Gift à la carte - Emma Lagies Whitman - E-Book
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Emma Lagies Whitman

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Beschreibung

Giftige Gaumenfreuden in Berlin

Das Boutique-Hotel Peterhof: eine kulinarische Top-Adresse am Potsdamer Platz. Berliner Politprominenz geht hier ein und aus, die Speisekarte ist legendär, die Gästeliste auch. Umso brisanter, dass die Fernsehschauspielerin Jana Matzow ausgerechnet hier an ihrem Tisch zusammenbricht, nachdem sie Eier royale bestellt hat, eine der Spezialitäten des Hauses. Charlotte Trinkwasser, eine pragmatische Ex-Managerin zu Besuch in der Hauptstadt, wird am Nebentisch zufällig Zeugin des unappetitlichen Vorfalls - und tritt in Aktion. Bald ist klar, dass die Schauspielerin keineswegs Opfer eines Küchen-Malheurs wurde. Aber wem galt der kulinarische Anschlag? Mit viel Witz, Charme und Hartnäckigkeit schaut Charlotte Trinkwasser hinter die Kulissen des Hotels und entdeckt, dass nicht nur die Atmosphäre im Peterhof vergiftet ist ...

Ein Roman für Krimifans, Gourmets und Globetrotter: Miss Marple ist wieder da - charmanter, durchtriebener, gewitzter denn je!

Dieser Krimi ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel »Eier royale: Die Trinkwasser Hospitality GmbH« erschienen.



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Seitenzahl: 449

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Über dieses Buch

Giftige Gaumenfreuden in Berlin

Das Boutique-Hotel Peterhof: eine kulinarische Top-Adresse am Potsdamer Platz. Berliner Politprominenz geht hier ein und aus, die Speisekarte ist legendär, die Gästeliste auch. Umso brisanter, dass die Fernsehschauspielerin Jana Matzow ausgerechnet hier an ihrem Tisch zusammenbricht, nachdem sie Eier royale bestellt hat, eine der Spezialitäten des Hauses. Charlotte Trinkwasser, eine pragmatische Ex-Managerin zu Besuch in der Hauptstadt, wird am Nebentisch zufällig Zeugin des unappetitlichen Vorfalls – und tritt in Aktion. Bald ist klar, dass die Schauspielerin keineswegs Opfer eines Küchen-Malheurs wurde. Aber wem galt der kulinarische Anschlag? Mit viel Witz, Charme und Hartnäckigkeit schaut Charlotte Trinkwasser hinter die Kulissen des Hotels und entdeckt, dass nicht nur die Atmosphäre im Peterhof vergiftet ist …

Ein Roman für Krimifans, Gourmets und Globetrotter: Miss Marple ist wieder da – charmanter, durchtriebener, gewitzter denn je!

Über die Autorin

Emma Lagies Whitman, Jahrgang 1981, studierte in München, im schottischen Edinburgh und an der amerikanischen Cornell University in Ithaca Psychologie und Anglistik, Spezialgebiet: englischsprachige Kriminalromane des 20. Jahrhunderts. Zu ihren literarischen Favoriten zählen Agatha Christie, P. D. James, Alexander McCall Smith und Patrick O’Brian.

Im Hauptberuf arbeitet die gebürtige Westfälin heute als Projektmanagerin einer deutschen Drogeriekette in Karlsruhe. Im Nebenberuf, ihrer eigentlichen Leidenschaft, bereist Lagies Whitman als Reisejournalistin die Welt. Am wohlsten fühlt sie sich in tropischen Ländern – und in Kapstadt.

Lagies Whitman ist mit einem Briten verheiratet und Mutter von zwei Söhnen.

Emma LagiesWhitman

Gift à la carte

Ein köstlicher Fallfür Charlotte Trinkwasser

beTHRILLED

Digitale Lizenzausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright der Originalausgabe:

© 2016 by Emma Lagies Whitman, Piper Verlag GmbH / Fahrenheit, München

Titel der Originalausgabe: Eier royale: Die Trinkwasser Hospitality GmbH

Copyright dieser Ausgabe:

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anke Hennek

Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias

Covergestaltung: Chrissie Salz unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: AKaiser | spline_x | Estudi Vaque | Vectomartz und © iStockphoto: Epitavi | Okea | KarlHoglund

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5404-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Der Gast ist der natürliche Feind des Kochs.

Kapitel 1

Eine schwierige Farbe – Gelb, denkt Charlotte Trinkwasser.

Wespen, Feuersalamander und Erdnattern gehen ihr durch den Kopf, Zitronen, Lebensgefahrschilder an Hochspannungskästen. Ihre Freundin Doris, stilistisch eigenwillig, trägt in der warmen Jahreszeit manchmal Sachen in dieser schreienden, unvorteilhaften Farbe, die einen ungesund aussehen lässt, wenn man keinen südlichen Teint hat. Was für eine absurde Inneneinrichtung … – soll das die Laune der Gäste heben? Was sie anbelangt, geht das schief. Sie weiß nicht, wo sie hinsehen soll bei all dem Gelb, und hat ein Gefühl, als würde es sie an Armen und Beinen jucken.

Charlotte sitzt an ihrem ersten Abend in Berlin – es ist noch vor acht – im Restaurant Newa des Peterhofs, eines Boutiquehotels in einer Nebenstraße des Potsdamer Platzes. Sie hat vor dem Essen ein Glas Ruinart in der Lobby bestellt und fühlt sich nach den Anstrengungen der Anreise aus München und des Auspackens und Einrichtens ihres Zimmers im achten Stock matt, zugleich aber erleichtert und entspannt, fast in Urlaubsstimmung – wäre das irritierende Gelb nicht. Sie überlegt mit der aufgeschlagenen Speisekarte in der Hand, wie zugkräftig es wohl ist, ein Lokal wie das Newa, ihres Wissens (das sich aus einem oberflächlichen, reichlich bebilderten Reiseführer speist) von Feinschmeckern und Politikern frequentiert, komplett in der Farbe blühender Narzissen zu dekorieren. Der Lack der Wände cadmiumgelb, Bestuhlung und Tischdecken, Platzteller, die ledernen Umschläge der Speisekarten, lüsterartige Deckenlampen aus ineinander verschobenen Kunststoffovalen, Siebzigerjahre-Retro. Servietten, kuriose Keramikschälchen für Salz und Pfeffer, die unfertig aussehen, wie im Kindergarten gebastelt. Schließlich die Blumen: je Vase eine gelbe Nelke. Es macht einen … unruhig. Doch. Nervös. Schlafen könnte sie in so einer Umgebung nicht. Dennoch spürt sie – ihre letzte Mahlzeit, ein belegtes Brötchen mit Brie, getrockneten Tomaten und zwei traurigen Salatblättern am Flughafen München liegt fast acht Stunden zurück – Appetit, Hunger geradezu. Immerhin spielen sie angenehme Musik, Saint-Saëns, das Aquarium aus dem Karneval der Tiere, ein hübsches lautmalerisches Stück, dessen feine Glasharmonikaklänge sie an das Perlen von Sekt erinnern.

» … dann haben wir heute Heilbutt«, sagt die Kellnerin, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, die sich als Vanessa vorgestellt hat. »Aus Neufundland.«

Charlotte gibt ihre Überlegungen zu den Vor- und Nachteilen einer monochromen Welt auf und konzentriert sich auf das bevorstehende Abendessen. »Das ist vielleicht das Richtige für mich«, sagt sie und schaut auf. »Ich esse viel Fisch. Was stellen Sie mit Ihrem Heilbutt an?«

»Die Küche dünstet ihn und serviert den Butt mit Stampf von Süßkartoffeln und Petersilienwurzeln. Dazu reichen wir Hollandaise und Lachskaviar. Vom Wildlachs aus Norwegen.«

»Das klingt verführerisch, Stampf ist immer gut. Hmm.« Charlottes Augen überfliegen ein weiteres Mal die Speisekarte. »Ach, wissen Sie was, Vanessa – ich mache es anders. Ich nehme Ihre Seezunge. Die hat vielleicht etwas Eleganteres als so ein oller Butt.«

Vanessa setzt ihr verständnisvolles Gästelächeln auf. Whatever.

