Girl Detective - Victoria Herz - E-Book

Girl Detective E-Book

Victoria Herz

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Beschreibung

London: Der hinterhältige Mord an einer Studentin gibt dem London Criminal Department Rätsel auf. Charlie van Croy, die junge, neue und motivierte Mitarbeiterin, fühlt sich mit ihrem langweiligen Schreibtischjob unterfordert und beginnt, heimlich auf eigene Faust zu ermitteln. Zusammen mit dem sympathischen Alan kommt sie der Spur des Täters immer näher - und bringt sich dabei selbst in Gefahr. Denn die Zeit drängt: Der Mörder ist im Begriff, ein zweites Mal zuzuschlagen. Und in Charlies Körper tickt eine Zeitbombe ...

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Seitenzahl: 274

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Erschienen im

Scholastika Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Rühlestraße 2

70374 Stuttgart

Tel.: 0711 / 520 800 60

E-Mail: c.dannhoff @scholastika-verlag.com

Zu beziehen in allen Buchhandlungen, im Scholastika Verlag und im Internet.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2019 Scholastika Verlag UG, 70374 Stuttgart

Buch ISBN 978-3-947233-20-5

eBook ISBN 978-3-947233-27-4

Illustrationen: Carina Forster

Lektorat: Claudia Matusche

Druck: Hallwich GmbH, Gammelshausen

1

„Miss, wir haben einen neuen Fall!“ Officer Jackson tauchte wie aus dem Nichts in meinem Büro auf und löste damit bei mir fast einen Herzinfarkt aus.

„Himmel, ich habe Sie gar nicht kommen hören.“ Seine Miene war versteinert - wie immer - und ich fragte mich, ob er Kinder hatte. Wahrscheinlich nicht, sonst wäre er abends nicht so lange im Büro.

„Besprechung in fünf Minuten“, gab er mir Bescheid. Ich nickte nur und er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Ich steckte meinen Kopf wieder zwischen die Akten, die ich noch zu bearbeiten hatte. Ich hatte mir meinen Job beim LCD, kurz für London Criminal Department, spannender vorgestellt. Ja, als ich hier angefangen hatte, hatte ich wirklich das Gefühl gehabt, etwas erreichen zu können. Das hatte sich über kurz oder lang allerdings als Irrtum herausgestellt.

Seufzend sah ich nach draußen in die grauen Wolken, die schon seit heute Morgen den Himmel Londons verschleierten und jeden Sonnenstrahl schluckten. An so einem Tag blieb einem ja gar nichts anderes übrig, als schlechte Laune zu haben.

Ich hievte die Papiere beiseite und machte mich auf den Weg zum Besprechungsraum, in dem sich schon alle anderen versammelt hatten. An ihren Gesichtern konnte ich schon ablesen, dass es sich höchstwahrscheinlich um nichts Spannendes handelte. Nicht, dass ich gesagt hätte, Morde wären spannend, aber … Okay, sie waren spannend!

Ich setzte mich genau in dem Moment, als Officer Jackson den Raum betrat und alle anderen allein durch seine Präsenz zum Schweigen brachte. Manchmal kam ich mir vor wie in der Schule. Neben mir zupfte Jenny, meine Lieblingskollegin, ungeduldig an ihrer Bluse herum. Sie hielt Augenkontakt mit Marc, zuständig für die Spurenuntersuchung. Bahnte sich da etwa ein Flirt an? Doch ich hatte keine Zeit, mir noch länger darüber Gedanken zu machen, denn in diesem Moment ergriff Jackson das Wort.

„Wir haben einen neuen Fall. Sie alle haben bestimmt schon von dem üblen Mord an Savannah Bane gehört, einer jungen Studentin, die mit aufgeschnittener Kehle an der U-Bahn-Haltestelle Westminster Station gefunden wurde. Das MI6 hat den Fall an uns übergeben und ich erinnere Sie, Kolleginnen und Kollegen, diesmal müssen wir Erfolge bringen! So etwas wie beim letzten Mal können wir uns nicht noch einmal erlauben!“

Officer Jackson konnte furchteinflößend sein, wenn er wollte. Aber er war ein guter Chef und übernahm die volle Verantwortung für sein ganzes Team, und das rechnete ihm hier jeder hoch an.

Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Hier sind die Fakten: Die Videoaufnahmen der Haltestelle zeigen einen schwarz maskierten Mann, der sein Opfer um halb drei Uhr nachts dorthin bringt, um ihm an einem abgelegenen Ort die Kehle durchzuschneiden. Theorien?“

Drei Leute meldeten sich und Jackson schrieb die einzelnen Theorien an ein Blackboard an der Wand. So lief das immer, erst durften alle ihre Meinung zum Mordfall sagen, danach wurde aussortiert.

„Der Mörder hat eine persönliche Beziehung zum Opfer, ansonsten hätte er es gar nicht erst in die U-Bahn-Station locken können“, schlug Marc vor. Zugegeben, seine Theorie klang plausibel, aber die Einzelheiten passten nicht zueinander.

„Warum hat er sich dann maskiert? Und warum ist ihm das Opfer gefolgt, wenn er maskiert war?“, warf ich ein. Alle Köpfe drehten sich zu mir herum und ich bekam einige abschätzende Blicke zugeworfen, die zu sagen schienen: Was will die denn? Ist das nicht die Praktikantin?

