Girls In The Moon - Janet McNally - E-Book

Girls In The Moon E-Book

Janet McNally

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Beschreibung

Liebe, Musik, New York!

New York, die aufregendste Stadt der Welt! Phoebe, Tochter zweier Rocklegenden, besucht ihre Schwester Luna, die kurz davor ist, mit ihrer Band The Moons so richtig durchzustarten. Doch Phoebe möchte Luna nicht nur beim Berühmtwerden zusehen. Sie möchte, dass sich ihre Mutter und ihre Schwester versöhnen, sie möchte ihren Vater finden und Schluss machen mit allen Geheimnissen und Halbwahrheiten, die die Familie zerstört haben. Und sie möchte diesen Jungen kennenlernen, mit dem sie sich seit Monaten heimlich schreibt: Archer.

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Seitenzahl: 468

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Janet McNally

Aus dem Amerikanischen

von Ivana Marinović

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

© 2016 by Janet McNally

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Girls in the Moon« bei HarperTeen,

an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe

cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ivana Marinović

Umschlaggestaltung: © *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Motivs von © Gettyimages/Westend61

jb · Herstellung: ang

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-18230-4V001

www.cbt-buecher.de

Für meine eigenen Mädchen im Mond

und für Jesse, der so viele Mixtapes für mich

gemacht hat.

Sing me a lullaby. Sing me the alphabet.

Sing me a story I haven’t heard yet.

– The Weakerthans, »My Favourite Chords«–

1

Geheimnisse, so sagte meine Mutter mir einmal, sindnurvon außen nach innen gekehrte Geschichten.

Wir saßen im Garten bei klarer, dunkler Nacht, und da ich das träge Zickzack der Kassiopeia über mir am Himmel sehen konnte, stellte ich mir einen Stern vor, der sich umstülpte und zusammenfiel. Er würde, so wusste ich, eine blinkende schwarze Lücke über der Atmosphäre hinterlassen – klaffend, hungrig und voller Worte. Sie wäre unersättlich.

Aber das sagte ich meiner Mutter nicht. Stattdessen erwiderte ich, dass sie verdächtig nach einem Songtext meines Vaters klang. Ich wusste, sie würde wissen, welche Stelle ich meinte: Inside this secret are all the stories you used to tell, years and months and days ago, when I knew you so well.

Meine Mutter lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Ja, weil ich diese Zeilen geschrieben habe.« Sie wandte ihr Gesicht dem pechschwarzen, sternenbestäubten Himmel zu und sagte, wie nicht anders zu erwarten, nichts mehr dazu. Diese Geschichte blieb von vorne bis hinten verquer, immer.

Also machte ich mich in jener Nacht selbst auf die Suche nach Beweisen, wie ich es schon so oft getan hatte, indem ich mich die Treppe wieder runterschlich, nachdem meine Mutter zu Bett gegangen war. Ich ging zu ihrem CD-Regal und stellte mich in die bernsteinfarbenen Kreise der Straßenlichter, die durch die Fenster hereinfielen. Ich fuhr mit dem Finger über die gerillten Rücken der Plastikhüllen, bis ich seinen Namen erblickte, Kieran Ferris, und den Titel seines ersten Soloalbums, Haven, das rauskam, als ich drei Jahre alt war. Ich zog das glänzende Booklet aus der Hülle und fand die Stelle mit dem Song, der den Titel »Secret Story« trug. Ihre Namen – K. Ferris, M. Ferris – schmiegten sich in der Klammer dahinter eng aneinander, ein Jahr nachdem sie sich getrennt hatten. In ein paar Dutzend Liedern, an versprengten kleinen Stellen wie diesen, würden sie für immer zusammenbleiben.

In drei Stunden werde ich in einem Flieger nach New York sitzen, um meine Schwester, Luna, zu besuchen, doch im Moment befinde ich mich noch in der Küche und versuche, meinen Koffer zuzukriegen. Es ist August und im Raum herrscht eine fiebrige Hitze. Ich lege mich bäuchlings auf den Deckel und ziehe am Reißverschluss, so fest, wie ich nur kann, aber die Kanten wollen sich nicht fügen. Ich lasse meine Wange auf den Nylonstoff sinken und atme tief ein. Es ist so heiß, dass ich beinahe das Gefühl habe, alles Wasser aus meinem Körper müsse allmählich in der Luft verdampfen. Mein Haar rutscht mir feucht über die Stirn und breitet sich auf dem Dielenboden aus.

Während ich dort liege, hole ich mein Handy hervor und tippe eine Nachricht, eine Liedzeile, die mir eben durch den Kopf geschwebt ist. Sunbeam headed in the wrong direction, mixed-up gleam in the sky. Für eine Sekunde betrachte ich die Worte auf dem Display, dann drücke ich auf Senden.

Genau in diesem Moment taucht das Gesicht meiner Mutter im Fenster neben mir auf und ich schrecke hoch.

»Bald fertig?«, fragt sie. Durch das Fliegengitter hindurch ist ihr Gesicht verschwommen, ein blasses Oval, über dem sich die dunkle Haarpracht türmt. Sie ist etwas nervös, seit ich mein Flugticket gekauft habe, auch wenn ich weiß, dass sie das niemals zugeben würde. Stattdessen hat sie jeden Zentimeter unseres Hauses geputzt und erst heute Morgen dem Unkraut den Krieg erklärt. Sie ist seit Stunden im Garten, reißt Fingerhirse aus und köpft Löwenzahn. Über ihre Schulter hinweg kann ich die feindlichen Kämpfer sehen, die auf einem traurigen Haufen am Rande der Auffahrt dahinwelken. Und natürlich reicht es meiner Mutter nicht, das nur zu tun. Sie muss es mir auch lang und breit berichten, während ich mein Frühstück zu mir nehme. Im Wesentlichen klingt es wie die unkrautvernichtende Version von Helen Reddys Song: I am woman, hear me roar…, und so weiter und so fort, meine ganze Schüssel Haferbrei hindurch.

»Ähm, ja, ich hab’s gleich.« Ich setze mich auf, lasse mich behutsam auf den Deckel plumpsen und schaffe es endlich, den Reißverschluss zuzuzerren. Es ist der alte Koffer von Luna: klein, dunkelgrün, an den Ecken ein bisschen schmutzig. Er ist zum Bersten voll. Ich hatte Mühe, mich zu entscheiden, was ich mitnehmen soll, da ich nicht sicher sein kann, welche Luna ich bei meiner Ankunft vorfinden werde. Wird es die sirupsüße Luna sein, die mit jedem Atemzug Liebe und Freundlichkeit verströmt, oder die vulkanschlummernde Luna, die all ihre Energie und Restwut irgendwo unter die Oberfläche gebannt hat? Sie ändert und wandelt sich ständig, und ich möchte vorbereitet sein.

Meine Schwester kam das letzte Mal im April während ihrer Frühlingsferien zu Besuch und wählte diesen Zeitpunkt, um meiner Mutter zu eröffnen, dass sie fürs zweite Studienjahr nicht an die Columbia zurückkehren würde. Zumindest nicht jetzt, sagte sie, aber irgendwann schon. Diesen Herbst jedoch würde sie ab September mit ihrer Band die Westküste entlangtouren.

»Ich werde von der Uni freigestellt«, sagte sie. »Ich war schon im Studentensekretariat und alles.« Sie blickte aus dem Fenster, anstatt meine Mutter anzuschauen. Hinter der Scheibe blühte und wucherte der Magnolienbaum wie wild und presste seine cremefarbenen Blüten gegen das Glas. »Ich behalte das Stipendium«, schob sie hinterher.

Meine Mutter erwiderte nichts. Ihre Augenbrauen waren gerunzelt und ihre Lippen zu einem dünnen Strich verzogen.

Luna nahm einen tiefen Atemzug. »Ich dachte, du würdest mich verstehen«, sagte sie an unsere Mutter gewandt. »Du bist selbst von der Uni abgegangen, bevor du deinen Abschluss hattest. Und du bist zurückgekehrt. Irgendwann.«

Von meinem Platz auf dem Sofa aus erschien es mir völlig schleierhaft, wie Luna von ihr erwarten konnte, dass sie es verstand. Unsere Mutter weigerte sich, überhaupt von ihrer Zeit bei Shelter zu erzählen. Wie konnte da irgendjemand auch nur ansatzweise glauben, dass es in Ordnung für sie wäre, wenn Luna ihr Studium abbrach, um mehr oder weniger denselben Pfad einzuschlagen?

