie ihre Schuhsohlen nach anhaftendem Teer. Doch so viel sommerliche Hitze hatte der schwarze Belag dann doch nicht aufgesaugt. Sie schaute nach der Zeit, schon fast drei Uhr. Sie öffnete ihr Auto und ließ die angestaute Hitze entweichen.

Wie hatte Frau Dr. Härtig es so treffend formuliert? Der Tote hat Zeit – dem ist nicht mehr zu helfen. Karen sollte sich bei allem Zeit lassen, Hektik aus dem Alltag nehmen, ihrem Magen zuliebe. Das würde sie bestimmt nicht durchhalten. Ermittlungsarbeit ließ sich nicht in einen acht Stundentakt pressen. Und es war ihr erster Fall. Aber sie durfte nicht weitermachen wie bisher. Die Quittung hatte sie heute Morgen bekommen. Wahrscheinlich lief sie schon seit Wochen mit der akuten Schleimhautentzündung durch die Welt, ein Warnzeichen ihres Körpers, dem sie bisher wenig Beachtung geschenkt hatte. Auf keinen Fall durfte es schlimmer werden. Sonst müsste sie sich krankschreiben lassen und ihren ersten Fall abgeben. Nie und nimmer.

Heute konnte Karen nicht mehr viel ausrichten. Wenigstens an diesem Tag wollte sie die Mahnung von Dr. Härtig ernst nehmen.

Sie startete ihr Auto und beschloss, zuerst ihr Rezept einzulösen. Als sie an der Bäckerei Kleinert neben der Apotheke vorbeiging, beschloss sie, ihre Schwester Eva mit Leipziger Lerchen zu überraschen. Hoffentlich schaffte sie es, eher als Eva zu Hause zu sein. Wann gab es schon mal eine gemeinsame Kaffeezeit in der Woche. Vielleicht war auch Jörg rechtzeitig da. Er arbeitete als selbstständiger Hausmeister. Es war immer ungewiss, wann er nach Hause kam.

Karen parkte ihr Auto vor der Garageneinfahrt zu ihrem gemeinsamen Elternhaus und eilte in ihr Dachgeschoss. Hier öffnete sie erstmal ihre Loggia und alle andere Fenster.

Während die Kaffeemaschine ihre Aufgabe verrichtete, nahm sie die Lerchen aus der Bäckertüte und stellte Tassen, Teller, Apfelsaft und Milch auf ein Tablett. Natürlich könnte Karen Evas Wohnungsschlüssel vom Haken neben der Garderobe nehmen und alle Vorbereitungen für den Kaffee bei ihr in der Küche erledigen. Eva wohnte unten im Erdgeschoß mit Anna, ihrer Tochter und ihrem Mann, Jörg. Doch das wollte sie nicht, obwohl Eva bestimmt nichts dagegen hätte.

Karen ging mit dem voll beladenen Tablett auf Evas Terrasse, die sie außen herum durch den Garten erreichte.

Spike, der Labrador, bellte, als er Karen bemerkte. Sie stellte erst einmal das Tablett auf den Tisch. Der verspielte Labrador sprang Karen an, kaum hatte sie die Tür seines Gatters geöffnet. Dann lief er den gesamten Garten ab, kontrollierte und schnüffelte in alle Ecken seines Revieres.

Karen deckte den Tisch. Fertig. Für Anna stand die große Flasche Apfelschorle bereit. Der Kuchen unter einer Netzhaube war vor gefräßigen Wespen geschützt. Eine Thermoskanne hielt den Kaffee warm.

Mit aufgestellten Ohren kehrte Spike von seinem Rundgang zurück, stand vor ihr und sah sie mit seinen braunen Knopfaugen an. Karen kraulte ihn faul hinter den Ohren. Nach den Streicheleinheiten legte er sich auf der Terrasse in die Sonne.

Karen setzte sich und trank ein Glas Apfelschorle. Sie lehnte sie sich zurück. Für einen Moment schloss sie die Augen, atmete den Duft des Sommers und lauschte dem Summen emsiger Bienen. Ohne Evas und Jörgs Hingabe für den Garten säße sie hier in einem Distelhain.

