Falsche Juwelen zum Afternoon Tea - Emma Lagies Whitman - E-Book
SONDERANGEBOT

Falsche Juwelen zum Afternoon Tea E-Book

Emma Lagies Whitman

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein delikates Verbrechen im Himalaja

Darjeeling, die berühmteste Teestadt im Himalaja: Die beiden Freundinnen Charlotte und Doris verbringen ihren Urlaub in einem luxuriösen Kolonialhotel in Indien. Doch sie erwarten nicht nur exquisiter Tee, gutes Essen und Erholung. Kurz nach ihrer Ankunft geschehen merkwürdige Dinge: Eine Mitreisende behauptet, dass ihr wertvoller Saphirring durch eine Fälschung ausgetauscht worden sei, und einer anderen Dame wird Schmuck entwendet. Charlotte ist alarmiert. Als die Gruppe dann auch noch in den Bergen eingeschneit wird, steht fest: Der Dieb muss unter ihnen sein ...

Ein Roman für Krimifans, Gourmets und Globetrotter: Miss Marple ist wieder da - charmanter, durchtriebener, gewitzter denn je!

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 485

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Heike Merkatus’ Liste

Übersetzungshilfe Indien-Deutschland

Über dieses Buch

Ein delikates Verbrechen im Himalaja

Darjeeling, die berühmteste Teestadt im Himalaja: Die beiden Freundinnen Charlotte und Doris verbringen ihren Urlaub in einem luxuriösen Kolonialhotel in Indien. Doch sie erwarten nicht nur exquisiter Tee, gutes Essen und Erholung. Kurz nach ihrer Ankunft geschehen merkwürdige Dinge: Eine Mitreisende behauptet, dass ihr wertvoller Saphirring durch eine Fälschung ausgetauscht worden sei, und einer anderen Dame wird Schmuck entwendet. Charlotte ist alarmiert. Als die Gruppe dann auch noch in den Bergen eingeschneit wird, steht fest: Der Dieb muss unter ihnen sein …

Ein Roman für Krimifans, Gourmets und Globetrotter: Miss Marple ist wieder da – charmanter, durchtriebener, gewitzter denn je!

Über die Autorin

Emma Lagies Whitman, Jahrgang 1981, studierte in München, im schottischen Edinburgh und an der amerikanischen Cornell University in Ithaca Psychologie und Anglistik, Spezialgebiet: englischsprachige Kriminalromane des 20. Jahrhunderts. Zu ihren literarischen Favoriten zählen Agatha Christie, P. D. James, Alexander McCall Smith und Patrick O’Brian.

Im Hauptberuf arbeitet die gebürtige Westfälin heute als Projektmanagerin einer deutschen Drogeriekette in Karlsruhe. Im Nebenberuf, ihrer eigentlichen Leidenschaft, bereist Lagies Whitman als Reisejournalistin die Welt. Am wohlsten fühlt sie sich in tropischen Ländern – und in Kapstadt.

Lagies Whitman ist mit einem Briten verheiratet und Mutter von zwei Söhnen.

Emma LagiesWhitman

Falsche Juwelenzum Afternoon Tea

Ein köstlicher Fallfür Charlotte Trinkwasser

beTHRILLED

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anke Hennek

Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias

Covergestaltung: Chrissie Salz unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: livijus raubickas | Egyptian Studios | Textures and backgrounds und © iStockphoto: pjrimages | Coprid | Backiris

eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5405-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

For Niloufer and Noshir Dastur

“Would you like an adventure now, or would you like to have your tea first?”

J. M. Barrie: Peter Pan

“Really, men, when they got to forty-five, should make a vow not to tell any stories or anecdotes at all.”

Agatha Christie: A Daughter’s a Daughter

Kapitel 1

Eine Kuh steht vor Doris Gutlieb, als sie aus dem gelben Ambassador-Taxi steigt und spürt, wie klebrige Mittagshitze sich auf ihre Poren legt: weißes Fell mit unregelmäßigen karamellbraunen Flecken, ein nach links hängender Buckel, lackierte Hörner, das rechte hellblau, das linke rot wie Blut. Es scheint ein friedliches, zahmes Tier zu sein, denkt Doris erleichtert nach dem ersten Schreck, kein Grund, nervös zu werden – oder doch? Wer kennt die Gedanken eines frei herumlaufenden Rinds? Das Tier starrt sie aus feuchten, glänzend braunen Augen an und kaut unaufgeregt Luzerne, deren Halme ihm zu beiden Seiten aus dem Maul hängen. Einige Schritte weiter, unter einer leeren Autorikscha, dösen zwei Straßenhunde mit ausgestreckten Beinen im Straßenstaub, die Augen geschlossen, das kurze Fell im Ton des bleichen, fast farblosen Sands, auf dem sie liegen, sodass sie kaum auffallen; daneben ein Karren mit grünen Kokosnüssen, von denen einige auf den Boden gekollert sind, und ein Junge, vielleicht sieben oder acht, mit schmutzigen Fingern und Füßen und wachsamen Augen: der Verkäufer. Eine Krähe mit einem Schnabel von der Größe und Form eines gekrümmten Fingers sitzt auf einer verfallenen Mauer, putzt sich mit schrappendem Geräusch und schaut zwischendurch intelligent zu Doris, den Schnabel weit geöffnet, um die Hitze des Körpers abzuleiten wie ein hechelnder Hund. Eine neugierige, glücklich aussehende Ziege mit Glöckchen um den Hals und schaukelnden Zitzen kommt angetrottet, als Doris versucht, den Kofferraum des Taxis zu öffnen, was ihr nicht gelingt, weil die verzogene Haube irgendwo klemmt. Auf der anderen Straßenseite kauert ein Barbier auf den Platten des Gehwegs, barfuß in weißem Lungi, vor ihm in der Hocke sein Kunde, den Kopf entspannt zurückgelehnt, Kiefer und Wangen weiß eingeschäumt, und rasiert mit höchster Konzentration. Doris meint das feine Raspeln der Barthaare zu hören. Ein süßlicher Geruch von Kuh steigt ihr in die Nase, der Gestank von heißem Gummi, von Urin, Benzin, fauligem Obst, Abgasen. Die Sonne steht hoch, kaum zu erkennen hinter einem trüben Vorhang aus Dunst, Smog und Hitze: Kolkata.

Doris faltet nervös-trotzig ihre Arme und wartet, während ihre Freundin Charlotte Trinkwasser auf der Rückbank im Taxi zweimal das Geld für den Fahrer abzählt, ungewohnte Rupien-Scheine, schmuddelig grau, die Zahlen kaum zu entziffern, als wären die Banknoten versehentlich gewaschen oder in Schweiß getränkt worden. »Du, jetzt steig endlich mal aus, Charlotte«, ruft Doris schließlich, eine Spur Unsicherheit in der Stimme, weil die beiden Straßenhunde ihre Augen geöffnet und die Köpfe gehoben haben, auf sie aufmerksam geworden. »Hier ist was los bei denen. Eine Kuh mit Hörnern steht hier vor mir. Groß wie dein Klavier. Tut aber wohl nichts, die guckt nur, glaube ich. Weiß nicht. Famous last words vielleicht. Eine Ziege. Zwei Köter – was mache ich denn jetzt, Charlotte? Davon stand nichts im Buch. Das ist hier wie Unsere kleine Farm.«

»Danke«, sagt Charlotte zum Fahrer, einem schmächtigen Bengalen mit dichtem, an den Enden aus der Form gelaufenem Schnurrbart und Büscheln von schwarzem Haar in den Ohren. »Das passt so, ja? That’s okay, thank you.« Der Fahrer nickt zufrieden und steigt aus, um sich um das Gepäck zu kümmern: zwei Schalenkoffer, jeweils ziemlich genau zwanzig Kilo schwer, wie das Wiegen beim Einchecken am Münchener Flughafen am Vortag ergeben hat. Er hat sie auf dem Dachgepäckträger des Ambassadors mit einer dicken grünen Nylonschnur festgezurrt und Doris’ lederne Extra-Reisetasche von Chi Chi Fan, ein teures Stück, gleichgültig in den Kofferraum geworfen, in dem leere schmierige Öldosen von Castrol herumrollen.

»Kühe tun nichts«, sagt Charlotte, als sie aussteigt und ihre klebrige, zerknitterte Kleidung zurechtzupft. »Das ist hier sicher nicht anders als im Allgäu. Wo ist sie denn? Ach da, ja, nicht zu übersehen. Ruhig, Doris. Die steht da nur und frisst ihr Zeugs. Wir sind in Indien, da leben Millionen Kühe, weißt du doch. Das ist unser Hotel hier, oder nicht? Dieses Gebäude?«

»Ich glaube schon. Greendale heißt es, sagtest du. Eine Hausnummer steht nicht dran.«

»Genau. Wie grünes Tal.« Charlotte blickt auf das Gebäude, das hinter einer maroden Mauer etwa zwanzig Schritt zurückgesetzt in einem Garten steht, mit einer tiefen Holzveranda, die im Erdgeschoss einmal um das Haus zu laufen scheint. »Es ist wirklich grün. Grün gestrichen. Das wird es sein.«

»Netter Farbton«, sagt Doris. »Schau, da vorn steht es auch: ›Greendale‹. Auf dem verstaubten Schild an der Mauer.«

»Yes, yes, Greendale, Ma’am«, sagt der Taxifahrer, der sich einen der Rollkoffer auf die Schulter gehoben hat, anstatt ihn durch den sandigen Boden zu ziehen. »You want Greendale, no? Your hotel? Ballygunge area? Hindustan Park?«