Ich seufzte leise. Nein, nicht die Praktikantin, seit einem Monat war ich hier nämlich fest angestellt und hatte damit mein dreimonatiges Praktikum beendet. Das Team der ganzen Abteilung bestand aus knapp zwanzig Personen, davon gab es einige, die okay waren, und einige, die mir misstrauische Blicke zuwarfen, wenn ich aus meinem (eigenen!) Büro über den Flur zum Kopierer ging. Um die Akten zu kopieren, die mir Jackson aushändigte. Das war nämlich mein Job. Aktenverwaltung.

Bei unserem Department handelte es sich um eine Sonderabteilung des MI6, das die besonders heiklen Fälle in unsere Hand übergab. So wie bei diesem.

Jenny war die Erste, die ich hier kennengelernt hatte, und die Einzige, die mich und meinen Job zu schätzen wusste, wenn sie mal wieder die Nummer ihres derzeitigen Falls vergaß. Außerdem war sie außer mir die Jüngste hier, sie war 21 und damit für mich ein perfekter Ansprechpartner bei Problemen. Und die waren vorprogrammiert, wenn man in eine völlig fremde Stadt gezogen war und keinen einzigen Menschen kannte.

„Danke für ihren Einwurf, Miss van Croy!“

Wie oft hatte ich Jackson schon gesagt, dass er mich einfach nur Miss Croy nennen soll? Ich fühlte mich jedes Mal, als bekäme ich eine Sonderbehandlung und hätte das Ganze hier eigentlich nicht verdient. Dabei hatte ich es verdient! Wahrscheinlich mehr als sonst irgendjemand hier im Raum.

Wir bekamen noch zwei weitere Theorien zu hören, die meiner Meinung nach völlig lächerlich waren, denn wie um Himmels willen hätte das Opfer sich aufgrund einer Online-Dating-Affäre aus freiem Willen mit einem maskierten Mann in den Untergrund Londons begeben sollen? Ich schüttelte den Kopf und hörte nicht mehr zu.

So hatte ich mir das hier nicht vorgestellt. Aber hatte ich wirklich eine Vorstellung gehabt, damals, als ich den Bewerbungsbogen in den Briefkasten geschmissen hatte?

Hatte ich eine Vorstellung davon gehabt, wie das Leben einer 19-Jährigen ohne Eltern in einer Millionenstadt sein würde?

Ich konnte mich noch genau an das Gefühl von Freiheit erinnern, das mich überflutet hatte, als ich den Antwortbrief in der Post erspäht hatte. Aber selbst wenn ich gewusst hätte, dass mein Job nicht das sein würde, was ich erwartet hatte, hätte ich es getan. Ich wäre trotzdem von zu Hause fortgegangen.

„Damit ist es dann wohl beschlossen!“, hörte ich Jackson noch sagen.

Mist, ich hatte nicht aufgepasst! Alle standen auf und schoben ihre Stühle zurück, während ich immer noch verwirrt am Tisch saß.

„Jenny!“ Ich zog sie am Ärmel zur Seite, bevor sie wieder in ihr eigenes Büro verschwinden konnte.

„Was wurde beschlossen? Ich habe nicht richtig zugehört …“

Jenny seufzte.

„Charlie, manchmal glaube ich wirklich, dass du für den Rest der Ewigkeit an deinem Schreibtisch besser aufgehoben wärst als da draußen. Jackson hat die Leitung der Ermittlungen an Clyde übergeben.“

„Was?“ Ich wollte es nicht glauben.

Clyde war Mitte zwanzig und einer derjenigen, die mich von Anfang an als ihre Praktikantin gesehen hatten, die eigentlich nur da war, um ihnen Kaffee zu bringen, wenn sie mal wieder zu faul waren, um selbst aufzustehen. Außerdem war er ein Angeber und hatte diese nervige Art, alles zu kritisieren, was man sagte. Insbesondere bei mir. Dass er nicht gerade schlecht aussah, half da auch nicht. Mich überraschte es, dass Jackson ihm die Leitung übergeben hatte. Ausgerechnet Clyde, der waghalsige Theorien aufstellte und gelegentlich wichtige Fakten übersah! Nein, wie konnte er nur?

„Aber … aber … Clyde ist so ein Idiot! Sieht Jackson das denn nicht? Erinnert sich denn hier keiner mehr an die Halskette, die er in den Müll geschmissen hat? Es war ja auch überhaupt nicht auffällig, dass darauf Blutspuren des Opfers zu sehen waren!“ Jep, ich regte mich auf. Aber es war berechtigt!

„Ach, und wem denn sonst? Dir?“, hakte Jenny nach. Sie kannte mich und wusste, dass ich darauf brannte, endlich von meinem Büroplatz wegzukommen.

„Zum Beispiel. Ich gehe jetzt in sein Büro und schlage ihm genau das vor.“ Selbstbewusst hob ich mein Kinn und war bereit, mich der Herausforderung zu stellen.