Nachdem ihr Vater vor Jahren an Krebs verstorben war, hatte sich ihre Mutter noch einmal verliebt und einen neuen Anfang gewagt. Sie war zu Heinz Kemmel nach Usedom gezogen. Karen bewunderte sie für diesen Mut. Nach dem Auszug ihrer Mutter war es still in den Räumen geworden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Karen mit dem Gedanken gespielt, mit Paul zusammen zu ziehen. Sie liebten sich. Was lag da näher? Auch Eva hatte sie überzeugt, dass für zwei Familien genug Platz in dem Haus wäre, wenn man den Dachboden ausbauen würde. Denn das Haus mit all den Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit verkaufen und den Erlös teilen – das wollte Karen nicht.

Und dann war Paul verunglückt, und ihr Traum auf ein Leben an Pauls Seite war wie eine Seifenblase zerplatz. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich wie ein Berserker in die Arbeit gestürzt. Die Jagd nach Mördern, Dieben und Betrügern überdeckte ihren Kummer, half ihr, zu vergessen.

An dem Dachausbau hatte Karen trotz allem festgehalten. Gemeinsam mit Eva nahm sie damals einen Kredit für den Ausbau auf. Vier Monate lebten sie zwischen Maler- und Mörteltöpfen. Jörg half, wo er nur konnte, brachte seine handwerklichen Fähigkeiten ein und sorgte dafür, dass die Dachbalken offen gelegt wurden, aber erhalten blieben. Nach all der Arbeit war ein toller Wohnraum mit Loggia und offener Wohnküche im Dachgeschoss entstanden. Hier hatte Karen sich vom ersten Moment an wohlgefühlt.

Ein Opel-Corsa brummte in der Einfahrt. Spike hob den Kopf und sprintete an das Gartentor. Anna hüpfte aus dem Wagen und nahm gleich die Abkürzung durch den Garten. Anna streichelte Spike. Doch dann rannte sie auf Karen zu.

»Kari, Kari.«

Die roten Strudellocken von Anna wippten bei jedem Schritt. Karen stand auf und breitete die Arme aus. Aus vollen Lauf sprang Anna ihr in die Arme. Karen fing die Kleine auf und beide drehten sich im Kreis. In der Sonne verschmolzen ihre roten Haare zu einem Feuerball.

»Na, das ist eine schöne Überraschung.« Eva war Anna durch das Gartentor gefolgt. Sie legte Annas Rucksack und ihre Tasche auf einen leeren Stuhl. Anna stand wieder und Karen umarmte Eva.

Spike schnüffelte an der abgestellten Tasche. Eva musste erst »Platz« sagen, ehe er abließ und sich wieder auf die Terrasse legte.

»Kommt, setzt euch.« Karen lud beide mit einer Handbewegung an den Tisch, goss für Eva und sich Kaffee ein. Anna griff nach der Apfelschorle. Sie füllte ihr Glas und hielt es mit einem zugekniffenen Auge gegen die Sonne.

»Hey, wie kommen wir zu dem gedeckten Tisch?«, erkundigte sich Eva und ließ sich verwöhnen.

Karen lächelte nur und griff nach einer Lerche. Anna nahm ebenfalls eines der kleinen Törtchen und sprang vom Stuhl. Sie lief zu der Schaukel, die einige Meter weiter an einem starken Ast des Apfelbaumes hing. Spike folgte ihr und legte sich nahe bei ihr ins Gras. Während Anna leicht auf dem Schaukelbrett pendelte, biss sie in ihr Gebäck.

Karen genoss die Nachmittagssonne.

»Heute haben einige Patienten ihren Termin für den Nachmittag abgesagt«, erzählte Eva.

»Bei einem so schönen Wetter würde ich auch lieber baden gehen als zum Zahnarzt.« Karen blickte auf die rosafarbenen Rosen links und rechts neben der Terrasse.

»Hat auch sein Gutes. Ich konnte heute eine von meinen vielen Überstunden abfeiern.« Eva klang zufrieden.

Da tuckerte Jörgs Kastenwagen in der Einfahrt.