»Lassen Sie uns Folgendes machen: Seien Sie so gut, und bringen Sie mir als Vorspeise diesen gebratenen Zwei-Minuten-Thunfisch, den Sie so leidenschaftlich angepriesen haben, mit Gänseleber und … wie ging das weiter? Sie haben es eben appetitlicher gesagt, als ich es kann.«

»›Thunfischrouleau‹. So hat unser Küchenchef die Kreation getauft. Thunfischrouleau in einer Kruste aus Himalajasalz und angeröstetem Borneo-pfeffer, mit Gänseleber und Cassisschaum.«

»Es zergeht einem beim Zuhören auf der Zunge. Nicht irgendein Salz aus dem Salzstock im Harz, nein – aus dem Himalaja muss es kommen und der Pfeffer aus der Südsee. Also wirklich. In was für Zeiten leben wir? Ist Salz nicht gleich Salz? – Huch, was steht hier, was kostet das? 34 Euro für Ihr Röllchen, kann das sein? Für eine Vorspeise?«

Vanessa streicht sich eine Strähne aus der Stirn, deutet Charlottes Bemerkung als Scherz und überprüft lächelnd mit einem Bleistift in der Hand ihre Notizen. »Die Gänseleber«, sagt sie schließlich. »Es ist keine gestopfte – so etwas bieten wir nicht mehr an, obwohl es sie immer noch gibt, aus Frankreich und Ungarn –, aber Gänseleber … eben köstlich und kostspielig. Und Gelbflossenthun ist natürlich eine Spezialität.«

»Dann wird es sicher sehr gut schmecken.«

»Sehr«, sagt Vanessa mit einem Zögern; Charlotte ahnt, das Vanessa das Gericht noch nicht selbst gekostet hat. »Anschließend dann die Seezunge, karamelisiertes Artischockencoulis und das Gratin à la Russe. Ich werde Ihnen den Fisch am Tisch auslösen, ist das recht?«

»Fabelhaft.«

»Haben Sie schon einen Blick in unsere Weinkarte geworfen?«

»Habe ich, und ich habe gesehen, dass Sie Cloudy Bay führen. Mein liebster Weißwein, der muss es heute sein. Ein wunderbarer Wein meiner Meinung nach.«

»Absolut. Er wird bei uns oft bestellt. Die Gäste aus Asien trinken fast keinen anderen Weißen, die Chinesen und Japaner. Und erst die Russen! Cloudy Bay muss dort Kult sein. Ein Glas oder eine ganze Flasche?«

79 Euro, was soll’s, an einem Tag wie diesem. »Wenn sie gut gekühlt ist, auch eine Flasche. Ich werde heute wahrscheinlich nur ein oder zwei Gläser trinken, aber Sie können den Rest sicher für mich in Verwahrung nehmen? Morgen Mittag oder morgen Abend wird ein Sauvignon blanc noch halbwegs frisch und trinkbar sein. Ich bleibe Ihnen ja ein paar Tage erhalten.«

»Selbstverständlich. Wir haben niedliche Filzmanschetten, die hängen wir mit Ihrem Namen um den Flaschenhals und stellen den Wein hinten kühl. Das machen wir bei allen Gästen so, die länger bleiben. Die klassische Schule, wie früher im Schweizer Sanatorium. Ein Wasser?«

»Still. Eine kleine Flasche reicht, das ist mir genug.«

»Sehr wohl.«

»Und Vanessa«, flüstert Charlotte vertraulich, »lassen Sie uns als Nachspeise Ihr Piña-colada-Parfait im Auge behalten. Aber das mache ich davon abhängig, wie die Welt nach der Seezunge aussieht. Vermutlich bin ich dann mehr als gestärkt. – Ach, da hat einer fotografiert. Es hat geblitzt.«

Vanessa dreht sich im Stehen um.

»Ist jemand Berühmtes bei Ihnen zu Gast?«, fragt Charlotte. »Ein Star vielleicht oder ein Politiker? Drüben scheint Aufregung zu herrschen – Ihre Kollegen schauen hektisch.« Sie weist mit dem Kinn auf einen Tisch am gegenüberliegenden Ende des Speisesaals.

»Sie erkennen sie, oder nicht? Hinten die Dame mit den vielen Armreifen?«

»Ehrlich gesagt: nein. Welche Dame meinen Sie?«

»An dem Tisch genau hinter mir, wo eben geblitzt wurde. Wo jetzt mein Kollege steht. Ich mag nicht hinsehen, Frau Trinkwasser. Erkennen Sie sie?«

»Und – wer immer diese Dame ist, man sollte sie kennen? Eine Berliner Prominente?«

Vanessa lächelt. »Man muss sie nicht kennen. Aber sie ist bekannt. Sehr sogar. Eine Schauspielerin.«

»Ah, ich hätte es mir denken können. Jemand aus dem Fernsehen. Sehen Sie, daran wird es liegen: Ich schaue so gut wie kein fern, und die Illustrierten, in denen diese berühmten Leute gezeigt werden, sind mir zu … dämlich einfach. Ich lese viel, muss ich dazu sagen, jeden Tag eigentlich, aber andere Sachen. Vernünftiges. Wie dem auch sei – wer ist also diese aufregende Person? Verraten Sie mir ihren Namen?«

Vanessa ziert sich oder tut so. »Eigentlich … ach, es ist bei uns im Haus immer eine sensible Sache wegen der Diskretion. Aber Ihnen kann ich es wohl sagen, Sie sehen ja, wie sich alle Köpfe zu ihr umdrehen. Es ist kein Geheimnis, dass sie heute im Peterhof isst.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich die junge Dame anschließend nicht um ein Autogramm bitten und auch sonst in keiner Weise belästigen werde, was hoffentlich auf Gegenseitigkeit beruht. Umbringen will ich sie auch nicht. Ich kenne sie ja nicht einmal.«

»Da bin ich beruhigt, Frau Trinkwasser«, sagt Vanessa. »Mordattacken im Speisesaal sorgen meiner Erfahrung nach immer wieder für Unruhe und ungemütliche Momente. Das würde uns allen den Abend nicht verschönern.«

»Ihrer Erfahrung nach?« Charlotte schmunzelt. Kess, denkt sie. Nicht auf den Mund gefallen. Der derbe Berliner Charme.

»Es ist natürlich Jana Matzow. Sie ist wirklich bekannt.«

»Matzow, Matzow … mit preußisch ow, nicht? Hm. Ich muss passen. Nie gehört. Für welche Rollen ist sie berühmt? Im Kino?«

»Fernsehen. Sie spielt die Chefärztin in der Körper-Serie. Frau Dr. Hanne Pilmar. Oder spielte, eigentlich. Im Sommer hatten sie die letzte Staffel, die fünfte, dann wurde die Serie abgesetzt. Was Jana Matzow seitdem macht, weiß ich nicht genau.«

»Mir völlig unbekannt … – Körper. So, so, so. Lebende und tote mutmaßlich. Entschuldigen Sie meine Ahnungslosigkeit. Ich muss Ihnen weltfremd vorkommen.«

»Ist nicht schlimm.«

»Das freut mich. Es ist meiner Erfahrung nach, wenn ich das anfügen darf, immer gut, für etwas schlichter gehalten zu werden, als man ist.«

»Macht ja nichts. Aber Sie können mir glauben, Frau Trinkwasser, Jana Matzow kennt wirklich jeder.«

»Sie ist eine attraktive Frau. Sehr nett anzuschauen. Sie wirkt sympathisch – aus der Ferne betrachtet jedenfalls. Man sieht den Menschen ihr Gemüt ja nicht immer an. In den Schönsten verstecken sich mitunter die problematischsten Persönlichkeiten, habe ich festgestellt.«

»Nee, die nicht, Matzow ist klasse. Kennen Sie wenigstens Sebastian von Lohrau – den Herrn, der bei ihr am Tisch sitzt? Er ist auch Schauspieler, aber nicht bei Körper, sondern er macht bei Overland XXL mit. Da fahren sie in Jeeps – Range Rovers und so – durch Wüsten – Australien und Namibia und die Mongolei. Die beiden waren einige Jahre ein Paar – also Jana Matzow und Sebastian von Lohrau. Sie haben sich aber getrennt.«

»Getrennt, sagen Sie?« Charlotte sieht über den Rand ihrer Lesebrille prüfend zum Tisch am anderen Ende des Restaurants. »Also, wie ein getrenntes Paar wirken sie auf mich aus dieser Entfernung jetzt nicht. Schauen Sie – wie verliebt die zwei sich anschauen, sie können die Finger nicht voneinander lassen. Man turtelt. Sind Sie da sicher? Für mich sieht das aus wie ein Rendezvous – geradezu romantisch, wenn hier nicht alles so schrecklich gelb wäre, dass man am liebsten schreiend davonlaufen möchte und alle zarten Gefühle verpuffen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Ich bitte um Verzeihung, Vanessa, aber die Farbwahl in Ihrem Restaurant ist – originell, so drücke ich es einmal aus.«

Vanessa verdreht die Augen für den Bruchteil einer Sekunde zu einer Miene, die gekonnt ausdrückt: Wem sagen Sie das? Es ist schrecklich. Was soll ich machen? Ich habe die scheußliche Farbe nicht ausgesucht, und im Gegensatz zu Ihnen muss ich hier jeden Tag Schicht machen. Katastrophe.