»Ja, ja, alles richtig – wir sind mit Sicherheit richtig hier.«

»Schau mal, Charlotte«, sagt Doris, »was für ein riesiger Baum da rechts im Hof, wo die Tische und Stühle stehen. Unglaublich – was ist das für einer? Wenn nur diese Hitze nicht wäre. Es fühlt sich an wie fünfunddreißig Grad.« Doris, die eine Kalikohose und ein blaues Leinenhemd trägt, nimmt ihren extra für die Reise angeschafften Panamahut vom Kopf und fächelt sich Luft ins Gesicht. »Puh. Ich muss sofort ins Kühle. Bin ich froh, dass wir ein Zimmer mit Klimaanlage haben.«

»Wollen wir hoffen, dass sie funktioniert«, sagt Charlotte trocken. »Weiß man ja nicht. So wahnsinnig modern sieht es nicht aus. Aber vielleicht täuscht der erste Eindruck.«

»Das ist ein Regenbaum«, sagt eine Jungenstimme neben ihr auf Deutsch. »Der große da. Ein rain tree. So nennt man die. Aber die kommen überhaupt nicht aus Indien, die wachsen nur hier, weil man die hergebracht hat. Die sind aus Brasilien, sagt mein Vater.«

Charlotte dreht sich zu dem Jungen um: schlank, um die elf, gesunde, von der Sonne gebräunte Haut, blaue Augen, kurze mattblonde Struwelhaare auf dem Kopf. Er trägt ein zu großes Kapuzensweatshirt mit breiten Querstreifen in Grün und Blau, auf dem die Nummer 98 in Rot aufgestickt ist. DOWNTOWN MIAMI steht darüber in weißen Lettern auf der Brust. »Und wer bist du?«, fragt sie.

»Tony. Und du?« Charlotte ist für einen Moment überrascht, dass sie der Junge, dem Akzent nach vermutlich Schweizer, kurzerhand duzt – einfach so, als würden sie sich seit Jahren kennen. Aber er macht einen netten, freundlichen, wohlerzogenen Eindruck. Vermutlich redet er mit allen Erwachsenen so.

»Ich bin Charlotte. Das ist meine Freundin Doris. Wohnst du hier im Hotel?«

Tony nickt. »Mit meinen Eltern. Und Céleste. Die ist meine Schwester. Ich mag es überhaupt nicht hier.«

»Ach? Warum denn nicht – ist es nicht schön in diesem Hotel? Sieht doch nett aus.«

Leise: »Das stinkt.«

»Ah … so. Bist du denn schon lange hier?«, fragt Doris.

Kopfschütteln. »Zwei Nächte. Wir waren davor in Varanasi. Da liegen Leichen auf der Straße. Die verbrennen die da und werfen die in den Fluss.«

»Oh. Das ist ja schrecklich. Und im Hotel stinkt es, sagst du?«

»Nach Pipi und Scheiße. Und nach anderen Sachen.«

»Aha. Ja. Nein. Das ist nicht gut.«

Tony schüttelt energisch den Kopf. Doris schließt sich an.

»Wie heißt du denn mit vollständigem Namen?«, fragt Charlotte.

»Tony Lorenz. Antony eigentlich. Wir kommen aus Biel. Kennt ihr das?«

»Gehört habe ich davon«, sagt Doris »In der Schweiz. Da gibt es einen See, oder?«

Tony nickt.

»Und was ist so schrecklich an dem Hotel hier, dem Greendale – jetzt mal abgesehen von dem Geruch? Ich hatte bisher eigentlich viel Gutes gehört, weißt du? Ich habe gelesen, dass es ein schönes Haus ist. Gut, ein bisschen in die Jahre gekommen, ein bisschen rumpelig. Aber es soll ein charmantes, behagliches Kolonialhotel sein.«

Tony schaut sich nervös um, als hätte er Angst, belauscht zu werden. »Weiß ich nicht. Was ist kolonial?«

»Mit viel Geschichte«, sagt Doris. »Vereinfacht gesagt.«

»Die essen hier komische Sachen«, sagt Tony schließlich nach einer respektvollen Pause.

»Was denn für Sachen?«

»So – das ist alles so scharf, man muss immer husten. Und dann isst man ganz schnell Joghurt und so eine grüne Soße mit Pfefferminze, damit man nicht stirbt wegen des Brennens im Hals. Wegen der Chilis ist das, sagt mein Vater. Die machen das so scharf, damit man sich keine Krankheit holt, sagt er. Aber Céleste hat trotzdem gespuckt. Das schmeckt gar nicht.«

»Hm, ich bin gespannt«, sagt Charlotte. Sie wirft dem Fahrer einen Blick zu, der neben ihnen wartet und offenbar nicht weiß, was er mit dem schweren Gepäck tun soll. »Sag mal, Tony, wo geht es hier zur Rezeption? Hier geradeaus den Steinweg entlang – auf die Veranda? Ich sehe kein Schild.«

Tony schüttelt den Kopf einmal energisch rechts-links. »Hinten rum, den Weg mit den Steinplatten. Wo die komischen Blumen sind. Die stinken, wenn man denen die Köpfe abbricht.« Der Junge zeigt mit dem Finger auf die hintere Veranda mit zahllosen Tagetes- und Dahlienkübeln, vor langer Zeit mit grüner Farbe gestrichen, die im Laufe der Jahre abgeblättert ist und dem Äußeren des Greendale eine Patina des Altehrwürdigen und zugleich etwas Verwahrlosten verleiht.

»Dann wollen wir mal«, sagt Charlotte. »Wir sehen uns nachher bestimmt wieder, Tony, dann stellst du uns vielleicht deinen Eltern vor, in Ordnung? Und deiner Schwester.«

»Okay.« Ein vorsichtiges Lächeln.

Doris, sichtlich angeschlagen, fächelt sich auf der Veranda Luft auf Hals und Wangen. Während der Fahrt vom Dum-Dum-Flughafen in die Innenstadt von Kolkata war ihr schlecht geworden. Sie bekam gleich nach ihrer Landung in Abu Dhabi am späten Vorabend Kopfschmerzen und nimmt seitdem alle zwei oder drei Stunden Tabletten, die aber kaum wirken und sie stattdessen benebeln und zugleich müde und fahrig machen. Im Taxi hielt sie sich mit beiden Händen von hinten am Beifahrersitz fest, um die Schlaglöcher abzufedern – was im Rückblick glücklich war, denn während der Fahrt, als der Ambassador mit über sechzig ein überraschend verkehrsarmes Stück einer Schnellstraße entlangschoss, sprang plötzlich die Wagentür zu ihrer Linken auf, einfach so, sie hatte nichts angefasst, und sie hätte leicht hinausfallen und sich etwas brechen können. Benommen, wie sie war, schreckte sie stattdessen nur kurz auf und lachte fahrig; Glück im Unglück. Aber ihre Übelkeit kehrte zurück, und es half wenig, dass sie unter ihren Füßen durch ein Loch im Boden den Asphalt von Kolkata vorbeifliegen sehen konnte, dass die Bremsen bei jedem Stopp widerlich quietschten, dass die Rückbank nicht richtig im Chassis verankert war und mit Charlotte und ihr wie ein Floß im Wasser in der Kabine zu schwimmen schien. Sie standen lange im Stau, und der Fahrer öffnete alle fünf Minuten seine Tür, räusperte sich tief und spuckte genüsslich auf die Straße – rotzte mehr als zu spucken. Es war heiß und schwül, das Taxi hatte keine Klimaanlage, und nicht einmal der Fahrtwind, der dank der geöffneten Fenster durch die Kabine zog, verschaffte ihr Abkühlung. Das Hupen der Autos und Rikschas und Busse und Lkws und Motorräder auf den Straßen dröhnte in ihrem Kopf.

»Ist dir noch schlecht?«, fragt Charlotte besorgt, als sie die Hotelhalle betreten und sich in der menschenleeren Lobby umsehen. Alte Clubsessel mit elfenbeinfarbenen Antimakassars und abgewetzten karmesinroten Samtbezügen stehen an hohen, zerbrechlich aussehenden Kartentischen, die Fauteuils so nah an die mit grünem Filz beschlagenen Tische gerückt, dass man sich nicht setzen kann, ohne die schweren Möbel zu schieben oder sich die Knie zu stoßen. Im hinteren Teil ein flächendeckend geschmückter Christbaum aus Plastik mit blinkenden Glühlampen in Grün-Rot-Blau, Unruhe und Ungemütlichkeit ausstrahlend. In einer Ecke der Decke hängt ein uralter Fächer aus Pfauenfedern, schwarz von Dreck, verfilzt und unappetitlich. Vor einer Wand strahlt ein beleuchtetes Aquarium swimmingpoolblau, darin ein einsamer Fisch einer grauen Welsart mit langen Fühlern am Kopf, viel zu groß für das Becken, an der Wasseroberfläche nach Luft schnappend.