»Was ist denn heute los?«

Da war Anna schon von der Schaukel gesprungen. Mit der gleichen Begeisterung, mit der sie Karen begrüßt hatte, flog sie ihrem Vater um den Hals. Dabei hatte Anna Glück, Jörg war groß, stark und fing den Schwung ab. Er drehte sie ein paarmal weit über den Boden, bevor er sie absetzte. Etwas taumlig lief Anna wieder zur Schaukel.

Spike bekam auch ein paar Streicheleinheiten.

»Ich habe Kuchen mit.« Jörg umarmte Eva und begrüßte anschließend Karen.

»Ich werde mich erst einmal duschen und umziehen.« Er wandte sich zum Gehen.

»Setzt dich doch zu uns. So fleckig wie sonst, sieht deine Latzhose heute nicht aus.« Eva hielt Jörg am Arm fest. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und griff nach einer der Lerchen. »Na, haben die Verbrecher heute eher Feierabend?«

»Natürlich nicht.« Karen schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf die Rosen.

»Sag bloß, es gab einen Toten auf dem Schleußiger Weg und das war kein Unfall.«

»Woher weißt du das schon wieder?« Karen hob die Augenbrauen.

»Wusste ich es doch.« Jörg klatschte sich auf den Schenkel und biss dann in die Lerche. »Ich habe im Autoradio gehört, dass auf dem Schleußiger Weg ein Rückstau ist. Außerdem war ich in der Nähe. Ich bin gleich in die Wundtstraße abgebogen. Und habe scharf geschlussfolgert: Unfall oder Mord. Und da ist wieder so was in deinem Blick, da weiß ich gleich, es betrifft dich. Also kann es nur um eine Leiche handeln.«

»Was du nicht sagst? Du klingst wie Sherlock Holmes.« Eva strich Jörg zärtlich über die Hand.

»Wir wissen noch nichts Näheres.« Karen goss auch Jörg Kaffee ein.

Da kam Anna zum Tisch zurück. »Was hast du für Kuchen mit, Papa?«, fragte sie.

»Pst, nicht vor Anna«, flüsterte Eva.

»Kirschkuchen mit Pudding und Streusel«, sagte Jörg.

Anna griff nach einem Stück aus dem Bäckerpapier, hielt es mit beiden Händen und knabberte die Streusel herunter. Kauend lief sie zurück zu ihrem Schaukelbrett.

Jörg wartete einen Moment, bevor er die nächste Frage stellte: »Wer war denn der oder die Tote?«

Karen zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, das wissen wir noch nicht.«

»Habt ihr schon eine Vermutung, wie es passiert ist?« Jörg schien vor Neugier zu platzen.

»Nun lass sie doch mal. Da hat sie einmal früher Feierabend und du fragst ihr arbeitsmäßig ein Loch in den Bauch. Wie soll sie da abspannen?«, sagte Eva mit tadelndem Blick zu ihm.

Jörg strich sich kurz über sein braunes Haar, das er im Sommer besonders kurz trug.

Karen musste grinsen. Sein Interesse wunderte sie nicht. Jörg wäre selbst gern ein Kriminaler geworden. Doch seine Eltern hatten darauf bestanden, dass er ein Handwerk erlernte. Und so war Jörg Elektriker geworden.

Verstohlen blickte Karen auf ihre Armbanduhr, schon fast 18 Uhr. Für einen Moment erwog sie, Ulli anzurufen, widerstand aber der Versuchung, stattdessen sagte sie, weniger zu Jörg und Eva, sondern mehr zu sich selbst: »Morgen zur Frühbesprechung gibt es die ersten Infos. Eher nicht.«

»Na wunderbar. Genießen wir diesen gemeinsamen Nachmittag. Ein Stück Kirschkuchen, Schwesterherz?«

Jörg schaute zu Karen. Sie lächelte mit einem Augenzwinkern zurück.