»Ich muss das jetzt tun«, sagte meine Schwester. »Ich werde keine zweite Chance bekommen.«

Ich wartete darauf, dass meine Mutter Nein sagte, aber sie nahm nur einen tiefen Atemzug und stieß ihn wieder aus.

»Okay«, sagte sie. Dann ging sie raus in die Garage und begann mit der Arbeit an einer drei Meter hohen stacheligen Skulptur, die sie etwa einen Monat später an einen Spieler der Buffalo Sabres verkaufte. Er ließ sie vor seiner protzigen Villa draußen in Spaulding Lake aufstellen, wo sie gefährlich im bonzigen Sonnenlicht der wohlhabenden Nachbarschaft glitzerte. Ben gegenüber riss ich später Witze, dass die Skulptur eigentlich aus Zorn geschmiedet worden sei. Er nickte.

»Hockeyspieler brauchen diese Art von Energie«, sagte er. »Die schlagen sich ständig die Köpfe ein.«

»Du willst damit also sagen, ich solle froh sein, dass meine Mutter aus ihrer Wut lieber Kunstwerke macht, anstatt sie auf anderem Wege rauszulassen – welcher auch immer das sein mag.«

Er nickte.

»Wollte nur sichergehen«, sagte ich.

Meine Mutter steht immer noch am Fenster und starrt mich an. Ihre Unterarme ruhen auf dem Fenstersims, und ich kann erkennen, dass sie ihren »Besorgte Mom«-Ausdruck aufgesetzt hat.

»Hier gibt es nichts zu sehen«, sage ich. »Hatte nur ein paar technische Probleme. Alles unter Kontrolle.«

Sie bückt sich wieder, zweifelsohne auf der Suche nach tückischem Traubenkraut, das sich irgendwo unter den Hortensien versteckt hält. Das kann sie den lieben langen Tag tun. Und das liegt vor allem daran, dass diese Frau keine Hitze spürt. Meine Mutter ist Bildhauerin und arbeitet mit Metall, und nie ist sie so glücklich, wie wenn sie einen Schweißbrenner in der Hand halten kann, dessen blauer Flammenbogen gebündelt wie der Schweif einer Sternschnuppe emporschießt. Ihr Freund aus dem Kunstinstitut, Jake, nennt sie die Göttin der Schmiede, und das hat ebenso viel mit ihrem Temperament zu tun – einem langsamen Brennen wie dem von Luna, das irgendwann zu einer Eruption führt – wie mit ihrer Metallkunst selbst. Sie arbeitet in einem Atelier, das sie sich in unserer Garage eingerichtet hat, und ich versuche möglichst, mich aus der ganzen Sache rauszuhalten, um nicht in ihre Schusslinie (Feuerlinie?) zu geraten.

Meine Hündin, Dusty (selbstverständlich nach Dusty Springfield benannt), schlabbert das Wasser aus ihrem silbernen Napf, und ich gehe rüber, um ihn nachzufüllen. Als ich ihn wieder auf dem Boden abstelle, blicke ich aus dem Fenster, das in der feuchtwarmen Luft klemmt und nur bis knapp über die Hälfte geöffnet ist. Die Innenseiten des Rahmens ist von hundertjähriger Farbe gezeichnet, und er lässt sich im Sommer nie weiter hochschieben – eines von vielen Dingen, die den Charme eines alten viktorianischen Hauses ausmachen. Luna und ich sind beide in New York zur Welt gekommen, wo meine Eltern ein mit Schallplatten, Verstärkern und Gitarren übersätes Loft bewohnten. Ich war beinahe zwei, als sie sich trennten und meine Mutter mit uns nach Buffalo zog, wo meine Großeltern lebten – wo sie selbst aufgewachsen war. Sie kaufte dieses Haus, das am Verfallen war, und brachte es auf Vordermann. Meine Großeltern halfen, soweit sie es ihnen erlaubte, aber sie machte praktisch fast die ganze Arbeit selbst. Was wiederum die Sache mit dem Fenster erklärt.

Wenn man sie jetzt so hinter dem Haus sieht – in einem violetten Sommerkleid ihren Garten jätend, das Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, die Füße nackt und ein bisschen schmutzig –, würde man niemals ihr Geheimnis erahnen, die Person, die sie einst war. Niemand würde je darauf kommen, dass meine Mutter zwanzig Jahre zuvor das erste Mädchen auf dem Mond war.

Es klingt verrückt, ich weiß. Aber es ist nicht das, was ihr denkt. Es gab da keinen aufgeplusterten weißen Weltraumanzug, keinen Himmel, der sich mit Sternen füllte, bis er aussah wie eine funkelnde, sich in der Dunkelheit spaltende Kristallgeode. Sie stand nie am Rand eines leeren Mondmeeres, knöcheltief in Staub versunken, und blickte auf das sich drehende Juwel unseres alten Planeten zurück. Es war einfacher als das, viel erdgebundener und symbolischer. Doch wie ich zuvor schon sagte, weigert sie sich, darüber zu reden: über den Mond, die Musik und all die anderen Dinge, die passierten, bevor meine Schwester zur Welt kam.

Jetzt wuchte ich meinen Koffer über die Schwelle und versuche gleichzeitig, die Tür mit einem Fuß aufzuhalten. Dusty hat es ebenfalls eilig rauszukommen, und so stecken wir kurz in einem kleinen Stau fest, bis sie sich mit einem Sprung über mein Schienbein befreit. Als ich draußen bin, überlege ich kurz, den Koffer über das Verandageländer zu kippen, damit ich ihn nicht über die Stufen schleifen muss, aber ich besinne mich eines Besseren. Meine Mutter hat mich im Blick.

»Sieht ziemlich schwer aus«, bemerkt sie. Sie lehnt mit dem Rücken am Wagen, die knallpinken Gartenhandschuhe neben sich ins Gras geworfen.

»Ach, nicht besonders.« Ich zerre weiter und gebe mir dabei Mühe, nicht laut zu ächzen. Ich halte meinen Blick auf sie gerichtet, während der Koffer von Stufe zu Stufe poltert, ein gepresstes (gekünsteltes) Lächeln aufs Gesicht gepflastert. Unten angekommen, atme ich tief durch und ziehe den Griff heraus, um ihn den Rest des Weges zu rollen.

»Einen Vorteil hat es«, sage ich und hieve mein Gepäck in den offenen Kofferraum. »Ich trainier ohne Ende meine Muskeln.« Ich spanne zu Demonstrationszwecken meinen Bizeps an.

»Man sieht’s«, erwidert sie trocken. Dusty tänzelt um sie herum, wobei sie leise Fiepsgeräusche von sich gibt, um meine Mutter zu überreden, eine Spritztour mit ihr zu unternehmen.

»Gleich, Dusty«, sagt sie, und bei ihren Worten wirft Dusty sich ins Gras und legt ihr Kinn auf den Vorderpfoten ab.

Ich kann die pinkfarbenen Heckenrosen riechen – süß und schwer wie erlesenes Parfum –, die ihren intensiven Duft unter dem Fenster verströmen wie Tiere, die vom Großangriff meiner Mutter in Angst und Schrecken versetzt wurden. Ich neige den Kopf zu ihnen.

»Keine Sorge«, sage ich mit einem hörbaren Flüstern, »auf euch hat sie es heute nicht abgesehen.« Meine Mutter lächelt.

»Hey!«, protestiert sie. »Ich bin eine tüchtige Unkrautvernichterin. Hier sieht es doch toll aus.«

»Gartenkönigin«, sage ich, und sie nickt.

»Ich habe da übrigens noch eine Sache, die in deinen Koffer muss«, verkündet sie und hebt den Zeigefinger. »Sie ist noch in der Werkstatt. Warum drehst du derweil nicht eine kleine Runde mit Dusty vor dem Haus? Wenn ihr zurück seid, bin ich so weit.«

Das ist eine Strategie, die meine Mutter anwendet, seit ich ein kleines Kind war: ablenken und beschäftigen. Ich öffne den Mund, um zu widersprechen, aber sie ist bereits in der Garage verschwunden. Also folge ich Dusty Richtung Straße und summe ein Lied, das ich vor langer Zeit vergessen wollte.

Die Sonne steht als gleißender weißer Ring am Himmel und der Asphalt des Bürgersteigs unter meinen nackten Füßen ist heiß. Weiter unten in der Straße surrt ein Rasenmäher, träge wie eine schläfrige Biene. In wenigen Minuten werde ich diesen Ort verlassen haben, in wenigen Stunden diese Stadt. In einer Woche endet mein Sommer endgültig. Und so ist es natürlich genau dieser Moment – als ich so kurz davor bin, zu gehen, endlich fort zu sein von hier –, in dem Tessa sich schließlich doch noch blicken lässt.