»Egal«, sagt Charlotte, »da müssen wir jetzt durch. Wo waren wir? Bei dieser Frau Matzow. Sie wohnt bei Ihnen im Haus?«

»Nein, das nicht. Sie lebt in Berlin. Nicht weit weg, am Askanischen Platz. Jana Matzow kommt einfach gern zum Abendessen zu uns, manchmal in Begleitung, manchmal allein. Es ist ein bisschen ein zweites Wohnzimmer für sie, eine Art Kantine. Sie können sich vorstellen, was los ist, wenn Jana Matzow einfach nur über die Straße geht. Alle wollen was von ihr. Hier hat sie ihre Ruhe.«

»Na ja. Wenn sie nicht gerade beim Kauen und Herunterschlucken fotografiert wird.«

»Tja. Da muss etwas schiefgelaufen sein. Es ist Politik, dass in unserem Restaurant nicht fotografiert werden darf. Im gesamten Peterhof nicht. Paparazzi haben Hausverbot. Aber heute hat jeder ständig ein Smartphone dabei, da kann man manchmal wenig machen.«

»Das Essen wird ihr schmecken, vermute ich, sonst würde sie nicht Stammgast sein.«

»Ich hoffe doch.« Vanessa lacht und beugt sich zu Charlottes Ohr. »Jetzt begehe ich noch eine kleine Indiskretion.«

»Nur zu, ohne Indiskretionen wäre die Welt eine durch und durch fade Veranstaltung. Ich werde Sie nicht verpetzen. Was ist es?«

»Jana Matzow isst immer das Gleiche bei uns, das ist eine Eigenart von ihr. Eine richtige Marotte. Nie die Gerichte von der Abendkarte, sondern Eggs Benedict. Jedes Mal, wenn sie hier ist. Also abends.«

»Ach – wer isst denn abends Eggs Benedict? Ab und an ist das bei einem späten Frühstück eine schöne Sache, finde ich. Aber abends?«

»Eben. Herr Meppen – Ronny Meppen, unser Chef de Cuisine – war am Anfang auch überrascht, sogar etwas pikiert, weil sie seine Empfehlungen immer freundlich anhörte und dann nie darauf einging, sondern wieder ihre langweiligen Eier bestellte, die eigentlich gar nicht auf der Karte stehen. Aber in unserem Haus bekommt natürlich jeder, was er will, das ist klar. Wer abends pochierte Eier möchte, kriegt seine pochierten Eier.«

»Wie servieren Sie denn Ihre Eggs Benedict? Gibt es irgendwelche Besonderheiten? Mit Trüffel vielleicht? Bio-Eier, die bei Vollmond aus dem Stall geholt wurden?«

»Nein, nicht wirklich. Das ist klassisch bei uns. Englischer Muffin, Räucherlachs, zwei pochierte Eier, Hollandaise natürlich. Das normale Rezept. Das isst Frau Matzow jedes Mal. Wobei, halt – es geht eigentlich mit gekochtem Schinken, oder?«

Charlotte nickt. »Eggs Benedict – ja. Mit Schinken.«

»Aber Jana Matzow kriegt die Eier mit Lachs. Wildlachs.«

»Dann würde man sie eigentlich Eggs royale nennen, glaube ich. Königliche Eier. Das klingt doch wirklich sehr schön.«

»Was Sie alles wissen!«

Charlotte nippt an ihrem halb geleerten Champagnerglas, das sie aus der Lobby mitgebracht hat. »Na, warum auch nicht? Eier royale sind ein unverschämt köstliches kleines Mahl. Etwas deftig vielleicht. Aber wenn es der Dame am Abend schmeckt … Jeder, wie er will, habe ich recht? Chacun à son gôut.«

»Eine letzte Frage noch, Frau Trinkwasser, dann lasse ich Sie in Ruhe, und Sie genießen Ihr Abendessen: Haben Sie irgendwelche Allergien? Laktoseunverträglichkeit vielleicht, eine Glutenallergie? Nüsse oder Krustentiere?«

»Nein, mir bekommt fast alles. Mein Stoffwechsel ist für Ärzte völlig uninteressant.«

»Wunderbar.« Vanessa lässt Bleistift und Notizblock in die Schürzentasche gleiten. »Das hätten wir. Jetzt werde ich Sie erst einmal mit dem Nötigsten versorgen. Ich bin sofort wieder mit Wasser und Wein bei Ihnen. Oder soll ich mit dem Cloudy Bay bis zur Seezunge warten?«

»Nein. Der wird auch zum Thunfisch passen – bringen Sie ihn nur. Und hier kommt Ihr Kollege mit dem Brot. Guten Abend, junger Mann.«

»Guten Abend, Madame, bonsoir, bonsoir …!« Ein Mittdreißiger mit spitzem Kinn und starkem französischem Akzent, der Maître, begrüßt sie nickend. »Darf die Butter leicht gesalzen sein?« But-TÄR.

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Wir bekommen sie seit Neuestem von einem Bauern’of auf Rügen – von einem Öko’of. Bon appétit.« Er lächelt sie bemüht an, dreht sich um und eilt mit eigenartig wippenden Schritten, als habe er einen Kieselstein im Schuh, wieder davon.

Eine halbe Stunde später – nach Thunfisch, Gänseleber und zwei Gläsern Cloudy Bay – vertieft Charlotte sich in einen Seite-Drei-Artikel in der Süddeutschen, eine Reportage über Teepflückerinnen in den Nilgiri-Bergen, die in ihrem Dorf in Eigenregie eine Mädchenschule mit angeschlossener Konditorei eingerichtet haben, in der die hohe Kunst der Schwarzwälder Kirschtorte gelehrt wird. Ausgerechnet. Auf was für Ideen die Leute kommen! Sahnetorte in den Tropen? Wo nehmen sie in Indien das Kirschwasser her, und wie halten sie die Sahne frisch? Sie war nie dort, verspürt aber seit Langem das Bedürfnis, das Land zu bereisen. Eine Ayurvedakur könnte ihr gefallen. Sie sollte, müsste … – hat sie jetzt, nach dem Ausstieg bei Siemens, vielleicht endlich die richtige Lebensphase erreicht, um in die Ferne aufzubrechen? Ihr gehen Bilder von geschmückten Elefanten durch den Kopf, vom Taj Mahal in Agra, von Palästen in Rajasthan, in denen man sich angeblich Zimmer nehmen und es sich gut gehen lassen kann.

Vanessa nähert sich mit einem Servierwagen auf Rädern, auf dem eine ovale Kupferpfanne, Teller und ein Schneidebrett stehen. Eine blaue Spiritusflamme züngelt unter einer Warmhalteplatte aus Stahl.

Charlotte sieht von ihrer Zeitung auf, faltet sie zusammen und blickt erwartungsvoll auf. Vanessa präsentiert ihr die Pfanne mit einer goldbraun gebratenen Seezunge, die ein Aroma von heißer Butter, Schalotten, trockenem Entre-deux-Mers und einem Hauch Weißweinessig verströmt. Die Augen haben sich in der Hitze weiß gefärbt.

»Was für ein Duft. Ein großes Tier.«

»Ein schönes Exemplar, nicht?«

»Woher beziehen Sie Ihre Fische?«

»Die Seezungen kommen, glaube ich, direkt aus Paris – vom Großmarkt dort. Wir holen sie natürlich hier in Berlin beim Händler ab. Ich kann gerne nachfragen, wer unser Lieferant ist, wenn es Sie interessiert.«

»Nein, nein, machen Sie sich keine Mühe. Aus Frankreich, das soll mir genügen. Ich war lediglich neugierig.«

»Ich löse sie Ihnen aus?«

»Das wäre reizend. Und ich schaue Ihnen dabei zu. Füttern müssen Sie mich übrigens noch nicht.«

Vanessa schmunzelt. »Sehen Sie den Herrn drüben?«, fragt sie beim Vorlegen leise, ohne aufzusehen. »Am Tisch von Matzow?«

Charlotte nimmt ihre Lesebrille ab und dreht den Kopf leicht nach links, um das Geschehen hinter Vanessa erkennen zu können. An Jana Matzows Tisch sitzt der Mann namens Lohrau, die Beine gespreizt. Er scheint Anfang oder Mitte dreißig zu sein. Kurze blonde Haare, männliches Kinn, Solariumbräune. Tennisspielertyp, denkt sie, wie im röhrenden Cabriolet auf der Corniche. Äußerlich eher kein Heiratsmaterial. »Den Herrn, der mit seinem Autoschlüssel spielt?«

Vanessa nickt.