„Das kannst du nicht machen! Er wird dich sofort rausschmeißen!“ Mit fassungsloser Miene sah mich Jenny an. Ich ignorierte sie und stolzierte mit erhobenem Kopf in Jacksons Büro. Wenn sich meine Situation nicht von sich aus änderte, musste ich eben nachhelfen!

Ich klopfte leise an die Tür, bevor ich eintrat. Jackson saß an seinem Computer und schien beschäftigt zu sein.

„Ja?“, fragte er, ohne aufzusehen. Als er es doch tat, war er offensichtlich überrascht, mich hier zu sehen.

„Miss van Croy! Kommen Sie doch herein! Wie kann ich Ihnen helfen?“

Ich ging langsam auf den Schreibtisch zu und zog mir einen Stuhl heran. Jacksons dunkle Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken und machten es mir schwerer, mit meiner Bitte herauszurücken.

„Officer Jackson … Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Clyde Stewart der Richtige ist, um die Ermittlungen anzuführen. Besonders bei einem so wichtigen Fall.“

Jackson sah mich lange an, bevor er zu einer Antwort ansetzte.

„Stellen Sie hier Mister Stewart oder meine Entscheidungen in Frage?“

„Nein, so meinte ich das nicht! Ich meinte eigentlich … Ich bin seit fast vier Monaten hier und habe noch nie richtig an einem Fall mitgearbeitet. Es wäre toll, wenn ich auch etwas Praxiserfahrung in diesem Job bekommen könnte.“

„Glauben Sie bloß nicht, nur weil Sie den Test bestanden haben, sind Sie in der Lage, hier alleine Entscheidungen zu treffen! Und genauso wenig kann das Mister Stewart.“ Seine Worte waren hart, aber mir wurde klar, dass ich hier nichts erreichen würde. Anscheinend war ich für ihn auch nur die kleine Praktikantin, die nichts von Verbrechen verstand.

„Ich wollte ja nur fragen …“

„Ich denke, es wäre besser, wenn Sie für heute Feierabend machen“, stellte Jackson klar.

„Aber es ist doch erst ein Uhr!“

„Und ich denke, bis morgen überlegen Sie sich, ob Sie Mister Stewart gegenüber Respekt empfinden, denn er ist genau wie ich ein Teil der Abteilung.“

Ich nickte nur kurz und wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden.

„Bis morgen, Miss van Croy.“

Niedergeschlagen stieg ich in die Bahn ein, die mich direkt zu meiner Haltestelle bringen würde.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Um diese Uhrzeit war die Londoner Untergrundbahn, kurz „tube“ gennant, voll mit Schülern, die nur wenig jünger waren als ich, und das erinnerte mich unweigerlich daran, dass ich bis vor einem Jahr ebenfalls noch zur Schule gegangen war.

„Westminster Station“, tönte es aus dem Lautsprecher.

Ich hob abrupt den Kopf und beobachtete durch das Waggonfenster die Menschen am Bahnsteig, an denen der einfahrende Zug vorbeifuhr. Vor knapp einer Woche war Savannah Bane auch noch unter ihnen gewesen, hatte womöglich genau dort gestanden.

Ehe ich darüber nachdenken konnte, was ich eigentlich genau tat, hatten sich meine Beine schon zur Waggontür bewegt. Ich war als Erste auf dem Bahnsteig und mischte mich unter die Masse der anderen Fahrgäste, die zum Ausgang „Westminster“ gingen und die - obwohl sie unter Zeitdruck standen - nur langsam vorwärts kamen.

Ich drängelte mich an den anderen Menschen vorbei, die den Ausgang blockierten, und suchte mir meinen Weg bis zu der Stelle, die mich unweigerlich anzog. Sie war leicht zu erkennen, noch immer standen angezündete Kerzen am Boden, und einzelne Blumen waren an die Wand gelehnt. Keine Spur erinnerte mehr an die grausige Tat, die sich hier ereignet hatte.

Ich blieb mitten im Gang stehen und ignorierte die schimpfenden Leute, die sich lautstark bei mir beschwerten.

Hier war es also geschehen. Ich konnte mit Sicherheit sagen, dass das LCD unter der Leitung von Clyde erst in zwei Tagen hier vorbeischauen würde.

Natürlich war es vergebens, hier an einem Ort, an dem pro Tag mehr als zehntausend Menschen vorbeiliefen, nach Spuren zu suchen, aber ich wollte etwas anderes. Ich wollte mich in Savannah hineinversetzen, herausfinden, was sie dazu bewegt hatte, an dem verhängnisvollen Abend hierher zu kommen.

„Kannten Sie sie?“ Neben mir war ein junger Mann stehen geblieben, der wie ich auf die Kerzen blickte.

„Nicht direkt. Und Sie?“, fragte ich den Fremden. Ich drehte meinen Kopf und blickte in blaue Augen, die mich eindringlich musterten.

„Sie kommen nicht von hier“, stellte er mit überraschtem Blick fest. Meine Mundwinkel zuckten nach oben.

„Irland.“ Mir fiel auf, dass er nicht auf meine Frage geantwortet hatte und legte den Kopf schief. „Und?“

„Ach so, ja. Ich wohne im selben Haus, in dem auch Savannah gewohnt hat“, beantwortete er meine Frage. Er war attraktiv, ohne Frage. Dunkelblonde Haare, die sich an den Enden leicht lockten, und markante Gesichtszüge.