»Es geht schon«, sagt Doris in einem Ton, der Charlotte bedeutet, dass ihr noch immer unwohl ist, sie sich aber zusammenreißen wird. »Muss. Schau hier.« Sie streckt ihr die Handflächen entgegen. »Siehst du das Rote? Ich habe plötzlich überall diese Bläschen am Handgelenk und am Ballen, vor allem unter der Armbanduhr. Es juckt wie verrückt.«

Charlotte schüttelt mitleidig den Kopf. »Tss, das auch noch. Das muss die Hitze sein, Doris. Hitzepickel. Prickly heat, das ist der englische Ausdruck. Hier, aber die Stelle unter dem Armband … – das sieht mir eher nach einer Nickelallergie aus. Kann das sein? Bist du allergisch auf Nickel?«

»Nicht dass ich wüsste. Das Armband ist aus Stahl, und ich habe die Uhr bestimmt schon seit zehn Jahren und noch nie ein Problem damit gehabt.«

»Dann weiß ich auch nicht. Vielleicht liegt es an der Luftfeuchtigkeit. Oder einfach an der Hitze. Nimm die Uhr am besten für ein paar Tage ab. Wir sind in Indien, das birgt Risiken und Nebenwirkungen.«

»Ja, ja. Ich weiß, ich weiß. Du hattest mich gewarnt. Es wird schon gehen – ich will uns die Reise nicht verderben, wir sind ja noch nicht einmal richtig angekommen. Aber sag einmal – ist denn hier überhaupt einer? Es sieht ziemlich verwaist aus. Die Halle leer, und an der Rezeption scheint auch niemand zu arbeiten. Hallo? Hello, hello? Ah, hier auf dem Tresen ist eine Klingel. Ich bimmele mal. Gott sei Dank haben Sie einen Deckenventilator. Das hilft schon ein bisschen.«

Der Rezeptionist, ein junger Mann in schwarzer Anzughose und offenem weißen Hemd, Namensschild Raj, ist offenbar gerade beim Essen gewesen und kommt kauend aus einem Hinterzimmer. Er wischt sich mit dem Handrücken die Lippen, nickt und lächelt sie an. »Welcome to Greendale Hotel, ladies«, sagt er leise und blickt auf die runde Bahnhofsuhr an der Wand neben sich: kurz nach zwei am Nachmittag. »Sie haben eine Reservierung? Ihr Name?«

Charlotte erklärt auf Englisch, dass sie einer Reisegruppe angehören, die sich an diesem Tag, dem 18. Dezember, im Greendale zusammenfindet, um Kolkata kennenzulernen und zwei Tage später nach Darjeeling aufzubrechen, in den Himalaja.

»Ah, yis, yis, yis, yis.« Der Rezeptionist nickt wissend. »Die Merkatus-Gruppe.« (»The MÖRRkättus group, yis, yis.«) »Zwölf Teilnehmer und Ms Heike. Iconic Travel in Delhi ist die organisierende Stelle, korrekt?«

»Richtig«, sagt Charlotte. »Korrekt. Das ist unsere Gruppe.«

»Welcome, welcome. Ihre Pässe dann, bitte. Wenn Sie sich hier eintragen wollen, während ich eine Kopie mache.« Er dreht das schwere, querformatige Gästebuch auf dem Counter um und reicht Charlotte einen Kugelschreiber, der leer ist und nicht schreibt.

»Sie wollen unsere Pässe behalten?«, fragt Doris mit einer Spur Irritation in der Stimme.

»Nein, nur eine Fotokopie. Eine Formalität. Die Regierung verpflichtet uns dazu. Wir haben ein Doppelzimmer für Sie vorbereitet. Ist das richtig? Twin-Betten. Nummer 15.«

»Natürlich, ja«, sagt Charlotte. »Wir teilen uns das Zimmer. Ist denn der Rest unserer Gruppe schon bei Ihnen eingetroffen? Eben trafen wir draußen einen Jungen, Tony – oder Antony eigentlich –, der gehört sicherlich mit seinen Eltern auch dazu.«

Der Rezeptionist nickt. »Familie Lorenz aus der Schweiz. Herr Lorenz, Frau Lorenz, der junge Herr Lorenz und die junge Miss Lorenz. Die Teilnehmer Ihrer Gruppe sind alle aus Europa – halt, eine Ausnahme! Eine Dame ist aus Amerika gekommen. Separat. Der Rest aus Europa, aber Sie alle fahren gemeinsam in die Berge, so ist es bestimmt. Mit Ihnen ist die Gruppe vollständig. Die meisten sind schon seit zwei Tagen bei uns. Aber bedauerlicherweise fehlt noch Frau Heike, ausgerechnet. Ihr Tourguide. Heike Mörrkättus ist nicht da.« Mädchenhaftes Kichern.

»Ach?«, sagt Charlotte. »Ausgerechnet die wichtigste Person fehlt, die Leiterin der Gruppe? Eigenartig. Wie kann das sein? Ist etwas passiert?«

»Sie sollte eigentlich heute Morgen aus Delhi eintreffen, lange vor Ihnen. Aber dort am Flughafen gibt es im Winter häufig Nebel, und die Flüge fallen aus, bis sich der Nebel am späten Vormittag aufgelöst hat. Frau Heike schickte uns eine E-Mail, dass sie voraussichtlich erst morgen zu Ihrer Gruppe dazustößt, und lässt sich entschuldigen.« Raj dreht sich um und zieht zwei Zimmerschlüssel von einem Haken. »Nummer 15, erster Stock. Ich bringe Ihnen nachher Ihre Pässe. Der Boy begleitet Sie nach oben und bringt Ihr Gepäck nach. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns. Welcome, welcome, welcome, yis.«

»Danke – das ist nett.«

»Heute Abend trifft sich Ihre Gruppe zum Dinner – ohne Frau Heike natürlich, sie ist ja noch überhaupt nicht da. Aber sie sagte am Telefon, dass Sie sich sicher schon alle miteinander bekanntmachen wollen. Um halb acht servieren wir Cocktails – Aperitifs, Whisky und Bier, Saft. Ab zwanzig Uhr folgt das Abendessen, veg, non-veg, all very good. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass die gesamte Reisegruppe teilnehmen wird. Selbst Frau Texas.«

»Eine Dame, die ich nicht kenne. Ist das die Teilnehmerin aus Amerika, die Sie erwähnten? Der Name klingt passend.«

»Frau Texas Craig, ja. Aus den Vereingten Staaten – aber nicht aus Texas, ha, ha! Eine sehr, sehr alte Dame. Über fünfzig.« Raj schaut Charlotte abschätzend an. »Man sagt, sie ist vermögend. Ihr soll Florida gehören.«

»Florida!?«, rutscht es Doris heraus.

»Yes, Ma’am.«

»Komm, lass mal«, sagt Charlotte leise auf Deutsch. »Er übertreibt ein bisschen. Was er sagen will, ist, dass sie unvorstellbar reich ist, glaube ich, als gehöre ihr Florida, so ungefähr.«

Der Boy, ein scheues, stummes Reh mit offenstehendem Mund, begleitet sie in einem ächzenden Drahtkäfigaufzug, der laut Plakette einige Jahr vor der Unabhängigkeit Indiens installiert wurde, in den ersten Stock des Greendale. Die Fahrstuhltür öffnet sich scheppernd auf einen breiten Gang mit hoher, gewölbter, nilgrün gestrichener Putzdecke, an dessen Wänden kolorierte Drucke und vergilbte Sepiafotos aus der Kolonialzeit hängen: Elefanten mit Howdahs auf dem Rücken; erlegte Tiger, Bären, Krokodile, Löwen, Axishirsche, Leoparden, Pythons; stolz neben ihrer Beute kniende Jäger, darunter einige indische Fürsten, die meisten indes Briten in Uniform, kniehohen Stiefeln und mit dichten Schnauzbärten.

Der Junge schließt ihre Zimmertür mit einem winzigen Sicherheitsschlüssel auf und lässt ihnen den Vortritt. »Your room, Memsaabs.«

Während das Greendale im öffentlichen Teil urig-kolonial eingerichtet ist, sieht Zimmer Nummer 15 wie das Set eines Wes-Anderson-Films aus: patinierte Möbel aus den 1940er- und 1950er-Jahren unter einer mehr als vier Meter hohen Decke, an der nebeneinander drei lange Neonröhren hängen, von denen eine kaputt ist und flackert. Ein rotes Kunststofftelefon mit Knochenhörer. Die zwei Einzelbetten, cremeweiß lackiert mit abgerundeten Gestellecken, erinnern an ein Krankenhaus. Die Blumen, eine Orchidee und ein gelber Rosenstrauß, sind aus Plastik und eingestaubt, ihre Farben unnatürlich grell.

»Entzückend«, sagt Doris auf Deutsch. »Schön ist anders, aber besser als befürchtet. Es sieht einigermaßen sauber aus. Der Kasten da im Fenster – das dürfte die Klimaanlage sein.«

Der Page hat die Tür zum Badezimmer geöffnet und winkt sie stumm herbei. »Hot water«, sagt er und zeigt auf einen Schalter an der Wand und anschließend auf einen Wassertank unter der Decke. »Der Geyser. Sie müssen diesen Durchlauferhitzer zehn Minuten, bevor Sie duschen wollen, anschalten. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten.«

»Aha. Habe ich verstanden«, sagt Charlotte – überrascht, dass der Boy plötzlich seine Scheu abgelegt hat und fließend Englisch spricht. Sie überfliegt mit den Augen das Bad: Waschbecken, Toilette, Dusche, Fenster, Decke, grüne Ayurvedaseife von Patanjali, Fläschchen mit hauseigenem Greendale-Shampoo und Greendale-Bodylotion. »Es scheint alles da zu sein. Handtücher, Toilettenpapier. Ja. Ich glaube, Doris, hier müssten wir alles haben, was wir brauchen. Ein Telefon gibt es auch, und hier liegt der Zettel mit einem WLAN-Passwort. Die Klimaanlage ist da vorn …«

»Möchten Sie Tee?«

»Unbedingt!«, sagen Doris und Charlotte gleichzeitig und schauen auf. »Wären Sie so gut? Eine große Kanne bitte« – Charlotte breitet ihre Arme aus: g-r-o-ß – »mit zwei Tassen und kalter Milch extra. Verstehen Sie, was ich meine? Thanda dudh. Sagt man das auch auf Bengalisch? Eine Kanne für eine ganze Familie am besten, junger Mann. Für eine große Familie. Eine große Kanne.«

»Tee, ja.«

»Mit Milch. Separat. Thanda.«

»Ja, Ma’am. Milk separate.«

»Wunderbar. Das wird uns nach der langen Anreise guttun, Doris: eine erste anständige Tasse Tee in diesem Bengalen.«

»Ich bringe Ihnen auch Kekse«, sagt der Junge, als Charlotte ihm ein Trinkgeld in die Hand drückt – unsicher, welcher Betrag der richtige ist. Sie hat sich noch nicht an Rupien gewöhnt.