4

Karen war heute die Erste im Büro und öffnete das Fenster neben ihrem Schreibtisch. Sie beugte sich hinaus und sah auf ihr parkendes Auto. Da hielt ein rotes Cabrio vor ihrem blauen BMW. Eine brünette Fahrerin beugte sich zu ihrem Beifahrer in einem blau karierten Hemd und küsste ihn. Der Mann stieg aus, und Sekunden später fuhr das Cabrio mit aufheulendem Motor davon. Einen Moment sah der Mann dem davon rauschenden Auto hinterher.

Karen wandte sich ihrem Schreibtisch zu und zog die Schublade für ihre Handtasche auf. Sie fuhr den Computer hoch, da erschien auch schon Mila in der Tür.

»Guten Morgen«, grüßte sie in einer Art Singsang.

»Du bist aber gut gelaunt.« Das konnte doch nicht die Vorfreude auf den Neuen sein. Karen überflog die Absender der eingegangenen E-Mails. Eine Nachricht von Ulli war nicht dabei und gleich begann die Besprechung. Mist.

»Du sollst Ulli anrufen«, sagte Mila.

»Wollte ich gerade.« Karen griff nach dem Telefonhörer auf ihrem Schreibtisch und wählte die Nummer der Gerichtsmedizin.

»Dr. Ulli Heilmann. Morgen.«

»Guten Morgen, Ulli. Hast du schon etwas für mich?« Karen zog die Stirn kraus. Sie tippte mit dem Kuli auf den vor ihr liegenden Notizblock.

Mila schob die mobile Magnettafel an die Wandseite. So hatten alle vom Besprechungstisch aus einen guten Blick darauf.

Auf einmal stand ein Mann mitten im Zimmer. »Hallo, ich bin Kriminalhauptkommissar Dirk Rheinbach«, sagte er. »Der neue Kollege.«

Karen ließ den Kuli sinken. So sah also der Mann aus dem Cabrio aus der Nähe aus.

Mila streckte ihm die Hand hin. »Mila Weber, hallo. Ich bin hier die Spezialistin für Internetrecherche und die Aktenführerin für diesen Fall.« Ihre blauen Augen strahlten.

Karen klappte den Notizblock zu. Ulli hatte ihr nichts Neues mitgeteilt. Dann stand sie auf. »Karen Goldtotter. Sie kommen gerade richtig.«

Rheinbach reichte ihr die Hand, und sie erwiderte seinen kräftigen Händedruck. Dabei musste sie zu ihm aufblicken. In dem karierten Hemd steckte ein athletischer Oberkörper. Der Buschfunk hatte Recht. Er sah gut aus.

Mila hatte sich noch keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Sie glotzte nur.

»Mila?«, sagte Karen. »Haben wir noch genug Getränke?«

Sie bekam ein Kopfnicken. Wortlos holte Mila Gläser und Wasser und stellte diese auf den Besprechungstisch.

Karen zeigte auf die Tafel. »Wir können Verstärkung gut gebrauchen, denn wir haben seit gestern einen Fall.«.

Rheinbach hängte seine Umhängetasche über eine Stuhllehne und stellte sich neben sie. Alle drei standen sie jetzt direkt vor der Tafel und schauten auf die Fotos vom Fundort der Leiche. Viel Grün auf dem ersten Foto, die Leiche war nicht zu sehen. Das zweite Foto zeigte die freigelegte Leiche, die auf dem Bauch lag. Sofort fiel das Leinenhemd auf, aus dem dünne Beine ragten. Das Gesicht des Toten war auf dem dritten Foto zu sehen.

»Mila, was haben wir schon?«, fragte Karen ohne den Blick von den Fotos abzuwenden.

Milas Blick glitt zwischen Karen und Rheinbach hin und her. »Bei dem Toten könnte es sich um den seit neun Tagen vermissten 49-jährigen Karl Meissner aus Grünau handeln.« Sie betonte das Wort könnte. »Wir wissen es noch nicht. Meissner war geschieden und Harz IV-Empfänger. Seine Tochter, Lydia Meissner, wohnt und studiert in Regensburg. Die Vermisstenanzeige wurde merkwürdigerweise anonym aufgegeben. Alle anderen Vermisstenfälle im Umkreis liegen schon länger zurück und kommen damit nicht in Frage. Allerdings könnte es sich bei der Leiche hier auch um jemanden handeln, der nicht als vermisst gemeldet wurde.«