„Ich recherchiere über sie. Charlie van Croy“, stellte ich mich vor. Als ich dem Fremden die Hand schütteln wollte, rempelte mich ein Mann von hinten an.

„Passen Sie auf!“, rief mein neuer Bekannter, und bevor ich auf die Kerzen fallen konnte, schlangen sich seine Arme um mich und ich wurde wieder auf die Füße gestellt.

„Hier ist es gefährlicher als man glaubt.“ Er zwinkerte mir zu und ich wurde rot.

Seine Miene wurde plötzlich traurig. „Savvy hat so etwas wirklich nicht verdient.“ Und bevor ich etwas erwidern konnte, meinte er: „Rufen Sie mich an, wenn ich Ihnen bei Ihren Recherchen helfen soll.“

Ehe ich mich versah, hatte er einen Stift aus seiner Manteltasche gezogen und kritzelte eine Nummer auf meinen Handrücken.

„Ich freue mich, Sie getroffen zu haben“, sagte er noch, verabschiedete sich mit einem letzten Zwinkern und war wieder in der Menschenmenge verschwunden.

Wow. Ich atmete tief durch und verließ den wohl ungünstigen Platz inmitten der zur Bahn strömenden Menschen.

Ich blickte auf meine Hand, auf der mit kleinen schwarzen Zahlen seine Handy-Nummer geschrieben stand.

Es sah fast so aus, als hätte ich letztendlich doch noch eine freundliche Seele in London gefunden!

2

Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, roch ich schon von Weitem, dass hier etwas nicht stimmte. Es roch verbrannt, als habe sich jemand an einem Gericht versucht, sei aber dabei kläglich gescheitert. Und das konnte nur eines bedeuten: Isabel hatte mal wieder Liebeskummer.

Die Entscheidung, von zu Hause weg zu gehen und mich gegen das Schicksal zu stellen, das meine Eltern für mich vorgesehen hatten, hatte auch gleichzeitig geheißen, mich vollkommen von ihrer Unterstützung abzukapseln. Das hieß, ich musste mit dem Gehalt auskommen, das ich beim LCD verdiente, und das war in meiner Position nicht gerade hoch. Dazu kam noch, dass die Mieten in London undenkbar teuer waren, fast unmenschlich, wenn man bedachte, wie viele junge Leute hier studierten und sich kaum ein einzelnes Zimmer leisten konnten. Aus genau diesen Gründen hatte ich mich auch dazu entschlossen, in eine WG einzuziehen. Drei Mädchen, von denen mich zwei, nämlich Alison und Shaila, ignorierten und seit meinem Einzug, der jetzt schon fast vier Monate her war, kaum ein Wort mit mir gewechselt hatten. Ich glaubte nicht, dass es an mir lag, da ich sie auch kaum miteinander hatte reden sehen.

Aber mit Isabel, mit der ich mir auch das Bad teilte, verstand ich mich blendend. Sie war zwanzig, eine Naturschönheit mit roten Locken und studierte Jura am King’s College. Sie kam aus Spanien, ihre Eltern hatten aber englische Wurzeln, was auch ihr perfektes Englisch erklärte, bei dem man nur, wenn sie wütend war, einen kleinen spanischen Akzent hörte. Wenn sie aber fluchte, dann meistens komplett auf Spanisch. So wie jetzt gerade.

„¡Maldito! ¡Esta torta es quemada también!“

„Isabel?“

„Charlie?“

Langsam lugte ich um die Ecke in die Küche und war darauf vorbereitet, jeden Moment eine Teigschüssel an den Kopf geworfen zu bekommen, doch stattdessen stand Isabel zusammengesunken vor einem schwarzen, rauchenden Etwas, dass sie gerade aus dem Ofen geholt hatte.

„Oje. Ist alles okay?“, fragte ich, obwohl es offensichtlich nicht so war. Ich nahm sie in den Arm und rümpfte anhand des verbrannten Geruchs, der sich auch in ihrer Kleidung festgesetzt hatte, meine Nase.

„Ben hat mich verlassen. Wegen dieser verdammten Schlampe, die ihn in der letzten Vorlesung schon die ganze Zeit angemacht hat. Das ist so ungerecht!“ Isabels Tränen tropften auf meine Schulter und ich konnte ihren Schmerz nachvollziehen.

„Ben war sowieso nicht gut genug für dich. Was ist mit diesem …Wie hieß er noch gleich?“, versuchte ich sie zu trösten.

„Kyle. Glaubst du, dass das nicht ein bisschen … notgeil wirkt, wenn ich mich ihm sofort an den Hals schmeiße?“ Sie löste sich aus meiner Umarmung und begann, den verbrannten Kuchen aus der Form in den Abfalleimer zu kratzen.

„Quatsch. Du versuchst schließlich nur, Ben zu vergessen.“

Bei seinem Namen zuckte sie unwillkürlich zusammen. Oje, ich hätte ihn wohl lieber nicht noch einmal erwähnen sollen!