»Doris«, sagt Charlotte, als er mit einem kritischen Blick in seine Hand die Zimmertür hinter sich zuzieht, »ich kann es kaum glauben: Wir sind tatsächlich in Indien! Wir werden Weihnachten in Indien verbringen!«

Doris dreht sich um und lächelt sie gequält an.

»Immer noch Kopfschmerzen?«, fragt Charlotte.

Doris nickt bedeutsam und seufzt. »Die Taxifahrt. Vorhin am Flughafen waren die Schmerzen fast weg. Aber dieses Rumpeln und Pumpeln und die Hitze haben es wieder schlimmer gemacht. Hier – hinter den Augen bis zur Stirn rauf, da pocht es … Ach, es ist schrecklich.«

»Willst du noch eine Ibuprofen? Warte, ich öffne die Koffer und hole den Medizinbeutel heraus, dann geht es dir in ein paar Minuten besser.«

»Danke dir, Charlotte, aber ich dusche erst einmal in Ruhe und hole mir einfach eine Tablette aus deiner Toilettentasche, falls ich sie brauche. Wenn du gestattest.«

»Nein, nein, ich suche sie dir gleich raus, wenn du im Bad bist, dann hast du sie griffbereit. Die sind ganz versteckt in meinem Kulturbeutel, du würdest sie nicht finden. Dann schalte jetzt am besten sofort das heiße Wasser an – diesen Geyser oder Boiler oder was. Du hast gehört, was er gesagt hat: zehn Minuten bis eine Viertelstunde, sonst bleibt das Wasser kalt.«

»Das ist genau das, was ich jetzt brauche: kaltes Wasser. Bei der Hitze draußen kann ich nicht heiß duschen.«

»Gefällt dir das Zimmer denn?«, fragt Charlotte, als Doris ihre Bluse auszieht, kritisch auf Flecken untersucht und schließlich auf ihre Bettdecke fallen lässt.

»Neonröhren sind ja nicht so meins. Und die Zimmerdecke ist schon sehr hoch.«

Charlotte hebt die Augenbrauen. »Aber schau einmal, da sind diese putzigen Nachttischlampen. Mit denen spielen wir nachher ein bisschen herum und schalten die Deckenbeleuchtung aus, schon wird es gemütlich.«

»Ein Zimmer mit Aussicht wäre nett gewesen.«

»Da ist doch ein großes Fenster.«

»Ja. Mit dem Kasten von der Klimaanlage davor.«

»Stimmt. Aber sei nicht nörgelig, Doris. Wir hätten es in Kolkata viel schlimmer treffen können bei dem Preis. Es ist alles da, was wir brauchen für die zwei Tage, und es ist geräumig. Es macht kein gutes Karma, zu viel zu erwarten. Habe ich gelesen.«

»Ach was, Karma, schwarma. Mein Karma ist von Lidl.«

»Als wüsstest du das so genau.«

»Ich glaube, es ist am besten, wenn ich mich jetzt frisch mache. Wo sind deine Tabletten, sagtest du?«

Während Doris unter der Dusche steht, bringt ein Kellner, Samir mit Namen, den Tee: eine einzelne Tasse, winzig, halb gefüllt mit lauwarmem Wasser, zu groß für die Untertasse, die einem anderen Service entstammt. Daneben ein loser Teebeutel von Tetley, eine Schale mit braunem Zucker in Papiertüten und eine große Thermoskanne aus rosa Plastik, bis an den Rand gefüllt mit aufgeschäumter heißer Milch, auf der sich eine dicke gelbliche Fetthaut gebildet hat.

Charlotte betrachtet das Tablett mit einer gewissen Ratlosigkeit und sieht Samir an, der strahlend lächelt und mit sich und der Welt in höchstem Maße zufrieden ist.

Kreischen aus dem Bad: »Ein Insekt!«, schreit Doris.

Kapitel 2

Charlotte Trinkwasser hatte eine Unternehmensberatung in München zwischen Viktualienmarkt und Gärtnerplatz. Gut ein Jahr vor ihrem Aufbruch nach Kolkata hatte sie während eines Kurzurlaubs in Berlin mehrere unappetitliche Vorfälle in einem bekannten Boutiquehotel am Potsdamer Platz, dem Peterhof, aufklären können, die dem Ansehen des Hauses schweren Schaden zugefügt hatten. Das Management, allen voran Generaldirektor Sven Timmermann, hatte Charlotte damals in ihrem Plan ermutigt, eine Dienstleistungsfirma für Hotellerie und Gastwirtschaft zu gründen: die Trinkwasser Hospitality GmbH.

Glücklicherweise konnte sich Charlotte, zuvor lange Personalleiterin bei Siemens, die Unternehmensgründung leisten – vor allem aufgrund von regelmäßig zugeteilten Belegschaftsaktien, die im Laufe ihrer Berufstätigkeit beträchtlich an Wert gewonnen hatten. Mit Mitte fünzig hatte Charlotte schließlich »in freundschaftlichstem Einvernehmen«, wie ihr das vom zuständigen Vorstand unterschriebene Arbeitszeugnis attestierte, den Konzern verlassen und sich ohne zeitlichen oder finanziellen Druck auf die Suche nach einer neuen Aufgabe gemacht. Nach einem neuen Leben, genau genommen. Nach Aufregung. Abenteuer. Siemens konnte, spürte sie, nicht alles gewesen sein – sollte nicht alles gewesen sein.

Im folgenden Frühling hatte Charlotte schließlich nach langem, zähem Abwägen aller Für und Wider die Trinkwasser Hospitality GmbH ins Handelsregister eintragen lassen, als deren geschäftsführende Gesellschafterin und Chefin sie mit einem Mehrheitsanteil von sechzig Prozent fungierte. Als Büro und offizielle Anschrift der frisch gegründeten Unternehmung musste bis auf Weiteres das Arbeitszimmer in ihrer Altbauwohnung in der Reichenbachstraße herhalten. Sie würde sehen, ob sie sich irgendwann etwas Besseres, Größeres würde leisten können. Die Mieten in München waren besorgniserregend hoch, und sie würden im nächsten Jahr nicht niedriger sein. Es ging auch so fürs Erste.

Die restlichen vierzig Prozent der Firmenanteile an der Trinkwasser Hospitality GmbH übernahmen ihre vier Kompagnons zu gleichen Teilen: ihr engster Freund Robert Wagenheber, ein alteingesessener Antiquar im Münchener Glockenbachviertel; Doris; ihr junger Neffe Arne Schäfer, Student der Informationstechnologie in München; und ihre Tochter Antje, Kunsthistorikerin und zurzeit zu Charlottes Bedauern in London lebend und arbeitend. Charlotte war zufrieden mit diesem Arrangement, es fühlte sich richtig an. Mit Ausnahme ihrer Tochter hatten ihre Geschäftspartner sie im Zuge der Peterhof-Affäre tatkräftig unterstützt, und sie hatte das Gefühl, dass Expertise und Wissenspool ihres Gesellschafterquintetts auch in Zukunft nützlich sein könnten. Arne, erst knapp eineinhalb Jahre zuvor aus Schleswig-Holstein nach Bayern gezogen, verstand alles rund um Computer, Elektronik und die Feinheiten des Internets besser als jeder andere, den sie kannte – und hundertmal besser als sie selbst. Robert, Buchliebhaber und Freelance-Reiseleiter (Spezialgebiet Seniorentouristik in Italien und Griechenland), verfügte über profundes Allgemeinwissen und konnte für den Fall, dass er selbst auf einem Gebiet nur dürftig unterrichtet war, Hinweise geben, wo und wie man gewünschte Informationen recherchieren konnte. Antje deckte das Ressort Kunst (sowie Geschichte und Musikgeschichte) ab. Doris dagegen wurde dank ihrer allgemeinen Patentheit und Bodenständigkeit, ihres gesunden Menschenverstands und ihrer Tatkraft in den Kreis der Trinkwasser-Gesellschafter aufgenommen – und weil Charlottes langjährige und beste Freundin nicht berufstätig war, also Zeit hatte und zudem vom GmbH-Projekt begeisterter war als Charlotte selbst. Doris hatte kurz vor Gründung und Eintragung der Gesellschaft als Einzige darauf bestanden, ihre Einlage – fünftausend Euro – selbst zu leisten. Dank der Unterhaltszahlungen ihres Ex-Mannes Rüdiger, eines blendend verdienenden und etwas weniger blendend aussehenden Managers bei einer großen Versicherung, war dies finanziell möglich, und es machte Doris stolz, nicht auf Charlottes Großzügigkeit angewiesen zu sein. Die neue Aufgabe als Charlottes Kollegin erfüllte sie mit frischem Selbstbewusstsein, tiefer Befriedigung sogar – ein beruflicher Neuanfang auch für sie. Sie verspürte zum ersten Mal seit Jahren das angenehme Gefühl, etwas Sinnvolles und voll und ganz das Richtige zu tun. Aus Anlass des neuen Lebensabschnitts ließ sie zwei Zimmer ihrer großzügigen Wohnung in Haidhausen renovieren, räumte in großem Stil Möbel um, verpackte ihren Flachbildschirm in Plastikfolie und schaffte ihn mit Arnes Hilfe in den Keller. Für Fernsehen, sagte sie, hätte sie jetzt keine Zeit mehr. Sie hätten alle gemeinsam Wichtigeres zu tun. Wer weiß, vielleicht würden sie groß rauskommen?