2

Meine beste Freundin taucht wie aus dem Nichts auf und gleitet auf ihrem alten blauen Fahrrad über die Garagenzufahrt. Ihr Haar glänzt golden in der Sonne. Dusty dreht sich um und blickt über die Straße, ihre seidigen Ohren schwenken herum wie Satellitenschüsseln. Sie reckt schnüffelnd die Schnauze in den Wind, auf der Suche nach Tessas Geruch, dann wedelt sie mit dem Schwanz.

»Verräterin«, flüstere ich, und Dusty blickt, immer noch wedelnd, wieder zu mir. Ich frage mich, warum ich den quietschenden Hinterreifen von Tessas Rad nicht gehört habe – kreeeeeisch, kreeeeeisch –, wie eine Warnung, aber der Wind veranstaltet ein großes Rauschen im Blätterdach über meinem Kopf. Vielleicht habe ich auch nur nicht richtig hingehört. Ich habe nicht erwartet, sie zu sehen. Ich war diesen Sommer jeden Tag hier draußen und sie ist nicht ein einziges Mal aufgetaucht.

Aber von meinem Zimmer aus kann ich ihr Fenster sehen, das direkt über den Heckenkirschenspalieren liegt, die wir früher benutzt haben, um uns spät in der Nacht aus dem Haus zu schleichen. Es ist Monate her, doch ich bin sicher, dass ich es, wenn nötig, immer noch mit verbundenen Augen und barfuß hinkriegen würde. Ich wüsste auch, wohin ich meine Schuhe werfen müsste, damit sie nicht in den Rosenbüschen landen. Als wir zwölf waren, schlichen wir uns raus, um auf dem Spielplatz unten an der Straße zu schaukeln und zu quatschen, und freuten uns einfach nur über unsere Schatten, die vom Licht der Straßenlaternen auf den Boden geworfen wurden. Später dann gingen wir auf Partys, und einmal in eine düstere, heruntergekommene Bar in der Allen Street, wo sie keinen Ausweis verlangten. In den seltenen Nächten, in denen sie sich alleine rausschlich, sandte Tessa mir eine SMS, sobald sie zu Hause ankam, und dann mit der Taschenlampe den Morsecode für OK: dreimal lang, dann lang, kurz, lang. Ich schaue immer noch jeden Abend zu ihrem Fenster, aus Gewohnheit, aber ich sehe sie nie zurückblicken.

Selbst jetzt schüttelt sie zwar ihr strohfarbenes Haar wie ein Pony, aber sie dreht den Kopf nicht in meine Richtung. Die Garage der Whitings steht offen, ein Katalog vergangener Familiensommer von früher bis heute: verblichene Plastikplanschbecken, die sich wie Muschelschalen über einem Sandkasten in Schildkrötenform stapeln, ein Netz mit Fußbällen unter drei an der Wand befestigten Tennisschlägern. Neben der Tür steht der verbeulte rote Radio-Flyer-Bollerwagen, den wir früher benutzt haben, um unsere Puppen durch die Nachbarschaft zu kutschieren.

Noch vor zwei Monaten – oder auch all die Jahre davor – wäre ich längst auf der anderen Straßenseite gewesen, bis Tessa ihre Garage erreicht hätte. Vielleicht hätte ich sogar geahnt, dass sie kommen würde, noch bevor sie kam. Aber heute stehen die Dinge anders. Also weiß ich nicht, ob ich in unseren Garten zurückrennen soll oder mich ganz langsam umdrehen und um den Baum herumhuschen, sodass ich mit Blick auf mein Haus so tun könnte, als hätte ich sie nicht gesehen.

Doch irgendetwas zwingt mich, stehen zu bleiben.

Tessa hüpft von ihrem Fahrrad und lässt es schlitternd in der Garage zum Halt kommen. Ich erwarte schon, dass sie die geheime Tür zum Garten nimmt, um wieder zu verschwinden – für ein paar weitere Monate, ein Jahr, für immer. Aber dann dreht sie sich um und sieht mich an.

Mein Atem stockt und ich spüre mein Herz wie einen Schmetterling in meinem Brustkorb herumflattern. Tessa kommt über die Einfahrt auf mich zu und bleibt in der Mitte stehen. Sie sieht dünn aus, die Wangen gerötet, und das Haar flattert ihr um den Kopf wie Wimpel im Wind. Mit der Spitze ihrer Sandale stupst sie sanft eine Ringelblume an. Sie wartet. Dusty zerrt an der Leine, dann sieht sie wieder zu mir.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, überquere ich die Straße zu Tessas Seite der Ashland Avenue. Der Asphalt unter meinen Fußsohlen ist warm. Am Bordstein halte ich inne und schaue zu Tessa, die immer noch auf halber Strecke zwischen mir und der Garage steht.

»Hey«, sage ich. Ich lasse die Leine los und Dusty tapst rüber. Sie beschnüffelt Tessas Knie.

Tessa träg eine Sonnenbrille, daher kann ich ihre Augen nicht sehen. Aber es spielt keine Rolle, denn sie beugt sich ohnehin runter, um Dusty am Kopf zu kraulen.

»Hey«, sagt sie, doch mir ist nicht klar, ob sie mit mir redet oder mit meinem Hund.

Ich habe Tessa kennengelernt, als ich fünf Jahre alt war. Es war Sommer, und Luna war sieben und ärgerte sich, dass das Mädchen, das gegenüber einzog, in meinem Alter war und nicht in ihrem. Trotzdem spielten wir drei die ganzen Ferien über bei ihr oder bei uns im Garten, und als Luna in die zweite Klasse kam und eine eigene beste Freundin fand, ein Mädchen namens Pilar, waren wir zu viert.

Ich mochte Tessa auf Anhieb, weil sie lustig war und mutig, selbst wenn mutig sein damals nicht viel mehr bedeutete, als stillzuhalten, während einem eine Biene um den Kopf herumschwirrte, oder zwischen zwei Parkbänken hin und her zu springen, die beinahe zu weit auseinanderstanden, um es zu schaffen. Ihre Eltern stritten häufig, und manchmal, wenn wir an Tessas Hauswand gelehnt dasaßen und ihrem wütenden Geflüster lauschten, dachte ich bei mir, dass es eigentlich ganz gut war, dass meine Eltern geschieden waren, seit ich denken konnte.

Ich mache ein paar Schritte auf Tessa zu, mein erster Vorstoß auf das Whiting’sche Anwesen diesen Sommer. Dann öffne ich den Mund. Ich bin so sehr daran gewöhnt, ihr zu erzählen, was los ist, dass ich nicht anders kann, selbst nach zwei ganzen Monaten Funkstille.

»Ich fliege heute nach New York«, sage ich. »Luna und Mom sprechen kaum noch miteinander. Ich glaube, ich werde als eine Art Botschafterin geschickt.« Ich zeichne mit meinem großen Zeh einen Bogen über den Beton. »Als Abgesandte sozusagen.« Synonyme ploppen wörterbuchmäßig in meinem Kopf auf: Diplomat, Konsul, Ambassadeur. Mein Gehirn ist zu einem wirren Wortschatztrainer mutiert.

Tessa bleibt still, sie hockt immer noch in der Einfahrt, und ich stehe dort und wünsche mir einfach nur, dass sie spricht. Schließlich tut sie es.

»Luna war auf dem Pitchfork-Festival«, sagt sie und redet dabei immer noch mit Dusty oder womöglich auch mit dem Bodenbelag unter ihr. »Im Juli.«

»Ich weiß«, sage ich. Eine Musikseite brachte vor etwa einem Monat ein Foto auf ihrer Homepage, zusammen mit einer kurzen Story über die Herbsttour der Moons. Luna and the Moons gehen über Amerika auf, hieß es in der Überschrift, und darunter: Meg Ferris’ Tochter folgt der Umlaufbahn ihrer Mutter. Auf dem Bild sitzt Luna auf einer Bank, während die Jungs aus der Band hinter ihr stehen. Sie lacht, die Handflächen zu beiden Seiten auf dem rötlichen Holz abgelegt. Ein schräger Sonnenstreifen ergießt sich durch das Fenster mitten in ihren Schoß. Es ist vier Monate her, dass ich meine Schwester gesehen habe, und manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass sie real ist. Bilder wie diese, auf denen sie beinahe überirdisch leuchtet und zu einem Punkt jenseits der Kamera blickt, sind da nicht gerade förderlich.