Isabel hätte eigentlich der Titel meiner Freundin Nummer eins in London zugestanden, wenn sie nicht immer so beschäftigt gewesen wäre. Ich wusste genau, warum ich nicht Jura studieren wollte. Sie hatte keine Freizeit. Von morgens bis abends verkroch sie sich in ihrem Zimmer oder auch mal im Park und lernte verdammte Gesetze auswendig. Oder irgendetwas anderes. Eigentlich hatten wir noch nie etwas gemeinsam unternommen, außer einem Abend in einem Pizzarestaurant.

Sie ließ die benutzte Form in die Spüle fallen und setzte sich auf den Küchentisch.

„Oh, sorry, dass ich dich gar nicht gefragt habe. Warum bist du schon hier?“

Ich seufzte und antwortete: „Frag lieber nicht, Stress mit dem Chef.“

Sie lachte. Isabel und auch alle anderen hatten keine Ahnung, dass meine Abteilung in Wirklichkeit für das MI6 arbeitete. Ihrer Meinung nach war ich Sekretärin bei irgendeiner unbekannten Firma.

„Soll ich uns was zu essen machen?“, fragte ich mit einem vielsagenden Blick zur Spüle und holte schon mal einen Topf aus dem Schrank.

„Klar. Spaghetti?“ Isabel war sofort Feuer und Flamme. Wir klatschten uns ab und Isabel fing an, die Spaghetti aus der Packung vorsichtig im Topf zu drapieren.

„¿Puedes hacer la salsa?“, fragte sie mich.

Ich sah mit hochgezogener Augenbraue zu Isabel, die mich schelmisch anlächelte. Seit ich hier war versuchte sie, mir Spanisch beizubringen.

Was ich ihr verschwieg, war, dass ich in der Schule drei Jahre Spanischunterricht gehabt hatte und ich die Sprache perfekt beherrschte. Genau wie Französisch, Deutsch und Russisch. Was ein weiterer Punkt war, warum ich beim LCD angenommen worden war.

„Ich soll … die Soße machen?“, übersetzte ich mühsam Wort für Wort. Jedenfalls schien es so.

Sie nickte und ich machte mich an die Zubereitung der Tomatensoße. Es wäre einfacher gewesen, Isabel einfach zu erklären, dass ich Spanisch konnte, aber mein Vertrag verbot mir jeglichen Austausch von wichtigen persönlichen Informationen. Vielleicht war auch das ein Grund dafür, dass ich bisher noch so gut wie keinen kannte.

„Perfectamente!“, lobte Isabel.

Als die Nudeln schließlich, in Tomatensoße badend, auf unseren Tellern lagen, zog sich Isabel wieder in ihr Zimmer zurück.

„Hasta lluego.“ Ich winkte mit einer Hand, bevor auch ich die Tür zu meinem Zimmer schloss und in mein eigenes Reich eintauchte.

Eine Wand war lila gestrichen, die anderen ganz in Weiß gehalten. Meine Einrichtung war minimalistisch, was jedoch durch die Bücherstapel, die sich auf dem Boden und auf den Regalen häuften, ausgeglichen wurde.

Mein einziges Fenster erlaubte den Blick auf einen Hinterhof und manchmal stand ich nachts genau dort und sah nach oben zu den Sternen. Viele sah man zwar nicht, aber allein der Anblick der vertrauten Sternbilder beruhigte mich.

Ich setzte mich auf mein Bett und zog die Füße an. Dann drehte ich meine Hand und sah auf die Handynummer, die in kleinen, geschwungenen Ziffern darauf stand. Es konnte nicht schaden. Ich zog einen Zettel aus einem Stapel und schrieb die Nummer von meiner Hand ab. Ich hatte nicht vor, ihn anzurufen. Aber man wusste ja nie.

„Na, wie läuft´s?“, fragte ich Marc in der Mittagspause und lächelte ihn unschuldig an, während ich mich neben ihn auf die Bank vor dem Gebäude des LCD sinken ließ. Die Sonne schien warm und der hellblaue Frühlingshimmel versprach besseres Wetter. Auch die Menschen wirkten fröhlicher und lockerer, jeder schien jede freie Minute zu nutzen, um ein paar der seltenen warmen Sonnenstrahlen aufzufangen.

„Ähm … gut.“ Marc schien etwas überrascht zu sein von meinem Auftauchen. Schließlich wechselten wir sonst kaum ein Wort miteinander.

„Das ist doch schön! Was machst du gerade so? Wie kommt ihr mit dem Fall voran?“

Jep, ich war hier, um ihn auszuhorchen. Aber ich hatte das Gefühl, dass Jackson durch das Bürofenster jede meiner Bewegungen überwachte.

„Wie immer.“ Er zuckte mit den Schultern. Ich war innerlich am Ausrasten. Mein ungeduldiger Gesichtsausdruck brachte Marc dann anscheinend doch noch dazu, ein paar Infos rauszulassen.

„Na ja … Wir sehen uns erst mal in ihrer Umgebung um und fragen in ihrem Freundeskreis nach möglichen Tätern und Motiven.“

Das klang ja sehr vielversprechend. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen Kopf an eine nicht vorhandene Tischkante zu schlagen. Die Strategien und Praktiken des LCD waren aber auch immer dieselben. Wo war die Undercover-Ermittlung, der Nervenkitzel, nachdem ich so verzweifelt gesucht hatte? Anders als Marc war ich bereit, nicht nur meine Freizeit für den Fall zu opfern, sondern auch für die Aufklärung des Mordes weiter zu denken als bis zur letzten Seite des Handbuchs für werdende Detektive. Mit einer eigenhändigen Widmung von Officer Jackson natürlich.