Die Trinkwasser Hospitality GmbH erhielt in den ersten Monaten ihres Bestehens zu Charlotte und Doris’ Erstaunen eine Reihe von Aufträgen, einige in München und Oberbayern, einen in einem Ayurveda-Kurhaus am Wörthersee, einen in einem heruntergewirtschafteten Geschäftshotel im Bahnhofsviertel von Potsdam und einen weiteren von einem All-inclusive-Urlaubsressort mit mehr als dreihundert Gästezimmern auf Mallorca, das vor allem von deutschen Urlaubern gebucht wurde und seit knapp einem Jahr verheerendes Gästefeedback bekam. Der wichtigste Auftrag von allen war allerdings, wie stets bei Gründung einer Firma, der erste, der ihnen ausgerechnet von der ehemaligen Hausdame des Peterhofs, einer Mariella Kloth, vermittelt worden war. ›Ausgerechnet‹ – weil Frau Kloth, eine spröde und konfliktfreudige Person, sich Charlotte und Doris gegenüber in Berlin abweisend verhalten (und sie einmal in flagranti in der Wäschekammer gestellt und fortgeschickt hatte). Frau Kloth hatte kurz nach dieser unerfreulichen Begegnung im Keller wie geplant den Peterhof verlassen und eine neue Position als Hotelmanagerin im soeben eröffneten Agulhas am Leipziger Platz in Berlin angetreten. Dieses Agulhas wiederum, ein Haus der Kategorie ›Vier Sterne Superior‹, gehörte einer von Investoren aus Spanien und Südafrika gemeinsam gegründeten Hotelgruppe, die im Begriff war, den deutschen Markt zu erschließen. (»Aufzurollen«, wie der junge Deutschlandchef, ein gebürtiger Wolfsburger namens Sperling, es ausdrückte.) Was vor allem hieß: in den wichtigsten Großstädten – nämlich Berlin, Hamburg, München, Frankfurt und Düsseldorf – Häuser zu eröffnen. Der für das Agulhas München im Lehel verantwortliche Direktor der Gruppe nahm über Mariella Kloth Kontakt mit Charlotte auf und bat nach einem erfolgreichen Sondierungsgespräch die Trinkwasser Hospitality GmbH, sämtliche sechsundfünfzig Gästezimmer des neu konzipierten Designhotels der Gruppe während des Pre-Openings gründlich auf Benutzerfreundlichkeit, Bequemlichkeit und Anmutung zu testen, also probezuwohnen. Jeder noch so kleine Mangel war dem Management so bald als möglich mitzuteilen, idealerweise in übersichtlicher Darstellung per E-Mail, wann immer machbar mit fotografischer Dokumentation. Zur Hilfestellung erhielten Charlotte und Doris ein Dossier mit dem druckfrischen ›Credo‹ der Agulhas-Gruppe – den organisatorischen Regeln, stilistischen Leitlinien, gastgeberischen Idealen – und einer Checkliste, die für jedes Zimmer 237 Punkte umfasste. 237 Punkte auf siebzehn eng in kleiner Schrift bedruckten DIN-A4-Seiten.

»Spinnen die?«, lautete Doris’ erster Kommentar, als Charlotte ihr einen Ausdruck der Checkliste in die Hand drückte.

»Das werden wir herausfinden. Dafür werden wir bezahlt. Nicht gut, schwant mir, aber Auftrag ist Auftrag.«

Beide waren anfangs naturgemäß begeistert von einem auf den ersten Blick verlockenden Auftrag, der ihnen außerdem ohne aufwendige Akquise in den Schoß gefallen war: ein Boutiquehotel, fast oberste Luxuskategorie, auf seine Gebrauchsfähigkeit und Gemütlichkeit hin abzuklopfen und das für ein hohes vierstelliges Honorar – es gab undankbarere Aufgaben. Die Freude war allerdings bald Ernüchterung gewichen, als sich zeigte, dass das systematische Testen neu eingerichteter Hotelzimmer eine anstrengende, aufreibende und schlicht unendlich langweilige Aufgabe war. Charlotte und Doris fühlten sich nach wenigen Tagen wie in einem goldenen Käfig der Ödnis gefangen und sehnten sich abends nach ihren eigenen vier Wänden, ihren eigenen Badezimmern, ihren Bettdecken, Teetassen und Weingläsern, wenige Minuten mit der Straßenbahn entfernt. Indes: Auftrag war Auftrag, Vertrag war Vertrag, und pacta sunt servanda, wie Robert, ihr Mitgesellschafter, an passender Stelle in einer E-Mail in Erinnerung rief. Sie hatten zugesagt, in jedem der sechsundfünfzig Zimmer mindestens eine Nacht probezuschlafen, und diese Abmachung war einzuhalten. Immerhin litten sie während der vier Wochen, die sie im Lehel-Agulhas wohnten und arbeiteten, auf hohem Niveau, wie Robert und Arne nicht müde wurden zu betonen. Antje lachte nur hämisch auf Skype – so lange, bis Charlotte und Doris mitlachten.

Sie führten auf Doris’ neu angeschafftem Laptop professionell Buch über alles, was sie taten, sahen, gut oder suboptimal fanden, weit über die ursprüngliche Checkliste ihres Auftraggebers hinaus. Vor allem die Bäder, durchgehend mit schlammbraunen Granitplatten gefliest, stellten sich als Problemzonen heraus. Die hauseigenen, bereits tausendfach produzierten und angelieferten Toilettenartikel des Hotels – Shampoo, Conditioner, Hautlotion – hatten zu enge Flaschenhälse. Die Flüssigkeiten flossen beim Benutzen nicht, allem Schütteln zum Trotz, sondern verweigerten sich der Schwerkraft, was unter der Dusche lästig war. In sechs der sechsundfünfzig Zimmer konstatierte Doris, die sich in ihre Rolle als Nasszellenexpertin rasch einfand, Klempnereiprobleme: Der Ablauf in den Duschen war zu eben, das Wasser stand zentimeterhoch, anstatt in den Abflüssen zu verschwinden. Das Toilettenpapier im Agulhas München war von der nachhaltigen Sorte und wurde »zu 95 Prozent aus Altpapier der Region hergestellt«, löste sich bei Kontakt mit Feuchtem allerdings derart schnell in eine glitschige Masse auf, dass Doris den Gebrauch an Tag zwei ihres Projekts einstellte. Der größte Kritikpunkt aber, den die Trinkwasser Hospitality GmbH in ihrem Abschlussbericht an die Agulhas-Gruppe an prominenter Stelle aufführte, betraf die Beleuchtung. Die Hotelzimmer, technisch auf höchstem Niveau, blinkten in der Nacht wie das Rollfeld des Münchener Flughafens: die Deckenbrandmelder und Telefone hatten rote Signallampen, die Fernseher und Decoder violette, die Digitalwecker auf den Nachttischen grüne, und die Steckdosen leuchteten in Alarmorange. »Ein höchst unentspanntes Arrangement« notierten sie.

Insgeheim schämte sich Charlotte, einen insgesamt nörgeligen Bericht vorzulegen, ließ sich von Doris jedoch überzeugen, dass dies genau der Punkt sei: »Wenn die alles richtig machen würden, bräuchten die Leute wie uns nicht. Je mehr wir kritisieren, desto besser für sie, verstehst du? Wir sind keine Gäste, sondern stehen auf ihrer Seite. Über die Punkte, über die wir uns beschweren, beschwert sich nächstes Jahr kein Gast. Das ist genau der Zweck unseres Auftrags.«

Doris behielt recht. Die Agulhas-Gruppe war äußerst zufrieden mit ihrer akribischen Detektivarbeit. Herr Sperling griff persönlich zum Telefon, bedankte sich in seiner ungewöhnlich tiefen, vibrierenden Stimme bei beiden ausführlich und kündigte in nicht allzu ferner Zukunft einen Folgeauftrag an: das Ganze noch einmal, diesmal zweiundsiebzig Zimmer – das demnächst in Planung gehende Agulhas in Westerland auf Sylt.

»Na bravo«, meinte Doris nüchtern.

Auf der Agenda, die Charlotte und Doris mit Gründung ihrer GmbH aufstellten, standen jedoch über die Auftrags- und Umsatzakquise hinaus weitere Punkte, die sie gemeinsam angehen wollten und mussten. Insbesondere hatten sie sich vorgenommen, ihr Englisch aufzubessern. »Die Hospitality-Branche ist international, Doris«, sagte Charlotte. »Bei denen ist Englisch die Umgangssprache, egal, wo du gerade bist. Der internationale Markt ist bestimmt hundertmal so groß wie der deutschsprachige.« Was Doris einleuchtete. Sie schrieben sich gemeinsam an der Münchener Volkshochschule für zwei Kurse ein, Konversation für Fortgeschrittene (beide verfügten über solide Grundkenntnisse und kamen auf Auslandsreisen problemlos klar) und Geschäftsenglisch (um sich mit Klienten im und aus dem Ausland angemessen seriös austauschen zu können). Darüber hinaus nahmen sie Privatstunden bei Nora Steiner, einer studierten Germanistin, die Teilzeit in der Lizenzabteilung eines Münchener Buchverlags arbeitete und gelegentlich bei Robert im Antiquariat aushalf. Nora war sympathisch, pfiffig und sprach erstklassiges Englisch, vor allem dank eines Studienjahrs in Norfolk. Außerdem machten sie sich die tägliche Lektüre mindestens einer englischsprachigen Zeitung zur Pflicht, in der Regel der International New York Times, die Karolina Lederlung, Betreiberin eines Kiosks am Gärtnerplatz, im regulären Sortiment führte. Und beide lasen, sofern es ihre Zeit erlaubte, Bücher auf Englisch. So hatten sie in den Wochen vor ihrer Reise nach Indien J. G. Farrells Siege of Krishnapur angefangen, den Roman aber nach zwei Tagen einvernehmlich als zu schwierig verworfen. Stattdessen lassen sie Agatha-Christie-Krimis, die ihnen weniger Mühe und deutlich mehr Vergnügen bereiteten, angefangen mit Endless Night, einem überraschend düsteren Werk.