Tessa steht auf, und plötzlich habe ich Angst, dass sie geht, bevor ich etwas wirklich Wichtiges sagen kann.

»Ich werde meinen Vater besuchen«, platzt es aus mir heraus. »Ich habe es fest beschlossen. Auch wenn Luna nicht will.«

»Viel Glück«, sagt Tessa mit neutraler Stimme. Sie fragt nicht, wie mein Plan aussieht oder warum ich mich endlich durchgerungen habe, nachdem ich schon so lange Zeit darüber nachgedacht habe. Dann schüttelt sie den Kopf. »Gestern bei der Arbeit haben sie mindestens dreimal ›Summerlong‹ gespielt.«

Das ist ein weiterer Song meines Vaters, und es überrascht mich nicht, dass sie ihn an Tessas Arbeitsplatz, einem Laden für Skater und Snowboarder, laufen lassen. Die Musik dort ist erbarmungslos peppig und dynamisch und soll die Leute dazu animieren, Handschuhe, Mützen und zwei Skijacken zu kaufen, selbst wenn sie nur eine brauchen. Oder wenn es draußen warm ist, zwei Skateboards oder zwei Paar Knieschoner. »Summerlong« passt gut rein, da es fröhlich klingt – die meisten Leute merken nicht, dass die Botschaft des Liedes traurig ist.

Der Song kam auf demselben ersten Soloalbum raus wie »Secret Story« – ein Jahr, nachdem Shelter sich aufgelöst hatten –, doch vom Mai bis in den September spielen sie es heute noch auf 92.9 FM Hot Mixx Radio (»Heizen Sie Ihrem Tag ein mit einem Mix ihrer liebsten Sommerhits!«). Letzten Monat erst habe ich das Lied im Supermarkt gehört. Ich befand mich gerade im Gang mit den Frühstücks-Zerealien, meine Mutter in der Tiefkühlabteilung, und seitdem haben wir mehr Rice Krispies und Wassereis mit Himbeergeschmack, als ein Haushalt von zwei Personen in einem ganzen Jahr vertilgen kann. Wir verfolgten beide dieselbe Strategie: irgendwelche Artikel aus dem Regal holen – ganz langsam und bedächtig –, aufmerksam die Zutatenliste durchlesen, eine regelrechte Show abziehen, welches wohl die richtige Wahl sei, dann beide nehmen. Es war feinstes Supermarkttheater, aber niemand schaute uns zu. Es ging hauptsächlich darum, uns aus dem Weg zu gehen, bis das Lied vorüber wäre, damit wir nicht darüber sprechen müssten. Meine Mutter hatte den Einkaufswagen, also fiel mir die Rolle des Trottels zu, das halbe Dutzend General-Mills-Packungen durch den Laden zu tragen, die sich in meinen Armen so hoch stapelten, dass ich kaum was sehen konnte. Als ich sie schließlich fand, lief »Cruel Summer« von Bananarama, und meine Mutter sah nur auf meinen Schachtelturm und nickte, so nach dem Motto: Ist doch total normal, dass du dir sechs Packungen Frühstücksflocken holst. Ich kippte sie wortlos in den Wagen.

Ich überlege kurz, Tessa die Geschichte zu erzählen, aber ich lasse es bleiben.

»Tut mir leid wegen dem Lied«, sage ich mit gespieltem Ernst, »im Namen meiner gesamten Familie.« Für einen Moment sehe ich den Schatten eines Lächelns über Tessas Gesicht huschen, und ich denke, vielleicht wird alles wieder gut. Dann schüttelt sie den Kopf.

»Ich habe mittlerweile gelernt, es auszublenden«, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust – ihre gesamte Haltung ist eine Art Zaun, eine Grenze, die sie vor mir schützen soll. Eine Sache, die mir an Tessa immer am meisten gefallen hat, ist, dass sie bereitwillig Unsicherheiten und Zweifel einräumt. Sie ist nicht immer und bei allem hundertprozentig überzeugt, so wie meine Mutter und meine Schwester es sind. Oder zumindest war sie es früher nicht. Im Moment jedoch macht sie den Eindruck, als sei sie sich ihrer Sache ziemlich sicher.

Eigentlich dürfte das nicht so sein. Eigentlich müsste Tessa es verstehen. Immerhin war sie es, die überhaupt erst mit der Horizont-Theorie angefangen hat.

Mein Vater verschwand vor drei Jahren aus meinem Leben, so wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt: Du weißt, dass sie immer noch existiert, aber du bist dir nicht ganz sicher, wo. Und ab und an schwebt sie flackernd wieder ins Blickfeld – in seinem Fall auf den Seiten des Rolling-Stone-Magazins oder bei einem Auftritt in einer Late-Night-Show.

Tessa war es auch, die auf Google Maps das Studio meines Vaters in Williamsburg, New York, ausfindig machte und mir half, die Zeitschrift auf eBay zu finden – die Zeitschrift, die ich heute mitnehmen werde, um sie Luna zu zeigen. Ich durfte sogar Tessas Kreditkarte benutzen. Ich glaube nicht, dass ich es ihr je zurückgezahlt habe.

Jetzt blickt Tessa über die Schulter zu ihrem Haus, aber ich kann dort niemanden ausmachen.

»Die Zeitschrift ist angekommen«, sage ich. »Schon vor einer Weile. Willst du sie sehen? Ich kann sie holen.«

»Ist schon gut«, sagt sie.

»Ich glaube, ich schulde dir noch acht Dollar.«

»Ich setze es mit auf die Rechnung«, sagt sie und macht einen Schritt zurück, aber sie geht nicht weg. Sie bleibt dort stehen, doch jetzt blickt sie so konzentriert in die Wipfel der Eiche über uns, dass ich mich beinahe umdrehe, um selbst hinzuschauen.

Ein plötzliches Gefühl der Verzweiflung durchströmt mich wie ein Schauder. Den ganzen Sommer über wollte ich die Gelegenheit haben, mit Tessa zu reden, und jetzt stehe ich hier und sie hört mir zu, und mir fällt nicht ein, was ich ihr sagen wollte. Dieses ganze Chaos ist die Folge eines Geheimnisses – eines Geheimnisses, das ich für mich behalten hatte, in der Hoffnung, sie zu beschützen. Doch jetzt weiß ich, dass man ein Geheimnis nicht sicher aufbewahren kann. Man kann versuchen, es ganz vorsichtig zu behandeln – wie eine Eierschale oder einen winzigen Kokon. Aber Geheimnisse sind nicht hohl. Sie haben Gewicht und Schwere. Sie umkreisen uns wie kleine Monde, die von unserer Schwerkraft in unserer Nähe gehalten werden, während sie uns gleichzeitig die ganze Zeit mit der ihren runterziehen.

Ich will ihr das sagen, aber ich kann meinen Mund nicht dazu bewegen, die Worte zu bilden.

»Tessa, es tut mir leid.« Ich spüre, wie meine Stimme ins Wanken gerät. »Ich … ich dachte, ich würde das Richtige tun.«

Sie sieht irgendwo links an mir vorbei, und so spreche ich mehr oder weniger zu ihrer Wange.

»Ich weiß«, sagt sie leise. »Aber das hast du nicht. Ich habe ihn wirklich gemocht, Phoebe.«

»Ich weiß«, erwidere ich, doch dann schleicht sich eine Art fieser kleiner Ehrlichkeitsdämon in meinen Mund. »Ich auch.«

Ihre Augen verengen sich ein wenig und sie beißt sich auf die Unterlippe. Sie nickt. Nicht so, als würde sie auf eine Frage antworten, sondern so, als habe sie einen Entschluss gefasst.

»Viel Glück in New York«, sagt sie. »Hab Spaß mit deiner berühmten Familie.«

Der letzte Teil kommt nicht gemein rüber, sondern beinahe aufrichtig. Ist es möglich, so etwas zu sagen, ohne sarkastisch zu klingen?

Sie dreht sich um und läuft die Einfahrt zurück, ihre Flipflops machen ein knallendes Geräusch auf dem Beton. Sie verschwindet in der dunklen, schattigen Garagenhöhle, und ich stehe da und schaue ihr hinterher, auch dann noch, als das automatische Tor sich langsam senkt, bis es den Boden berührt.

Dusty sieht zu mir auf, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche sie sehr aufmerksam, wie um mich zu fragen: Was zum Teufel ist denn mit der los? Ich lasse meine Finger auf ihren Kopf sinken und sie drückt ihr Ohr gegen meinen Schenkel. Ich werde gleich wieder nach Haus zurückgehen, aber im Moment kann ich meine Beine noch nicht bewegen. Und genau in diesem Moment, als ich unachtsam werde, bahnt sich der Text zu »Summerlong« seinen Weg zurück in meinen Kopf. The light will trap you, the light will catch you, but summer’s not long. Summerlong.

Ich habe nie verstanden, was das bedeuten soll. Sagt er nun, dass der Sommer lang ist oder nicht? Vielleicht ist es eine besondere Art von »lang«. So in der Art wie: nicht lang– sommerlang!

Wie auch immer.

Ich bin sicher, mein Vater hat es als Metapher gemeint – für das Ende seiner Band oder seiner Ehe oder irgendetwas anderem, das er vermasselt hat –, aber gerade jetzt fällt es mir schwer, den Text nicht wörtlich zu nehmen. In ein paar Wochen wird dieses weißglühende Sonnenlicht zu einem bernsteinfarbenen verblassen und der Sommer wird in den Herbst übergehen. Ich werde wieder in die Schule zurückmüssen und mich allem stellen, dem ich seit Juni aus dem Weg gegangen bin. Aber noch liegt eine ganze Woche zwischen dem Jetzt und dem Dann. Und einige Fragen, auf die ich eine Antwort zu erhalten beabsichtige. Gut, dass ich einen Haufen audiovisueller Hilfsmittel parat habe, denn ich bin bereit, hier und heute zu beginnen, um mich dann zurückzuarbeiten.

3

MEG

JUNI 2001

Der Schlüssel in der Tür klemmte. Ich gab mir Mühe, esnicht als Vorzeichen zu betrachten.

»Alles in Ordnung?«, fragte meine Schwester hinter mir, und ich antwortete, ohne mich umzudrehen.

»Alles super.« Ich holte tief Atem, schloss die Augen und ruckelte mit dem Schlüssel nach links. Als ich ihn wieder zurückdrehte, machte es Klick. Das Schloss öffnete sich.

Ich ließ die Tür trotzdem noch zu und hüpfte die Stufen wieder runter auf den Rasen. Kit stand mit den Mädchen neben dem kleinen Blumenbeet, das sich an der einen Seite des Gartens entlangzog. Phoebe pflückte Löwenzahn und Luna unterhielt sich, so vermutete ich, mit den Rosenbüschen. Über uns wölbte sich ein Silberahorn in den Himmel. Das gehörte zu den Dingen, die mir am besten gefallen hatten, als ich das Haus zum ersten Mal sah: der große Baum im Vorgarten, die üppigen Hecken am Bürgersteig. Es war nur ein einfaches altes Farmhaus inmitten der Stadt, aber es wirkte wie ein Hexenhäuschen aus einem Märchen. Von der Straße aus war es kaum zu sehen.

Luna hatte ihre Schuhe im weichen Gras ausgezogen und war nun dabei, die Schritte zwischen zwei Rosenbüschen zu zählen: eins-zwei-drei-vier. Sie hatte ein halbes Jahr Ballettunterricht genommen und sich als Naturtalent erwiesen, wenn sie durch das verspiegelte Tanzstudio und über den Wohnzimmerboden unseres Lofts hüpfte. Nein, nicht mehr unser Loft: das Loft, das wir eine Woche zuvor an einen Banker und seine blonde, hochschwangere Frau verkauft hatten. Ich dachte daran zurück – an den Ort, der noch bis vor sehr kurzer Zeit unser Heim gewesen war – und mir stockte der Atem. In dem Moment rannte Phoebe mir glucksend und mit einem Strauß Löwenzahn in der Hand gegen die Beine und ich bekam wieder Luft. Sie sah zu mir auf, lächelnd und in das Sonnenlicht blinzelnd, und beinahe fühlte ich mich sicher, was die Entscheidung anging, die ich getroffen hatte. Beinahe.

»In Ordnung, Mädels«, sagte ich, nahm Phoebe an der Hand und wirbelte sie einmal im Kreis herum. Sie quietschte fröhlich und ließ sich in den weichen Klee plumpsen. Ich griff nach dem Karton, der in der Auffahrt stand, die einzige Sache, die ich außer unseren Koffern ins Auto gepackt hatte. Die Umzugshelfer würden den Rest erst morgen bringen, und dann würde ich mich daran erinnern müssen, welche Dinge ich mitgenommen und welche ich zurückgelassen hatte. »Lasst uns reingehen und unser neues Haus anschauen«, sagte ich.

»Neues Haus!«, wiederholte Phoebe. In zwei Monaten würde sie zwei werden, und sie begann gerade erst damit, Sätze zu bilden, trotzdem wusste ich, dass sie fast alles verstand.

Luna hörte auf zu zählen und drehte sich in meine Richtung. »Kann ich mein Zimmer sehen?«, fragte sie.

Ich nickte. »Aber natürlich.«

Sie reichte mir die Hand und Kit schwang Phoebe auf ihre Hüfte. Wir schritten die fünf Stufen zu der schmalen Veranda hoch und ich stand abermals vor der schweren Holztür.

»Was wenn da Hausbesetzer drin wohnen?«, sagte Kit und warf mir ein schelmisches Lächeln zu. Sie hatte sich einen Monat zuvor, während der letzten Woche unserer letzten Tour, in einem Hotelzimmer in Chicago einen Pixie geschnitten. Das kurze Haar ließ ihre Augen riesig wirken, aber es stand ihr.

»Hier gibt es keine Hausbesetzer«, entgegnete ich. Ich öffnete die Tür und schob den Karton über die Schwelle.

»Dann eben Waschbären.« Kit berührte das verwitterte Holz des Türrahmens. Ein langer Kratzer zog sich am Rand entlang, und ich fragte mich, wann in den letzten hundert Jahren der wohl entstanden war.

»Was ist ein Hausbesetzer?«, fragte Luna. Sie sah zu mir hoch und blinzelte mit ihren langen Wimpern.

»Das ist schwer zu erklären, meine Süße«, erwiderte ich, »aber in unserem Haus gibt es keine.«

Drinnen war es dämmrig, da die Vorhänge an der Vorderseite des Hauses alle noch zugezogen waren, aber durch das Esszimmerfenster fiel ein Balken Sonnenlicht auf den Boden. Er bildete ein perfektes goldenes Rechteck auf den Holzdielen, und in jenem Moment wollte ich nichts lieber, als auf diesem Fleckchen zu sitzen – für immer, wenn es sein musste, oder zumindest so lange, wie ich brauchte, um herauszufinden, was ich als Nächstes tun sollte.

Aber stattdessen zog ich Luna hinein und Kit folgte mit Phoebe. Für einen Moment standen wir in der kühlen, dunklen Stille. Die Fenster waren geschlossen, aber ich konnte immer noch die Vögel singen hören.

»Ist nicht unbedingt das Ritz, oder?«, bemerkte Kit.

»Nein, ist es nicht«, sagte ich. Luna ließ meine Hand los und tapste Richtung Küche. »Aber das Ritz war sowieso nie besonders toll.«

Kit lachte. »Also ich fand es ganz fantastisch.« Ich zuckte mit den Schultern, doch sie lächelte nur, und ich war dankbar, weil meine Schwester mich nicht für verrückt hielt. Und falls sie es doch tat, hatte sie es mir zumindest noch nicht gesagt.

»Und jetzt noch einmal …«, sagte Kit und ließ Phoebe runter. »Warum genau sagen wir Mom und Dad nicht, dass wir hier sind?« Sie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete ein Fenster zu meiner Linken.

Ich fuhr mit der Hand über das Treppengeländer. Das Holz war staubig, aber unter der dicken Schicht glatt und glänzend. »Weil Dad sofort damit loslegen würde, alles zu richten und zu reparieren«, erwiderte ich. Unsere Eltern lebten keine Viertelstunde entfernt in demselben Haus, in dem wir aufgewachsen waren. Sie waren nette, ruhige Menschen, und ich liebte sie, aber ich brauchte einen Tag allein, bevor ich sie hierher einladen konnte.

Kit mühte sich immer noch damit ab, das Fenster zu öffnen, doch es klemmte.

»Ähm, ich glaube, dass das gar nicht so schlecht wäre«, sagte sie. »Außerdem besitzt Mom ungefähr jedes Putzmittel, das je erfunden wurde.«

»Wir haben eine ganze Dose Bad- und Küchenreiniger«, erwiderte ich. »Irgendwo da in dem Karton.«

Kit fuhr mit einem Zeh über den Holzboden. Er hinterließ eine Spur im Staub. »Ich glaube, wir werden etwas mehr brauchen als das.«

»Wir rufen sie morgen früh an«, sagte ich. »Die Telefonleitung sollte eigentlich schon verbunden sein, wir müssen nur die Anschlussbuchse finden.« Ich beugte mich runter und wühlte durch den Karton. Ich suchte nach einem olivgrünen Telefon mit Wählscheibe aus den Sechzigern, das ich schon seit Ewigkeiten besaß, oder zumindest seit ich es vor Jahren auf dem Dachboden meiner Großmutter ausgegraben hatte, bevor ich nach New York gezogen war.

»Wahrscheinlich sollte ich auch Kieran anrufen«, sagte ich.

Kit sah mich an. »Echt?«

»Ja«, erwiderte ich und nickte, obwohl ich mir keineswegs so sicher war. Ich hatte die neuen Regeln noch nicht kapiert. »Er wird wissen wollen, ob wir gut in Buffalo angekommen sind. Ich meine, ob die Mädchen gut angekommen sind.«

Das letzte Mal hatte ich ihn vor zwei Tagen gesehen, als die Umzugshelfer die letzten Sachen aus unserem Loft einluden. Kit hatte die Mädchen schon in ihre Wohnung nach Brooklyn gebracht, wo wir die Nacht verbringen wollten. Kieran und ich liefen betreten durch die Wohnung, angeblich um unsere Sachen aufzuteilen. Schließlich setzte ich mich auf das Fenstersims im Wohnzimmer, um den Helfern aus dem Weg zu gehen. Kieran kam ebenfalls herüber und lehnte sich mit der Hüfte an das Sims. Barfuß hüpfte ich wieder auf den Boden.

»Bist du dir sicher?«, fragte Kieran leise. »Wir könnten das immer noch in Ordnung bringen.«

Was in Ordnung bringen?, wollte ich entgegnen. Unsere Familie? Die Band? Ich sah an ihm vorbei und begegnete zufällig dem Blick eines der Umzugshelfer am anderen Ende des Raums, einem dunkelhaarigen Kerl mit Bandana und weißem T-Shirt, der ein Bücherregal trug. Er lächelte mir zu, und ich fragte mich, wie wir wohl für ihn aussahen, hier in unserer Wohnung, uns trennend. Ich sah wieder zu Kieran.

»Wie?«, fragte ich.

»Das würden wir schon noch herausfinden«, sagte er und sah mich an, ohne zu blinzeln. Er legte seine Finger an meinen Wangenknochen und fuhr mit dem Daumen über meine Lippen. »Du könntest immer noch bleiben.«

Für eine Sekunde fühlte ich mich wie erstarrt, meine Füße am Boden festgewachsen. Ich wollte ihm glauben. Das gebe ich zu. Ich spürte, wie ich mich ein winziges bisschen zu ihm lehnte. Ein paar Millimeter vielleicht. Dann hörte ich das Schrammen von Möbeln auf dem Boden hinter mir. Ich wippte auf meine Fersen zurück.

»Ich kann nicht«, erwiderte ich. »Das ist nicht das Leben, das ich mir für die Mädchen wünsche. Oder für mich.«

Kieran schüttelte den Kopf, und ich wusste nicht, was das bedeuten sollte – dass er nicht meiner Meinung war oder dass er dieses Gespräch nicht noch einmal führenwollte. Dann lächelte er, doch bevor er noch irgendwas sagen konnte, drehte ich mich um und lief in den Flur hinaus. Die Treppe runter, auf die Straße, in die U-Bahn.

Endlich hatte ich die Telefonbuchse gefunden, die in der Wand über dem Küchentresen angebracht war. Ich steckte das Kabel vom Telefon meiner Großmutter ein und nahm den schweren Hörer von der Gabel. Nichts. Kein Freizeichen. Ich spürte, wie mir heiße Tränen in die Augen stiegen. Ich kniff sie fest zu, ohne mich zu meiner Schwester umzudrehen, aber ich wusste, dass sie es merkte.

»Oben in der Elmwood Avenue gibt es Telefonzellen«, sagte Kit sanft. »Oder wir stellen uns nach dem Abendessen bei den Nachbarn vor. Ich rufe Mom morgen früh an, sobald ich wach bin, und heute Abend melde ich mich noch bei Kieran und sage ihm, dass wir gut angekommen sind. Okay?«

»Okay«, murmelte ich. Wieder einmal war es meine Schwester, die mich rettete.

»Und jetzt«, sagte Kit, während sie das Fenster neben der Treppe ansteuerte, »lasst uns nach diesen Hausbesetzern suchen.« Sie zog den Vorhang beiseite und lehnte sich an das Treppengeländer. »Vielleicht haben sie sich im oberen Stockwerk verkrochen.«

Phoebe stellte sich vor mich hin und streckte sich zur Decke.

»Oben«, sagte sie. »Oben.« Ich beugte mich runter und schloss sie in meine Arme.

Luna ging zu Kit und legte ihr die kleinen Hände auf die Knie. Ihr Haar löste sich aus dem Pferdeschwanz, feine Strähnchen fielen ihr in den Nacken. Sie sah so ernst aus, so erwachsen.

»Können wir mein Zimmer anschauen gehen?«, fragte sie. Kit blickte zu mir, um die Erlaubnis einzuholen.

»Na klar«, antwortete ich. »Es ist das Zimmer gleich oben an der Treppe. Noch ist es blau, aber wir können es in jeder Farbe anmalen, die du magst.«

»Lila«, erwiderte Luna, ohne nachzudenken.

»Okay«, sagte ich. »Dann also Lila.« Ich wandte mich an Phoebe. »Und was ist mit dir, meine Kleine?«

»Lila«, sagte Phoebe.

»Nein!«, protestierte Luna. Sie wirbelte zu ihrer Schwester herum. »Du kannst dein Zimmer nicht lila anmalen.« Dann, etwas freundlicher: »Okay?«

Phoebe runzelte die Stirn und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu Luna auf.

Kit wuschelte durch Lunas Haar. »Phoebe kann jede Farbe nehmen, die sie will, du kleine Rechthaberin«, sagte sie. »Lasst uns hochgehen.«

Die beiden stiegen Hand in Hand die Treppe hoch und mein Blick fiel wieder auf den Pappkarton. In dieser Nacht würden wir auf der Luftmatratze schlafen, alle vier zusammen, und ich würde meine Töchter betrachten, wie sie im Licht der Straßenlaternen atmeten. Dann, morgen, würde meine Mutter mit ihrem Wägelchen voller Reiniger und Bleichmittel kommen, und mein Vater würde seinen großen Metallwerkzeugkasten mitbringen, den mit seinem auf Ettikettierband geprägten Namen auf dem Deckel. Sie würden versuchen, mein Leben auf ihre übliche ruhige Foster-Art zu kitten – ohne zuzugeben, dass es kaputt war. Und dann, im Herbst, würde Kit ihr Jurastudium in Washington DC aufnehmen, und dieses ganze Rockstar-Leben würde allmählich anfangen, sich wie ein ferner Traum anzufühlen.

»Willst du dir dein Zimmer anschauen, Phoebe?«, fragte ich. »Du kannst von dort den großen Garten hinter dem Haus sehen. All die Blumen und Bäume.«

Phoebe nickte mit ernster Miene und ich hob sie hoch. Sie fühlte sich so leicht an, dieser winzige Mensch, und wieder einmal war ich verblüfft, dass Kieran und ich sie aus dem Nichts erzeugt hatten. Und so glücklich, dass ich sie hatte, obwohl ich nicht erwartet hatte, im Alter von siebenundzwanzig Jahren zwei Kinder zu haben – und keinen Kieran.

Am Fuß der Treppe blieben wir stehen und drehten uns um, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Phoebe presste ihre Hand gegen die Scheibe. Ich konnte vage unsere Spiegelbilder ausmachen und sah, dass Phoebe lächelte.

»Gefällt dir das Haus?«, fragte ich. Phoebe nickte.

»Neues-Haus-unser-Haus«, sagte sie, als sei es ein einziges Wort. Sobald ich es hörte, spürte ich, wie ein Song in meinem Geist Gestalt annahm, seine besondere Architektur ausbildete, seine Räume füllte. Und dann schloss ich es ab. Beendete den Bau, bevor er richtig begonnen hatte.