„Wart ihr schon am Tatort?“

„Ich glaube nicht, dass das bei der Anzahl von Menschen, die dort jeden Tag ihre Spuren hinterlassen, viel bringen würde“, ließ Marc durchblicken.

Ich hatte es ja gewusst.

„Sagt das Clyde?“, fragte ich nach. Marc zog verwundert eine Augenbraue nach oben und sah dann kopfschüttelnd auf die Straße.

„Sag mal, was soll das hier eigentlich, Charlie? Ich weiß, dass du Clyde nicht leiden kannst, aber lass ihn doch einfach in Ruhe. Er hat seine Aufgaben und du deine.“ Wenn es ging, wurde mein Gesichtsausdruck noch finsterer.

„Clyde ist … Ach, wieso rede ich überhaupt mit dir über ihn?!“ Ich schwieg beleidigt und gerade, als Marc aufstehen wollte, fiel mir ein, dass ich noch einen anderen Grund gehabt hatte, ihn aufzusuchen.

„Marc, was läuft da eigentlich zwischen Jenny und dir?“

„Nichts, wieso?“ Er tat beiläufig, doch ich sah die Röte, die seine Wangen hinaufstieg.

„Nur so“, rechtfertigte ich mich.

Ich hatte ihn ertappt! Innerlich lachte ich mir ins Fäustchen, und bevor er es tun konnte, war ich schon aufgesprungen und ging mit leichten Schritten zurück in mein Büro.

Ich sortierte Akten, kopierte, und als keiner hinsah, ließ ich einen Blick über die Unterlagen zum Fall Savannah Bane schweifen. Und als nochmals keiner hinsah, kopierte ich sie und versenkte die kopierten Blätter in meiner Tasche. Wahrscheinlich könnte ich dafür jeden Moment gefeuert werden.

Aber ich wollte etwas ändern! Ich konnte das Gefühl des monotonen Alltags, der mich umgab, in letzter Zeit einfach nicht mehr aushalten! Ich fühlte mich wie ein Fisch im Netz, gefangen von meinem eigenen Leben. Isabel hatte vorgeschlagen, ich sollte Bungee jumpen gehen. Aber: erstens, als ob das auf Dauer was bringen würde? Und zweitens, als ob ich mir das leisten könnte!

Ich brauchte Adrenalin, ein richtiges Abenteuer! Hätte ich ein paar Jahrhunderte früher gelebt, hätte ich mich als Mann verkleidet und wäre Pirat geworden.

Mir rannte die Zeit davon und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in meinem Leben nichts bewegt zu haben.

„Autsch, verdammt!“, fluchte ich laut. Gerade als ich durch die Eingangstür nach draußen gehen wollte, rannte jemand in mich hinein. Clyde! Ich verlor die Kontrolle über meine übergroße Handtasche, die daraufhin sofort Kontakt mit dem Fußboden aufnahm. Der Verschluss sprang auf und die sorgsam kopierten Blätter verteilten sich auf den schwarzen Fliesen.

„Charlie, sorry!“ Hastig sammelte ich die kopierte Akte wieder ein und hoffte inständig, dass Clyde nicht bemerkt hatte, was ich da mit mir führte. Allerdings schien er weniger besorgt über den Inhalt der Akten als über ein Kaugummipapier, das sich an der Sohle seiner blank geputzten Schuhe klebte. Er schüttelte es ab und fuhr sich durch die Haare.

„Hey, da ich dich gerade treffe, hast du Lust, am Samstag golfen zu gehen? Oder lieber in den Tennisklub? Ich habe mir da dieses wahnsinnig tolle neue Auto gekauft, mit dem …“

Ich unterbrach ihn: „Clyde? Nein! Danke!“

Ich hatte wirklich keine Lust, mir an meinem Wochenende anzuhören, wie viel Geld er monatlich für dies und das ausgab und wie viele Promifreunde er hatte. Außerdem war ich immer noch stinksauer, dass er den Fall bekommen hatte. Und mich nicht einmal mitarbeiten ließ!

„Charlie, ich weiß, dass du irgendwann ja sagen wirst. Mir konnte noch keine widerstehen“, rief er mir in singendem Tonfall hinterher, als ich mit schnellen Schritten durch die Glastür verschwand. Bevor ich außer Sichtweite war, streckte ich ihm noch meinen Mittelfinger entgegen. Das war genau das, was er verdient hatte!

Zurück in meiner Wohnung tigerte ich auf und ab, während ich mir die Informationen über Savannah einprägte. Es dauerte nicht lange, bis ich mir sicher sein konnte, sie vor meinem inneren Auge wieder aufrufen zu können. Meinem fotografischen Gedächtnis sei Dank!

Danach zerschredderte ich die Seiten und schmiss sie in den Müll. Beweismittel vernichtet. Ich würde einfach gleichzeitig an dem Fall arbeiten. Sozusagen private Ermittlungen. Mal schauen, wer schneller sein würde: Clyde oder Charlie?