Vor ihrer Abreise nach Indien lud Charlotte in ihrer Wohnung zu einem Abschiedsessen im engsten Kreis, das auf eine Wette mit ihrem Neffen zurückging. Arne hatte behauptet, dass seine Tante niemals in der Lage wäre, ihre Gäste mit dem knappen Budget eines Studenten zu bewirten. Charlotte, eine ehrgeizige und gelegentlich (leider nicht immer) erfolgreiche Köchin, hatte die Herausforderung angenommen und die Bedingungen mit Arne vereinbart. Sollte sie kein vernünftiges Drei-Gänge-Abendessen für sechs Personen für weniger als dreißig Euro auf den Tisch kriegen, hätte sie die Wette verloren. (Wobei ›vernünftig‹, das war sowohl Arne als auch Charlotte klar, ein relativer Begriff war. Sie einigten sich darauf, dem Urteil der übrigen Teilnehmer, die nicht in ihre Wette eingeweiht waren, zu vertrauen.) Das Budget lag somit bei fünf Euro pro Person ohne Getränke. Im Fall einer Niederlage sollte Charlotte Arne eine Fernbuskarte innerhalb Deutschlands spendieren. Würde sie gewinnen, wollte Arne das nächste Mal kochen: Nudeln mit Tomatensoße aus der Ja!-Fertigpackung von Rewe, vierhundert Gramm zu neunundsechzig Cent. (Arne: »Schmeckt nicht doll, aber reicht für zwei und macht satt.«)

Charlotte, die seit fast vierzig Jahren mehrmals wöchentlich kochte, zweifelte keine Sekunde daran, dass sie die Wette gewinnen würde. Preiswert kochen, aber mit Stil – das war eine Fähigkeit, in der sie Übung hatte, seit sie selbst als Studentin, lange bevor sie ihren Mann Karl heiratete und beide beruflich vorankamen, lange vor Antjes Geburt, in ihrem Haushalt mit extrem wenig Geld auskommen musste.

Als Vorspeise bereitete sie Honigmelone mit Schinken vor, diesmal aus Budgetgründen keinen süßen San Daniele aus dem Friaul, sondern Schwarzwälder Schinken, hauchfein geschnitten. Als Hauptgang folgten Spaghetti alla carbonara (Pasta, Knoblauch, Zwiebeln, zwei Eier, Olivenöl, Speck, Pecorino). Zum Trinken gab es Münchener Leitungswasser mit Eiswürfeln und Zitrone sowie Wein, Soave für die Vorspeise, Brunello für die Pasta und zum Dessert ein vorweihnachtliches Parfait, für das sie außer sechs Eiern, Zucker und Sahne nur Zimt, einen Lebkuchen und einen Schuss Portwein brauchte. Brot gab es nicht, sie könnten sich an den Nudeln sattessen. Mussten mangels Masse.

Die Gäste ihres Abendessens – neben Doris, Arne und Robert ihre Nachbarin Inge Lemcke und Charlottes langjähriger Verehrer Simon Delaunay, ein Arzt – schienen das übersichtliche Budget überhaupt nicht zu bemerken. »Köstlich«, sagte Inge, deren Spitz Othello, tagsüber ein renitenter Kläffer, unter dem Esstisch lag und eingeschlafen war. Charlotte hatte ihm bei Eisener, ihrem Schlachter auf dem Viktualienmarkt, ein halbes Pfund frischen Pansen gekauft, den er komplett vertilgt hatte – eine beträchtliche Menge für einen Hund von weniger als acht Kilo.

»Jetzt hat die Frau Duong auch noch zwei Wellensittiche im Laden«, sagte Inge, die seit Jahren an der Theaterkasse der Bayerischen Staatsoper arbeitete, dort quasi zum Inventar gehörte. »Ob das hygienisch ist, kann man nicht sagen. Der eine ist gelb, der andere blau.« Die Rede war von Marguérite Duong, die seit einem Jahr einen Asialaden im Erdgeschoss des Hauses in der Reichenbachstraße führte. Das Geschäft – Tofu, Sprossen und Gemüse, Gewürze, Tiefkühlfisch und fernöstliche Küchenutensilien aus Bambus und Porzellan – schien dank Frau Duongs Tüchtigkeit und ihres einnehmenden, sympathischen Wesens gut zu laufen, blendend sogar. Kunden bildeten am späten Nachmittag Trauben im Geschäft und an der Kasse, die Frau Duong selbst in routinierter Flinkheit führte, Warteschlangen. »Der Asiate hat bei der Sauberkeit natürlich seine eigenen Regeln«, sagte Inge beim Aufrollen ihrer Spaghetti. »Das ist bekannt.«

»Da sehe ich jetzt wirklich nicht das Problem«, sagte Arne. »Man kann es mit der Hygiene auch übertreiben. Die Vögel sitzen doch nett in ihrem Käfig am Eingang, wo sie niemanden stören. Außerdem – ›der Asiate‹? Also, ich weiß nicht …«

»Ich meine ja nur«, sagte Inge, plötzlich eingeschüchtert, als hätte sie eine Ahnung, sich mit ihrer Bemerkung zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. »Es ist sicher nicht gesund. Es sind doch auch Kinder im Laden, habe ich gesehen. Viele – die kommen mit ihren Müttern und kaufen dort ein. Und ihr Junge – der Bub von dieser Frau Duong – ist auch immer dort. Neulich sah ich ihn an der Kasse sitzen und abrechnen. Der ist sicher noch nicht zehn und wird arbeiten geschickt.«

Robert warf Charlotte einen kurzen Blick zu: Lass uns das Thema wechseln, bevor Inge Lemcke sich wieder in ihre fixe Idee – alles, was Hygiene betraf, stieß bei ihr auf grenzenloses Interesse – verrannte.

»Sean«, sagte Charlotte. »So heißt ihr Sohn. Ein kluges Kerlchen. Und Angélique ist Frau Duongs Schwester. Angélique Phan.«

»Als ich vergangene Woche unten bei ihr im Laden war, habe ich zuerst überhaupt nicht verstanden, was sie meinte«, sagte Arne. »Sie redete immer nur von ›fasse fuhd‹, ›fasse fuhd‹, und ich dachte: Was – soll ich jetzt Essen fassen, oder was? Bis mir hinterher einfiel, was sie meinte. Fast Food natürlich.«

Lachen.

»Sie hat hinten jetzt eine kleine Theke und zwei, drei Tische aufgestellt«, sagte Charlotte zur Erklärung, »und macht mittags eine vietnamesische Garküche. Frühlingsrollen mit Soße, Suppen und gebratene Nudeln, so Sachen. Sehr gut, finde ich. Ich war schon zweimal bei ihr.«

Inge sah skeptisch in die Runde.

»Nun erzählen Sie doch einmal von Ihrer großen Reise«, sagte Dr. Delaunay am Ende des Tischs. »Was genau haben Sie vor in Indien? Ist das ein Auftrag, den Ihre Firma übernommen hat, oder unternehmen Sie die Tour zu Ihrem Vergnügen? Oder beides?«

Charlotte wollte gerade antworten – sie hatte die Frage erwartet und sich eine plausible Erklärung überlegt –, doch Doris, die ihr drittes Glas Wein fast geleert hatte, kam ihr zuvor. »Wir müssen auch einmal Urlaub machen«, sagte sie, aufgrund des Alkohols etwas zu laut. »Charlotte und ich wollten seit Jahren schon nach Indien, aber es klappte bisher einfach nie. Über die Feiertage haben wir jetzt beide Zeit.«

»Eine Vergnügungsreise also«, sagte Delaunay, als Nicht-Muttersprachler jeden Konsonanten einzeln artikulierend. »Wunderbar. Der Erholung dienend.«

»Ich wollte eigentlich lieber nach Agra zum Taj Mahal und nach Rajasthan«, sagte Doris. »Agra, Jaipur, Delhi. Aber da war mit Charlotte diesmal absolut nichts zu machen, obwohl sie normalerweise nicht so stur ist. Es musste für sie unbedingt Kolkata sein, obwohl man da so viel Schreckliches hört. Die Armut – die Leprakranken, Mutter Teresa und so weiter. Es muss zum Fürchten sein, jedenfalls in einigen Ecken.«

Delaunay sah sie skeptisch an. »Und Sie wollen nach Kolkata, nicht nach Rajasthan?«

»Ich will vor allem nach Darjeeling«, sagte Charlotte, die aufgestanden und an den Herd gegangen war, um die Warmhalteplatte auszustellen. »In den Himalaja. In die Teeplantagen. Alles, was ich bisher auf Fotos aus der Gegend gesehen habe, hat mir gefallen. Sehr heimelig. Und es ist dort auch nicht heiß. Nach Darjeeling, sagte das Reisebüro, kommt man entweder über Delhi oder über Kolkata. Es geht nicht anders. Wir fliegen über Kolkata und schließen uns dort einer kleinen, feinen Gruppe an – eine Art Reisebaustein von einem Veranstalter dort, die man unkompliziert dazubuchen kann.«

»Aufregend«, sagte Delaunay. »Eine faszinierende Destination. Ich war selbst nie dort, aber die Bilder, die man sieht, die Tempel, die Menschen … Es soll allerdings kein einfaches Land sein.«

Robert nickte wissend. Er hatte vor Jahren das goldene Dreieck bereist, die touristische Rennstrecke mit den geografischen Eckpunkten Delhi, Agra und Jaipur. »In Rajasthan waren wir in einem Tempel, in dem Ratten verehrt wurden.«

Inge schüttelte verständnislos den Kopf. »Ratten? Ungeziefer?«

»Sie werden da gefüttert«, erklärte Robert. »Die Türen werden offengehalten, damit sie jederzeit ein und aus gehen können, wie es ihnen gefällt, und niemand käme auf den Gedanken, den lieben Ratten ein Haar zu krümmen. Da wandelt man dann durch die Hallen, umringt von Zehntausenden Ratten, ein Huschen und Quieken überall, und sie laufen einem über die Füße und klettern an einem hoch, und wenn man nicht aufpasst, kriechen sie einem in die Taschen, die Hosenbeine und ins Hemd. Es ist … – eine Erfahrung, so drücke ich es einmal aus.«

Arne lachte vergnügt.