»Wenn ich mir die Gemengelage drüben ansehe, scheint mir die Beziehung intakt zu sein«, sagt Charlotte. »Man geht schließlich noch gemeinsam zu Tisch, unterhält sich angeregt, will ich meinen, wirft sich Blicke zu. Schauen Sie, wie er mit ihr flirtet. Man hat heute Abend vielleicht noch einiges vor.«

Vanessa schüttelt abwägend den Kopf. »Da ist etwas dran. Verheiratet waren die beiden nie – vielleicht ist die Trennung dann auch eher unverbindlich gewesen.«

»Man scheint sich wenigstens in Frieden aussortiert zu haben, auf die gesittete Art wie erwachsene Leute, und weiter freundschaftlichen Umgang zu pflegen.«

»Ich glaube allerdings nicht, dass es so geplant war – also, dass die beiden heute zusammen hier zum Essen verabredet waren. Der Tisch war ursprünglich nur für eine Person reserviert, von Jana Matzows Agentin. Baby heißt die, Baby Rentzschler, eine Art Mädchen für alles. Etwas schrill und anstrengend, ziemlich bekannt hier in der Stadt. Also Baby, das ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Eigentlich heißt sie Barbara. Nennt sich aber Baby.«

»Und isst Frau Matzow wieder ihre berühmten Eier?«

»Alles wie gehabt. Eier auf Toast und Red Bull. Der Red Bull ohne Zucker wegen der Kalorien.«

»Ah, Frau Trinkwasser, habe ich recht!? Darf ich kurz stören?« Eine ausgestreckte, haarige Männerhand mit rosa Fingern erscheint über Charlottes gelber Tischdecke. »Ich bin Ronny Meppen.«

»Unser Chef de Cuisine«, sagt Vanessa. »Ich wünsche viel Freude mit dem Fisch.« Sie verabschiedet sich mit einem vielsagenden Blick – ich überlasse Sie jetzt diesem reizenden Brauereipferd hier, und Gott stehe Ihnen bei, Sie werden ihn brauchen – und macht sich mit dem Servierwagen auf den Weg zurück in die Küche.

»Angenehm«, sagt Charlotte und reicht ihm im Sitzen die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Meppen. Ihr Thunfisch war köstlich.«

»Schön, schön. Richtig. Und mit allem anderen sind Sie zufrieden?«

»Aber ja.«

»Haben Sie unsere neue Butter probiert, Frau Trinkwasser? Wir testen sie gerade. Um zu sehen, wie unsere Gäste sie annehmen.«

»Ich habe mich fast satt an ihr gegessen. Wunderbar; ein leicht salziges Aroma und ein Hauch von Meer und Algen. Man glaubt, in der Normandie zu sein und die Brandung zu riechen.«

»So soll es sein, exakt, ich danke. Dann wünsche ich Ihnen weiterhin viel Vergnügen bei uns – lassen Sie sich die Seezunge schmecken. Unser Souschef, mein Kollege van Selden, Lars van Selden – junger Mann, das, aber nicht talentfrei, das muss ich sagen – hat sie persönlich …«

Aus dem Augenwinkel bemerkt Charlotte, wie Jana Matzow zehn Schritte hinter Meppen mit ungewöhnlich langsamen Bewegungen aufsteht und sich mit beiden Armen derb auf die Tischkante stützt, eine links, eine rechts von ihrem Teller mit den Resten der Eier royale. Lohrau sieht sie mit heiterer, dann besorgter Miene an, steht schließlich auch auf – widerwillig, denkt Charlotte, nicht eben gentlemanlike – und scheint seine Begleiterin beruhigen zu wollen. Er legt eine Hand um Jana Matzows Schultern, die diese merkwürdig träge abschüttelt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Matzows Gesichtsausdruck geht von Überraschung erst in Ekel, dann in Teilnahmslosigkeit über, sie sieht plötzlich fahl aus. Lohrau versucht, seine Freundin aufzufangen, kann sie aber – er ist offenbar weniger fit, als es den Anschein hat – nicht halten. Jana Matzow rutscht ihm durch die ungeschickt aufgehaltenen Arme und zieht unter dumpfem Poltern und Klirren die Batistdecke halb vom Tisch. Besteck, Gläser, eine Ölflasche, Teller, Brot und ein Soßenschälchen gehen zu Boden.

»Du lieber Himmel«, sagt Charlotte. Meppen dreht sich um, eilt mit energischen Schritten an den Matzow-Tisch und geht in die Hocke. Die Schauspielerin kauert auf allen vieren auf dem Teppichboden und übergibt sich schubweise. Auf Lohraus weißem, ohne Krawatte unter einem dunklen Jackett getragenem Hemd hat sich ein faustgroßer Fleck gebildet, ein Teil des Erbrochenen.

»Großalarm«, sagt eine alte Dame mit Silberhaar und lila Lippenstift leise, die hinter Charlotte am Nebentisch sitzt und ebenfalls alleine isst. Sie scheint bester Laune zu sein. »Das sieht mir nach einem pikanten Problem aus.« Sie spießt mit der Gabel ein Stück Lammfilet auf, begutachtet es kurz, steckt es in den Mund und kaut genüsslich, wobei sie Charlotte zuzwinkert. »Schauspielerin«, sagt sie wissend. »Immer aufgeregt, immer dramatisch, immer für eine tolle Geschichte gut. Lächerlich!« Sie schüttelt mit dem Kopf: Was soll man von solchen Leuten anderes erwarten?

Das fängt ja gut an, denkt Charlotte und betrachtet ihre Seezunge skeptisch, neben der grau-grüne Artischockenwürfel ein Häufchen bilden. Mehrere Gäste – Herren in Abendanzügen, einer in Smokingjackett mit Fliege, Damen in dunklen Kleidern und komplizierter Toilette – sind aufgestanden und eilen einer nach dem anderen an ihrem Tisch vorbei Richtung Ausgang und Hotellobby. Charlotte überlegt kurz, ob sie für einige Minuten die Waschräume aufsuchen soll, um der unangenehmen Begebenheit zu entgehen, stellt dann aber fest, dass sie keinen üblen Geruch wahrnimmt, sondern nur den frisch gebratenen Fisch auf dem Teller vor ihr.

Auch die alte Dame bleibt sitzen, die sich von Tisch zu Tisch als Frau Marscher aus Essen, »zu Besuch bei meiner an Alzheimer erkrankten Schwester in Wannsee«, vorstellt und über achtzig sein muss. Sie isst am Nebentisch gelassen weiter und kaut gründlich, ohne sich im Geringsten stören zu lassen.

»Wir brauchen Ersthelfer«, sagt Meppen in ein Wandtelefon am Küchendurchgang. »Sofort. Ja … natürlich, Herr Timmermann. Wir kümmern uns um alle Gäste hier. Selbstverständlich … wir platzieren neu.«

Eine feiste Frau mit Brille, roten Wangen und kurzen blonden Haaren kniet in Kochuniform neben Jana Matzow und versucht, sie auf die Seite zu drehen. Der Maître steht irritiert, als warte er ungeduldig auf etwas, am Küchendurchgang, wechselt von einem Fuß auf den anderen und lächelt Charlotte aus der Ferne gequält an.

Am Matzow-Lohrau-Tisch wird von mehreren Kellnern diskret gereinigt, gewischt und gerichtet, während Lohrau, Meppen und ein weiterer Hotelmitarbeiter neben der Schauspielerin knien und die ausgestreckten Glieder nach den Regeln des Erste-Hilfe-Handbuchs in die stabile Seitenlage zu bringen versuchen. Lohrau schlägt seiner Freundin von hinten ungeschickt mit der flachen Hand auf die Wange, zuerst vorsichtig, dann kräftiger. Schließlich reagiert sie mit Gurgeln und erneutem Würgen. Einfach so bewusstlos geworden, denkt Charlotte. Eigenartig in dem Alter. Sie dürfte keine fünfunddreißig sein, dem Aussehen nach eher Anfang als Mitte dreißig. Ah … sie hat eine Eingebung: schwanger natürlich, das wird es sein. Sie nippt an ihrem Wein und stellt das Glas mit einem Blick auf ihre Armbanduhr ab. Jedoch: eine ungewöhnliche Tageszeit für eine Ohnmacht, selbst für eine Schwangere – und Matzow könnte ihrem Aussehen nach allenfalls in den ersten Monaten sein. Es ist nach neun am Abend, eine untypische Zeit für Übelkeit, wie sie aus eigener Erfahrung weiß.

Charlotte überlegt, ob sie sich irgendwie nützlich machen kann, entscheidet aber nach einem Blick durch die Runde, sich nicht einzumischen. Vor Matzows Tisch hat sich eine Menschentraube gebildet – zwei oder drei davon Gäste des Restaurants, vielleicht Ärzte, die helfen oder es beabsichtigen oder wenigstens so tun als ob. Als zwei irritiert um sich blickende Sanitäter in weißen Uniformen und orangenen Jacken in den Speisesaal des Newa traben, leuchtet mehrmals rasch hintereinander ein Blitz auf.