Ich musste keine Songs mehr schreiben, aber eines Tages würde ich all das hier – alles was passiert war – meinen Töchtern erklären müssen. Ich würde mir die Worte für diesen Moment aufsparen. Vielleicht könnte ich vom Ende her beginnen und es wie ein Märchen erzählen: Es waren einmal, vor langer Zeit… wir vier Mädchen in einem beinahe leeren Haus, und ich hatte keine Angst.

Oder vielleicht nur ein ganz kleines bisschen.

4

Als Dusty und ich zurück bei uns im Garten sind, ist meine Mutter immer noch nicht da. Ich habe meine Umhängetasche vorhin auf der Veranda liegen lassen und hebe sie auf. Im Vergleich mit dem Koffer fühlt sie sich nun leicht an, aber als ich meine Hand in das Innenfach gleiten lasse, kann ich dort die versteckte Zeitschrift ertasten. Ich ziehe mein Handy hervor und schreibe eine weitere SMS mit einer Liedzeile: Secrets heavy as glass paperweights in our pockets. Die Antwort kommt umgehend mit einem Summen: Geheimnisse, so schwer wie Briefbeschwerer?Schreibst du über uns? (Ha.)

In diesem Moment kommt meine Mutter raus. Sie trägt eine kleine Skulptur, die ein bisschen wie eine Blume aussieht – wenn Blumen stachelig, futuristisch und aus Stahl wären. Sie reicht sie mir.

»Eine Roboterblume«, sage ich. »Wie praktisch. Vielleicht kann ich meine Zahnpastatube darin abstellen.« Ich kippe sie, um sie mir von unten anzuschauen.

»Ach, sei still. Blumen und Skulpturen. Ich versuche eben, meine Interessen zu vermengen.« Sie vollführt eine Geste, von der ich annehme, dass sie vermengen bedeuten soll, aber es sieht mehr nach besonders enthusiastischem Karamellmassekneten aus. »Außerdem ist sie für Luna«, sagt sie. »Nicht für dich.«

Klar. Für Luna. Die mich den ganzen Sommer allein gelassen hat, um mit ihrer Band auf Tour zu gehen, nachdem sie unserer Mutter verkündet hat, dass sie ihr Studium hinschmeißt. Ganz zufällig hat sie dabei Buffalo übersprungen und ist direkt von Pittsburgh nach Cleveland gereist, ohne einen Zwischenhalt einzulegen. Ich denke mal, es war einfacher für sie, Mom eine Absage zu erteilen, wenn sie nicht mit ihr in einem Zimmer war.

»Du weigerst dich also mit ihr zu reden«, sage ich, »aber du schickst ihr ein Stück Metall?«

»Ich rede doch mit ihr.« Meine Mutter sieht zu den Himbeerbüschen statt zu mir und hält dann inne, um ein Vogelschutznetz zurechtzurücken, das zur Seite gerutscht ist. Sie zerrt etwas heftiger als nötig, und ich sehe, wie ein paar unreife Beeren abspringen und zum Zaun kullern.

»Wann?« Ich halte immer noch die Skulptur in beiden Händen. Ich kann sie nirgends abstellen und ich weiß nicht, was ich damit tun soll.

»Ich habe ihr vor ein paar Tagen eine SMS geschickt.« Sie kniet nieder und rupft ein spitzblättriges Kraut aus der lockeren Erde unter den Himbeeren.

»Ich sage ja nur, dass ich das zwischen euch nicht in Ordnung bringen kann. Du schickst mich los, aber ich bin nicht gut in so was. Ich bin nicht so ein Mädchen.«

Meine Mutter sieht auf und lächelt mich an, wie um mir zu sagen, dass sie ziemlich sicher ist, dass ich eigentlich sehr wohl so ein Mädchen bin. Also schüttle ich den Kopf, auf, wie ich hoffe, äußerst entschiedene Art und Weise. Von einer Seite zur anderen. Ich bin fest entschlossen, meinen Standpunkt klarzumachen.

»Ich ›schicke‹ dich doch überhaupt nicht«, erwidert sie. Ihre Stimme lässt die Gänsefüßchen in der Luft quasi Form annehmen. Sie steht auf und klopft sich das Gras von den Knien. »Du gehst sie besuchen.«

»Klar.« Ich streife mit dem Fuß durchs Gras und klammere den Zeh um ein paar Stängel Klee.

»Und falls sich die Gelegenheit zu einem Gespräch ergibt, hält dich nichts davon ab, es zu versuchen.« Sie öffnet die Autotür und beginnt auf dem Rücksitz zu wühlen. »Auf dich wird sie hören.« Ihre Stimme dringt gedämpft aus dem Wageninneren, daher beuge ich mich etwas vor. »Bitte sie einfach, sich das mit der Uni im Herbst noch einmal zu überlegen.«

Ich atme tief ein und habe plötzlich das Gefühl, dass alles aus dem Lot geraten ist. Alles, was ich den ganzen Sommer wollte, war, hier wegzukommen, aber plötzlich bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich noch gehen will.

»Ich habe so schon genug Probleme, auch ohne mich mit Luna anzulegen«, sage ich.

Meine Mutter dreht sich um, dann streckt sie die Hand aus und schiebt mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich spüre unerwartete Tränen unter meinen Augenlidern prickeln.

»Ich weiß, dass es ein harter Sommer war«, sagt sie. »Aber alles wird besser, wenn die Schule erst wieder losgeht.«

»Das ist eher unwahrscheinlich«, erwidere ich. »Ich habe eben Tessa auf der Straße getroffen. Es ist nicht besonders gut gelaufen.«

Meine Mutter kennt nur einen Teil der Geschichte, die ich geheim gehalten hatte, um Tessa nicht zu verletzen – etwas, von dem ich geglaubt hatte, ich könnte es allein lösen. Sie weiß nicht, was wirklich passiert ist. Sie weiß nichts von Ben oder der Tatsache, dass meine anderen Freundinnen, Evie und Willa, sich ebenfalls den gesamten Sommer nicht bei mir gemeldet haben.

Ich halte meiner Mutter die Skulptur hin. Sie fühlt sich an wie aus Blei, wortwörtlich. »Nimmst du mir die mal ab?«

Sie greift wieder nach hinten und zieht zwei Stück Luftpolsterfolie aus dem Wagen. Eine reicht sie mir.

»Stressabbau«, erklärt sie. Ich lehne mich gegen den Wagen und beginne damit, die kleinen Luftblasen platzen zu lassen, so schnell und so heftig, dass Dusty sofort angetrabt kommt, um zu sehen, was ich da mache und ob sie es essen kann.

Meine Mutter reißt ein langes Stück schwarzes Isolierklebeband von einer Rolle.

»Du fährst mit Isolierband im Kofferraum durch die Gegend?«, bemerke ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein waschechtes Kidnapper-Merkmal ist. Also, bei Law & Order würden sie dich allein aufgrund dieses Beweisstücks einbuchten.«

Sie zuckt mit den Schultern und wickelt das Band kreuz und quer über die Folie. »Man weiß nie, wann man so was gebrauchen kann.«

Ich spüre die Hitze der Karosserie durch den Stoff meines Kleides hindurch und verlagere das Gewicht. »Na gut«, sage ich schließlich. »Ich werd’s versuchen. Aber ich verspreche nichts.«

»Das ist mein Mädchen.« Sie reicht mir den Packen, der sich durch die Folie ganz fluffig anfühlt, aber immer noch so schwer ist, als berge er einen dichten, festen Kern in sich. Wie ein Komet.

»Mom, wegen dem Ding wird man mich noch aus dem Flieger schmeißen.« Ich stochere mit dem Finger in ihre Richtung. »Sie werden es durchleuchten und für eine Waffe halten – eine außerordentlich gut verpackte Waffe. Ein altes Familienerbstück.«

Sie lächelt ihr breites Lächeln, das genauso aussieht wie das von Luna. »Du wirst wohl ein Plätzchen in deinem Koffer finden müssen, immerhin wiegt das Ding eine Tonne. Und überhaupt, unter den richtigen Umständen kann ungefähr alles als Waffe benutzt werden.«

»Sagt die Frau, die ihre Zeit damit verbringt, spitze Sachen aus Metall zu basteln.« Ich schüttle den Kopf. »Du würdest echt eine erstklassige Tatverdächtige bei Law & Order abgeben.«

Ich ziehe den Reißverschluss meines Koffers ein winziges Stück auf und versuche, das Päckchen hineinzustopfen. Als ich wieder aufsehe, sieht meine Mutter mich mit ihrem, wie Luna es nennt, »Traurige Mom«-Ausdruck an. Ich nehme an, es ist Zeit für die große Abschiedsszene. Besser hier als am Flughafen.

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll«, sagt sie. Dann streicht sie eine widerspenstige Haarsträhne glatt und die Sonne bricht sich an ihrem Ring, einem mit winzigen Löchlein versehenen Silberstreifen.

»Es ist doch nur eine Woche«, erwidere ich. Eine herrliche Woche, in der ich nicht von meinem Job bei Queen City Coffee heimkommen und nach südamerikanischen Röstmischungen und Muffinbackfett werde riechen müssen. In der ich an der Kasse nicht noch einem vierzigjährigen Typen in spießigem Anzug und mit Ehering amFinger werde zuhören müssen, der mir erzählt, was für hübsche Augen ich doch hätte. Eine Woche, in der ich nicht zu Tessas Fenster blicken und ein leeres Viereckaus Glas werde anstarren müssen. Und abgesehen davon, sollte es meiner Mutter trotz ihrer traurigen Augen nicht so schwerfallen, mich gehen zu lassen. Im Gegensatz zu Luna, weiß sie, dass ich wieder heimkommen werde.

»Ich weiß. Oh, fast hätte ich’s vergessen«, fällt ihr ein. »Das hier habe ich für dich gemacht.«

Sie zieht einen schmalen Silberarmreif von ihrem Handgelenk und streift ihn mir über. Er ist noch warm von ihrer Haut, und ich kann erkennen, dass sie das Metall gehämmert hat, um ihm eine wellenartige Struktur zu verleihen. Es sieht aus wie die Oberfläche eines Teichs an einem windigen Tag.

Früher rissen Luna und ich Witze, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis unsere Mutter uns ein passendes Paar Hundemarken schmieden würde, damit wir ja nicht vergaßen, zu wem wir gehörten. Jahrelang wurden wir vom Gewicht der Halsketten und Ohrringe niedergedrückt, von den Reifen, die um unsere Handgelenke baumelten und sich um unsere Knöchel schlangen. Irgendwie fällt es Luna trotzdem leicht fortzugehen – selbst mit all dem Schwermetall, das an ihr zerrt. Vielleicht legt sie es ja einfach ab. Was ich mich frage, ist: Warum kann ich nicht das Gleiche tun?

Meine Mutter schließt den Kofferraum und stemmt sich hoch, um sich auf den Rand zu setzen. Sie scheint zum ernsten Teil zu kommen.

»Wir sollten uns über die Regeln unterhalten«, beginnt sie.

»Regeln?«

»Nur ein paar.«

»Ich kann’s kaum erwarten, sie zu hören.« Ich lehne mich gegen die Wagentür.

»Gut«, sagt sie. »Nummer eins: Sei vorsichtig.«

»Abgemacht.«

»Kein Alkohol«, sagt sie. »Oder … nicht viel.«

»Kein Problem.« Der Alkohol und ich haben uns bisher nicht so gut vertragen, und ich habe es nicht besonders eilig, das Ganze noch mal auszuprobieren.

»Keine Musiker.«

Als sie das sagt, kann ich die Worte wie auf einer Anzeige in meinem Kopf aufleuchten sehen: KEINE MUSIKER, KEINE HUNDE, KEINE SCHUHE, KEINE SELBSTBEDIENUNG.

»Ich gehe aber stark davon aus, dass es dort Musiker geben wird«, merke ich an. »So wie, ähm … deine Tochter? Zum Beispiel.«

Sie schüttelt den Kopf. »Das meine ich nicht.«

»Okay«, seufze ich. »Was meinst du dann?« Ich habe da so eine Vermutung, aber ich will, dass sie es ausspricht.

»Ich meine, dass du auf dich achtgeben sollst.«

»Nicht alle Musiker sind wie Dad«, entgegne ich. »Zumindest gehe ich stark davon aus. James ist nett. Oh, stimmt ja! Luna geht mit einem Musiker, nicht wahr?« Und wieder einmal gelten für Luna andere Regeln. Oder ist es nur so, dass Luna niemandes Regeln befolgt, außer ihre eigenen?

Meine Mutter nickt widerwillig. »Ich mag James, auch wenn ich es nicht gut finde, dass er Luna darin bestärkt, die Uni zu schmeißen.«

»Du weißt doch selbst, dass Luna nur das tut, was Luna tun will«, sage ich. »Du kannst sie bestärken, bis die Kühe schwarz werden, aber es wird nichts ändern.«

»Kühe?« Meine Mutter hebt die Augenbrauen.

»Egal. Du weißt, was ich meine.« Ich blicke zu den flauschigen weißen Wolken auf, die über uns vorbeiziehen wie von einem Festzug ausgebüxte Luftballons. »Und überhaupt habe ich von Jungs erst einmal die Schnauze voll. Ich hatte genug Ärger.«

»Das ist sehr klug von dir«, erwidert meine Mutter, »denn Jungs bedeuten immer Ärger.« Sie grinst bei diesen Worten, und ihre weißen Zähne blitzen wie Perlen auf, aber ich weiß, dass sie es durchaus ernst meint. Es ist eine ihrer grundlegenden Lebensweisheiten: Mädchen bedeuten alles… und Jungs nur Ärger. Irgendwann wird sie sich den Spruch noch auf ein T-Shirt drucken lassen. Die eigentliche Frage, die sich für mich stellt, ist jedoch, warum sie, nachdem die Sache mit meinem Vater den Bach runtergegangen war, keine Band wie die Bangles oder Sleater-Kinney gegründet oder es auf eigene Faust versucht hat, so wie Liz Phair? Sie hätte den Männern komplett den Rücken kehren können. Sie hätte alles haben können.

Aber ganz ehrlich, nach allem, was die letzten Monate passiert ist, wäre ich die Erste, die so ein dämliche T-Shirt kaufen würde. Ich würde mir eins in jeder Farbe holen und es die ganze Woche über tragen.

Meine Mutter bückt sich und hebt meine Umhängetasche auf, die ich im Gras neben den Verandastufen liegen gelassen habe. Sie lugt hinein.

»Hast du auch was zum Knabbern drin?«

Ich vollführe einen riesigen Satz über den Rasen, um sie ihr zu entwenden – gelobt seien zehn Jahre des halbherzigen Ballettunterrichts. Ich lande am Rand der Einfahrt und reiße die Tasche in einer einzigen flüssigen Bewegung an mich.

»Ja!« Und dann, weil ich das Gefühl habe, dass mein Sprung eine gewisse Rechtfertigung erfordert, füge ich hinzu: »Aber ich gebe nichts ab.« Dabei halte ich die Tasche fest an meine Brust geklammert.

Sie bedenkt mich mit einem zweifelnden Blick, der mir sagen soll, dass mein Verhalten leicht gestört wirkt, aber da ich bald losmuss, scheint sie gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Ich lächle möglichst unschuldig, etwas gepresst vielleicht, denn ich will auf keinen Fall, dass sie erfährt, was ich in meiner Tasche verberge: eine Ausgabe des SPIN-Magazins vom Februar 1994 – die, die Tessa und ich mit Tessas MasterCard gekauft haben.

Die Zeitschrift ist etwas abgegriffen, aber immer noch in gutem Zustand für einen Haufen Papier, das zwei Jahrzehnte hinter sich hat. Das Mädchen auf dem Cover trägt ein schwarzes Kleid mit langen Ärmeln, ihre Lippen sind pflaumenfarben geschminkt und die Augen mit Kajal umrandet. Sie trägt eine zerrissene graue Strumpfhose und kniehohe Schnürstiefel. Sie lächelt kaum, nicht wirklich, aber sie sieht aus, als sei sie gewillt zu lächeln, wenn man ihr nur den richtigen Witz erzählen würde. Man möge mir verzeihen, wenn ich mit Madonnas Songtexten spreche, aber: Who’s that girl?

Bingo! Ihr habt’s erraten.

Das Mädchen auf dem Cover ist meine Mutter, und die Worte, die in lila Buchstaben über ihre Knie gedruckt sind, lauten: Meg Ferris, First Girl on the Moon. Hinter ihr hängt ein blasser silberner Mond, genau so einer wie der, der sich auf dem Albumcover für Sea of Tranquility befand, als die Zeitschrift herauskam. Und links neben ihr im Hintergrund ist der Rest der Band zu sehen: der Bassist und der Schlagzeuger, Carter und Dan, die meine Mutter immer noch besuchen kommen, wenn sie auf Durchreise in Buffalo sind. Sie sind so was wie nette Onkels für uns: Sie bringen immer Platten und Konzertposter für mich und Luna mit und laden uns zum Pizzaessen ein.