»Und man darf nicht einmal etwas sagen, weil alles heilig ist. Innerlich bin ich geplatzt – ich wollte schreien. Weglaufen! Aber das kann man in so einer Situation natürlich nicht. Man muss die Befindlichkeiten berücksichtigen. Überall Priester und Gurus und Heilige – oder Halbheilige, wer weiß es? Da kann man als Europäer nicht einfach ausflippen.«

»Und da wollt Ihr hin?«, fragte Inge.

Charlotte trank einen Schluck Brunello und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir fahren nicht nach Rajasthan, sondern nach Bengalen, im Osten von Indien. Im Nordosten.«

»Aber organisiert«, warf Doris ein. »Wir sind ab Kolkata mit einer Gruppe unterwegs – also einer kleinen Gruppe, man will ja nicht blöd in der Herde durch eine fremde Stadt laufen, womöglich noch hinter einem Regenschirm her oder so.«

»Mit wem fliegen Sie nach Kolkata?«, fragte Dr. Delaunay.

Charlotte warf ihm einen warmen Blick zu; sie mochte ihn und wusste, dass er sie noch mehr mochte. »Wir fliegen hier mit Etihad los, zuerst nach Abu Dhabi und dann direkt von dort weiter nach Kolkata. Abu Dhabi liegt ziemlich genau auf halber Strecke, würde ich sagen. In Kolkata bleiben wir dann für zwei Nächte, bevor wir in den Himalaja aufbrechen.«

»Wir wohnen in alten Kolonialhotels«, sagte Doris. »Es sieht auf der Webseite charmant aus, mit viel Patina und alten Möbeln und Afternoon Tea. Entzückend.«

Arne hielt sein iPad in der Hand und zog mit Daumen und Mittelfinger eine Landkarte von Nordindien groß. »Hier ist Delhi. Und da rechts – Kolkata. Das muss Kolkata sein. Der rote Blob.«

»Und nach Agra oder Delhi kommt ihr gar nicht?«, fragte Robert erstaunt. »Ihr verbringt nicht wenigstens ein paar Tage in Rajasthan – oder in Kerala in den Backwaters auf einem Hausboot?«

Charlotte presste die Lippen zusammen und schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf. »Das nächste Mal. Kolkata ist doch für den Anfang auch sehr schön. Oder jedenfalls interessant, geschichtlich meine ich – es hat keinen guten Ruf, ich weiß, aber es soll eine kultivierte Stadt sein mit einer interessanten Küche. Und dann die Berge … Da verbringen wir ja die meiste Zeit: in Darjeeling, wo die berühmten Teeplantagen liegen. Zum Taj Mahal fahren wir dann hoffentlich beim nächsten Besuch. Indien ist riesengroß. Man kann nicht alles auf einmal machen.«

»Krass«, sagte Arne beim Betrachten von Darjeeling-Fotos – in einem Ton, der nahelegte, dass er selbst gern mit von der Partie wäre. »Die haben im Winter Schnee.«

»Wenn es ein nächstes Mal gibt.« Dr. Delaunay lachte. »Man sagt, dass die meisten Leute, die nach Indien reisen, am Ende sagen: ›Einmal und nie wieder‹.«

»Müssen wir sehen«, sagte Charlotte. »So schnell lassen wir zwei uns nicht unterkriegen. Oder, Doris?«

»Wie hat heute eigentlich das Essen meiner Tante geschmeckt?«, fragte Arne unvermittelt in die Runde, ohne vom iPad aufzuschauen.

Inge und Robert sahen ihn überrascht an: Bitte?

»Vorzüglich«, sagte Delaunay.

»Gut wie immer«, sagte Inge und sah unter dem Tisch nach Othello, der im Schlaf mit dem Bein gezuckt hatte.

Kapitel 3

»Man sollte in Indien immer möglichst scharf essen«, sagt Dr. Christian Beitz, der auf seinen Gehstock gestützt in der Mitte des Greendale-Speisesaals steht und eine Entourage von fünf oder sechs Figuren im Halbkreis um sich geschart hat, darunter Randy Brayshaw, den Manager des Hotels. »Scharf, Ladys und Gentlemen, ist gut für den Verstand, das ist bekannt.« Wobei Dr. Beitz, ein wortreicher Herr von einundachtzig Jahren mit noch immer vollem, ins Gelbe tendierendem Haar und geröteter Gesichtshaut, ein Englisch spricht, das Hand und Foot hat: »Ze chili is good for ze little gray cells, zat is known in ze world. Ze spicy food kills ze pests.« Scharf desinfiziere, so der Doktor der Politikwissenschaften; entweder man esse die Chili, oder man kriege den Durchmarsch; und er, Dr. Christian Beitz aus Alsfeld im schönen Vogelsberg, in jungen Jahren Mitarbeiter der Weltbank und in Indonesien, Mexiko, Macao und auch anderenorts tätig, wisse als langjährig Tropenerfahrener – er hat die Malaria überlebt! … wurde man übrigens nie los, die Seuche; wenn es schiefginge, er zufällig in den nächsten Tagen einen Schub bekäme, würde er die Reise sprengen, dann werde man schon sehen, wie ernst die Sache sei – jedenfalls: Er, der Dr. Beitz, habe so seine Erfahrungen, und die Novizen in der Runde, er blickt mit einer hochgezogenen Augenbraue von einem zum anderen, würden gut daran tun, auf ihn zu hören. Sein Stock mit Silberknauf, dem Schnabel eines Entenvogels nachempfunden (der Vogelsberg!), stampft zur Bekräftigung zweimal dumpf auf die Holzbohlen. Auf Charlotte, die mit Doris dazustößt, wirkt er tüdelig, milde euphorisiert, und da sie einen alten Herrn eher nicht des Drogenkonsums verdächtigt, schon gar nicht in Bengalen, vermutet sie einen erhöhten Akoholpegel im Blut, die emotionale Komplexität eines Waffeleisens oder, dritte Möglichkeit, beides. An Dr. Beitz bewahrheitete sich die Maxime, die Charlotte im Laufe ihrer Jahre im Personalwesen bei Siemens verinnerlicht hatte: Die meisten Menschen sagen mehr, als sie zu sagen haben – leider. Dr. Beitz’ Karriere bei der Weltbank – insgesamt zwölf Jahre ohne spektakuläre Höhen und Tiefen, allerdings gut dotiert und wie üblich unter Umgehung der nur für weniger Wichtige relevanten Einkommensteuer – hat Dr. Beitz’ Fremdsprachenkenntnisse nicht perfektioniert, sondern lediglich zu einer Verquickung deutscher Grammatik mit fremdsprachlichem Vokabular geführt, das mitunter komische Züge trägt, zere we have ze salad; er redet viel und spricht scheußliches Englisch, oft in überlangen, seine Zuhörer irritierenden Sätzen, deren Ende mitunter wenig mit dem Anfang seiner Rede zu tun hat.

Beitz, ältester Teilnehmer der Merkatus-Gruppe, ist in Begleitung von Winnie Bergsen unterwegs, einer befreundeten Dänin, in Kopenhagen gebürtig und nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Ausland dort im Ruhestand wieder zu Hause. Bergsen schlägt ihren Reisegefährten in Sachen Fremdsprachen um Längen, und die Anwesenden in der Dining Hall – mit Ausnahme des von Gin Tonic und indischem Sula-Wein alkoholisierten Beitz – halten sie für eine englische Muttersprachlerin. Als Bergsen jung war, in den 1960er-Jahren, hatte sie in Cambridge, England, Classics studiert, die alten Sprachen: Griechisch, Latein, für einige Monate sogar Alt-Hebräisch. Später, Mitte der 1970er, missionierte sie eine entlegene Bergregion in Birma, mit einigem Erfolg, wie sie glaubt. Sie blickt mit traurigen, tränenden Augen, blassblau und an den Rändern der Iris ins Honigfarbene changierend, um sich, als würde ihr das Palaver zu viel und lästig werden.

»And zis charming lady«, erklärt Dr. Beitz mit einem Handschlenker zu Bergsen, denn nun beginnt die allgemeine Vorstellung, »diese Lady ist ein alter Knochen – eine der Damen, die Sie mit einer Haarnadel aufspießen werden, falls nötig. Hah!«

Konsterniertes Schweigen.

»Really, now?«, ist Brayshaw zu vernehmen.

»Aber sie tut es mit Liebe und lächelt dabei nicht völlig unsympathisch«, sagt Beitz. »Ich bin ein glücklicher Mann. Geheiratet haben wir nie.«

»Christian«, sagt Winnie Bergsen trocken auf Deutsch, »es ist dann jetzt auch gut.« Was Dr. Beitz, dank jahrelanger Erfahrung sensibilisiert für die praktischen Hinweise seiner Freundin, tatsächlich als Signal für Mäßigung und Rückzug deutet. Er fährt sich einmal mit den Fingern durch die Haare und zupft seine großporige, blau-lila geäderte Trinkernase. »Na ja«, sagt er. »Na ja. And you are?« Er streckt seine Hand aus.

»Oh, ich bin Randy. Randy Brayshaw. Wir hatten, glaube ich, schon das Vergnügen, mein lieber Dr. Beitz. Vorhin.«

»Sie sind der Manager hier, ist das richtig?«, fragt Bergsen leise und lässt die gelben Micky-Maus-Socken an Brayshaws Füßen auf sich wirken. »Der Verantwortliche?«

»Jawohl, ich bin mit größter Freude Ihr Gastgeber heute Abend. Ich leite das Greendale. Ich bin Greendale, wenn Sie so wollen.«

»Ach«, sagt Beitz. »Der Besitzer?«

»Das nicht. Es ist eine komplizierte Geschichte«, antwortet Brayshaw. »Das Hotel gehört im Prinzip meiner verehrten Tante – hochbetagt, die Dame. Sie werden sie nicht kennenlernen, fürchte ich. Sie lebt oben, im zweiten Stock. Aber sie ist nicht ganz … beieinander. Sie verstehen.«

»Was fehlt Madame denn?«, fragt Beitz.

»Christian!«, zischflüstert Winnie Bergsen und steckt ihrem Kompagnon von hinten einen ausgestreckten Zeigefinger in die rechte Niere.

»Diabetes«, sagt Brayshaw, ein dicklicher Endvierziger, dessen Erscheinung an einen Mundschenk der Antike erinnert: haarlos, zwei quadratische Smaragde im Ohr, hohe Stimmlage. »Meine alte Tante weigert sich kategorisch, ins Krankenhaus zu gehen und sich vernünftig behandeln zu lassen. Dabei können sich unsere Kliniken in Kolkata durchaus sehen lassen, ein oder zwei sind exzellent – ach was: vier, fünf, sechs … Aber genug von meiner armen Tante – nun lassen Sie mich die Honneurs machen, ich habe ja heute in Abwesenheit von Frau Merkatus die Ehre, den Master of Ceremonies zu geben – Frau Bergsen, Dr. Beitz, Sie haben die Whitehalls aus England schon kennengelernt? Da sehe ich auch schon Familie Lorenz herantraben. Auch die Schweiz ist bei uns vertreten, und nicht zu knapp.«

»How do you do?«, fragt Bergsen und reicht Hester Whitehall und ihrem Mann Ernest, in kurzen Khakihosen und braunen Kniestrümpfen, einen idiotischen Strohhut auf dem Kopf, die Hand – eine Geste, die endlich die allgemeine Bekanntmachung einleitet.

»Wir werden heute Abend zu zwölft sein«, erklärt Brayshaw, »und ich habe gedacht, wir dinieren, es ist ja eine perfekte Zahl, an einer gemeinsamen Tafel hier bei uns im Speisesaal. Also, erlauben Sie mir … – Wir haben Familie Lorenz, Frau Bergsen und Dr. Beitz, die Eheleute Whitehall aus Leeds. Frau Craig, die Dame aus Amerika, wird in einer halben Stunde zu uns stoßen, und dann sind heute im Laufe des Tages noch zwei Teilnehmerinnen aus Deutschland eingetroffen. Aus München, habe ich mir sagen lassen – und da sind sie auch schon, good evening, ladies! Mrs Trinkwasser, Mrs Gutlieb – willkommen in unserem kleinen Clan, namaskar!« Brayshaw faltet seine Hände vor der Stirn und deutet eine Verbeugung an. »Ich darf Sie mit den Damen und Herren Ihrer Gruppe bekannt machen – ich glaube, Sie haben sich noch nicht kennengelernt?«

»Namaskar«, sagt Charlotte und lächelt unbestimmt in die Runde. »Danke, das ist sehr freundlich, Mr Brayshaw. Hallo … Angenehm … Trinkwasser – Trinkwasser, ja wirklich – es ist ungewöhnlich, ja – wie drinking water.«

Man tauscht Nettigkeiten aus. Céleste Lorenz, ein vierzehnjähriges Früchtchen, trägt ein beige-braun-rot bedrucktes, oberhalb der Knie aufhörendes Hängekleid im Stil der 1960er-Jahre und hat reife Herpesbläschen auf der Oberlippe. Sie knickst aus unklarem Grund vor Winnie Bergsen, was diese mit gefrierender Mimik und Célestes Mutter mit einem wissenden Blick zu ihrem Gatten Urs quittiert, während Doris bei sich denkt, dass Célestes kurz geschnittenes Teil sie an ein sündhaft teures Ensemble von Comme des Garçons erinnert. Oder Gucci womöglich?

Zwei Kellner mit Tabletts und ernster Miene, Soumil und Inesh, erscheinen mit Erfrischungsgetränken. »Meine Damen und Herren«, ruft Brayshaw, »hier kommen unsere Aperitifs. Wir haben Gin Tonic vorbereitet, und ich dachte mir, Sie hätten vielleicht Lust, unsere indischen Weine zu probieren. Die Weißen. Die Roten sind eher nicht zu empfehlen.«

»Pffff, die Plörre«, sagen Dr. Beitz’ Lippen.

»Oder Kingfisher – Herr Lorenz, lieber ein kaltes Bier für Sie? Cocktails haben wir selbstverständlich auch, wenn Sie wünschen. Eine lange Liste. Frau Trinkwasser, Frau Gutlieb, was darf es bei Ihnen sein? Ein Cosmopolitan oder eine Piña Colada?«

»Oh, Wein für mich, denke ich«, sagt Doris.

»Seien Sie da mal schön vorsichtig«, sagt Beitz auf Deutsch. »Der ist indisch.«

»Und? Ich wusste nicht, dass es so etwas wie indischen Wein überhaupt gibt. Warum sollte man ihn nicht trinken – jedenfalls probieren?«

»Für mich auch bitte«, sagt Charlotte.

»Eine Freude ist der nicht gerade«, sagt Beitz. »Nur eiskalt trinkbar und selbst dann unbekömmlich. Aber bitte, bitte, jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen. Seine Feldstudien.«

»Big Banyan«, sagt Brayshaw. Er reicht Charlotte und Doris Gläser mit Weißwein. »Ein Sauvignon blanc. Nicht ganz schlecht, finde ich. Natürlich nicht mit den Sauvignon blancs aus Neuseeland oder Australien zu vergleichen, aber auch nicht völlig uninteressant. Aus Maharashtra an der Westküste Indiens, nicht weit von Mumbai.«

»So?«, sagt Doris. »Dort wächst Wein?«

»In der Tat. Nashik heißt der Ort, in ganz Indien bekannt. Eine Stadt eigentlich, zwei Millionen Menschen.«

»Wie – größer als München?«

»Oh ja. Es gibt in Indien mehr als fünfzig Millionenstädte, wissen Sie, und die meisten sind in Europa kaum bekannt. Nashik liegt in den Ghats in angenehmer Höhenlage. Dort fühlen sich Weinreben wohl. Mir persönlich schmecken die Sauvignon blancs am besten – Sula ist der bekannteste. Dann gibt es Grover, Myra, etliche andere. Chenin blanc pflanzen die Winzer inzwischen auch – nur Ihren deutschen Riesling hat man noch nicht vernünftig hinbekommen. Aber was rede ich? Probieren Sie einfach, probieren Sie!«

Doris nippt an ihrem Glas und schaut Brayshaw mit einem Augenzwinkern an.

»Sehen Sie? Man überlebt, habe ich recht?«

»Gin Tonic für mich«, sagt Beitz zu Soumil, der eine schwarze Brille trägt und ihm eine Flasche Blue Riband zur Begutachtung entgegenhält. »Na, meinetwegen auch indischen Gin, aber nun machen Sie mal, junger Mann, man verdurstet hier sonst. Vite, vite!«

Céleste und Tony wollen partout Malzbier und, als es das nicht gibt, Bionade Ingwer-Orange. Urs Lorenz, der über seinem gestutzten Vollbart blass und kränklich aussieht, ist sichtlich genervt von seiner Tochter. »Itz isch fätig mit dem Gschtürm«, sagt er bedrohlich leise, »uufhöre – baschta! Das ist hier nicht dein Internat, wo du deine Lehrer um den Finger wickeln kannst. Wir sind hier in Indien, nicht in der Schweiz, und es wird sich angepasst. Fresh Lime Soda, das wird jetzt getrunken, und keinen Mucks will ich hören. Klappe halten!« Dies an Céleste gerichtet, die gerade etwas sagen will. »Klappe halten, habe ich gesagt, Fräulein, oder du gehst sofort auf dein Zimmer, und das Abendessen fällt aus. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Urs«, sagt Marion Lorenz leise: »Nun sei nicht so harsch mit den Kindern, es ist doch Urlaub.«

»Oh-kay«, sagt Céleste nach einer Schrecksekunde, dreht sich um und will gehen.

»Hiergeblieben!«, befiehlt Urs.

» … missmutige Monster …«, hört man Beitz sagen.

»Dass ausgerechnet du das sagen musst, Christian«, sagt Winnie Bergsen trocken. »Ihr Wein, Mr Brayshaw, ist nicht übel, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.«

»Es gibt hier im Hotel so viele schöne Antiquitäten«, sagt Hester Whitehall zu Bergsen, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, »finden Sie nicht?« Sie massiert ihr fliehendes Kinn nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger.