Kaltes Lager - Ethel Scheffler - E-Book

Kaltes Lager E-Book

Ethel Scheffler

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Beschreibung

In 12 spannenden Kurzkrimis passieren an ungewöhnlichen und schaurigen Orte dramatische sowie blutige Verbrechen mit unerwarteter Auflösung. Dabei geht nicht immer alles glatt, und so kommen die Geschichten auch schon mal mit einem Augenzwinkern daher.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das Buch

In 12 spannenden Kurzkrimis passieren an ungewöhnlichen und schaurigen Orten dramatische sowie blutige Verbrechen mit unerwarteter Auflösung. Dabei geht nicht immer alles glatt, und so kommen die Geschichten auch schon mal mit einem Augenzwinkern daher.

Die Autorin

Ethel Scheffler

Schreibt vorwiegend Krimikurzgeschichten, über wahre Fälle und Regionalliteratur

www.scheffler-stories.de

Inhaltsverzeichnis

Phantom der Oper

Tiefer und tiefer

Manchmal werden Träume wahr

Oma schlägt zurück

Keine Rückkehr nach Heidiland

Ein Ata-Girl räumt auf

My Way

Kaltes Lager

Windstärke sechs

Schwein sein lohnt sich nicht

Todesleuchten

Unverhofft kommt oft

Phantom der Oper

»Kommst du nun endlich!«, rief Robert die Treppe hinauf in Richtung von Monikas Zimmer. »Dass Frauen nie pünktlich fertig sind«, murrte er leiser und nahm wartend in dem Sessel im Eingangsbereich Platz. Eigens zu diesem Zweck hatte er ihn sich in die Diele gestellt.

Er wäre lieber zu Hause geblieben. Doch Monika hatte ihm anlässlich seiner Beförderung zum Chefarzt etwas ganz Besonderes versprochen – den Leipziger Opernball.

Mit ihren Vorbereitungen auf dieses gesellschaftliche Ereignis strapazierte sie allerdings seine Nerven. Der Gedanke an ein rauschendes Bankett mit einem 3-Gänge-Menü vom Feinsten, Tanz und Unterhaltung hatte Monika regelrecht elektrisiert. Sie erzählte jedem, auch ungefragt, dass sie nicht nur zum Vergnügen dort hingehen würden. Es sei schließlich eine Benefizveranstaltung. Sie hätten eine Aufgabe zu erfüllen.

Bereits Wochen vorher war Monika durch die Kaufhäuser und Boutiquen gehastet. Die Auswahl war nicht einfach. Dabei interessierte sie nicht der Preis, wenn ihr der Schuh oder das Kleid gefiel. Nur etwas Besonderes musste es sein. Schließlich wollte sie unter den fast 2000 prominenten Gästen aus Wirtschaft, Kultur und Sport sowie Film und TV nicht wie Alma Mumsickel aussehen.

»Jetzt gehören wir schließlich dazu«, lag sie Robert ständig in den Ohren.

Was bedeutete das schon? Er dachte an die Probleme auf seiner Station.

Das Klappen der Tür riss Robert aus seinen Gedanken. Monika rauschte in einem enganliegenden Seidenkleid die Treppe herunter, funkelte und strahlte wie ein Blautopas. Der bezaubernde Anblick seiner Frau verscheuchte die sorgenvollen Gedanken.

Ganz Gentleman, öffnete er ihr die Tür und der Taxifahrer beendete rasch seine unfreiwillige Pause.

Monikas Augen glänzten, als sich das Auto dem Augustusplatz näherte. Laserstrahlen tauchten die Oper in zarte Pastelltöne. Majestätisch und festlich zugleich hob sich das im klassizistischen Stil errichtete Gebäude von den umliegenden ab. Mit einem roten Teppich und gleißendem Scheinwerferlicht empfing das Opernhaus gebührend seine Gäste.

»Das ist hier wie in Hollywood«, hauchte Monika beeindruckt und begutachtete die anderen Abendkleider.

»Ich denke, Leipzig wird als Klein-Paris bezeichnet?« Robert musste über Monika lächeln. Sie folgten ganz einfach den Gästen, die schon in das Hauptfoyer strömten.

Riesige Kronleuchter, deren Form Tausende von Blüten nachahmte, hingen an der Decke wie kristallene Blumensträuße und verbreiteten ein angenehmes feierliches Licht. Über eine der zwei geschwungenen Haupttreppen gelangten sie in das Parkett. Eingehüllt von verführerischen Duftnoten flanierten die Damen zu den festlich eingedeckten Tafeln. Die an den Rückenlehnen angebrachten cremefarbenen Schleifen gaben dem würdevollen Rahmen etwas Beschwingtes, so als wirke die Leichtigkeit des Sommers nach.

Monika warf ihre blonden Locken in den Nacken und genoss die bewundernden Blicke einiger Herren auf dem Weg zu ihrem Platz. In bester Laune neigte sie sich mit einem Sektglas zu Robert und flüsterte: »Auf einen schönen Abend. Wir wollen heute richtig feiern. Du hast ja sonst immer so wenig Zeit für mich.«

Robert runzelte die Stirn. Was sollte das jetzt? Schließlich legte er sich krumm für sie und seine kleine Tochter Marie. Das Haus konnte ja nicht groß genug sein, und sein alter Opel hätte ihn auch noch eine Weile zum Dienst gefahren. Die Gläser gaben einen feinen Klang. Aber Robert war verstimmt.

Während alle dem Opernchor bei der feierlichen Eröffnung lauschten, schweiften Roberts Gedanken zu Helen. Seine erste Frau hatte ihm nie Vorwürfe gemacht oder Ansprüche gestellt. Das Leben mit ihr und seinem Sohn Martin war so leicht. Bis zu jenem Tag. Bitterkeit stieg in ihm auf. Das war nun gut fünf Jahre her und eigentlich müsste Robert glücklich sein. Nach Helens Weggang fand er in dieser bezaubernden Messestadt einen neuen Anfang und hatte Karriere gemacht.

»Robert, wo bist du mit deinen Gedanken? An was zum Teufel denkst du an so einem Abend?« Monika zog einen Schmollmund und schmachtete ihn an. Verlegen rückte er seine perfekt sitzende Brille zurecht. Wegen diesem Blick hatte er ihr so manchen teuren Schuh- oder Taschenkauf verziehen. Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie hatte ja recht. Jeder amüsierte sich, nur er hing der Vergangenheit nach. Dabei konnte er stolz auf sich sein. Er gab sich einen Ruck.

Nach dem vorzüglichen Essen führte er sie zur Bar und schwebte auch eng umschlungen mit ihr über die Tanzfläche.

»Jetzt brauche ich etwas Kühles«, lächelte Monika ihren Gatten verführerisch an. Vorbei an aufgestellten Bühnendekorationen schritten sie erneut zur Bar.

»Robert?«, mit dunkler Stimme rief jemand den frischgebackenen Chefarzt. Robert drehte sich um und erkannte Christian aus seiner alten Heimatstadt Marburg. Dieser stürzte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, der eher verblüfft als freudig überrascht zu sein schien. Er machte seinen früheren Freund mit Monika bekannt. Sie musterte ihn eingehend und hoffte, dass dieser Bierbauchträger in Nadelstreifen sich bald wieder verabschieden möge.

»Ich bin mit zwei Geschäftspartnerinnen in Leipzig. Wir fahren in zwei Tagen zurück. Wollen wir uns mal treffen und über die alten Zeiten plaudern?«

»Ich habe kaum Zeit. Im Moment ist es schwierig. Aber ich bin im Rahmen eines wichtigen Ärztekongresses nächste Woche in Marburg. Vielleicht rufe ich dich an, wenn es zeitlich passt.«

»Alles klar. Du, ich muss. Gerade Geschäftspartnerinnen sollte man nicht so lang allein lassen.« Er verabschiedete sich und klopfte Robert vertraut auf die Schulter. Robert und Monika setzten ihren Weg zur Bar fort.

»Von dem Kongress hast du mir noch nichts gesagt.« In ihrer Stimme schwank Unmut mit.

»Das hätte ich schon noch.« Er bestellte zwei Manhattan, als der Barkeeper gerade in seine Richtung schaute. Robert griff nach den Drinks und gab ihr ein Glas. »Du siehst wunderschön aus in diesem Kleid«, flüsterte er ihr ins Ohr und legte einen Arm um ihre Taille. Vorhin hätte sie sich noch gefreut über dieses Kompliment. Jetzt ließ sie sich davon nicht ablenken.

»Soll ich dich begleiten? Deine Mutter freut sich bestimmt, Marie wieder einmal zu sehen.«

»Das ist nicht nötig. Es sind nur drei Tage. Ich halte meine Fachvorträge und komme am dritten Tag zurück. Meine Eltern sind noch im Italienurlaub. Die würdest du nicht antreffen« Robert bestellte sich noch ein Glas. Er konnte ihr nicht sagen, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, um das Grab von seinem Sohn Martin zu besuchen. Ihn zernagte fast die Sehnsucht, einfach mal allein eine Stunde bei ihm zu sitzen. Mit Monika ging dies nicht. Sie reagierte darauf immer sehr abweisend. Die Wunden müssten doch nun mal verheilt sein, meinte sie erst kürzlich. Außerdem hätte er jetzt seine kleine Marie. Vielleicht wäre Robert eher darüber hinweggekommen, wenn damals der Fahrer des roten Golfs gefunden worden wäre. Dies und der Schmerz über den Verlust ließen die Beziehung zu Helen scheitern. Aber er dachte oft an sie. Immer wenn es Streit mit Monika gab.

»Ich könnte Marie bei meinen Eltern unterbringen, dann hätten wir die Abende für uns«, riss sie Robert aus seinen Gedanken. Sie musste einen Weg finden, damit er nicht allein fahren würde. Immer, wenn sie seine Eltern in Marburg besuchten, ließ sie ihn keinen Augenblick aus den Augen.

Robert wunderte sich, wie sie um diese drei Tage rang. Sonst war sie nie begeistert, wenn es um einen Besuch in Marburg ging.

»Das ist toll, Schatz, dass du mich so liebst, dass du keine Nacht ohne mich sein willst. Aber ich fahre diesmal definitiv allein.«

Die Wut stieg in Monika hoch. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, lächelte ihm zu und stellte das leere Glas zurück. Sie setzten sich wieder an ihren Tisch. Monika hatte plötzlich keinen Blick mehr für ihre Tischnachbarn.

Robert war froh, dass er wieder sitzen konnte. Tanzen gehörte nicht zu seinen Stärken. Er wunderte sich, dass Monikas Heiterkeit verflogen war, wie bei einem Kind, das sein Eis nicht bekam. Vielleicht ist sie bloß zu viel allein, dachte Robert. Nur mit dem Kind, so ohne Arbeit und Haushalt, da konzentriert sie sich bestimmt zu sehr auf mich.

»Aber, wir können meine Eltern mal wieder zu uns einladen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Ich werde meine Mutter gleich morgen anrufen, dass sie gleich nach dem Urlaub zu uns kommen. Die Gästezimmer sind jetzt eingerichtet. Sie könnten eine Weile bei uns bleiben.« Robert hoffte auf ihre Zustimmung.

»Tolle Idee«, heuchelte Monika. Sie begriff, dass sie im Moment nichts ändern konnte.

Mit Erleichterung nahm Robert ihre Zustimmung auf. Für ihn war damit der Disput erledigt. Ganz Gentlemen ließ er den Rest aus der Flasche in ihr Glas sprudeln. »Da müssen wir noch eine Flasche ›Rotkäppchen‹ bestellen«, schwenkte er die Flasche und winkte, nicht mehr ganz nüchtern, nach der Bedienung.

»Prima und ich gehe noch ein paar Lose kaufen. Die Preise sind zu verlockend.« Sie stupste ihn mit dem Zeigefinger auf die Nase und erhob sich.

Er blickte auf die Uhr. Durch seine Nachtdienste auf Station war er solche Zeiten gewöhnt.

Ein Trommelwirbel kündete die Verlosung der Tombolapreise an. Alle strömten ins Foyer. Wo Monika nur blieb? Robert stand auf und ging in das Untergeschoss zu den Toiletten. Jetzt, wo alle auf den Hauptgewinner warteten, würde dort kein Andrang mehr sein. Kunstvoll aufgebaut standen auch hier Bühnendekorationen und üppige Blumengestecke in den Gängen.

Ach, vielleicht müssten wir öfter ins Theater oder in die Oper gehen. Immer nur Arbeiten, das hält doch kein Mensch auf Dauer aus. Monika würde das bestimmt gef...

Robert konnte nicht mehr zu Ende denken.

Der Schlag traf ihn hart und unerwartet. Er sackte leblos zusammen.

Monika verstand die Aufregung nicht, die plötzlich unter den Anwesenden im Foyer herrschte. Sie hielt noch ein Los in der Hand. Ihre Neugier war stärker. Sie raffte leicht ihr Kleid und folgte trippelnd der aufgeregten Menge zum seitlichen Bühneneingang. Mühsam hielt die Polizei den Weg für den Notarzt frei.

Sie streckte sich, um einen Blick auf die Krankentrage zu erhaschen. Ihr Antlitz wurde kreidebleich. Roberts Kopf blutete heftig und die Augen waren geschlossen. Lebte er noch? Monika kam an der Menge nicht vorbei. Sie sah von weitem, wie sie ihn in den Wagen schoben und mit Blaulicht davonfuhren.

Hauptkommissar Reber schlug mit der Faust auf die Akten. Dieser Morgen konnte kein guter mehr werden. Er kam in diesem Fall einfach nicht weiter. Die Kollegen machten schon ihre Witze: Er jage das ›Phantom der Oper‹. Reber kratzte genervt seinen Hinterkopf. Überall schien es zu kribbeln und zu jucken. Er überlegte angestrengt. Hatte er irgendetwas übersehen? Ihm war es unerklärlich, dass jemand versuchte, einen Arzt auf einem Opernball zu erschlagen.

Der Anschlag wäre um ein Haar geglückt. Jetzt ließ er den Doktor im Einzelzimmer rund um die Uhr bewachen. Drei Tage lag er im Koma, bevor er wieder zu sich kam. Er würde wieder ganz gesund werden. Leider konnte er sich bis jetzt an nichts erinnern.

Alle Ermittlungen blieben bis jetzt erfolglos. Die Befragung der Ehefrau Monika Weidner ergab keinerlei Hinweise. Er glaubte ihr, dass sie, als es passierte, im Foyer stand und die Verlosung der Tombola in der Hoffnung auf den Hauptgewinn verfolgte. Weinend wie ein Schlosshund hatte sie vor ihm gesessen und gefragt, wer einem Arzt so etwas antue, der doch den ganzen Tag sein Bestes gebe, um Menschen wieder gesund zu machen. Vorteile von seinem Tod hätte sie nicht gehabt. Im Gegenteil. Das Haus musste noch abbezahlt werden. Die Lebensversicherung hätte das nicht abgedeckt. Außerdem galt die Ehe als glücklich. Auf seiner Station war der Chefarzt nicht nur bei den Schwestern beliebt. Die Patienten lobten ihn, weil er ihnen bevorstehende chirurgische Eingriffe und ihre Risiken mit einfachen Worten erklären konnte. Sein Können, auch bei schwierigen Operationen, war geschätzt. Seit Langem wusste jeder Kollege, dass er als Chefarzt nachrücken sollte. Da hätte ein sich übergangen gefühlter Kollege andere Gelegenheiten nutzen können.

Von den Gästen hatten viele das Weite gesucht, weil sie einer Befragung ausweichen wollten. Einige waren vorher schon gegangen und der Großteil war, vorsichtig ausgedrückt, doch recht angeheitert gewesen. Sie hatten nichts gesehen oder bemerkt. Die Befragungen brachten keine Erkenntnisse.

Reber blätterte und las in seinen Notizen. Nein, er hatte nichts übersehen. Auf der neben dem Arzt gefundenen schweren Dekokugel waren keine Fingerabdrücke gefunden worden. Der Täter hatte die günstige Situation ausgenutzt, dass alle, fast alle, die Ziehung der Hauptpreise verfolgt hatten. Über den samtartigen Teppich muss es leicht gewesen sein, dem Arzt nachzuschleichen. Der Täter hatte stimmt die Dekorationen auf dem Gang als Deckung genutzt.

Außerdem war der Arzt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nüchtern und sein Reaktionsvermö-gen stark eingeschränkt. Der Schlag hatte gesessen. Sofort bewusstlos zusammengesackt, wirkte er, als sei er tot.

Reber blickte auf die Uhr. Kurz vor Mittag. Morgen wurde der Doktor entlassen. Er wollte ihn noch einmal sprechen. Vielleicht war ihm doch etwas eingefallen. Wenn nicht, würde er sich schweren Herzens entschließen müssen, die Akte beiseite zu legen.

Es regnete in Strömen als Reber zu seinem Auto lief. Er dachte nur an den Fall und verpasste um ein Haar die Einfahrt zur Uniklinik. Fluchend suchte er einen Parkplatz. Dreimal fuhr er um das Karree, ohne Erfolg. Genervt stellte er den Wagen auf einem der freien Behindertenparkplätze vor dem Eingang ab. Im Eingangsbereich schüttelte er sich die Nässe ab. Die Schwester auf der Station lächelte dem Kommissar zu. Ihr Lächeln wärmte ihm das Herz bei diesem Mistwetter.

Der wachhabende Polizist saß gelangweilt vor der Tür. Er sprang auf und meldete, dass nichts passiert sei. Reber winkte freundlich ab. »Geh mal einen Kaffee trinken. Ich bin jetzt bei ihm.«

Reber traf den Arzt im Krankenzimmer an einem kleinen Tisch sitzend an. Im Jogginganzug las er in einem medizinischen Fachbuch. Dieser Mann flößte ihm Respekt ein.

»Na, Herr Kommissar, gibt es neue Erkenntnisse?«, begrüßte er ihn.

Reber gab ihm die Hand und hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. Er machte dem Arzt klar, dass er die Wache vor seiner Tür abziehen müsse, ja sogar die Akte schließen werde, wenn ihm nicht noch etwas eingefallen sei. Robert konnte ihm beim besten Willen nicht helfen und machte dem Kommissar auch keinen Vorwurf.

»Vielleicht war es ein ehemaliger Patient, dem Sie nicht so helfen konnten, wie er es erwartet hatte?«, versuchte Reber dem Arzt auf die Sprünge zu helfen.

»Ich weiß es nicht. Wir Ärzte sind auch nur Menschen und keine Halbgötter in Weiß. Auch wenn sich einige so benehmen.«

»Sie werden mir immer sympathischer, Herr Doktor. Bedenken Sie jedoch, der Täter könnte es wieder versuchen.«

Robert stand auf und strich sich über seine kurzen schwarzen Haare, die an den Schläfen schon Grau zeigten.

»Danke für den Hinweis, Herr Kommissar.« Robert nahm die Brille ab und hauchte die Gläser an. »Keine Angst, ich werde in Zukunft aufpassen und schauen, wer hinter mir steht.« Er polierte die Gläser mit einem Tempotaschentuch und hielt sie anschließend prüfend gegen das Licht, bevor er sie aufsetzte.

»Also, Herr Doktor Weidner, achten Sie gut auf sich. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich einfach an.«

Robert nickte. Er freute sich auf morgen, auf seine kleine Familie, auf zu Hause.

Doch Monika hatte eine Erholungsreise in die Schweiz für sie Drei gebucht. Er war ihr dankbar, denn er brauchte von all den Dingen Abstand.

Seit einer Woche arbeitete Robert wieder auf seiner Station. Der Alltag hatte den Arzt nach dem herrlichen Aufenthalt in den Schweizer Bergen wieder fest im Griff. Marie ging jetzt vormittags in den Kindergarten und Monika hatte mehr Zeit für sich. Robert riet ihr, vielleicht stundenweise wieder in ihrem Beruf zu arbeiten. Immerhin war sie Krankenschwester, als sie sich kennenlernten. Er könnte das alles im Krankenhaus regeln. Da käme sie wieder auf andere Gedanken. Doch Monika zeigte wenig Interesse. Sie schob immer wieder das große Haus vor, welches sie zu unterhalten hätte. Außerdem wären da noch der Garten und die Wäsche und so weiter. Eine Haushälterin lehnte sie ab. Da wisse man nie so genau, wen man sich ins Haus hole. Wenn sie damit zufrieden war, sollte es Robert recht sein.

Noch kein Vierteljahr war es her, dass Kommissar Reber die Akte von dem Überfall auf den Chefarzt Dr. Robert Weidner geschlossen hatte. Jetzt besuchte er den Doktor auf seiner Station und ihm war nicht wohl in seiner Haut. Die Stationsschwester bot ihm an, im Büro des Doktors zu warten.

Verlegen rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Krampfhaft überlegte er, wie er die grauenvolle Nachricht in Worte kleiden sollte. Schweißperlen traten ihm beim Anblick des Doktors auf die Stirn.

Robert spürte sofort, dass der Beamte nicht um seiner selbst willen auf ihn wartete. Er begrüßte ihn freundlich und setzte sich ihm gegenüber an den Besprechungstisch.

»Gibt es etwa neue Erkenntnisse in meinem Fall oder was haben sie auf dem Herzen?«

»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie.« Reber stockte. Es fiel ihm nicht leicht, diesem tüchtigen Mann offen in sein markantes Gesicht zu blicken. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass mit Ihrem Auto ein Unfall passiert ist.« Reber sah, wie das Gesicht des Arztes die Farbe seines Kittels annahm.

Stumm und mit aufgerissenen Augen, so hing Robert an den Lippen des Kommissars, denn das Gesagte konnte nur ein Teil der Nachricht sein.

»Es ist heute Vormittag passiert. Ihr Auto ist aus noch ungeklärter Ursache von der Landstraße abgekommen, prallte frontal an einen Baum und brannte anschließend aus.«

Robert hielt sich plötzlich an der Lehne fest. Seine Handknöchel wurden weiß. Er kämpfte um Haltung.

In solchen Minuten hasste der Kommissar seinen Beruf. »Wir haben zwei verbrannte Frauenleichen geborgen. Eine wird Ihre Frau sein. Die andere ist bisher unbekannt. Sie hatte nichts bei sich.« Er ließ dem Doktor etwas Zeit.

Dieser sprang auf, lief wortlos und kopfschüttelnd hin und her. Unvermittelt blieb er im Raum stehen und blickte dem Kommissar fest in die Augen. »Sind Sie sicher? Monika?«

Reber nickte nur.

Es war, als bekäme der Arzt wieder einen Schlag auf den Kopf. Kraftlos sank er auf den Stuhl und hielt die Hände vor die Augen. Das war auch für einen Mann wie ihn zu viel. Er hob plötzlich den Kopf. »Marie!«, durchzuckte es ihn.

»Was ist mit Marie?«

»Ihre Schwiegermutter hat Marie vom Kindergarten abgeholt. Sie wird es ihr so schonend wie möglich erzählen.« Wenigstens in diesem Punkt konnte er den Arzt beruhigen. »Wissen Sie, wohin Ihre Frau wollte und mit wem sie unterwegs war? Wer könnte die andere Frau sein? «

Robert antwortete mechanisch: »Meine Frau hat mir heute früh nicht gesagt, was sie vorhatte oder mit wem sie verabredet ist. Es ist mir ein Rätsel.« Seine Unterlippe zitterte.

Der Kommissar erhob sich. »Sie können heute nicht mehr arbeiten. Ich lasse Sie nach Hause fahren.«

Es war Monika in dem Auto gewesen, wie der Kommissar richtig vermutet hatte. Wer die andere Frau am Lenkrad gewesen war, blieb ungeklärt. Auch was das Auto von der Fahrbahn abgebracht hatte, konnte nicht ermittelt werden. Irgendetwas musste die beiden so abgelenkt haben, dass sie nicht in der Lage waren, noch zu bremsen. Der Aufprall bei der hohen Geschwindigkeit ließ den beiden keine Chance.

Robert stürzte sich in die Arbeit und suchte dort Halt und Vergessen. Er schien um Jahrzehnte gealtert. Seine Mutter war vorübergehend zu ihm gezogen. Sie kümmerte sich um Marie, gab ihr Geborgenheit und Wärme.

Einen Monat nach dem ganzen Unglück lag ein auf Termin zugestellter Brief mit dem Vermerk »persönlich« in der Post. Er lag auf dem kleinen Sideboard in der Diele. Geschafft nach einem langen Arbeitstag nahm Robert den weißen Briefumschlag ohne weitere Beachtung mit nach oben in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Jetzt, beim genaueren Hinsehen, wurde ihm mulmig. Es war lange her, aber er erkannte die kleine schnörkelige Schrift sofort. Das konnte nicht sein. Der Brief war von seiner ersten Frau: Helen! Gute Helen! Hastig riss er den Brief auf und konnte kaum glauben, was er las:

Liebster Robert,

wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Ich bin schwerkrank. Die Ärzte gaben mir noch ein Jahr. Du als Arzt weißt, was das bedeutet.

Robert ließ den Brief sinken. Arme Helen, wenn ich nur etwas gewusst hätte. Tieftraurig las er weiter:

Ich möchte Dir danken für die glücklichste Zeit in meinem Leben. Als unser Sohn Martin geboren wurde, schien das Glück keine Grenzen zu kennen. Bis zu jenem Unglückstag.

Verzeih mir, dass ich Dich damals mit dem ganzen Schmerz alleingelassen habe. Aber ich konnte nicht anders. Später erfuhr ich, dass Du wieder geheiratet und eine kleine Tochter hast. Ich freute mich so für Dich.

Die Arbeit gab mir Halt und lenkte mich ab. Doch eines konnte ich nie verwinden: dass der Fahrer des roten Golfs ungestraft davonkam. Vielleicht hätte unser Sohn überlebt, wenn der Fahrer nicht geflohen wäre und Hilfe geholt hätte. Du weißt, ganz ausgeschlossen hatten es die Ärzte damals nicht.

Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er tastete nach einem Tempotaschentuch in seiner Hosentasche und wischte sich über die Augen. Dann holte tief Luft.

Ich arbeite in einer Hausverwaltung. Wohnungsräumungen sind immer unangenehm. Vor einem halben Jahr war ich bei der Räumung einer Wohnung anwesend, deren Mieter wegen jahrelangem Alkoholgenuss verstorben war. Irgendwann versagt auch die beste Leber. Ich machte mich aufs Schlimmste gefasst. Nicht der vermüllte Zustand der Wohnung versetzte mir einen Schock, sondern ein halb verdecktes Bild auf einem Regal. Zwischen den verstaubten Bierdosen, anrüchigen Zeitschriften und leeren Zigarettenschachteln hätte ich es fast übersehen.

Eine junge Frau stand in aufreizender Pose vor einem roten Golf mit Leipziger Kennzeichen, welches leider nicht vollständig zu erkennen war. Ich muss wohl minutenlang auf das Bild gestarrt haben, bis ich in der Lage war, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Eine dunkle Ahnung stieg in mir auf. Nach einem roten Golf mit einem Leipziger Kennzeichen hatte niemand gefahndet. War der Verstorbene etwa der Fahrer? Ich steckte das Bild ein.