Meine erste Ermittlung bestand darin, den Fall möglichst hautnah nachzuerleben. Dazu gehörte, dass ich in dieser Nacht um halb drei die U-Bahn-Haltestelle Westminster inspizierte. Zu dieser Zeit war hier noch kaum jemand unterwegs, ab und zu fuhr eine Bahn ein, die die Betrunkenen, die von Partys oder aus Clubs kamen, ablieferte. Aber dazwischen war man meistens allein in den Gängen. Mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand stand ich am Eingang zur Haltestelle und versuchte, mich in Savannah hineinzuversetzen, die sich an jenem tragischen Abend hier aufgehalten hatte:

Sie war also zur Haltestelle gegangen, mit einem Unbekannten an ihrer Seite. Ich schritt langsam zu den Rolltreppen und hielt meine Karte an die Schranke, die den Eingangsbereich vom Weg zu den Gleisen trennte. Langsam ging ich die Rolltreppe hinunter, die momentan außer Betrieb war. Auch die beiden mussten hier hinuntergegangen sein.

War Savannah gestolpert? Wenn sie sich gewehrt hätte, wohl ja. Hatte sie aber nicht. Nein, sie hatte diese Person gekannt. Oder ihr zumindest vertraut.

Unten angekommen ging ich an den Werbeplakaten vorbei in den Gang, der zu Gleis 3 führte und in dem der Mord geschehen war. Hier blieb ich stehen und betrachtete die immer noch brennenden Kerzen. Der Unbekannte hatte hier sein Messer gezogen. So viel ich mitbekommen hatte, war Savannah zu überrascht gewesen, um sich zu wehren. Ein Widerspruch in sich, denn Savannah hatte die Gewalthandlung der maskierten Person nicht erwartet und war ihr wie ein braves Hündchen bis in den Untergrund gefolgt. Warum also hatte die Maskierung nicht schon anfangs Zweifel in ihr aufgeworfen?

Plötzlich hörte ich eine Bahn einfahren. Ich rannte den Gang weiter entlang, bis ich mich auf dem Bahnsteig von Gleis 3 befand. Aus der Bahn, die gerade hielt, stiegen ein paar Personen aus, aber keine zu.

Doch. Ich!

In letzter Sekunde hatte ich mich entschieden, doch einzusteigen. Vielleicht wäre es das gewesen, was Savannah getan hätte, wenn sie nicht ermordet worden wäre.

Ich sah auf meine Handyuhr. Die Uhrzeit würde jedenfalls passen. Vielleicht war sie hier gewesen, um nach Hause zu fahren. Und der Unbekannte hatte sie daran gehindert.

3

Ich erwachte und sofort drehten sich meine Gedanken um den Fall.

Wann war ich gestern, Verzeihung, heute nach Hause gekommen? Keine Ahnung. Als ich um halb vier wieder mein Zimmer betreten hatte, hatte ich mich komplett erledigt gefühlt. Ich war noch bis zu Savannahs Haltestelle gefahren und hatte meine Ermittlungen dort abgebrochen. Ich war einfach zu müde gewesen, außerdem konnte ich alles Weitere auch bei Tageslicht erforschen - kein Grund also, noch einen einzigen Augenblick meiner Nachtruhe zu verschwenden.

Aber dementsprechend fertig fühlte ich mich jetzt. Ich hatte das Gefühl, keine Minute geschlafen zu haben, obwohl es immerhin drei Stunden waren. Mein Schlafbedürfnis war immer schon eigenartig hoch gewesen. Alles unter acht Stunden war ein absolutes No-Go! Aber zumindest war heute Freitag und das hieß: Wochenende!

Als ich den Weckton meines Handys hörte, kroch ich mühsam unter meiner Bettdecke hervor und ließ mich auf den Boden fallen. Ich krabbelte zu meinem Handy, das ich strategisch am anderen Ende meines Zimmers platziert hatte. Keine Chance also, vom Bett aus noch einmal auf die Schlummertaste zu drücken.

Als ich das Display berührte, verebbte der Song und ich sah mir erst mal meine neuen Nachrichten an. Drei Spammails und eine von meinem Handyanbieter. Wie schön, immer mal wieder etwas Neues zu erfahren!

Dann sah ich auf die Uhrzeit - und erschrak: Es blieben mir noch genau fünfzehn Minuten, um das Haus zu verlassen und meine Bahn zu erwischen.

Ich rannte, nun komplett wach, ins Bad, das zu meiner Freude wenigstens nicht wie sonst von Isabel blockiert wurde, putzte mir im Schnelldurchgang die Zähne und drapierte meine Haare zu einem Dutt, der sie wenigstens nicht wie sonst widerspenstig von meinem Kopf abstehen ließ. Meine Frisur machte auch deutlich, dass mein letzter Frisörbesuch schon einige Jahre her war. Die Farbe machte es auch nicht gerade besser. Ich hatte als Einzige in meiner Familie das Albino-Gen von meinem Großvater geerbt, das mir eine weißblonde Haarpracht beschert hatte, die eigentlich mehr weiß als blond war. Ungefähr jeder, den ich bisher getroffen hatte, hatte früher oder später die Frage nach meinen Haaren gestellt. Ich hatte mir schon oft überlegt, sie zu färben, doch ehrlich gesagt war ich zu faul, um alle vier Wochen zum Frisör zu gehen oder sie selbst zu färben. Außerdem kam meine Haarfarbe ja sowieso gerade wieder in Mode, oder?

Wenigstens das erdige Braun meiner morgens ziemlich verquollenen Augen zauberte einen Klecks von Farbe in mein Gesicht, der den Kontrast zu meiner nicht gerade sonnenverwöhnten irischen Haut aber nur noch verstärkte. Wenigstens war ich damit in London nicht alleine, und man konnte sich sicher sein, dass an einem schönen Sommertag mindestens einer der Umstehenden Sonnencreme mit dem Lichtschutzfaktor fünfzig dabei hatte, wenn sie nicht gerade - so wie Isabel - mit einer sonnengebräunten Haut und damit einer Art natürlichen Blockade gegen die schlimmsten Verbrennungen gesegnet waren.

Besonders schlimm erwischte es an diesen sonnigen Tagen meinen dünnen Nasenrücken und die hervorstehenden Wangenknochen, für die ich dann wenigstens kein Rouge mehr benötigte. Der einzige Ausweg wäre wohl gewesen, mein von der Sonne gepeinigtes Gesicht unter einer dicken Schicht Make-up zu verstecken, aber dafür hatte ich wirklich nicht die benötigte Geduld und schon gar nicht das Geschick. Mein letzter Ausweg war ein roter Lippenstift, der von dem ganzen Rot auf den Wangen und der Nase ablenken sollte. Aber nicht mal für einen schnell aufgetragenen und blassen Lippenbalsam reichte heute die Zeit.

Hastig fischte ich einen Pinsel von der mit teuren Kosmetikprodukten vollgestellten Ablage und verteilte das noch daran haftende Produkt auf meinem Gesicht. Was auch immer das pudrige Zeug für ein Wunderwerk tat, ich sah danach immerhin nicht mehr ganz so verschlafen aus. Zufrieden strich ich zwei Haarsträhnen, die dem Dutt entwischt waren, hinter die Ohren und nickte meiner dünnen Gestalt im Spiegel zu.

Dann schnappte ich mir eine Scheibe Brot aus dem Toaster und rannte die Treppe hinunter auf die Straße.

„Hast du schon das Neueste gehört?“ Jenny kam aufgeregt in mein Büro gestürmt.

„Ähm … ne?“ Ich runzelte die Stirn.

„Anscheinend hat Clyde eine Spur entdeckt“, begann sie aufgeregt zu erzählen. „Bei genaueren Untersuchungen haben sie festgestellt, dass Savannah unter Medikamenteneinfluss stand. Oder Drogen, das wissen sie noch nicht so genau. Sicher ist nur, dass sie wohl nicht bei vollem Bewusstsein war!“ Jenny sprudelte nur so über vor Informationen.

„Wow“, erwiderte ich emotionslos. „Dann hat der Mörder ihr davor also noch was untergejubelt, bevor er ihr das Messer über die Kehle gezogen hat?“

„Sieht ganz so aus. Auf jeden Fall sind jetzt alle total gestresst, es müssen neue Pressemitteilungen geschrieben werden, wir müssen unsere Theorien erneuern und so weiter.“ Gestresst sah Jenny trotzdem nicht aus, eher begeistert. Aber in diesem Punkt konnte ich sie verstehen, wegen der Begeisterung für Verbrechen waren wir schließlich alle hier.

„Kann ich irgendwie helfen?“, bot ich an. Einen Versuch war es wenigstens wert.

„Ne du, ich wollte es dir nur schnell erzählen. Ich muss jetzt auch zurück, sonst dreht mir Clyde noch den Hals um.“ Sie zog sich einen Finger über den Hals und zwinkerte. Oh ja, das konnte ich mir gut vorstellen!

Fühlte ich mich ausgeschlossen? Vielleicht. Aber was mich am meisten störte, war, dass sie mir ja nicht mal eine Chance gaben, meine Talente unter Beweis zu stellen. Keine einzige Chance!

Jenny war schon längst wieder weg, als ich aufhörte, in den Papieren herumzukramen und meinen Kopf in meinen Händen vergrub. Ich brauchte einfach mal eine Auszeit, von allem hier. Oder eine andere Aufgabe.

Ich stand auf und bevor ich wusste, wohin mich meine Füße lenkten, war ich schon auf dem Flur und auf dem Weg ins Archiv. Der Raum lag zentral in der Mitte des Gebäudekomplexes und die Regale an den Wänden wanden sich bis in das zweite Stockwerk hinauf. Doch eine fahrbare Treppe an der Seite machte auch dieses erreichbar.

Irgendwo hier musste er doch noch sein. Der Aufnahmetest. Mein Aufnahmetest!

Warum wollte ich ihn gerade jetzt noch einmal sehen? Ich konnte die meisten Fragen auswendig, genauso wie die mit schwarzem Kugelschreiber gekritzelten Antworten. Aber ich musste mich einfach an dieses Gefühl erinnern, das ich beim Ausfüllen des Tests hatte, an das Gefühl von Hoffnung und auch etwas Orientierungslosigkeit.