»Sehr gut.« Karen ergänzte dazu, was Ulli ihr am Telefon wie schon am Fundort gesagt hatte, dass er an dem Opfer keine tödlichen Verletzungen feststellen konnte. Dies hatte sich auch bei der nachfolgenden Obduktion bestätigt. Fesselspuren an den Händen und Füßen waren nicht die Todesursache. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das Opfer verdurstet und verhungert, denn einen Mageninhalt gab es praktisch nicht. Der Tote hatte alle Anzeichen einer Dehydrierung gezeigt.«

Mila schüttelte den Kopf.

»Ein paar toxikologische Tests stehen noch aus, und das vollständige Obduktionsgutachten folgt demnächst.« Karen schaute zu Rheinbach, der immer noch auf die Fotos blickte.

Mila nahm einen schwarzen Marker und schrieb die wenigen Fakten an die Tafel. »Die Befragungen haben bisher auch noch nichts ergeben. Allerdings sind auch nicht alle Bewohner der umliegenden Häuser angetroffen worden. Aber die Kollegen bleiben dran.«

Rheinbachs Blick glitt zwischen ihr und Mila hin und her. Im Gegensatz zu der zarten Mila wirkte sie wahrscheinlich wie eine gepanzerte Schildkröte. Wespentaille war einmal. Bei einer Verfolgungsjagd könnte sie nicht lange durchhalten. Umso besser, wenn Rheinbach die sportlichen Eigenschaften mitbrachte. Zumindest äußerlich sah er durchtrainiert aus.

Rheinbach trat noch näher an die Fotos heran. »Das Hemd des Toten ist irgendwie merkwürdig.«

Gut beobachtet. Karen nickte: »Einfacher Schnitt und bequem, wird sehr gern in Ländern getragen, in denen es ständig heiß ist. Wahrscheinlich ist es aus Leinen oder einer Baumwollmischung. Auch das wird noch genauer untersucht.« Sie zeigte auf das Foto mit der freigelegten Leiche. »Ursprünglich muss es weiß gewesen sein, aber bei der Auffindung des Toten war es stark verschmutzt. Es wird interessant, was Ulli hinsichtlich der Anhaftungen herausfindet.« Sie wandte sich an Mila. »Gib uns bitte die Adresse von Karl Meissner.«

Mila trat an ihren Schreibtisch.

Rheinbach stand immer noch vor den Bildern, ganz so, als scannte er jede Einzelheit. Schließlich zückte er sein Handy und fotografierte das Bild mit dem Gesicht des Toten. Karen wartete geduldig und zeigte ihm seinen Schreibtisch erst, als er das Handy wieder einsteckte.

»Das ist jetzt Ihr Arbeitsplatz«, sagte sie leise.

Rheinbach nickte nur.

Karen schüttelte kaum merklich den Kopf. Von einer verlorenen Stimme hatte der Buschfunk nichts getrommelt und schüchtern konnte der Neue ja wohl nicht sein. Sie ging an ihren Schreibtisch. Durch die Glasscheibe sah sie Mila an ihrem Computer hantieren. Im nächsten Moment blinkte in Karens Handy Meissners Adresse auf.

»Du, die Mitarbeiterin der Hausverwaltung schickt den Hausmeister mit dem Schlüssel zu Meissners Wohnung«, rief Mila ihr zu.

»Gut, dann fahren wir gleich nach Grünau.« Karen griff nach ihrer Tasche. Rheinbach hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt.

»Nett, der Neue, was?« Mila war Karens Blick gefolgt.

»Der hat eine Freundin«, gab Karen zurück.

Mila pustete aus. »Woher weißt du das schon wieder?«

»Er hat sich vorhin von einer Brünetten im roten Cabrio bringen lassen. Sie hat ihm direkt vor dem Haus ein Küsschen gegeben.«

»So richtig?« Mila verdrehte ihre Augen.

»Natürlich nicht. Ein Abschiedskuss auf die Wange. Das kann dich doch nicht interessieren. Du hast doch deinen Lars«, sagte Karen.