Jetzt macht einer auch noch Bilder, denkt Charlotte, sucht den Speisesaal ab, findet aber den Fotografen nicht – es muss aus der kleinen Bar heraus fotografiert worden sein. Der arme Herr Meppen – oder wie er heißt. Da kocht einer so gut – in ihrem Reiseführer war von der baldigen Verleihung eines Sterns die Rede –, und die prominente Madame vom Fernsehen hat nichts Besseres zu tun, als sich zur Hauptbetriebszeit mitten in seinem Restaurant zu übergeben. So etwas sollte man unter Kontrolle haben; wenn man sich schon erbricht, sollte man es mit Umsicht tun, es gibt Räumlichkeiten für Anfälle von Übelkeit. Die Matzow hat mit Sicherheit keine Vorstellung davon, wie so ein Vorfall dem Ruf eines Hotels – erst recht dem eines Restaurants – schaden kann. Na, allerdings hat sich ihr Magen wohl kaum absichtlich entleert. Ein Vergnügen ist es für sie nicht. Gott, wie sie würgt.

Charlotte nimmt die Cloudy-Bay-Flasche aus dem Weinkühler neben ihrem Tisch und schenkt sich selbst ein Glas nach. Sie sieht Vanessa in zehn Schritt Entfernung aus der Küche kommen, einen jadegrünen Raumteiler mit chinesischem Drachenmuster auf den Paneelen in den Händen.

»Jetzt kommen drei auf einmal, das darf doch nicht wahr sein«, flucht Meppen leise in sein Handy, bevor er es in die Hosentasche rutschen lässt. Er sieht seinen Maître an, als wolle er ihn schlagen. »Erst ist stundenlang keiner zu sehen, dann fahren drei Krankenwagen in Kolonne vor – die Idioten! Großartig. Und alle stellen sich hintereinander vor den Haupteingang. Mit Blaulicht.«

Meppen schließt die Augen, wendet sich von Matzow und den Sanitätern ab und kratzt sich mit allen zehn Fingern die Haare.

Kapitel 2

Zwei Wochen vor Jana Matzows Ohnmacht im Berliner Restaurant Newa stand Charlotte in der Küche ihrer Wohnung in der Münchener Reichenbachstraße und legte Musik auf: die Goldberg-Variationen. Beim Kochen gab es für sie nichts Passenderes. Ordnung und Disziplin waren ihr immer wichtiger als Talent gewesen, und niemand hatte ihrer Meinung nach ordentlicher komponiert als der Meister, Johann Sebastian Bach, Leipzig. Sie hörte, wie der Laser ihres alten CD-Spielers klickernd anlief, wartete die ersten Töne ab, war zufrieden mit ihrer Auswahl und band sich ihre weiße Schürze neu, auf der Spritzer von Bratfett und Eischaum eingetrocknet waren. Martin Stadtfeld spielte die Aria. Charlotte beugte sich über einen Strauß Chrysanthemen, die auf dem runden Frühstückstisch standen, und sog den Duft ein.

Kochen. Das Abendessen. Charlotte überlegte, was als Nächstes zu tun war, und sah im Vorbeigehen auf die Küchenuhr über der Abzugshaube. Ihre Gäste – außer Doris erwartete sie ihren langjährigen Freund Robert Wagenheber und ihren Neffen Arne, neu in München – würden erst in einer Dreiviertelstunde eintreffen. Es blieb genug Zeit, um die Vorbereitungen mit Gelassenheit zu vervollständigen. Sie wusste allerdings, dass Doris einen Hang zu Überpünktlichkeit hatte und gern zu früh zu Einladungen erschien, weil sie noch unter vier Augen mit ihrer Freundin über dieses oder jenes tratschen wollte (und sich, wie Charlotte argwöhnte, allein in ihrer herrschaftlichen Altbauwohnung in Haidhausen langweilte). Sie hoffte, dass Doris sie diesmal nicht überfallen würde.

Jetzt die Steinpilze. Charlotte legte die rosa-graue Papiertüte auf die Ablage, nahm ein schweres Fleischmesser aus der Schublade, schärfte es und begann, die frischen, noch feuchten Pilze, die sie nach dem Mittagessen auf dem Viktualienmarkt gekauft hatte, längs ihrer Achse in Scheiben zu schneiden. Sie summte Bach mit und dachte an den Ammersee, in dessen umliegenden Hügeln die Pilze, wie die Verkäuferin gesagt hatte, aus den Wäldern geholt worden waren.

Der erste November war ein angenehmer Herbsttag mit warmem Föhnwetter. Auf dem Balkon tschilpten Spatzen, die von der Regenrinne auf die Lehnen der ausgebleichten Teakstühle und wieder zurück sprangen und sich des Lebens freuten. Charlotte befand beim Schneiden der letzten Pilze, dass der Zeitpunkt für das erste Glas Wein des Abends gekommen war. Sie wusch sich im Küchenbecken die Hände, hatte kein Handtuch griffbereit und schüttelte sie einfach ab, bevor sie sie an der Schürze abwischte. Einige Tropfen fielen auf das heiße Ceranfeld und tanzten für einen Augenblick zischend auf dem Herd, bis sie verdampft waren.

Charlotte schenkte sich ein halbes Glas eines dunkelroten Nero d’Avola ein, roch daran und nahm prüfend einen Schluck. Ein schöner Wein, fand sie, schwer und deftig, wie sie Rotwein liebte. Hätte Karl ihn gemocht? Sie setzte sich für einen Moment und sah aus dem Fenster. Nein. Wahrscheinlich nicht. Karl, ihr Mann, war bei Wein immer anspruchsvoll gewesen. Vielleicht eine Spur zu anspruchsvoll – gar schon pingelig? Sie begutachtete die fertige Quiche, die sie am Nachmittag zum Abkühlen auf ein abgewetztes Holzbrett gestellt hatte. Der Gemüsekuchen war gelungen; das Orange des Hokkaidokürbis bildete einen reizvollen Kontrast zu den roten Zwiebeln und dem grün verlaufenen Roquefort. Sie würde sich nicht schämen müssen, nicht einmal vor Robert, der anstrengend sein konnte, was Essen und Trinken anging.

Sie hatte sich umgezogen und frisch gemacht und zündete mit einem Streichholz eine Kerze an, die sie in den Hals einer leeren Rotsponflasche gepropft hatte, als es an der Wohnungstür klingelte. Charlotte sah auf ihre Armbanduhr: fünf nach acht. Entwarnung, was Doris’ spontane Aktionen anging.

»Robert, mein Lieber«, sagte Charlotte an der Wohnungstür und ließ sich links-rechts die Wangen küssen. »Gut siehst du aus. Komm. Komm rein. Ich habe zum Essen hinten gedeckt, aber ich dachte, wir fangen in der Küche an. Da ist es am gemütlichsten.« Robert trug ein Bund weißer, mit grünem Bast umwickelter Callas in den Händen, die er ins Küchenwaschbecken legte und in einen verchromten Sektkühler stellte, den Charlotte aus dem Wohnzimmer brachte.

Robert Wagenheber, klein und drahtig, war Antiquar mit einem Laden in der Baaderstraße von der Größe eines Schuhkartons: sechs Schritte breit, sechzehn tief. Im Nebenberuf arbeitete er als »Guide« (sein Wort) für Dr. Kleve, ein auf Bildungsreisen spezialisiertes Unternehmen in Rottach-Egern, das ihn regelmäßig nach Italien und Griechenland schickte – auf ein- bis zweiwöchige Busrundreisen, bei denen das Durchschnittsalter der Teilnehmer jenseits der sechzig lag, zahllose Herz-Kreislauf-Tabletten geschluckt und reichlich Insulininjektionen gesetzt wurden, das Trinkgeld karg ausfiel und gelegentlich ein Teilnehmer in der Sonne des Südens verblich. (Was laut Robert, der zu Zynismus neigte, nicht der schlechteste Tod war, aber schrecklich komplizierte Situationen nach sich zog.) Ein Jahr jünger als Charlotte war Robert äußerlich ein vornehmer Herr mit Halbglatze, sauber getrimmtem Goatee und manikürten Fingernägeln, englisch-elegant gekleidet und in der Regel mit vorzüglichen Umgangsformen, deren Raffinesse allerdings, wie Charlotte und Doris wussten, von seiner Tagesform abhing. Robert konnte launisch sein; er war Frauen gegenüber schwierig – mit dem Ergebnis, dass sie ihm zu Füßen lagen. Es war kein Geheimnis, dass er in den Nachtstunden des Wochenendes gern den Lederclub Ochsengarten besuchte, in denen seine Outfits deutlich weniger chic und der zwischenmenschliche Umgang eher von der direkten Art waren. Charlotte, die Robert nach dem Studium kennengelernt hatte, als beide in einer Bibliothek arbeiteten, wusste davon und hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden, sprach ihren Freund jedoch selten darauf an. Das horizontale Leben, fand sie, wurde erstens überschätzt und zweitens in Ochsengärten nicht schöner. Aber jeder sollte, wie er wollte. Stand ihr bester Freund halt auf Lack und Leder.

»Darf ich?«, fragte Robert, der ein flaschengrünes Samtjackett mit dunkelblauer Fliege und einem gepunkteten himmelfarbenen Einstecktuch in der Brusttasche trug. Er hob den Deckel der Bratpfanne, in der Charlotte die Steinpilze in Butterschmalz anschwitzte.

Sie stießen mit einem Glas Champagner an, als es erneut klingelte, dreimal kurz hintereinander.

»Ah, das ist Arne«, sagte Charlotte. »Unser Erkennungszeichen. Sei so gut, und mach ihm mit dem Summer die Tür unten auf, Robert. Meine Hände sind schmutzig. Mein Neffe – ich habe dir von Arne erzählt. Der gerade nach München gezogen ist? Stellt euch bitte einfach selbst vor, wir sind heute nicht förmlich.«

Robert stellte sein Glas ab und stand auf. »Dein berühmter Lieblingsneffe … höchste Zeit, dass wir uns kennenlernen, nach all deinen Geschichten über ihn. Hatte er nicht gerade erst Konfirmation – und jetzt schon volljährig und auf eigene Faust in München? Wie sieht er eigentlich aus? Hübsch?«

Charlotte verdrehte die Augen »Nun hol bitte den Jungen rein – und ohne dass dir Spuckefäden von den Lippen hängen, Robert. Er ist mein Neffe.«

»Qualität vererbt sich bekanntlich«, rief Robert aus dem Flur. »Bleibt in der Familie. Die Gene, weißt’?« Er öffnete Arne über die Haussprechanlage die Tür. »Du hast mir noch nicht verraten, was du kochst, Charlotte. Was ist das für ein Geschoss im Ofen?«

»Huhn!«, rief sie zurück.

»Einfach nur so – ein Huhn?«

»Ein französisches von der Loire. Ein plumpes, dickes, gesundes Poulet, das ein idyllisches Leben hatte. Gelb von den vielen Maiskörnern, die es fressen musste. Lass dich überraschen.«

»N’Abend«, grüßte Arne Schäfer in Pullover und Leinenschal aus dem Flur, als er sich mit Robert bekannt gemacht hatte. »Hallo, Tante Lotte. Deine Freundin Doris kommt auch gleich. Ich habe sie unten im Auto gesehen. Sie sucht einen Parkplatz und fährt leicht hektisch um den Block. Dieser komische Chrysler-Cruiser in Braun, das ist ihrer, oder? Das Omaauto?« Scheißbraun, dachte er.

»Ich bin schon da-ha!«, zwitscherte Doris, zweiundfünfzig, aus dem Treppenhaus. Sie trug eine asphaltgraue, abgewetzte Fahrradkuriertasche um die Schultern und hatte eine rote Plastiktüte von H & M in der Hand. »Juhu! Robert – hallo, schön, dich zu sehen … wie elegant, Herzchen! Arne – komm, nun gib mir einen Kuss wie ein erwachsener Mensch, zier dich nicht so, Burschi, wir sehen uns nicht das erste Mal.«

Doris war größer und schlanker als Charlotte und trug ihr schulterlanges Haar seit ihrem letzten Sommerurlaub (auf Gotland) dunkelbraun. Obwohl der November angebrochen war, hatte sie sich eine Sonnenbrille in die Frisur geklemmt.

Charlottes beste Freundin hatte das Glück, in einer Wohnung mit sechs Zimmern in Haidhausen, Pariser Straße, zu wohnen, von denen ihr zwei als begehbare Kleiderschränke dienten, in denen sie ihren beträchtlichen Fundus an Kleidern, Schuhen, Taschen und Schmuck aufbewahrte. Doris lebte den Luxus, kein Geld verdienen zu müssen: Sie hatte 1985 im Tennisverein Rüdiger Gutlieb kennengelernt, einen promovierten Statistiker und Versicherungsmathematiker, der einige Jahre später in den Vorstand einer Rückversicherung aufstieg und dort die Risikovorsorge verantwortete. (Ein unerwarteter Karrieresprung: Sein Amtsvorgänger war kurz vor der Pensionierung bei einem Fallschirmsprung im Schwarzwald ums Leben gekommen.) Risiko war ein Fachgebiet, das Rüdiger, dem mit Anfang dreißig die Hälfte der Haare ausgefallen war, beruflich besser beherrschte als privat. Seit der Scheidung 2005 sorgte er finanziell für Doris – und musste sorgen bis in alle Ewigkeit, wie ihre Rechtsanwältin, ein juristisches Schlachtross mit jahrzehntelanger Erfahrung im Familienrecht, meinte. »Sofern Sie, liebe Frau Gutlieb, sich nicht noch einmal verheiraten.«

»Gut schaust du aus, Doris«, sagte Charlotte. »Was für ein aparter Mantel. Neu?«

Ihre Freundin nickte begeistert. »Findest du nicht auch? Ich liebe dieses Teil.« Sie drehte sich in der engen Küche einmal um ihre Achse. »Sieht so billig aus und war so teuer.«

Charlotte sah sie mit einem vorwurfsvollen Ausdruck an, der Doris in Erinnerung rufen sollte, dass sie zu Hause in ihren Kleiderkammern vermutlich bereits mehr als fünfzig Jacken und Mäntel hängen hatte.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Doris. »Aber wir ticken einfach anders, Charlotte, du und ich. Wenn man deinen Kopf hat, ist man natürlich immer attraktiv für die Menschheit, egal, was man anhat. Ich dagegen bin nicht so klug. Ich muss etwas tun, um zu wirken. Ich habe nur Mittelschule.«

»Das hat doch damit …«, begann Charlotte.

»Außerdem – Sie, junger Mann!« Doris hielt Arne einen spitzen Zeigefinger mit lackiertem Nagel vor die Brust. »Außerdem ist das überhaupt kein komisches Auto. Ja, da gucken Sie. Wissen doch, wovon ich rede … – als wäre ich taub, oder was? Der Cruiser bringt mich überallhin, und das ist ja wohl der Punkt bei einem Auto. Ein schöner Wagen. Sehr zuverlässig und geräumig. Ein Traum.«

Arne grinste.

»So – dann hätten wir jetzt alles Lästige aus dem Weg geräumt, glaube ich. Der gesellige Teil des Abends kann beginnen.« Doris schaute fröhlich in die Runde. »Gibt es etwas zur Begrüßung? Ein Gläschen, liebe Charlotte? Ich trinke zu wenig, sagt mein Arzt.«

»Auf dein Wohl, Charlotte«, ergriff Robert das Wort, als alle ein Glas hatten. »Auf unsere Gastgeberin und Köchin! Danke für die Einladung. Doris, Arne …«

Gläser klirrten leise; sie tranken.

»Das tat gut«, sagte Doris und hielt Robert ihr leeres Glas hin. »Ich darf rauchen?«

»Was gibt es zu essen?«, fragte Arne.

»Ah.« Charlotte lehnte sich an die Küchentheke und sah mit offizieller Gastgebermiene in die Runde. »Das heutige Programm also. Vorweg habe ich Antipasti gemacht – Salami, Oliven, Büffelmozzarella und ein paar andere Kleinigkeiten. Das hier auf dem Teller ist übrigens feinster Parmaschinken – so gut, dass ich heute Mittag schon ein paar Scheiben selbst essen musste. So sorry. Als Vorspeise haben wir dann Kürbisquiche und Steinpilze, und danach serviere ich euch Poulet au Porto nach einem Rezept von Julia Child.«

»Wem?«, fragte Doris.

»Julia Child. Child wie Kind. Das ist diese Amerikanerin, die in den Fünfzigerjahren in Amerika französisch zu kochen anfing. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben, glaube ich. Hier kennt man sie nicht, aber in den USA ist sie so bekannt wie Siebeck hier. Wolfram Siebeck. Oder wie Jamie Oliver, dieser knuffige Brite.«

»Wo hast du den Vogel her, Charlotte?«, fragte Doris. »Er ist doch bio?«

»Er hat mal gelebt, ja. Vom Riemenmacher oben am Viktualienmarkt, beim Alten Peter die Ecke.«

»Eines dieser fetten Hühner aus Erding?«

»Nein, diesmal nicht. In Loué ist das Tier aus dem Ei geschlüpft, und ich habe mir versichern lassen, dass es ein glückliches Leben auf einer französischen Wiese hatte – wenngleich ein unnatürlich verkürztes, fürchte ich. Das Huhn sah beim Riemenmacher zu verführerisch aus. Es wog fast zwei Kilo. Aber wir sind heute ja zu viert.«

»Und dieser Portwein?«, fragte Arne. Er hielt eine verstaubte Flasche hoch, die auf dem Fensterbrett stand. »Der sieht alt und kostbar aus. Hier – 1978. Älter als ich.«

»Oh, bestimmt, ja. Dein Onkel Karl hat immer nur das Beste gekauft – Wein, Port und Sherry, Armagnac, die teuersten Schnäpse. Unsummen hat er ausgegeben, dass einem anders werden konnte. Der Keller ist noch bis unter die Decke voll. In diesem Leben werde ich das alles allein nicht trinken können. Den Port hatte er bei einem Händler in Barcelona mitgenommen, und ich meine zu erinnern, dass ich das letzte Mal ungefähr 1990 mit ihm in Spanien war. Also wird der Wein ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Beim Port ist hohes Alter von Vorteil, sagt man ja.«

»Sie sind also der berühmte Robert«, sagte Arne. »Der Mann mit dem legendären Buchladen, von dem die Tante immer erzählt? Eine Art Shakespeare and Company?«

»In der Tat, der bin ich. Aber das Geschäft ist ein normales Antiquariat. Eher unaufgeregt, würde ich sagen, auch wenn manchmal natürlich interessante Werke dabei sind. Mit den Parisern will ich mich nicht vergleichen. Es gibt bei mir die eine oder andere schöne bibliophile Rarität, aber – wie hieß sie noch, die Dame in Paris …? Silvia irgendwas …«

»Sylvia Beach«, sagte Charlotte.

»Eben, genau – Sylvia Beach, die war dann doch von einem anderen Kaliber, da darf man sich nichts vormachen. Hemingway mit Lektüre versorgt, James Joyce verlegt, Paris für Amerikas Intelligenz auf die Landkarte gesetzt … Und dieser Whitman, der den Laden nach dem Krieg weiterführte, ist auch ein Großer – bei denen brannten die Lichter hell. Jedenfalls ein bisschen heller als bei mir. Schade. Aber so ist es.«

»Meine Tante erzählt seit Jahren von Ihnen.«

»Nichts Schlechtes, hoffe ich.« Robert lachte leise und musste niesen. »Ich fürchte, Ihre liebe Tante kennt mich inzwischen besser als meine eigene Mutter, nach all den Jahren, die wir gemeinsam in München verbracht haben. Wie lange kennen wir uns, Charlotte?«

»Seit Anfang der Achtziger. Antje war damals noch klein – zwei oder drei –, und ich half halbtags in der Bücherei aus, weil Karl damals noch nicht so gut verdiente. Drei Jahrzehnte sind es fast, mein lieber Robert.«

»Und dabei keinen Streit gehabt«, sagte Robert. »Fast nie, oder?«

»Und Sie, Arne?«, fragte Doris, die rauchend am geöffneten Fenster stand, dazwischen. »Haben Sie sich eingelebt und die ersten Wochen in München gut überstanden? Wie lange sind Sie schon in der Stadt?«

»Zwei Monate. Aber sagen Sie bitte du, Frau Gutlieb. Ich bin erst neunzehn.«

»Wie läuft das Studium?«, fragte Charlotte am geöffneten Backofen, einen dampfenden Bratenpinsel in der Hand, mit dem sie das Portweinhuhn bestrich.

»Das normale Programm. Einführungsvorlesungen, zwei Seminare, das Übliche. Ist allerdings eine ziemliche Umstellung, von Schleswig-Holstein nach Bayern.«

»Du wirst dich schnell daran gewöhnen«, sagte Charlotte. »Der Münchner ist natürlich ein anderer Menschenschlag – nicht so wie die spröden Norddeutschen, die nie den Mund aufkriegen. Aber im Herzen sind die Bayern gute Menschen. Ist jedenfalls meine Erfahrung. Manchmal granteln sie, aber im Großen und Ganzen lässt es sich hier wunderbar leben. Deine Tante weiß, wovon sie spricht. Vor dreißig Jahren – und da sah die Welt noch anders aus, und die Menschen waren irgendwie … verbohrter, voller Vorurteile – bin ich auch aus dem Norden weggegangen, nach München. Du wirst sehen: Nichts erweitert den Horizont so sehr wie ein Ortswechsel.«

»Du sollst dich mit Technik auskennen«, sagte Robert. »Erzählt jedenfalls deine Tante – und die weiß als Siemensfrau meistens, wovon sie da redet. Ist das richtig?«

»Weiß nicht«, sagte Arne skeptisch.

»Teilrichtig?«

Arne lachte. »›Teilrichtig‹ … Was heißt das schon: sich auskennen? Bei den Blinden ist der Einäugige König.«

»Komm, komm, Junge«, sagte Charlotte, die berufsbedingt einiges über Software und Rechnersysteme wusste. (Nur Facebook, Twitter und Instagram – »warum müssen das jetzt unbedingt alle haben?« – hatte sie irgendwie verpasst und nie richtig verstanden.) »Für dich ist das ein Kinderspiel. Arne macht das schon sein Leben lang, Robert. Wie alt warst du, als du das erste Programm geschrieben hast? Dreizehn oder vierzehn?«

»Zwölf.«

»Na bitte. Ob du zum Genie taugst, wird man sehen, aber das ist kein schlechter Start, würde ich sagen. Immer schon mathematisch veranlagt gewesen – nur die Sprachen sind dir immer etwas schwergefallen. Das ist nicht deins.«

»Was studierst du?«, fragte Doris.

»IT.« Arne sprach es englisch aus.

»Gott im Himmel! Was ist das?«

»Informationstechnologie.«

»Ja. Da siehst du, Charlotte. So etwas hatte ich befürchtet. Da macht man Software und so, richtig?«

Arne lächelte. »Genau, Software und so. Ziemlich interessant.«

»Jedenfalls wird er später keine Probleme haben, einen Job zu finden«, sagte Robert. »Oder wie siehst du das, Charlotte, als alte Personalerin?«

»Was du für ein Spießer bist, Robert!«, sagte Doris. »Es geht doch bei der Ausbildung nicht nur darum, später Geld zu verdienen. Man lernt auch fürs Leben, macht den Kopf groß, bildet sich, wird ein zivilisierter Mensch, hat ein bisschen Spaß …«

»Solange die Zensuren stimmen, wird er das nicht«, sagte Charlotte, ohne auf Doris einzugehen. »IT-Spezialisten braucht jedes Unternehmen – hier in München und überall, und das wird auf Jahre so bleiben. Aber von nichts kommt nichts, nicht einmal bei meinem Einstein von Neffen. Etwas Anstrengung gehört dazu.«

Arne zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht so, als würde ich zu Hause auf dem Sofa liegen und daddeln. Jedenfalls nicht nur.«

»Was ist mit dir, Charlotte?«, fragte Doris. »Vermisst du die Arbeit? Wann war dein letzter Tag?«

»Vergangene Woche Montag. Eigentlich schon der Freitag davor. Aber am Montag hatten wir am Nachmittag noch einen kleinen Empfang mit den wichtigsten Kollegen – der engste Kreis nur. Es gab Lilien wie auf einer Beerdigung, alle haben artig geklatscht, und das war es dann. Man wird mich vermissen. Für ungefähr eine Woche, ich mache mir nichts vor.«

»Wie fühlst du dich? Leer irgendwie?«

Charlotte streifte sich einen karierten Küchenhandschuh über und sah auf. »Leer? Nein, kann ich nicht sagen. Angestelltenhaftigkeit ist kein Zustand, in dem man immer leben könnte, schon gar nicht in unserem Alter. Die meisten Leute, die morgens aufstehen, um zu ihrem Chef ins Büro zu laufen, sind doch im Grunde Langweiler. Es dauert eine Weile, bis man das begriffen hat. Aber irgendwann muss man sich fragen: Will ich bis ans Ende meines Lebens zu denen dazugehören? Ich jedenfalls nicht. Ich habe lange genug so gelebt. Ich war selbst langweilig. Das konnte nicht auf ewig so weitergehen. Irgendwann ist man einfach so weit im Leben, dass man sieht, was man falsch gemacht hat. Dann muss man es ändern.«

»Mutig, mutig«, sagte Doris. »In deinem Alter. Du bist Mitte fünfzig, hast du das vergessen?«

»Hah«, sagte Charlotte zu laut. »Wann soll man mutig sein, wenn nicht in unserem Alter, Sonnenschein!? Man hat viel weniger zu verlieren. Nein, von Leere kann keine Rede sein und von Langeweile erst recht nicht. Kenne ich überhaupt nicht, Langeweile. Ich habe mehr zu tun als früher, so kommt es mir vor. Meine Zeit gehört jetzt mir. Man wird sehen, wie es weitergeht. Ich bin erst ein paar Tage raus. Ob ich irgendwann im Winter oder im nächsten Jahr in ein tiefes Loch falle, wer weiß das? Werde ich ja feststellen.«

»Hoffen wir’s nicht«, sagte Doris. »Wie läuft es jetzt in der Personalabteilung bei Siemens? Sicher ein Hauen und Stechen und ein großes Durcheinander, weil alle deinen Job haben wollen? Hast du noch Kontakt zu deinen Kollegen?«

»Natürlich. Das eine oder andere besprechen wir telefonisch. Einige Verträge sind kompliziert oder einfach nur sehr alt und lange am Laufen. Die jungen Kolleginnen können vieles überhaupt nicht wissen, wenn sie erst ein paar Jahre im Unternehmen sind.«

»Aber die Firma ist ohne dich noch nicht zusammengebrochen?«

Charlotte lachte. »Ach, weißt du, Doris, man stellt sich das immer so vor, dass man geht und nichts mehr funktioniert ohne einen. Aber so ist das nicht. Man geht in den Ruhestand, und die Welt dreht sich weiter, und die Sonne geht auf und unter, als wäre nichts passiert. Es fällt überhaupt nicht auf. Kein schöner Gedanke, aber so ist das. Man darf sich selbst nicht so wichtig nehmen.«

Charlotte schaute in der Hocke in den geöffneten Backofen. »So, ihr Lieben, jetzt brauche ich euch. Robert, tu mir den Gefallen, und hilf mir, den schweren Vogel auf das Brett zu stellen … so … ja … ich danke dir.«

»Ist er denn schon fertig?«, fragte Arne. »Wir haben doch noch gar nicht angefangen.«

»Fertig hoffentlich nicht«, sagte Charlotte. »Er soll noch nicht gar sein. Ich schneide ihn in Stücke, und die Stücke gehen in den Topf dort. Dann wird zweimal flambiert, mit Cognac. Auch aus Karls Beständen natürlich.«

»Es riecht nicht schlecht«, sagte Robert. »Lecker, lecker.«

»Bei euch ist unten im Flur alles mit Styroporkartons und Plastikwannen zugestellt«, sagte Arne. Er setzte sich Robert gegenüber an den Küchentisch. »Im Erdgeschoss zieht jemand ein, glaube ich, in den Laden. Da brannte Licht. Sieht aus wie etwas Asiatisches, ein Restaurant oder so. Das stand doch letzten Monat noch leer, oder nicht?«

»Ist das wahr?«, fragte Charlotte und steckte sich im Stehen eine schwarze Olive in den Mund. »Heute Nachmittag war ich draußen und habe nichts bemerkt. Wie aufregend – die neuen Nachbarn kommen. Und im Flur stehen Sachen, sagst du?«

»Der Hauseingang ist voll mit Kisten.«

»Sind auch Leute da, oder hat nur jemand abgestellt?«

»Nein, auch Leute. Zwei Frauen, ein Typ und ein paar Kinder. Alle asiatisch. Aus Thailand oder so.«

»Dann wird das unsere neue Nachbarin sein. Unten im Erdgeschoss macht ein asiatischer Laden auf – da, wo bis Anfang des Jahres die Spontan-Kita war, die nie eine Genehmigung hatte. Das wird einer dieser Asia-Märkte mit Lebensmitteln und Fisch, die jetzt überall sind. Duong soll die Frau heißen, sagte Inge Lemcke von gegenüber. Eine Frau Duong aus Vietnam. Wie Ding-Dong. Ich habe sie noch nicht kennengelernt, aber so ein asiatisches Lebensmittelgeschäft ist natürlich super. Besser als die Kita. Gar nicht wegen des Lärms, den die Kinder gemacht haben. Die Erzieherinnen – die waren das Problem. Selbst fast noch Kinder, und Fremdbild und Eigenbild gingen bei diesen jungen Damen ausnahmslos getrennte Wege. Es ist kein Verlust, dass sie dieses Haus nicht mehr beehren. Nicht dass ich so empfindlich wäre wie unsere liebe Doris hier, aber diese Kita war kein Erfolg.«

»Ich empfindlich? Also wirklich, Charlotte, ich bin, was Kinder angeht, mit der größten Geduld gesegnet. Das weißt du. Ich liebe Kinder.«

»Ach, seit Neuestem?«

»Nur nicht diese neudeutschen, verhaltensgestörten.«

Robert lachte.

»Außerdem wird diese Frau Duong uns bestens mit Thai-Lebensmitteln versorgen«, sagte Charlotte. »Hoffe ich jedenfalls. Frischer Koriander, die Tofugeschichten, die sie da haben, Sojasoße und Bambussprossen, Tigergarnelen, so Sachen. Ich bin eine große Verehrerin der asiatischen Küche. Arne – jetzt brauche ich die Cognacflasche, bitte. Hat jemand ein Streichholz? Robert, du? Danke sehr, Feuerzeug geht auch, ja. Jetzt wird das erste Mal flambiert, und dann gehen wir endlich zu Tisch.«

»Wunderbar«, sagte Robert. »Die alte Schule.«

»Außerdem muss ich euch etwas sagen.« Charlotte hielt mit dem Feuerzeug in der Hand inne und schaute in die Runde. Doris, Arne und Robert sahen sie erwartungsvoll-überrascht an.

»Na?«, fragte Doris. »Du hast doch nicht etwa schon wieder einen neuen Job?«

»Blödsinn. Also, Folgendes. Ich habe ja jetzt viel Zeit – jedenfalls mehr Zeit als vorher bei Siemens. Da habe ich gedacht: Wann, wenn nicht jetzt? – und einen Entschluss gefasst. Ich werde mir die Welt ansehen – all die wunderbaren Orte, die ich immer schon sehen wollte und für die ich im Beruf nie richtig Zeit hatte. Ich werde reisen. Ernsthaft reisen. Und ich fange mit Berlin an.«

»Berlin?«, fragten Arne und Doris gleichzeitig. »Du?«, schob Arne nach. »Ich dachte, Berlin sei so furchtbar?«

Robert nickte. »Das wurde aber auch Zeit. Fang endlich an zu leben.«

Das Feuerzeug klickte. Blaue Flammen deckten das Huhn von der Loire zu.

Kapitel 3

»Hast du dir das auch gut überlegt, Charlotte?«, fragte Doris. »In einer fremden Stadt, alleine auf dich gestellt? Ich weiß nicht – das klingt irgendwie unvernünftig. Man hat doch keinen Spaß, wenn man alleine verreist.«

»Natürlich habe ich es mir überlegt. Du kennst mich doch.«

»Wirst du dich nicht einsam fühlen – ohne Robert und mich und dein gewohntes Umfeld?«

»Doris, jetzt mach bitte kein Drama draus. Es ist nur für eine Woche, höchstens für zwei, wenn es mir gut gefällt. Ich werde alleine sein, nicht einsam, das ist ein Unterschied. Ich werde Zeit haben, um den Kopf freizuräumen und mir Gedanken über mein neues Leben zu machen – den Rest meines Lebens – das, was jetzt kommt. Jetzt, wo alles anders ist. Oder sein wird. Ach, da ist die Bedienung ja …«

Doris und Charlotte saßen um fünf Uhr nachmittags im Wiesner auf der Theatinerstraße, einem traditionsreichen Straßencafé (»seit 1901«), dessen Gäste sich alle angesichts des Nieselregens und der hereingebrochenen Dämmerung in die geheizten Innenräume zurückgezogen hatten.

»Was nimmst du, Doris?«

»Seien Sie so gut, und bringen Sie mir einen Milchkaffee. Vielleicht einen Keks dazu – geht das? Einen einzelnen, meine ich.«

Die Kellnerin, eine dralle Person in dicken Strumpfhosen und rosa-grünem Dirndl, sah sie spöttisch an. »I bring dir a zwo Keks miet«, sagte sie mit überraschend tiefer Stimme.

»Aha«, sagte Charlotte. »Du willst keinen Kuchen, Doris?«

»Charlotte – du weißt doch, dass mir Kuchen nicht bekommt. Ich schaue ihn nur an und nehme ein Pfund zu. Ein mürbes Kekslein, das reicht mir. Mehr als genug.«

»Ja, ja, ja. Das wird mich, liebe Freundin, nicht davon abhalten, selbst ein Stück zu bestellen. Haben Sie heute Ihren Mohnkuchen? Schön. Dann nehme ich einen Mohnkuchen. Wie? Mit Sahne, ja. Natürlich.«

»Also wirklich, Charlotte. Du willst es mir richtig zeigen heute.«

»Und zum Trinken, die Dame?«

»Oh ja«, sagte Charlotte. »Grünen Tee und dazu ein Kännchen mit kalter Milch.«

»Grünen Tee mit Milch. Trinkt sonst keiner, aber das soll nicht das Problem sein. Des passt scho.«