Gewaltfreie Kommunikation in der Schule - Hilde Fritz - E-Book

Gewaltfreie Kommunikation in der Schule E-Book

Hilde Fritz

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Beschreibung

Sich selbst als Lehrerin oder Lehrer wichtig nehmen, sich kraftvoll behaupten, eigene Grenzen ziehen und diese gewaltfrei schützen. Zugleich einen wertschätzenden Umgang mit Schülerinnen und Schülern wie Kolleginnen und Kollegen pflegen. Und dabei das tun, weshalb man diesen Beruf wählte: unterrichten. Kann dies in unseren Schulen umgesetzt werden? Das Buch zeigt Möglichkeiten, wie im „Zwangskontext Schule“ Lehrerinnen und Lehrer die eigenen Bedürfnisse deutlich wahrnehmen und klar ausdrücken, wie sie einfühlsam Dialoge mit Schülerinnen und Schülern führen und wie sie Konflikte als selbstverständliche und alltägliche Momente des Zusammenlebens gewaltfrei gestalten können. Gewaltfreie Kommunikation zielt auf einen respektvollen Umgang untereinander, der in gleicher Weise von Autonomie und Verbundenheit, von Wachsen-Können und Zusammengehörigkeit geprägt ist. Wenn Beziehungen derart glücken, können Lehren und Lernen leichter und das Leben in der Schule angenehmer werden.

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Seitenzahl: 287

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Gottfried Orth & Hilde FritzGewaltfreie Kommunikation in der SchuleWie Wertschätzung gelingen kann

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverfoto: © Vesna Cvorovic – fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-943-0 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-944-7

Vorwort

Zorn, Wachstum und Verbundenheit, ein Gefühl und zwei Bedürfnisse, sind Anlass für das Schreiben dieses Buchs: Wir sind zornig, dass Schule und der mit ihr gegebene Zwangskontext des gemeinsamen Arbeitens von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen noch immer vielfach so sind, dass wir Lehrerinnen und Lehrer wie auch die Schülerinnen und Schüler an ihr leiden, obwohl so viele so vieles wissen, wie es anders gehen kann: menschenfreundlicher, leichter, angstfreier, erfolgreicher, schöner. Und wir haben erfahren, dass Gewaltfreie Kommunikation in der Schule zu praktizieren heißt, Menschen vielfältige Anlässe zu eigenem und gemeinsamem Wachstum zu ermöglichen in der Erfahrung von menschlicher Verbundenheit. Zorn, Wachstum und Verbundenheit und die Nachdenklichkeit darüber treiben uns an zu Veränderung. Wir haben erfahren, dass Veränderungen möglich sind.

Wir wollen uns selbst als Lehrerin oder Lehrer wichtig nehmen, uns kraftvoll behaupten, eigene Grenzen ziehen und diese gewaltfrei schützen. Wir wollen zugleich einen wertschätzenden Umgang mit Schülerinnen und Schülern. Wir wollen gegenseitige Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen und allen anderen an Schule Beteiligten. Und wir wollen das tun, weshalb wir Lehrerinnen und Lehrer geworden sind: unterrichten. Wir erleben dabei beglückende Momente der Leichtigkeit und Freude bei der Arbeit und Möglichkeiten wachsenden Vertrauens. Und wir erleben zugleich Hilflosigkeit und Ärger.

Die Sehnsucht nach Leichtigkeit und Freude bei der Arbeit zu spüren und ihr als Lehrerin und Lehrer in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen Ausdruck zu geben wirkt ansteckend. Hilde Fritz, Förderschullehrerin, und Gottfried Orth, Hochschullehrer, wir machten diese Erfahrungen in Einführungskursen für Gewaltfreie Kommunikation für Lehramtsstudierende und in Fortbildungen in Gewaltfreier Kommunikation für Lehrerinnen und Lehrer, für Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter und mit Schulklassen unterschiedlicher Schulformen von der Förderschule bis zum Gymnasium.

Unsere Erfahrungen in Klassen, Seminaren und Kursen nährten unsere Gewissheit: Wenn Beziehungen als wichtig erachtet werden, kann das Leben in der Schule wie in der Universität schöner und Lernen und Lehren leichter werden. Und für gute Beziehungen zwischen Lehrerinnen und Lehrern, zwischen Schülerinnen und Schülern und zwischen beiden Gruppen sowie allen anderen am Schulleben Beteiligten mögen wir viel tun.

,Treibstoff‘ dieser Hoffnung ist für uns die Gewaltfreie Kommunikation nach Impulsen von Marshall B. Rosenberg, die wir deshalb in diesem Buch insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer – möglichst nahe am Schulalltag – vorstellen möchten. Wir wollen Sie einladen, Gewaltfreie Kommunikation kennenzulernen und einzuüben. So enthält dieses Buch viele Übungen, die wir Ihnen vorschlagen. Diese Übungen sind so angelegt, dass Sie sie allein für sich erarbeiten können. Vielleicht findet sich aber auch eine Gruppe im Kollegium, die Sie anregen oder begeistern können, mit Ihnen gemeinsam zu lernen und zu üben.

Natürlich können Sie alles, was Sie geübt haben, auch – vorsichtig und dosiert – im Schulalltag ausprobieren. Dazu eine Erfahrung aus einer unserer Fortbildungen: In einem ersten zweitägigen Kurs mit Lehrerinnen und Lehrern eines berufsbildenden Gymnasiums sprachen wir u.a. über Bedürfnisse und Gefühle. Einer der Teilnehmer war bei der Auswertung eher skeptisch. Im zweiten Kurs erzählte er folgende kleine Geschichte: „Ich erlebte einmal wieder eine recht schwierige Situation in der Klasse. Und da sagte ich einfach zu einem Schüler: ‚Dir ist jetzt gerade wohl etwas ganz anderes wichtig.‘ Er schaute mich an wie von einem anderen Stern. Wir kamen darüber ins Gespräch, ich erzählte von der Fortbildung, und der Schüler sagte: ‚Ja, das stimmt.‘ Insgesamt dauerte die Szene nicht mehr als fünf Minuten. Und danach konnten wir weiter gemeinsam arbeiten. Für mich war das eine schöne Erfahrung.“ Wir wünschen Ihnen viele solch schöner Erfahrungen!

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile:

In der Einleitung (1.) berichten wir von unserem eigenen Lernweg in Gewaltfreier Kommunikation. Wir folgen dann unserer Systematik Gewaltfreier Kommunikation, um Sie mit Erläuterungen und Übungen in deren Haltung und Methode einzuführen. Wir laden Sie zunächst ein, Gewaltfreie Kommunikation als Haltung kennenzulernen und sich mit den darin liegenden Herausforderungen vertraut zu machen (2.). Dem folgt (3.) ein Kapitel über die Methode Gewaltfreier Kommunikation, das Modell der vier Schritte. Dieses Modell dient der Einübung der Haltung und der immer wieder damit verbundenen Selbstreflexion. Haltung und Methode verbinden sich in einem ersten großen Lernfeld: Jemand beantwortet eine Bitte von uns mit „Nein“. Zur Haltung Gewaltfreier Kommunikation gehören (4.) Wertschätzung mir selbst und anderen gegenüber, ebenso Selbst-Empathie und Empathie sowie ein neuer Umgang mit Macht (5.): nämlich die Bevorzugung schützender und die Ablehnung strafender Anwendung von Macht. Das Loben anderer Menschen beinhaltet ebenso wie die strafende Anwendung von Macht Urteile über andere Menschen. Deshalb schließen wir diesen ersten Teil mit einem Kapitel (6.) dazu, wie wir in Gewaltfreier Kommunikation Wertschätzung einüben und ausdrücken.

Im zweiten Teil ist unser Ausgangspunkt nun nicht mehr Gewaltfreie Kommunikation, sondern es sind Themen und Situationen aus dem Schulalltag, mit denen wir Möglichkeiten zeigen, gewaltfrei und wertschätzend zu kommunizieren, um mit als schwierig empfundenen oder vielleicht besser herausfordernden Situationen für Sie als Lehrerin oder Lehrer zufriedenstellender als bisher arbeiten zu können. Es sind dies alles Themen oder Situationen, mit denen wir selbst unsere Erfahrungen gesammelt haben.

Zwei Lesewege durch das Buch möchten wir Ihnen anbieten: Sie können das Buch von vorne nach hinten, so wie wir es konzipiert haben, durcharbeiten. Sie können jedoch auch zunächst im zweiten Teil des Buchs einmal schnuppern und lesen und dabei – so unsere Idee – entdecken „Ja, das wäre vielleicht auch für mich eine Denk- und Handlungsmöglichkeit“, um dann nach dem Handwerkszeug im ersten Teil zu schauen.

Insgesamt machen wir Ihnen unterschiedliche Textangebote. So finden sich auch immer wieder uns wichtige kurze literarische, poetische oder wissenschaftliche Texte, denen Sie nach-denken oder die Sie auch in Ihrem Unterricht einsetzen können, um einfach einmal auszuprobieren, wie Ihre Schülerinnen und Schüler auf entsprechende Angebote reagieren.

Dass wir dieses Buch so schreiben konnten, verdanken wir vielen Menschen: Wir danken Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Lehrerinnen und Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern, Pastoralreferentinnen und -referenten, mit denen wir in Fortbildungen arbeiten konnten und die immer wieder unser eigenes Lernen und Üben angestoßen haben, die uns mit ihren Fragen verunsichert und neu haben nachdenken lassen und die sich anstecken ließen von unserer Hoffnung: Schule kann neu und schön werden – „trotz alledem“.

Wir danken denen, die uns immer wieder ermutigten und kritisierten: Kolleginnen und Kollegen in Schule, Universität und vielen anderen Lebens- und Arbeitskontexten.

Wir danken Frau Sabine Flegel-Teiwes, wissenschaftliche Hilfskraft am Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der TU Braunschweig, für ihre ebenso einfühlsame, kritische und immer wieder zum neuen Durchdenken anregende Durchsicht des Manuskripts. Ohne sie hätte dieses Buch nicht seine jetzige Form gefunden.

Und wir danken schließlich der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, die durch eine großzügige Förderung die Arbeit an diesem Buch mit ermöglicht hat.

Wir wünschen Ihnen Freude und Ermutigung bei der Lektüre, beim Üben und den sich vielleicht daran anschließenden praktischen Erfahrungen. Das Buch ist ein Versuch, Gewaltfreie Kommunikation im Zusammenhang unserer Erfahrungen an deutschen Schulen darzustellen, von unserer Praxis zu erzählen und sie zu reflektieren. Wenn Sie uns für Zustimmung und Kritik oder Anfragen und Fortbildungswünsche erreichen möchten, können Sie dies gerne über den Weg einer E-Mail tun: [email protected].

Hilde Fritz Gottfried Orth

Gießen und Braunschweig / I-Pezzo im Herbst 2012

1. Einleitung: „Sieh die Schönheit in mir ...“

Es begann an einem Montag im Jahr 2008 mit einem Telefongespräch: Wir1 überarbeiteten zu der Zeit in der Schlussredaktion unser letztes Buch über ethisches Lernen und Lehren in der Schule2. HF rief GO an und erzählte begeistert von einem zwölfstündigen DVD-Marathon am Wochenende: M. Rosenberg, Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation3. Das Telefonat schloss mit dem Hinweis: „Wir müssen das ganze Buch umschreiben ...“ GO ließ sich von der Begeisterung – zunächst erschrocken über die Ankündigung, das Buch umschreiben zu sollen – anstecken, besorgte sich die DVD und sah sie auch fast ‚am Stück‘. Und wir wurden uns dann doch schnell einig, dass vieles von dem, was bei Rosenberg zu lernen war, in anderer Form und mit anderer Begrifflichkeit ganz selbstverständlich in unserem Buch bereits da war. Ja, was wir da bei Rosenberg gesehen und gehört hatten, könnte Schule verändern! Was uns aus vielen unterschiedlichen Zusammenhängen als Praxis und Vision wichtig war, hatte nun einen neuen Namen bekommen: Gewaltfreie Kommunikation.

So war das, was wir da kennenlernten, neu und zugleich eigentümlich vertraut, und es traf auf unterschiedliche Resonanzen: Für HF war es Bestätigung dessen, was sie in der Schule bereits umzusetzen versuchte. Und es war Inspiration, mit neuen Denkmöglichkeiten und einem ungewohnten Vokabular kritisch zu reflektieren, wie sie in der Schule lebte und unterrichtete. Gleichzeitig rückte für sie mit diesem ‚neuen‘ Ansatz die Wahrnehmung und Reflexion eigener Gefühle, eigener Bedürfnisse, eigenen Handelns als Lehrerin neu in den Mittelpunkt: Was denke ich? Wie fühle ich mich in dieser Situation? Was brauche ich für mich? Was ist mir wichtig? Für GO war es eine lange gesuchte und immer wieder versuchte Möglichkeit umzusetzen, wie die neutestamentlichen Weisheiten „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ praktisch gelebt werden können. Auch er empfand es zugleich als Bestätigung und Herausforderung zu kritischer Selbst- und Praxisreflexion. Und was uns beide faszinierte, war der Zusammenhang von Haltung und Methode, von Schönheit und ethischem Anspruch, von alltäglichen Lebensmöglichkeiten und darin intendierter schulischer und gesellschaftlicher Veränderung. Ja, so könnte es gehen! So könnte Gewalt4 unterbrochen werden.

„Die franziskanische Tradition hat eine Ur-Geschichte solcher Gewaltunterbrechung festgehalten. Bei Gubbio in Umbrien lebte ein gewaltiger Wolf, der Tiere und Menschen verschlang. Aus Angst vor ihm trauten sich die Bewohner nicht mehr aus der Stadt. Franz von Assisi ging dem Wolf entgegen, seine Gefährten blieben aus Angst zurück. Der Wolf stürzte zähnefletschend auf ihn zu. Der Heilige sprach ihn als ‚Bruder Wolf‘ an und machte das Zeichen des Kreuzes über ihm. Der Wolf sperrte seinen schon geöffneten Rachen zu und ließ sich zu Füßen des kleinen unbewaffneten Mannes nieder. Franz sagte zu ihm: ‚Du bist jedermanns Feind. Ich aber möchte, Wolf, mein Bruder, dass Friede sei zwischen ihnen und dir.‘ Er schließt dann eine Art Bund, in dem die Einwohner sich verpflichten, den Wolf zu füttern, damit er niemals mehr Hunger leiden muss, und der Wolf ihm, Pfote in Hand, verspricht, niemandem, weder Mensch noch Tier, mehr Schaden zuzufügen. Dieser Vertrag wird öffentlich besiegelt, der Wolf lebt noch zwei Jahre, von den Bürgern geachtet und von den Kindern geliebt. Ich erzähle die Geschichte nicht wegen des Wunders, sondern um den Begriff Unterbrechung der Gewalt zu klären. Er trägt zwei Elementen Rechnung, dem Realismus und der Hoffnungsfähigkeit. Er verleugnet die Realität der Kreisläufe nicht. ‚Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend immer Böses muss gebären‘, heißt es bei Schiller im Wallenstein. Das Ziel des anderen Umgangs mit der Gewalt ist es nicht, eine konfliktfreie Welt zu schaffen und möglichst alle Wölfe auszurotten. Doch es gibt auch die Unterbrechung ihrer Zwangsläufigkeit, die Überraschung und die Möglichkeit, der alles beherrschenden Gewalt ein ‚Nein‘ entgegenzusetzen, das ihren absolut erscheinenden Zwang unterbricht.“5

Seit 2008 nun lernen wir Gewaltfreie Kommunikation und geben sie weiter in Workshops und Fortbildungen. Und wir merken dabei, wie dominant auch alte erlernte Verhaltensmuster sind, und zugleich begeistert es uns, kritische, zweifelnde und immer wieder auch mühsame Lerner Gewaltfreier Kommunikation zu bleiben. Die Theorie erscheint einfacher als die Praxis. GO wird Dekan und nimmt sich vor, sein Dekanat mit den Möglichkeiten Gewaltfreier Kommunikation zu gestalten. Es sind viele beglückende Erfahrungen, die dadurch möglich werden. Als er nach dem Dekanat wieder ‚normales‘ Fakultätsratsmitglied ist, wird es anstrengender, diese Haltung fortzuführen. Inhaltliche Auseinandersetzungen und Mehrheitsentscheidungen, um die gerungen werden muss, machen Gewaltfreiheit und Wertschätzung schwieriger als in der unabhängigeren ‚Machtposition‘ ohne Stimmrecht im Fakultätsrat. HF kommt in der Schule immer wieder an ihre Grenzen im Umgang mit Schülerinnen und Schülern, ebenso wie in der Zwischenstellung zwischen bürokratischen Verordnungen und Nähe zu den Schülerinnen und Schülern, und entdeckt für sich Selbst-Empathie als wesentliche Hilfe: „GFK hilft doch! Zumindest im Denken.“

Wir fanden in unseren Familien, wie wichtig in der Kommunikation insbesondere mit den erwachsenen und erwachsen werdenden Kindern die Wahrnehmung und Achtung ihrer Bedürfnisse sind und wie selbstverständlich wir z. B. deren Bedürfnis nach Autonomie oftmals gering schätzten. So hingen nun bei HF Bedürfnis- und Gefühlslisten über dem Schreibtisch und ermöglichten oft ein spielerisches Lernen: „Mama, Autonomie ...!“ kommt mit einem Augenzwinkern vom Sohn, und ein Konflikt hat sich allein dadurch verändert. GO, vielleicht nicht untypisch für einen Mann, entdeckt die Vielfalt und Differenziertheit von Gefühlen, ihrer Wahrnehmung und ihres Ausdrucks – und die Gefühlslisten werden zeitweilig zu einem ständigen Begleiter. Dann die zentrale Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Strategien: Wie oft streiten wir um Strategien und verrennen uns darin. Ein typisches Beispiel: „Ich möchte heute Abend gerne mit dir ausgehen.“ – „Och nee, schau doch lieber mit mir das Fußballspiel im Fernsehen an, das ich so gerne heute Abend sehen will.“ Und schon beginnt ein Streit in dieser Paarbeziehung: Fernsehfußball oder Ausgehen. Das dahinter stehende Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Nähe kommt dabei gar nicht zur Sprache ... So geht es um Fußball oder Ausgehen und gar nicht mehr um das, was sich dahinter verbirgt und beiden wichtig ist.

An unserem Lernen und Üben möchten wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, anhand von Beispielen aus dem alltäglichen Leben in der Schule gerne teilhaben lassen. Wir möchten Sie vertraut machen mit den fünf Grundannahmen Gewaltfreier Kommunikation:

„Alle Menschen möchten ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen.

Wir leben in anregenden und wohltuenden Beziehungen, wenn wir diese Bedürfnisse durch Zusammenarbeit statt durch aggressives Verhalten erfüllen.

Jeder Mensch hat bemerkenswerte Ressourcen und Potenziale, die uns erfahrbar werden, wenn wir durch Einfühlung mit ihnen in Kontakt kommen.

Jedes Verhalten ist der mehr oder weniger gelungene Versuch, ein Bedürfnis zu erfüllen.

Jedes Bedürfnis dient dem Leben, insofern gibt es keine negativen Bedürfnisse!“

6

Im Zentrum Gewaltfreier Kommunikation steht also die Wahrnehmung dessen, was ich selbst und andere Menschen zum Leben brauchen. Verbindung zu mir selbst und anderen, so die bereichernde Erfahrung Gewaltfreier Kommunikation, wird möglich, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ebenso wahr- und wichtig nehme wie die meiner Mitmenschen. Bedürfnisse zeigen die Schönheit der Menschen.

See me beautiful Look for the best in me It’s what I really am And all I want to be It may take some time It may be hard to find But see me beautiful

See me beautiful Each and every day Could you take a chance Could you find a way To see me shining through In everything I do And see me beautiful

(Kathy und Red Grammer, „See Me Beautiful“)7

Doch wie spüren wir eigentlich, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht? Das zeigen uns unsere Gefühle. Sie sind so etwas wie der Wegweiser zu unseren Bedürfnissen. Deshalb ist es so wichtig, sie differenziert zu spüren und ausdrücken zu können. Es gibt eben mehr als „gut“ oder „schlecht“, mehr als „geil“, „scheiße“, „cool“ oder „geht so“.

Um unseren Gefühlen und Bedürfnissen auf die Spur zu kommen, hat M. Rosenberg das Modell der vier Schritte entwickelt. Er versteht diese Schritte als Hilfe, eine Haltung Gewaltfreier Kommunikation einzuüben, und sie sind für uns zu einem wichtigen Instrument der Selbstreflexion unseres Denkens und Handelns geworden.

Weitere Informationen über Marshall Rosenberg bzw. das Center for Nonviolent Communication im Internet unter http://www.CNVC.org.

Die vier Schritte bedeuten ganz selbstverständlich zunächst eine Entschleunigung der Situation und unserer Reaktionen. Allein dies erscheint uns als ein großer Vorteil: Wir können den Zwischenraum zwischen Reiz und Reaktion vergrößern und damit Freiheitsspielräume entdecken, anders zu reagieren, als wir konditioniert sind und es gewöhnlich tun. Marshall B. Rosenberg hat sie im Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren nicht zuletzt aufgrund eigener Gewalterfahrungen wie eigener Gewaltanwendung in seinem Heimatstadtteil in Detroit entwickelt. Rosenberg praktiziert sie und entwickelt sie weiter als Hilfe in sowohl alltagssprachlichen Zusammenhängen als auch bei persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Konflikten.

„Jedem Menschen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen, ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können. Wenn ich mich dafür entscheide, in jedem Menschen seine Schönheit zu sehen, dann behandle ich auch mich selbst mit Liebe. Das habe ich mir nicht ausgedacht, alle Religionen sagen das auf ihre Weise: ‚Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet‘, ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘.“8

Bei seinen Workshops benutzt M. Rosenberg zwei Handpuppen: den Wolf und die Giraffe. Das haben wir in unseren Fortbildungen übernommen, und so begegnen Ihnen in unseren und anderen Texten zur Gewaltfreien Kommunikation auch diese beiden symbolisch gebrauchten Tiere: Wolf und Giraffe oder auch „wölfisch“ und „giraffisch“.

Wenn wir Schülerinnen und Schüler fragen, wofür die Giraffe steht, so antworten sie oft: „Ja, das ist das Tier, das von oben guckt.“ Das empfinden wir als eine auch zutreffende Kennzeichnung. „Giraffen“ haben viel Überblick. Zudem ist die Giraffe das Landtier mit dem größten Herzen. Und da Gewaltfreie Kommunikation sich selbst als eine Sprache des Herzens versteht, hat Rosenberg dafür die Giraffe gewählt. Der Wolf steht – und damit tun wir ihm sicherlich auch Unrecht, denn es ist hier eher der Wolf der Märchen gemeint – für Aggressivität und Gewalt, für Fressen und Gefressenwerden. So hat Gewaltfreie Kommunikation als Puppenspiel auch etwas Spielerisches und Leichtes.

Und Wolf und Giraffe haben auch ganz unterschiedliche Ohren: Ja, sie hören ganz verschieden. Und auf das Hören kommt es in Gewaltfreier Kommunikation genauso an wie auf das Sprechen:

Wenn M. Rosenberg in seinen Workshops die Wolfs- oder Giraffenohren aufsetzt, dann kann er damit vier Arten verdeutlichen, wie Menschen hören können:

Die Wolfsohren kann er nach innen richten: Ich urteile (negativ oder positiv) über mich, z. B. „Das schaff ich nie, da bin ich viel zu faul dazu“ oder „Ich bin der Schönste“ ...

Die Wolfsohren kann er nach außen richten: Er urteilt über andere oder belegt sie mit Etiketten, z. B. „Der ist ja nur blöd“ oder „So ein Depp“ ...

Man kann aber auch die Giraffenohren aufziehen, und dann verändert sich das Hören radikal!

Die Giraffenohren kann Rosenberg nach innen richten, und er hört in sich hinein, was ihn bewegt: Er achtet auf seine Gefühle und seine Bedürfnisse.

Schließlich kann er die Giraffenohren nach außen richten und hören, was eine andere oder einen anderen bewegt: Er achtet auf ihre / seine Gefühle und ihre / seine Bedürfnisse.

Wenn wir Gewaltfreie Kommunikation als Haltung verstehen, dann sind die Ohren entscheidend, denn mit Giraffenohren kann ‚ich‘ hören, was ‚du‘ nicht sagst – und eine neue Verständigung kann möglich werden.9

Wenn wir in dieser Einleitung abschließend nun den Blick konkret auf die Frage lenken, warum wir es für wichtig erachten, dass Gewaltfreie Kommunikation in der Schule praktiziert wird, so sehen wir mindestens fünf Chancen:

Gewaltfreie Kommunikation erleben wir als eine Umgangsform, die auf wechselseitiger Achtung und gegenseitiger Wertschätzung beruht. Sie kann so dazu beitragen, im Miteinander Selbstverantwortung für jeweils den eigenen Beitrag im Schulleben anzuregen.

Gewaltfreie Kommunikation hilft uns dabei, in Konflikten die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu formulieren. So können wir Schuldzuweisungen eher vermeiden, Diagnosen eher unterlassen, bei uns unangenehmem Verhalten von Schülerinnen und Schülern eher nachfragen. Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten und mit Heterogenität kann möglich werden.

Gewaltfreie Kommunikation kann dazu beitragen, einvernehmliche Vereinbarungen zu treffen, um die immer wieder neu gebeten werden kann. Dabei können wir mit Gewaltfreier Kommunikation üben, konstruktiv mit einem „Nein“ auf eine Bitte umzugehen.

Gewaltfreie Kommunikation hilft uns bei Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion.

Strukturell widerspricht nach unserer Erfahrung Schule Gewaltfreier Kommunikation. Wir erleben sie mit ihren vielen Zwängen als eine Institution struktureller Gewalt.

10

Und wir sind zugleich davon überzeugt, dass wir innerhalb der Schule Erfahrungsräume schaffen und bereitstellen können, um mit den Möglichkeiten Gewaltfreier Kommunikation zu experimentieren und Schule dahin zu öffnen, dass gelernt und erfahren werden kann, dass gewaltfreie und tragfähige Beziehungen zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern konstitutiv für das Lernen sind. Alle an Schule Beteiligten können erfahren: „Beziehung kann Wunder wirken“ und „Ohne Gefühl geht gar nichts“.

Wenn wir mit diesem ‚Chancenblick‘ Gewaltfreie Kommunikation innerhalb der Schule praktizieren, können wir von vier Erfahrungen berichten:

Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler sind für ein gelingendes Schulleben gleich wichtig. Selbstverantwortung kann geübt werden.

Schule kann (nicht immer, aber auch) Freude machen und leicht sein.

Schule kann für Lehrerinnen und Lehrer wie für Schülerinnen und Schüler viele (nicht alle) Bedürfnisse erfüllen.

Schule kann Kinder, Jugendliche und Erwachsene stärken – eine Stärke, die nicht zu wechselseitigen Verletzungen, sondern zu einem gewaltfreien Umgang miteinander führt.

Aufgrund dieser Erfahrungen und unseres eigenen Lernprozesses wagen wir eine prognostische Antwort auf eine Frage, die Sie sich vielleicht stellen: Was verändert sich eigentlich, wenn ich Gewaltfreie Kommunikation lerne? Unsere Antworten:

In jedem Fall: Sie selbst ...

In jedem Fall: Ihre Art und Intensität des Zuhörens ...

Wahrscheinlich: Ihre Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern ...

Wahrscheinlich: Der Schulalltag von Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern, weil sie weniger Angst voreinander haben und sogar in der Schule glücklich(er) werden können ...

Vielleicht: Schule wird leichter und schöner – und sie bleibt anstrengend, doch: wenn etwas leicht und schön ist, darf es für uns auch anstrengend sein ...

Vielleicht: Lernen und Lehren gelingen eher, weil Bedürfnisse wichtig genommen werden und Beziehungen wachsen und weil empathischer Umgang entspannt, Sicherheit schenkt im Verstandensein und Verstehenwollen – und so erst die notwendige Öffnung für lernende Veränderung schafft ...

Wir laden dazu ein, diese Prognosen für sich zu überprüfen. Wir haben an uns selbst wahrgenommen, dass zu den dafür notwendigen Veränderungsprozessen Ausdauer, Mut, Widerständigkeit und eine gehörige Portion Ehrlichkeit im Umgang mit sich selbst gehören. Dies wünschen wir Ihnen, wenn Sie sich nun auf dieses Buch einlassen. Und wir wünschen Ihnen beim Lesen und Üben die gleiche Freude, die wir beim Konzipieren und Schreiben hatten.

wenn du mir zuhörst (2003)

wenn du mir zuhörst

einfach nur zuhörst

dann verschwindet der Nebel in meinem Kopf

und du hilfst mir klarer zu sehen

und du hilfst mir zu verstehen

wenn du mir zuhörst

aufmerksam zuhörst

ist Zeit nicht gleich Zeit

ist das Eis fest genug

bin ich für den nächsten Schritt bereit

dann bin ich dir näher als tausend Worte

es jemals beschreiben könnten

dann geh ich mit dir an tausend Orte

von denen wir beide nichts ahnten

wenn du mir zuhörst

behutsam zuhörst

löst sich etwas in mir

und macht sich auf den Weg

bin ich näher an dem was in mir lebt

und dir bin ich näher als tausend Worte

es jemals verdeutlichen könnten

dann geh ich mit dir an tausend Orte

von denen wir beide nichts ahnten

ohne dass du sagst du hättest es längst gewusst

ohne so zu tun als wär’s ’ne Kleinigkeit

ohne zu vergleichen was dir schon passiert ist

ohne ungefragten Ratschlag und ohne Mitleid

wenn du mir zuhörst

(Pascal Gentner 2003)11

2. Bedürfnisse, Gefühle und Strategien – Das Zentrum Gewaltfreier Kommunikation

Seit zwei Wochen und trotz vieler Gespräche jeden Tag dasselbe: Yamal (13) kommt am Morgen in die Klasse, wirft seinen Rucksack auf den Boden und geht auf seinen neuen körper- und sehbehinderten Mitschüler Christian zu, macht „Scherze“ über ihn, lacht, fragt ihn z. B., ob er viele Freunde habe, ob er überhaupt rechnen könne, warum er keinen Vater habe, ob er überhaupt etwas sehen könne ... Mehrere Mitschüler lachen mit. Heute ist es anders. Yamal steht vor der Tür, wartet aufgebracht auf mich und sagt, Christian habe „ohne Grund“ gedroht, ihn mit dem Baseballschläger zu schlagen, dabei habe er nur einen Scherz gemacht ...

Und ich überlege jeden Tag aufs Neue: Warum macht Yamal das? Warum geht er ausgerechnet mit einem behinderten Mitschüler so um? Und: Was ärgert mich so daran?

Als Sie Lehrerin oder Lehrer werden wollten, hatten Sie vielleicht die Sehnsucht, mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, das, was Sie lieben und Ihnen wichtig ist, Deutsch oder Englisch oder Mathe oder Religion oder Kunst, an Kinder und Jugendliche weiterzugeben, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, einfach eine so gute Lehrerin oder ein so guter Lehrer werden zu wollen wie Ihre Lieblingslehrerin oder Ihr Lieblingslehrer während Ihrer eigenen Schullaufbahn. Sie wollten glücklich werden in Ihrem Beruf und sich dabei einige – viele? – Ihrer Bedürfnisse erfüllen. So laden wir Sie ein, mit den Stichworten „Bedürfnisse“ und „Gefühle“ zu beginnen: In Gewaltfreier Kommunikation geht es um eine Haltung, nicht um eine Technik. Diese Haltung hat ganz viel mit dem zu tun, wonach wir uns sehnen – in unserem Beruf wie in unseren privaten Lebenszusammenhängen. Wir beschreiben diese Haltung so: Ich möchte mich auf einen Kommunikationsprozess einlassen, dessen Ausgang offen und dessen Ziel Authentizität und Verständigung ist. Dabei geht es erst einmal nicht um die „Lösung“ von als schwierig empfundenen Situationen / Konflikten, sondern zunächst geht es um mich als Lehrerin oder Lehrer:

Wie kann ich auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso achten wie auf die Gefühle und Bedürfnisse der Kolleginnen oder Kollegen, der Schulsozialarbeiterinnen oder -arbeiter, der Schülerinnen und Schüler oder anderer Personen, die am Schulleben beteiligt sind?

Wie kann ich mithilfe von Gewaltfreier Kommunikation und den von ihr angeregten (Selbst-)Reflexionsprozessen (mit Selbst-Empathie und Empathie

12

) anders als bisher mit als schwierig empfundenen Situationen umgehen?

Oder mit Justine Mol: „Bei Gewaltfreiem Kommunizieren geht es nicht darum, zu gewinnen oder recht zu behalten, sondern darum, einander zuzuhören, Unterschiede zu akzeptieren und mit ihnen zu leben.“13 Da zu allen Situationen, in denen unsere Gefühle uns anzeigen, dass Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden, auch Handlungen – in der Gewaltfreien Kommunikation spricht man von „Strategien“ – gehören, bieten wir Ihnen eine erste Übung mit diesem Stichwort an:

  ÜBUNG

Bitte beschreiben Sie jetzt in jeweils drei Sätzen drei Situationen Ihrer Arbeit in der Schule, in denen Sie selbst vorkommen und die Ihnen schwerfallen, wo Sie Probleme sehen, sich unwohl fühlen ... Diese drei Herausforderungen sind das Material, mit dem Sie in diesem Kapitel immer wieder arbeiten werden.

Wir beginnen mit einer Beispielsituation aus einer unserer Fortbildungen mit Lehrerinnen und Lehrern:

Der Lehrer einer berufsbildenden Schule berichtet: „In meiner Schule kommuniziert der Schulleiter im Wesentlichen mit Aushängen oder E-Mails. Er möchte, dass die Lehrerinnen und Lehrer diesem Kommunikationsstil vertrauen und den Aushängen bzw. E-Mails Folge leisten. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind empört über diesen Kommunikationsstil.“

Situation 1:

Situation 2:

Situation 3:

2.1 Bedürfnisse

2.1.1 Was verstehen wir in Gewaltfreier Kommunikation unter Bedürfnissen? – Einige Hinweise

Alles, was wir denken, fühlen und tun, hat mit einem Bedürfnis zu tun. Unsere Handlungen dienen dazu, Bedürfnisse zu erfüllen.14

„Bedürfnisse“ meint hier „universelle Lebensmotive“15: Alle Menschen in allen Kulturen haben dieselben grundlegenden Bedürfnisse, um ein erfülltes Leben zu führen. Bedürfnisse sind nicht an eine Zeit, einen Raum, einen Ort oder eine Person gebunden. Wie wichtig einem Menschen das eine oder andere Bedürfnis gerade ist, hängt von der momentanen individuellen Situation ab.

Bedürfnisse in diesem Sinne sind immer angemessen, immer berechtigt und immer positiv formuliert, weil sie unser Überleben und Wohlergehen sichern.16

Von Bedürfnissen unterscheiden wir Strategien. Das verwechseln wir oft. Ein Beispiel: Ein Hochschullehrer sagt zu seinen Studentinnen und Studenten: „Es ist mir ein großes Bedürfnis, dass Sie pünktlich um 9 Uhr im Seminar sind.“ Doch dies ist kein Bedürfnis, sondern die Bitte / Aufforderung zur Pünktlichkeit ist eine Strategie, um ein bestimmtes Bedürfnis des Hochschullehrers zu erfüllen. Welche Bedürfnisse könnten hinter „9 Uhr pünktlich im Seminar“ stecken? Es könnten sein: Klarheit, Planbarkeit, Verlässlichkeit, Teamgeist, Wertschätzung ...

Ein zweites Beispiel: Um mir das Bedürfnis nach Erholung zu erfüllen, kann ich unterschiedliche Strategien wählen: klassische Musik hören, um den See laufen, mich mit Freunden treffen, shoppen gehen, im Internet chatten, eine Techno-Disco besuchen, im Garten arbeiten, das Auto waschen, einen Krimi lesen, schlafen ...

M. Max-Neef, lateinamerikanischer Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, hat – hier vereinfacht – aufgrund empirischer Forschung und reflexiver Theoriebildung neun solcher Grundbedürfnisse der Menschen formuliert:

Bedürfnisse des physischen Lebens (Wasser, Essen, Luft usw.)

Sicherheit / Schutz

Verständnis / Empathie

Liebe

Erholung / Spiel

Kreativität

Geborgenheit / Gemeinschaft

Autonomie / Selbstbestimmung

Sinn / Inhalt

Diese Grundbedürfnisse, so Max-Neef, sind unabhängig von den kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer Menschen leben, und daher konstitutiv für alle Menschen.17

Eine Liste von Bedürfnissen, die wir immer wieder in der Schule benutzen, ist die folgende, die die Bedürfnisse in einer Sprache formuliert, die auch Kinder verstehen.

Bedürfnisse ...18

Brauchst du ...? Möchtest du ...?

Erholung

... freie Zeit, Zeit, in der dir keiner sagt, was du tun sollst, ...

Kreativität

... deine Kraft spüren, entdecken, was du schaffen kannst, etwas Neues machen, das zu dir passt, ...

Identität

... herausfinden, was du wirklich willst, verschiedene Sachen ausprobieren und sie wieder lassen können, wenn es dir damit nicht gut geht, ...

Freiheit

... selbst entscheiden, was für dich gut ist, ...

Autonomie

... selbst entscheiden, was du tust, selbst aussuchen, was du magst, wählen können, wie du etwas machst, ...

Authentizität

... sagen, was wirklich in dir los ist, tun, wonach dir wirklich ist, so sein können, wie du bist, ...

Sicherheit

... sehen können, dass es dir bei einer Sache gut gehen wird, ...

Kooperation

... dass alle miteinander etwas tun, wir zusammen helfen, wir ein Team sind, ...

Effektivität / (Selbst-)Wirksamkeit

... es schaffen können, dass sich Dinge ändern ... etwas erledigen / beenden, was du dir vorgenommen hast, ...

Gemeinschaft

... Freunde, dass jemand bei dir ist, dass jemand zu dir hält, ...

Frieden

... still sein, Ruhe haben, ...

Gleichbehandlung

... dass für alle dasselbe gilt, alle gleich viel bekommen, es gerecht zugeht ...

Zuneigung

... spüren, dass jemand nahe ist, sehen, dass jemand dich mag ...

Mitgefühl

... dass andere bemerken, was mit dir los ist, wie besonders es für dich ist, wie hart / schwer es für dich ist, ...

Einbezogensein

... dabei sein bei dem, was passiert, mitmachen, ...

Feiern

... zeigen, wie glücklich du dich fühlst, ...

Trauern

... zeigen, wie traurig du bist, ...

Anregung

... Spaß haben, etwas Neues tun, ...

Sinn

... etwas erfahren, fühlen, denken oder tun, das wirklich wichtig ist, ...

Kompetenz

... wirklich sicher sein, dass du es tun kannst, zeigen, dass du es schaffen wirst, ...

Wertschätzung

... dass andere bemerken, wie wichtig das ist, was du tust, wie wertvoll du für sie bist, ...

Ehrlichkeit

... dich darauf verlassen können, dass was einer sagt, auch stimmt, ...

etwas beitragen

... helfen können, teilen, ...

Gegenseitigkeit, Einvernehmen

... Menschen kennen, die dieselben Ideen haben, Freunde haben, die dasselbe wichtig finden, ...

Ordnung/Struktur

... deine Sachen gleich finden können, den Durchblick haben, was gerade passiert, ...

Beständigkeit

... darauf zählen können, dass es beim nächsten Mal wieder so ist, ...

Respekt

... dich darauf verlassen können, dass du akzeptiert und geachtet bist, ...

Rücksichtnahme

... dass deine Bedürfnisse und die der anderen zählen, dass Menschen bekommen, was sie brauchen, sicher sein, dass für alle gut gesorgt ist, ...

Unterstützung

... Hilfe, jemanden, der dich unterstützt, ...

Verbindung

... spüren können, dass du dazugehörst, ...

2.1.2 Übungen zu den Bedürfnissen

Nun geht es darum, Ihre wichtigsten Bedürfnisse im schulischen Kontext herauszufinden. Wir haben dazu eine Idee von Gerlinde Fritsch19 genutzt und daraus folgende Aufgabe notiert (Sie können zur Bearbeitung gerne die Bedürfnisliste benutzen):

  ÜBUNG

Meine persönliche Bedürfnis-Hitliste

Vervollständigen Sie bitte die folgenden beiden Sätze:

Ich möchte ein Leben in der Schule, in dem

stattfindet.

Welche Bedürfnisse wären dann erfüllt?

In welcher Situation waren Sie in letzter Zeit in der Schule sehr unglücklich oder frustriert?

Welche Bedürfnisse waren dabei unerfüllt?

Sie können sich jetzt alle gefundenen Bedürfnisse auf ein Blatt schreiben und über Ihren Schreibtisch hängen. Im Moment sind das vermutlich Ihre wichtigsten Bedürfnisse in der Schule. Sie können Sie ja jederzeit ergänzen ...

  ÜBUNG

Nehmen Sie sich bitte nun die Situationen Ihrer Arbeit in der Schule, die Ihnen schwerfallen, wo Sie Probleme sehen, sich unwohl fühlen, zur Hand und fragen nach den Bedürfnissen, die sich die unterschiedlichen in der Situation agierenden Menschen erfüllen oder die unerfüllt bleiben.

Wir schildern Ihnen zunächst wiederum ein Beispiel, diesmal aus unserer Fortbildungspraxis mit Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern: „Kommunikation zwischen Tür und Angel – diffuse Arbeitsaufträge über Appelle“.

Der Schulsozialarbeiter erzählt: Ich gehe im öffentlichen Raum der Schule die Treppe hinauf, und mir kommt von oben ein Lehrer entgegen und ruft mir zu: „Peter aus der 5b ist schon wieder seit drei Tagen nicht in der Schule“ und eilt weiter. Ich bin ziemlich verärgert.

Hier haben wir zunächst nach den nicht erfüllten Bedürfnissen des Schulsozialarbeiters gefragt:

RespektWertschätzungKooperationGleichbehandlung / Gleichwertigkeit / AugenhöheKlarheitStruktur / EffizienzLoyalitätVertraulichkeit

Sodann haben wir nach den Bedürfnissen des Lehrers gefragt, die er sich mit seinem Verhalten erfüllen könnte. Könnten es

EntlastungSicherheitUnterstützungSorgeVerbundenheitGleichberechtigungRespekt

sein?

Dieser Blickwechsel war eine ganz spannende Erfahrung. Der Schulsozialarbeiter verstand seinen vormals eher diffusen Ärger differenzierter und erkannte die für ihn selbst wichtigen, noch unerfüllten Bedürfnisse. Danach konnte er den Lehrer anders sehen und verstehen. Vielleicht wollte er mich ja gar nicht ärgern, sondern hat in dem Moment das für ihn Beste getan, um seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen?! Verständnis heißt nicht Einverständnis, und doch: es ist ein großer Schritt zu möglicher Nähe und Beziehung.

Und jetzt versuchen Sie dies mit den drei von Ihnen notierten Situationen. Welche Bedürfnisse von Ihnen wurden nicht erfüllt a)? Vermuten Sie bitte anschließend, welche Bedürfnisse der anderen erfüllt b) oder nicht erfüllt c) wurden.

Situation 1:

a)

b)

c)

Situation 2:

a)

b)

c)

Situation 3:

a)

b)

c)

Was verändert sich für Sie, wenn Sie die Situationen in der vorgeschlagenen Weise betrachten?

Für uns verändert sich dabei Entscheidendes: Wenn wir nach den Bedürfnissen der Beteiligten fragen, fällt die Frage nach dem Schuldigen weg.20

Namiko, eine Japanerin, Lebensgefährtin eines Deutschen in Japan, sagt: „Weil es eine merkwürdige Sache ist, einen Schuldigen zu suchen. Ich glaub’ auch, dass einen diese Sucherei so sehr in Anspruch nehmen kann, dass man den Kopf nicht mehr frei hat, um das Problem zu lösen. Was glaubst du, wie viele Beziehungen scheitern, weil beide so sehr damit beschäftigt sind, für ihre Probleme den Schuldigen unter sich auszumachen, dass sie ganz vergessen, die Probleme einfach zu lösen? Was ist damit gewonnen? Eine Menge Distanz, und deshalb eine Menge Schreierei, weil man den Abstand ja irgendwie überbrücken muss.“21

Auf der Ebene der Bedürfnisse, die bei allen Menschen gleich sind, können wir uns mit allen an den Situationen Beteiligten verbinden, auch wenn wir deren Strategien möglicherweise ablehnen.

2.1.3 Wie finde ich Bedürfnisse heraus?

Manches Mal ist es gar nicht so einfach, Bedürfnisse hinter unerwünschtem Verhalten oder hinter Vorwürfen herauszufinden. Gerlinde Fritsch22 hat dafür drei hilfreiche Ideen entwickelt:

A. Sie verurteilen ein konkretes Verhalten.

Beispiel: