Gischtgrab - Stefanie Rogge - E-Book
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Stefanie Rogge

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Beschreibung

Ein Mörder geht um auf Föhr Die Nordseeinsel Föhr erlebt einen Jahrhundertsommer, die Touristen tummeln sich an den Stränden. Als ein grausam zugerichteter Toter am Dunsumer Deich gefunden wird, reist die Kommissarin Kerrin Iwersen erneut aus Flensburg an, um mit dem Inselpolizisten Hark Hansen zu ermitteln. Der Tote war nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie gerade erst auf die Insel zurückgekehrt und hatte versucht, seine zerrüttete Ehe zu retten. Doch trotz allerlei brisanter Details aus seinem Privatleben kommen die Ermittler dem Mörder nicht auf die Spur – bis die Tochter des Toten plötzlich verschwindet ... Stefanie Rogge ist in Kiel aufgewachsen und hat in ihrer Kindheit alle Ferien auf Föhr verbracht. Die studierte Juristin arbeitet halbtags in einer Anwaltskanzlei und widmet sich in jeder freien Minute dem Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie heute in Hamburg, doch ihre Bindung zu Föhr ist nie abgerissen. Sie steht unter anderem mit der Polizeidienststelle von Wyk in Kontakt.

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Birgit Förster

Covergestaltung: bürosüd, München

Covermotiv: Mauritius images / Bernd Schunack; Mauritius images / Günter Flegar / imageBROKER; www.buerosued.de

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Inhalt

Cover & Impressum

Die Ermittler

1 – Sein Herz schlug so …

2 – Mit klopfendem Herzen …

3 – Das Haus der Halvorsens …

Die Ermittler

Hark Hansen, 55

Beruf

Leiter der Polizeidienststelle in Wyk

Wohnort

Wyk, Insel Föhr

Familienstand

Witwer, seine Frau Heike verstarb vor drei Jahren

Was ihn ausmacht

Hark ist Vollblutinsulaner, Gefühlsmensch, lässt sich als Polizeibeamter oft von seinem Instinkt leiten und fährt damit meist gut. Er geht von April bis Oktober regelmäßig in der Nordsee schwimmen und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit Bier und Fischbrötchen den Tag an einer Strandbude mit den Füßen im Sand ausklingen zu lassen.

Was ihm wichtig ist

sein Sohn Nils, der in Wyk als Anwalt arbeitet

Kerrin Iwersen, 32

Beruf

Kriminalhauptkommissarin

Wohnort

Flensburg

Familienstand

frisch verliebt

Was sie ausmacht

Kerrin ist ein sportlicher, offener Typ. Sie ist direkt, intelligent und ehrgeizig und verlangt sich oft selbst sehr viel ab. Sie ist auf Föhr geboren und hat bis zum Abitur auf der Insel gelebt. Kerrin liebt ihren Beruf und verbeißt sich in jeden Fall. Da es auf Föhr keine Kripo gibt, übernimmt sie in Zukunft zusammen mit den Föhrer Kollegen die Kriminalfälle auf der Insel und freut sich darauf, wieder in der Heimat unterwegs zu sein.

Was ihr wichtig ist

die Dinge mehr auf sich zukommen lassen

1

Sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, sie könnte es hören. Schwer lag das kleine Kästchen in seiner Hosentasche. Sie liefen seit zehn Minuten über den Deich von Dunsum und waren bisher keiner Menschenseele begegnet. Dafür allerdings unzähligen Schafen, die sie träge anglotzten, während sie an ihnen vorbeimarschierten. Wie in den vergangenen Wochen knallte die Sonne unbarmherzig vom strahlend blauen Himmel. Selbst die hitzeversessensten Menschen begannen, sich nach Regen zu sehnen.

Er hatte lange überlegt, wo sie trotz der andauernden Saison ungestört sein würden. Es musste in der Natur sein. Und es sollte ein Ort sein, an den sie sich ein Leben lang erinnern würden. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Wahl war perfekt gewesen. Knapp fünfzig Meter voraus sah er einen großen Felsstein. Sein Magen überschlug sich. Dort würde es passieren. Er würde sie bitten, sich hinzusetzen, und dann würde er vor ihr auf die Knie gehen. Eigentlich war er ein moderner Mann, aber heute musste es altmodisch sein. Seine Handflächen waren feucht vor Aufregung, schnell steckte er sie in die Hosentaschen. Sie kannte ihn so gut, dass sie bestimmt bemerken würde, dass ihn etwas beschäftigte. Liebevoll lächelte er sie an, obwohl er kein Wort aufgenommen hatte von dem, was sie sagte. Sie schien es nicht zu merken.

Er hätte ewig so weiterlaufen können, in der Föhrer Sonne, dem lieblichen Singsang ihrer Stimme lauschend, in dem wunderbaren Bewusstsein, die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Viel zu schnell kamen sie an dem Stein an, und er blieb stehen. Fragend schaute sie zu ihm auf. Als er sie bat, sich zu setzen, tat sie es. Ihre Wangen färbten sich rosig. Bestimmt ahnte sie, was nun kommen würde. Unbeholfen ließ er sich vor ihr hinab. Bevor er ihre Hände ergriff, ließ er noch einmal seinen Blick schweifen. Er wollte diesen Moment tief in sich aufnehmen und für immer bewahren. Das Wasser lief ab, in einer guten Stunde würde Ebbe sein. Auch dies hatte er geplant, liebte sie doch den Anblick des in der Sonne glitzernden Watts.

Im ersten Augenblick verstand er nicht, woran seine Augen hängen geblieben waren. Unglaube breitete sich in seinen Zügen aus, als er ihr sein Gesicht zuwandte. Ihr freudig gespannter Blick wurde ängstlich, und sie sagte etwas, aber er konnte sie nicht verstehen, Blut rauschte in seinen Ohren. Langsam drehte er den Kopf und schaute wieder zurück. Sie schien es ihm gleichzutun, denn nur Sekunden später gellte ihr Schrei über die Weite der Nordsee.

Der Anblick, der sich Hark Hansen, seinen Kollegen Tom Pahl und Christian Jensen und der Pathologin Elena Bruckner aus Kiel von der Deichkante aus bot, war schauerlich. Das junge Paar, das den Toten gefunden und kurz darauf völlig verstört auf der Dienststelle im Hafendeich in Wyk angerufen hatte, hatte nicht übertrieben. Hark hatte die beiden Urlauber auf dem Parkplatz hinter dem Deich getroffen und kurz mit ihnen gesprochen. Der junge Mann hatte ihm immer wieder ein Kästchen mit einem filigranen Goldring hingehalten. Tränen waren seine Wangen hinuntergelaufen. Seine Freundin hatte sich an ihn geklammert und kein Wort herausgebracht. Sie schienen unter einem so enormen Schock zu stehen, dass Hark schließlich seine Kollegen Fabian Lorenzen und Jan Tolk im Streifenwagen herbeordert hatte, um sie zu einem Arzt zu fahren.

Das Opfer lag lang hingestreckt im Watt, seine Arme und Beine waren an zwei in den Boden geschlagene Pfähle gefesselt. Letzte noch nicht weggetrocknete Pfützen um den Mann herum zeugten davon, dass hier vor einigen Stunden das Wasser gestanden hatte. Einige Möwen stolzierten neugierig neben ihm auf und ab. Das Gesicht des Toten war zum offenen Meer gewandt, sodass sie nicht erkennen konnten, um wen es sich handelte. Dass es keine Frau war, war aber offensichtlich.

»Mein Gott«, entfuhr es Christian. Hark warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie alle hatten in diesem Sommer bereits mehr Tote zu Gesicht bekommen, als sie verkraften konnten. Wie froh waren sie gewesen, als sie vor einigen Wochen zusammen mit Kerrin Iwersen von der Flensburger Kriminalpolizei die Mordserie um eine Föhrer Clique stoppen und den Täter festnehmen konnten. »Ihr bleibt hier«, forderte er Christian und Tom auf. »Elena und ich schauen uns den Mann genauer an.«

Mit diesen Worten schritt er langsam zum Watt herunter. Elena folgte ihm wortlos. Selbst in dieser Situation fühlte Hark sich zu ihr hingezogen. Die Pathologin aus Kiel verbrachte gerade einige Urlaubstage auf Föhr. Um ihre Ehe stand es seit geraumer Zeit nicht zum Besten, und so hatte sie sich nach dem aufreibenden Fall im Hochsommer, bei dem sie mehrfach auf die Insel kommen musste, entschieden, hier einige Tage Ferien zu machen. Hark und sie hatten sich bereits einmal zum Abendessen getroffen.

Wenige Meter vor dem Opfer blieben sie stehen. Hark warf Elena einen besorgten Blick zu. Obwohl er wusste, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Leichen aufzuschneiden, hatte er das Gefühl, sie vor dem grauenhaften Bild, das sich ihnen bot, beschützen zu müssen. Elena schien seine Gedanken zu erraten. Mit einem warmen Lächeln im Gesicht sah sie zu ihm auf. »Mach dir um mich mal keine Gedanken, ich bin schlimme Anblicke gewöhnt. Anders als du.« Eine leichte Sorge schwang in ihrer Stimme mit.

»Passt schon«, brummte er. Es gefiel ihm nicht, dass Elena zu bemerken schien, wie sehr der Anblick des Toten ihn schockierte. »Kannst du schon etwas dazu sagen?«, versuchte er, das Gespräch auf eine professionelle Ebene zu heben.

Zum Glück ging Elena sofort darauf ein. Sie trat noch ein Stück näher an den Mann, der nur eine kurze Hose und T-Shirt trug, heran und beugte sich zu ihm hinunter. »Das ablaufende Wasser mit seiner starken Strömung hat ihn in diese Position gebracht. Ich gehe davon aus, dass es sich um einen Fall des atypischen Ertrinkens handelt.«

»Atypisch?«, fragte Hark. »Was meinst du damit?«

»Von einem typischen Ertrinken sprechen wir, wenn ein Mensch noch mehrmals die Möglichkeit hat, Luft zu holen, bevor er stirbt. Zum Beispiel ein erschöpfter Schwimmer, der immer wieder untergeht und auftaucht, so lange, bis ihn seine Kräfte verlassen. Doch bei einem atypischen Ertrinken hat der Sterbende keine Chance, noch einmal Luft zu holen. Der Erstickungstod tritt dann schnell ein.« Sie warf einen weiteren Blick auf den Toten und erhob sich dann. »Seine Arme und Beine sind mit diesen Ketten stramm an die Ösen in den Pfählen gebunden. Wie tief ist das Wasser hier bei Flut?«

Hark blickte sich um. Sie befanden sich ungefähr zwanzig Meter weit im Watt. »Mindestens Kopfhöhe, würde ich schätzen.«

Elena nickte. »Aufgrund seiner strammen Fesseln ist er nicht weiter als einen halben Meter hochgestiegen. Er konnte sich nicht abstützen, keine Schwimmbewegungen machen, nichts.«

Hark sah sie erschüttert an. »Du meinst also, dass dieser Mann bei Ebbe hier angekettet wurde und dann das Wasser langsam auf sich zukommen sah, ohne eine Chance, sich zu retten?« Er rüttelte an einem der massiven Holzpfähle. Dieser gab einige Zentimeter nach, war aber viel zu tief verankert, um sich weiter zu bewegen. Der Täter musste sie mit einem Vorschlaghammer in den Wattboden gerammt haben.

»Zumindest hörte er es. Flut war heute Morgen um 6 Uhr, da wurde es erst langsam hell.« Elena ging mit einigem Abstand vorsichtig um den Toten herum. »Komm mal her«, bat sie Hark dann und kniete nieder.

Beklommen folgte Hark ihr. Als er dem Toten ins Gesicht sehen konnte, wusste er sofort, was sie meinte. Sein Mund war mit schwarzem Klebeband verschlossen.

»Der Täter wollte wohl verhindern, dass er sich bemerkbar machen konnte.« Sie erhob sich wieder. »Nach meiner ersten Einschätzung ist der Mann heute bei auflaufendem Wasser gestorben. Wenn er durch den zugeklebten Mund nicht schon vorher kollabiert ist.«

Hark sah starr an ihr vorbei und reagierte nicht auf ihre Worte. Irritiert schaute Elena ihn an. »Alles in Ordnung?«, fragte sie und strich sanft über seinen Arm.

Langsam schüttelte er den Kopf. »Gar nichts ist in Ordnung«, flüsterte er. »Ich kenne diesen Mann.«

2

Mit klopfendem Herzen eilte Kerrin zum Büro von Peter Heyden, ihrem Dienststellenleiter im Flensburger Kommissariat. Bei ihrem gegenwärtigen Fall war sie mit ihrer Kollegin, der allseits verhassten Annette Kuhlmann, mal wieder aneinandergeraten. Aus irgendwelchen für Kerrin völlig unverständlichen Gründen nahm Heyden diese unfähige und unkollegiale Person immer wieder in Schutz. Und so fürchtete sie nun, einen Vortrag über das richtige Verhalten in der Dienststelle über sich ergehen lassen zu müssen.

»Setz dich.« Heyden lächelte ihr entgegen. »Hark Hansen hat eben angerufen. Es gibt einen neuen Fall auf Föhr.«

Kerrins Herz machte einen kleinen Sprung. Seit ihrem ersten Einsatz auf der Insel vor einigen Wochen waren sie und Harks Sohn Nils, der in Wyk als Anwalt arbeitete, ein Paar. Sie sahen sich, so oft es ihre Arbeit zuließ, aber natürlich viel zu wenig, wie sie beide fanden. Wenn sie jetzt zusätzlich ein paar Tage in seiner Nähe verbringen könnte, wäre das großartig. Ihre Eltern waren gerade für zwei Wochen in Griechenland, sodass sie keine Rücksicht auf deren Bedürfnis, ihre einzige Tochter sehen zu wollen, nehmen musste.

»Hinter dem Deich von Dunsum ist eine Leiche gefunden worden. Einzelheiten erfährst du vor Ort. Schnapp dir bitte Jörn, packt schnell das Nötigste, und dann ab mit euch. Mark und Kai kann ich im Moment nicht abziehen, aber ihr schafft das schon zusammen mit Hark und seinen Föhrer Jungs. Lukas Marxen und Hauke Bremer von der Spusi sind informiert und machen sich auch gleich auf den Weg. Ihr müsst die Fähre ab Dagebüll um 14:05 Uhr bekommen, dann seid ihr gegen 15:30 Uhr am Tatort.«

»Das wird aber sportlich«, wandte Kerrin nach einem Blick auf ihre Uhr ein. Es war bereits halb eins.

»Zur Not mit Blaulicht. Hochwasser ist heute Abend gegen Viertel nach sechs, und das Opfer liegt im Watt.«

Kerrin musste sich zusammenreißen, um nicht in lautes Jubelgeschrei auszubrechen, als sie in den Flur trat. Sofort griff sie nach ihrem Handy und wählte Nils’ Nummer. Leider sprang nur die Mailbox an. Egal, dachte sie. Dann überrasche ich ihn halt.

Eine halbe Stunde später saßen Jörn Höpfner und sie mit gepackten Taschen im Wagen und rasten nach Dagebüll. Kerrin hatte schon oft mit Jörn zusammengearbeitet. Er war mit seinen achtunddreißig Jahren zwar sechs Jahre älter als sie, auf der Karriereleiter aber nicht so weit hinaufgeklettert. Heyden hatte es nicht infrage gestellt, dass sie diese Ermittlungen leiten würde, und so hoffte Kerrin, dass dies nicht zu Spannungen zwischen ihnen führen und die Arbeit beeinträchtigen würde. Es würde der erste Fall sein, bei dem sie seine Vorgesetzte wäre. Eigentlich war Jörn ein lustiger und kommunikativer Mann, mit dem es im Dienst nie langweilig wurde. Zurzeit war seine Stimmung allerdings etwas gedrückt, da sich seine Frau vor vier Monaten unter anderem wegen seiner familienfeindlichen Arbeitszeiten von ihm getrennt hatte und er seine beiden kleinen Kinder nur noch unregelmäßig sah. Jörn hatte seine eigenen Konsequenzen aus dem Scheitern seiner Ehe gezogen und lautstark verkündet, dass er zukünftig nur noch mit Kolleginnen eine Beziehung eingehen würde.

»Weißt du schon, worum es geht?«, fragte er, als er auf die B 199 einbog.

»Nein, ich rufe Hark mal an.« Kerrin wählte die bekannte Nummer und stellte den Lautsprecher an.

»Moin, meine Lütte«, schallte es schon nach dem ersten Klingeln durch den Wagen. »Ich hätte nicht gedacht, dass es dich so schnell beruflich wieder zu uns verschlagen würde. Das passt dir bestimmt ganz gut, oder?« Kerrin sah das Grinsen auf Harks braun gebranntem Gesicht förmlich vor sich. Sie hatten sich bei den Ermittlungen im Sommer erst einmal beschnuppern müssen, sich aber schließlich sehr gut verstanden. In den letzten Wochen waren sie sich auch privat nähergekommen. Kerrin war glücklich, dass Hark sich über die Beziehung zwischen seinem Sohn und ihr so freute.

»Ja, damit habe ich beim Aufstehen noch nicht gerechnet. Ich habe Nils bisher nicht erreicht, aber bitte sag ihm nichts, es soll eine Überraschung werden.«

»Wenn das mal klappt. Du kennst doch die Insel. Wenn sich hier herumspricht, dass jemand ermordet wurde, weiß Nils sofort, dass du auf dem Weg bist.«

»Dann hoffe ich, dass der Buschfunk heute ein bisschen länger braucht.« Sie wurde ernst. »Was ist denn eigentlich passiert?«

»Eine furchtbare Geschichte.« Hark berichtete in knappen Worten, was geschehen war. Kerrin und Jörn wechselten einen bestürzten Blick. »Und als wäre das nicht genug, kenne ich den Mann. Ich habe ihn vor zwei Tagen auf die Dienststelle bestellt und vernommen. Arndt Halvorsen, ein Insulaner, Ende vierzig. Seine Eltern haben vor etlichen Jahren die Ferienhausvermittlung Halvorsen gegründet. Das sagt dir bestimmt etwas.«

»Und warum hast du ihn vernommen?«, fragte Kerrin. Jeder Insulaner kannte die Ferienhausvermittlung Halvorsen.

»Seine Frau Lene hatte ihn angezeigt, weil sie sich von ihm bedroht fühlte. Die beiden lebten seit Längerem getrennt. Arndt hatte wohl massive psychische Probleme und war auch dem Alkohol recht zugetan. Die letzten zwei Jahre hat er in Schleswig verbracht und sich dort behandeln lassen. Seit einigen Wochen war er wieder auf der Insel, und das Paar war gerade dabei, sich anzunähern, wohl auch wegen der fünfzehnjährigen Tochter Pia.«

»Aber warum hat Lene sich bedroht gefühlt, wenn sie sich gerade wieder zusammengerauft hatten?«

»Sie hatte das Gefühl, dass er sich mehrfach heimlich in das gemeinsame Haus, in dem sie mit Pia lebt, geschlichen hat. Es gab Hinweise, die eindeutig darauf hingedeutet haben. Er hat es ihr gegenüber jedoch immer wieder abgestritten und ist dann auch wütend und laut geworden.«

»Wenn er es tatsächlich nicht gewesen ist, kann man das doch gut verstehen«, wandte Jörn ein.

»Das stimmt«, gab Hark zu. »Ich hatte auch den Eindruck, dass er die Wahrheit sagt, aber mein Gefühl kann mich natürlich getäuscht haben. Lene Halvorsen zumindest war felsenfest davon überzeugt, dass er sich im Haus aufgehalten hat. Es gab keinerlei Einbruchsspuren, der Täter muss also einen Schlüssel gehabt haben. Und das hatte Arndt. Aufgrund der psychischen Vorbelastungen ihres Mannes hat Lene sich Sorgen um Pia, aber auch um sich selbst gemacht.«

»Verstehe.« Kerrin dachte einen Moment nach. »Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Nein, wir wollten auf euch warten.«

»Das ist gut. Wir werden die Fähre um 14:05 Uhr bekommen und sind gegen halb vier bei euch«, informierte sie Hark dann.

»Der Tatort ist abgesperrt, und Christian steht auf dem Parkplatz und fordert jeden, der vorbeikommt, dazu auf, weiterzufahren.«

»Hast du schon mit Leif Brodersen telefoniert?« Kerrin grinste in sich hinein.

»Werd nicht frech, mien Deern«, brummte Hark. »Ansonsten übernehme ich die Kommunikation mit ihm in diesem Fall nicht.«

Kerrin lachte schallend. »Ich habe nichts gesagt.«

»Wer ist Leif Brodersen?« Jörn sah sie fragend von der Seite an, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Der Bürgermeister von Wyk. Ein interessanter Mann, mit dem Hark bestens klarkommt. Wir sollten dringend vermeiden, uns da einzumischen.«

Eine gute halbe Stunde später erreichten sie die Mole von Dagebüll. Die Verladung der Wagen hatte bereits begonnen, und so konnten sie direkt auf die Fähre fahren. Lukas und Hauke hatten es ebenfalls geschafft, und die vier Beamten trafen sich auf dem Sonnendeck.

»Moin.« Lukas grinste, als Kerrin auf ihn zutrat. »Seitdem du für die Inseln zuständig bist, sterben die Menschen dort wie die Fliegen. Ich war noch nie so oft an der Nordsee wie in diesem Sommer.«

»Spinner«, entgegnete sie lachend. »Da ist das alte Team ja wieder zusammen. Elena ist schon auf Föhr. Nur Jörn muss sich neu bei uns integrieren.«

»Wird bestimmt spannend in dieser Konstellation«, brummte er und warf Kerrin einen kurzen Seitenblick zu.

Nachdem sie den Ablegevorgang beobachtet und die MS Uthlande Kurs auf Wyk auf Föhr genommen hatte, setzten sie sich auf eine Bank. Die Mittagssonne knallte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel, doch durch den Fahrtwind wurde ihre Wärme erträglich. Zufrieden setzte Kerrin ihre Sonnenbrille auf. Das Gekreische der dem Schiff folgenden Möwen schallte zu ihnen hinüber, ein leichter Geruch nach Salz und Seetang hing in der Luft. Das Gespräch der Männer plätscherte dahin, und Kerrin ließ ihre Gedanken schweifen. Es ging wieder nach Hause.

Als sie eine Dreiviertelstunde später mit dem Wagen die Fähre verließen und das laute Klappern der Rampe ihnen anzeigte, dass sie nun auf Föhrer Boden waren, stellte sich bei Kerrin – wie immer, wenn sie die Insel betrat – ein Gefühl von Glück ein. Auch wenn sie schon seit Jahren nicht mehr hier lebte, würde diese Nordseeinsel für alle Zeit ihre Heimat sein. Es war schon etwas Außergewöhnliches, auf einer Insel aufzuwachsen. Menschen vom Festland würden das nie ganz nachvollziehen können. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Insulaner untereinander, der Stolz auf ihre Herkunft und ihre Traditionen, die Naturverbundenheit, die Gezeiten, das freie und unbeschwerte Aufwachsen der Kinder, all das führte dazu, dass die Menschen das Leben hier als etwas Besonderes ansahen.

Die Landstraße über Wrixum, Alkersum und Süderende nach Dunsum war um diese Zeit nicht allzu befahren, und so kamen sie zügig voran. Die Urlauber tummelten sich noch an den Stränden und würden erst später den Heimweg in ihre Ferienwohnungen oder Hotels antreten.

Schon von Weitem sahen sie in Dunsum auf dem Parkplatz hinter dem Deich den Streifenwagen der Wyker Kollegen stehen. Christian saß einige Meter entfernt im Schatten auf einer Bank. Als er sie sah, sprang er auf und kam auf sie zu.

»Moin«, empfing er sie mit dieser in Norddeutschland zu jeder Tageszeit gängigen Begrüßung. »Cool, dass wir unseren nächsten Fall zusammen haben.« Der Jüngste aus Harks Truppe war gleichzeitig der Ehrgeizigste. Er machte seine Sache gut, musste aber dann und wann in seine Schranken verwiesen werden.

Nachdem sich alle begrüßt hatten, machten die vier sich auf den Weg zum Deich. Lukas und Hauke nahmen ihre Ausrüstung mit, um sofort mit der Arbeit beginnen zu können. Die in Gruppen zusammenstehenden Schafe schauten nicht auf, als sie dicht an ihnen vorbeigingen und sich bemühten, nicht auf die überall herumliegenden Kötel zu treten. Als sie die Kuppe des Deichs erreicht hatten, sahen sie Hark, Tom, Elena und den aufgestellten Sichtschutz schon von Weitem. Elena, die sich ihren weißen Schutzanzug bis zu den Hüften heruntergestreift hatte, entdeckte sie als Erstes und winkte.

Die Begrüßung war herzlich. Jörn war bereits mehrfach mit Kerrins Vorgänger Klaus Martens auf der Insel gewesen, sodass Hark, Tom und er sich kannten. Kerrin seufzte erleichtert auf. Solange Jörn sich im Team wohlfühlte und sie nicht die Chefin heraushängen ließ, würde es bestimmt gut laufen.

Sie warf einen Blick in Richtung Meer. Noch war das Wasser weit entfernt, der Wattboden unter ihren Füßen von der Sonne fast vollständig getrocknet, aber es war deutlich zu sehen, dass es kam und sie keine Zeit vergeuden durften. Hauke verteilte Schutzanzüge an alle. Seufzend schlüpften sie in die unförmigen Kleidungsstücke.

»Ich bin fürs Erste durch hier«, informierte Elena sie. »Wenn ihr den Mann freigebt, habe ich bereits den Transport ins Krankenhaus nach Wyk organisiert. Ich werde dort die erste Inaugenscheinnahme durchführen, und dann kommt er nach Kiel. Meine Kollegen wissen schon Bescheid.« Sie lächelte leicht. »Danach würde ich gerne meinen Urlaub fortsetzen.«

»Das sei dir gegönnt, Elena«, sagte Kerrin. »Was kannst du uns denn bisher sagen?«

»Der Fundort dürfte auch der Tatort sein. Es scheint, als wäre der Mann während des ablaufenden Wassers heute Nacht hier angebunden zurückgelassen worden und dann am frühen Morgen bei auflaufendem Wasser gestorben. Ob er betäubt wurde, damit der Täter ihn in Ruhe fesseln konnte, weiß ich noch nicht. An seinem rechten Oberarm habe ich einen frischen Einstich gefunden, der darauf hindeuten könnte. Sollte er bei auflaufendem Wasser bei Bewusstsein gewesen sein, kann ich mir kaum einen grausameren Tod vorstellen.«

Kerrin fröstelte trotz der Hitze bei den Worten der Pathologin. »Der Täter muss Arndt Halvorsen aus tiefstem Herzen gehasst haben.«

»Oder er ist ein Psychopath, der sich sein Opfer wahllos ausgesucht und sich an dessen Qualen ergötzt hat«, widersprach Jörn. »Es gibt so viele kranke und durchgeknallte Menschen dort draußen. Ihr müsst später auch den Deich gründlich absuchen. Vielleicht findet ihr irgendwo Spuren, die darauf hindeuten, dass sich hier jemand länger aufgehalten hat.«

»Klar«, stimmte Lukas zu. »Im Watt wird es mit den Spuren natürlich schwer, wir schauen mal.«

Als sie alle die weißen Anzüge nebst Kapuzen und Überschuhen anhatten, traten sie hinter den Sichtschutz. Das Bild, das sich ihnen bot, nahm Kerrin für einen Moment den Atem. In all den Jahren bei der Kriminalpolizei hatte sie schon viel gesehen, aber dieser Tatort zählte zu den abscheulichsten. Es war nicht der Anblick des Toten, der sie schockierte. Er lag mit abgewandtem Gesicht am Boden und war, zumindest auf den ersten Blick, äußerlich unversehrt. Sein blaues T-Shirt und die Shorts waren sandig und nicht ganz sauber, aber durch die Hitze des Tages getrocknet. Schuhe trug er nicht. Ein einsamer Krebs buddelte sich gerade dicht neben seinem Kopf in den Sand. Schlimm war vielmehr die Vorstellung des Horrors, den er durchgemacht haben musste, bevor er gestorben war. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, dass es ihnen genauso erging.

»Puh, was für ein Grauen«, durchbrach Jörn die gespenstische Stille, die sich für einen kurzen Moment über sie gelegt hatte.

»Wir machen uns an die Arbeit.« Lukas kniete sich neben das Opfer.

»Und wir sprechen mit Lene Halvorsen, der Witwe. Einverstanden?« Kerrin sah auffordernd zu Jörn und Hark.

»Soll ich euch begleiten?« Hark schaute Kerrin überrascht an. »Jetzt, wo Jörn dabei ist?«

»Klar.« Kerrin schlug ihm liebevoll auf die Schulter. »Wir sind doch ein gutes Team. Und Mark und Kai fehlen, da brauchen wir dich.«

»Einverstanden.« Hark wandte sich an Tom. »Bleib du bitte hier, bis die Spusi fertig ist und die Leiche abgeholt wurde. Danach kannst du mit Christian zusammen alle Sachen einpacken und zurück in die Dienststelle fahren.«

Kurz darauf waren Kerrin, Hark und Jörn auf dem Weg über die Dörfer zurück nach Wyk. Der Kirchturm von St. Laurentii in Süderende war schon von Weitem zu sehen und ragte majestätisch in den Himmel. Er schien Wache zu halten über den bekannten Friedhof mit seinen redenden Grabsteinen, auf denen die Insulaner in vergangenen Zeiten die Lebensgeschichten ihrer Verstorbenen niedergeschrieben hatten. Doch keiner der drei Beamten gönnte ihm heute einen Blick. In ihren Gedanken waren sie bei dem Toten aus dem Watt und seiner Witwe.

3

Das Haus der Halvorsens lag in der Strandstraße, direkt neben dem Nordsee-Kurpark. Ein Friesenwall, auf dem die für die Nordfriesischen Inseln so typischen Heckenrosen blühten, umrankte die kleine Rasenfläche des Vorgartens. Grobe Pflastersteine wiesen den Weg zum Eingang. Ein himmelblaues Damenfahrrad lehnte an der Wand. Die kunstvoll geschnitzte Tür des schlichten weißen Reetdachhauses war mit rosa Kletterrosen umrankt.

Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Unschlüssig schaute Kerrin zu Hark hinüber.

»Vielleicht ist sie im Garten«, überlegte dieser laut und spähte um die Hausecke. »Kommt, wir schauen mal nach.«

Kerrin und Jörn folgten ihm. Aufgeregtes Vogelgezwitscher war aus einem dichten Busch zu hören, ansonsten lag eine träge Stille in der Luft. Gespannt gingen die drei Beamten um das Haus herum. Auf einer geräumigen Terrasse befand sich ein großer grober Holztisch mit sechs Stühlen. Er war bis auf ein Stövchen mit einer Teekanne und eine einsame Tasse leer. Der Garten war pflegeleicht angelegt. Mitten auf dem Rasen wuchs ein alter knorriger Apfelbaum. Im Schatten unter seinen ausladenden Zweigen stand eine einzelne Liege. Eine Frau lag darauf und schlief.

Kerrin bedeutete den Männern, stehen zu bleiben, und ging allein weiter.

»Frau Halvorsen«, rief sie mit gedämpfter Stimme.

Mit einem Ruck setzte Lene Halvorsen sich auf. »Wer sind Sie?«, stieß sie schlaftrunken hervor. Ihre schulterlangen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie automatisch hinter die Ohren. »Was tun Sie in meinem Garten?«

»Entschuldigen Sie bitte unser Hereinplatzen«, sagte Kerrin mit beruhigender Stimme. »Wir sind von der Polizei, Kerrin Iwersen ist mein Name. Und dahinten sind meine Kollegen Hark Hansen und Jörn Höpfner.« Sie zeigte auf die beiden, die noch immer an der Hauswand standen. »Als auf unser Klingeln niemand geöffnet hat, haben wir uns entschlossen, im Garten nachzusehen, ob Sie zu Hause sind.«

»Polizei?« Lene erhob sich langsam und sah sie fragend an. »Geht es noch einmal um meinen Mann?«

»Ja, wollen wir uns vielleicht setzen?« Kerrin wies auf den Tisch.

»Selbstverständlich. Verzeihen Sie bitte, ich bin noch nicht ganz wach. Ich hatte Nachtschicht«, fügte sie erklärend hinzu.

Sie ging Kerrin voran zur Terrasse und begrüßte Hark und Jörn. »Setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Nein, vielen Dank«, lehnte Kerrin für alle drei ab. »Wir kommen leider mit schlimmen Nachrichten.« Sie stockte kurz. Es fiel ihr jedes Mal schwer, Angehörigen die Nachricht des Todes eines geliebten Menschen zu überbringen. Aber jetzt saß Jörn neben ihr, und Kerrin war klar, dass sie sich keine Schwäche erlauben durfte. Auch wenn sie eigentlich gut miteinander auskamen, wollte sie ihm keinen Anlass geben, sie anschwärzen zu können, um sich selbst gut darzustellen.

»Was ist denn? Hat mein Mann sich etwas angetan? Oder jemand anderem?« Ihre Stimme wurde plötzlich schrill. »Ist etwas mit Pia?«

»Nein, unser Besuch hat nichts mit ihr zu tun, keine Angst.« Kerrin blickte Lene Halvorsen direkt in die Augen. »Ihr Mann ist heute Vormittag tot aufgefunden worden. Es tut uns sehr leid.«

Lene starrte sie verständnislos an. »Was heißt das, er ist tot aufgefunden worden?«

»Touristen haben ihn im Watt am Dunsumer Deich gefunden.«

»Im Watt? Was ist denn passiert?« Tränen sammelten sich in den Augen der Frau.

»Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen gehen wir davon aus, dass Ihr Mann durch Fremdverschulden ums Leben gekommen ist.« Kerrin merkte selbst, wie gestelzt sie klang, aber in ihren Ohren milderte diese professionelle Umschreibung die Tatsache, dass Arndt Halvorsen grausam umgebracht worden war, zumindest ein wenig ab. Jedenfalls im ersten Moment.

»Jemand hat ihn getötet?« Die Tränen liefen nun Lenes Wangen herunter. »Warum denn? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Das wissen wir leider noch nicht.«

Lene stand wie in Trance auf. »Das ist bestimmt ein Irrtum. Ich möchte zu ihm.«

Hark erhob sich ebenfalls und drückte die Frau sanft zurück auf ihren Stuhl. »Leider sind wir uns sicher, dass es sich um Ihren Mann handelt. Unsere Rechtsmedizinerin wird ihn ins Krankenhaus nach Wyk bringen lassen. Dort können Sie ihn sehen, bevor er nach Kiel transportiert wird.«

Lene nickte. Ein erster Schluchzer entrann ihrer Brust. Kerrin rückte dichter an sie heran und strich behutsam über ihren Arm. »Können wir jemanden anrufen, der Ihnen jetzt beisteht?«

Lene schüttelte unter einem Tränenschleier den Kopf. »Pia müsste gleich nach Hause kommen.« Mit schmerzverzerrtem Blick sah sie Kerrin an. »Wie soll ich es ihr bloß sagen?«

Kerrin spürte einen dicken Kloß im Hals. »Wir bleiben bei Ihnen und unterstützen Sie«, war alles, was ihr einfiel. Lene schlug die Hände vor das Gesicht und weinte nun bitterlich.

»Ich verstehe das nicht«, stammelte sie schließlich, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Arndt hatte mit niemandem auf der Insel Streit. Er lebte doch erst seit einigen Wochen wieder hier, vorher war er über zwei Jahre in Schleswig.«

»Wo wohnte Ihr Mann?« Kerrin war froh, auf eine sachliche Ebene ausweichen zu können.

»In einer kleinen Ferienwohnung nicht weit von hier, die schon immer seiner Familie gehört hat.«

»Haben Sie einen Schlüssel zu der Wohnung?«, fragte Jörn ruhig.

Lene nickte unter Tränen.

»Unsere Kollegen von der Spurensicherung werden ihn nachher abholen, um sich dort umzusehen. Hatte Ihr Mann ein Auto?«

»Ja, einen alten, grünen Mercedes. Er steht draußen in unserem Carport. Arndt ist selten gefahren, meist nimmt er das Rad oder geht zu Fuß. Weil zu der Ferienwohnung kein Parkplatz gehört, hat er ihn hier abgestellt.«

»Hat er ihn in den letzten Tagen benutzt?«, wollte Kerrin wissen.

»Nein, das wäre mir aufgefallen. Mein Auto steht vor seinem. Jedes Mal, wenn er es braucht, muss er mich bitten, umzuparken.«

In diesem Moment hörten sie ein lautes Rufen aus dem Haus, und nur Sekunden später kam ein junges Mädchen auf die Terrasse gestürmt. Sie war groß und schlaksig und hatte die aparten Gesichtszüge ihrer Mutter. Die langen, blonden Haare waren zu einem wilden Dutt aufgesteckt.

»Mami, ich …«, rief sie, bevor sie abrupt verstummte, als sie die Fremden auf der Terrasse und ihre verweinte Mutter sah. Lene sprang sofort auf, lief um den Tisch herum zu ihr und zog sie fest in ihre Arme. Pia überragte ihre zierliche Mutter bereits um einige Zentimeter. Beunruhigt entwand sie sich ihrer Umarmung. »Was ist hier los?« Mit aufgerissenen Augen blickte sie sich um. »Wer sind all diese Leute?«

»Liebling, komm, wir gehen kurz rein, dann erkläre ich es dir.« Mit diesen Worten schob Lene ihre Tochter durch die Terrassentür und schloss sie mit Nachdruck hinter sich.

»Was für ein Schlamassel.« Jörn schaute voller Mitleid in Richtung des Hauses.

Kerrin seufzte. Die Geschehnisse gingen auch ihr an die Nieren. Gerade der Umstand, dass eine Jugendliche involviert war, machte es noch schrecklicher, als es eh schon war. »Wir müssen herausfinden, ob Arndt mit einem Taxi oder einem Bus in Richtung Dunsum gefahren ist.«

»Ich setze Tom darauf an«, bot Hark an.

Kerrin lächelte ihm dankbar zu. »Was für einen Eindruck habt ihr von Lene?«, fragte sie dann. Es stand ihr nicht zu, sich ihren Emotionen hinzugeben. Sie musste professionell reagieren und den Fall im Blick behalten. Gerade bei einem Mord waren die ersten Stunden nach dem Verbrechen entscheidend. Je mehr Zeit verstrich, desto kälter wurden die Spuren. Eine Binsenwahrheit aus der Polizeischule.

»Mir erschien sie ehrlich überrascht und getroffen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie uns etwas vorspielt«, begann Jörn vorsichtig. »Allerdings hat sie ihn angezeigt und lebte schon länger von ihm getrennt. Das könnte gegen sie sprechen.«

Hark wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube, dass die Anzeige einer Not entsprungen ist. Sie hatte Angst um ihre Tochter und sich und konnte ihren Mann nach zwei Jahren Abwesenheit nicht mehr richtig einschätzen.«

»Was genau war denn sein Problem, dass er sich so lange in Schleswig behandeln lassen musste? Warum hat sie sich vor ihm gefürchtet?« Kerrin sah Hark aufmerksam an.

»Tja, wo soll ich da anfangen?« Hark überlegte einen Augenblick. »Arndt hatte von Beginn ihrer Beziehung an und wahrscheinlich schon lange vorher bestimmte Ticks. Anfangs hat Lene das kaum bemerkt, und wenn, dann fand sie es liebenswert. Die rosarote Brille lässt grüßen. Aber mit den Jahren begann es, sie zu nerven, auch weil die Ticks immer intensiver wurden.«

»Was denn für Ticks?« Jörn beugte sich neugierig vor.

»Als Oberbegriff würde ich Ordnungsfanatiker wählen. Zahnbürste und -pasta mussten immer auf bestimmte Art und Weise im Badezimmerschrank stehen, die Handtücher waren nach Farben und Größen geordnet, die Lebensmittel im Kühlschrank nach einem Muster sortiert, ebenso der Schreibtisch, der Kleiderschrank und sogar die Besteckschublade. Hätte er sie mit diesem Fimmel verschont, wäre sie damit vielleicht klargekommen, aber im Laufe der Ehe hat Arndt es auch von ihr und später sogar von Pia verlangt. Und wenn die beiden es nicht zu seiner Zufriedenheit gemacht haben, gab es furchtbaren Krach.«

»Kein Wunder, dass sie irgendwann die Nase voll hatte«, bemerkte Kerrin.

»Da wirst du dir bei Nils keine Sorgen machen müssen, meine Lütte«, sagte Hark mit einem Augenzwinkern. »Er tendiert eher zum Gegenteil. Doch Arndts Ordnungswahn wurde im Laufe der Zeit immer schlimmer. Irgendwann war es kaum noch möglich, das Haus pünktlich zu Verabredungen oder Terminen zu verlassen, da er ständig alles noch mal und noch mal kontrollieren musste. Parallel dazu trank Arndt immer mehr Alkohol, wahrscheinlich, um sein abstruses Verhalten einzudämmen. Ein Teufelskreis. Als er dann vor ungefähr zwei Jahren abends im Vollrausch Pia anschrie und in ihr Zimmer sperrte, sodass die Kleine richtig Angst vor ihrem Vater bekam, hat Lene ihn vor die Wahl gestellt: Klinik oder Trennung.«

»Das kann ich verstehen«, warf Jörn ein. »Hat sie denn …?«

Er verstummte, als Lene und Pia in der Terrassentür erschienen. Pia weinte herzzerreißend. Lene setzte sich auf einen der Stühle und zog das Mädchen zu sich auf den Schoß. Trotz ihres Alters ließ Pia es geschehen und klammerte sich an ihre Mutter.

»Meine Freundin Ava ist auf dem Weg«, informierte Lene sie mit bebender Stimme. »Was genau ist Arndt denn geschehen?«

Kerrin schaute Hilfe suchend zu Hark. Wie sagte man Angehörigen, dass ihr Ehemann und Vater auf bestialische Weise zu Tode gekommen war?

»Er ist ertrunken«, entgegnete sie schließlich schlicht. Zu ihrer großen Erleichterung klingelte es in dem Moment, sodass sie zunächst keine weiteren Erklärungen abgeben musste.

Lene wollte aufstehen und schob Pia hoch, aber Jörn kam ihr zuvor. »Bleiben Sie bitte sitzen, ich öffne die Tür.«

Einen Augenblick später kam er mit einer kleinen, etwas rundlichen, dunkelhaarigen Frau in den Vierzigern zurück. Sie trug einen praktischen Kurzhaarschnitt und war kaum geschminkt. Fassungslos trat sie auf Lene und Pia zu, kniete neben ihrem Stuhl nieder und nahm sie für einen Moment fest in die Arme. Dann erhob sie sich und sah in die Runde. »Ich bin Ava Müller, eine gute Freundin von Lene.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben die beiden.

»Gut, dass Sie da sind. Lene und Pia können jetzt Unterstützung gebrauchen«, erwiderte Kerrin ernst.

»Selbstverständlich. Ich bleibe auch gerne über Nacht.« Mit zitternden Händen fuhr sich Ava durch die Haare.

»Das wäre bestimmt hilfreich. Wir werden jetzt mit Frau Halvorsen ins Krankenhaus fahren, damit sie ihren Mann identifizieren kann. Danach können wir weitersprechen.«

»Ich möchte mitkommen.« Pia blickte ihre Mutter flehentlich an.

Lene schüttelte den Kopf. »Heute nicht, Pia. Aber ich verspreche dir, dass du Papa noch einmal sehen kannst, wenn du das möchtest.«

4

Der Warteraum vor dem Zimmer, in dem die erste Inaugenscheinnahme des Toten stattfinden sollte, wirkte kalt und unpersönlich. Hark hatte am Empfang des Krankenhauses Bescheid gegeben, dass sie da waren. Arndt Halvorsen war bereits eingeliefert worden, und so warteten sie nun auf Elena Bruckner.

Die Pathologin erschien bereits nach wenigen Minuten. Mit einem mitfühlenden Lächeln trat sie auf Lene Halvorsen zu und gab ihr die Hand. »Mein herzliches Beileid«, sagte sie schlicht. »Wenn Sie bereit sind, bringe ich Sie zu Ihrem Mann.«

»Kann man dafür bereit sein?«, flüsterte Lene und wischte sich über die Augen.

»Wahrscheinlich nicht«, gab Elena zu.

Lene straffte die Schultern. »Von mir aus kann es losgehen«, sagte sie tapfer.

Elena ging ihnen voran und öffnete sacht die Tür. Eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Liege befand sich in der Mitte des großen Raumes, eine weitere Tür, durch die man in den Kühlraum gelangte, an der gegenüberliegenden Seite. Metallene Tische und Regale mit allerlei Utensilien standen an den anderen Wänden.

Lene stieß einen leisen Schrei aus, als sie den ersten Blick auf ihren verdeckten Mann werfen konnte. Erschüttert hielt sie sich die Hände vor den Mund.

»Kommen Sie, Frau Halvorsen.« Elena schob sie sanft weiter. Als sie neben der Liege standen, sah sie sie abwartend an. »Wenn Sie so weit sind, nehme ich das Tuch von seinem Gesicht.« Als sie ihren furchtsamen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Haben Sie keine Angst. Es ist unverletzt und wirkt friedlich.«

Lene nickte, und Elena zog behutsam das Laken zurück. Sie hatte recht. Zwar wirkte Arndt Halvorsens Gesicht wächsern, die Augenlider und Lippen ein wenig dicker als üblich, und die Züge waren erschlafft. Trotzdem sah er entspannt aus. Von dem Grauen seiner letzten Stunden war nichts mehr zu entdecken.

Lange stand Lene stumm da und schaute Arndt an. Eine einzelne Träne floss über ihre Wange. Schließlich trat sie einen Schritt näher an ihn heran und ergriff zögernd seine Hand. Elena brachte ihr lautlos einen Stuhl, und Lene setzte sich neben ihn.

Hark betrachtete sie beklommen. Wie aus dem Nichts standen plötzlich die Bilder von Heike vor seinem inneren Auge. Innerhalb weniger Tage war seine Frau vor drei Jahren an einem Hirnschlag gestorben und hatte ihn mit zweiundfünfzig Jahren zum Witwer gemacht. Genau wie Lene hatte er sich der Leiche damals nur zögernd genähert. Seine Angst vor dem Tod, vor ihrem Tod, war groß gewesen. Zum Glück hatten die Krankenschwestern ihm viel Zeit zum Abschiednehmen gegeben. Voller Dankbarkeit erinnerte er sich heute an die Minuten oder Stunden – er hatte damals jegliches Zeitgefühl verloren –, in denen er zusammen mit Nils an ihrem Bett gesessen hatte. Sie hatten geweint, Heike gestreichelt und geredet. Miteinander und mit ihrer toten Ehefrau und Mutter. Für sie beide war es eine unschätzbar wertvolle Erfahrung gewesen, die sie einander noch nähergebracht hatte und bei dem Trauerprozess äußerst hilfreich gewesen war.

Hark spürte, wie Kerrin neben ihn trat. Mit einem leichten Lächeln sah er sie an. Er war glücklich, dass Nils diese Frau gefunden hatte. Mit ihrem ansprechenden, wenig geschminkten Gesicht, den hellbraunen, meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren und der sportlichen Figur war sie eine attraktive zweiunddreißigjährige Frau. Viel wichtiger aber waren ihre warmherzige, offene und direkte Art, ihre Begeisterungsfähigkeit, ihr Sinn für Humor und ihr Interesse an einer Vielzahl von Dingen. Und natürlich der Umstand, dass sie eine Insulanerin und keine Zugezogene war.

Als Lene sich schließlich erhob, riss ihn das aus seinen Gedanken. »Ich möchte jetzt gerne zu meiner Tochter.« Sie warf einen letzten Blick auf Arndt, gab Elena die Hand und ging nach draußen. Als sie vor das Krankenhaus traten, blendete sie das grelle Licht. Es war mittlerweile 18 Uhr. Zwar ging die Sonne nun Ende August bereits gegen 20:30 Uhr unter, trotzdem hatte sie noch nichts von ihrer Hitze eingebüßt.

»Wir bringen Sie nach Hause«, erklärte Kerrin Lene. »Wenn Sie es schaffen, würden wir gerne noch kurz mit Ihnen, Ihrer Tochter und Ihrer Freundin sprechen.«

Lene nickte und stieg in den Wagen ein. Die kurze Fahrt zu dem Haus der Halvorsens in der Strandstraße verlief schweigend. Lene blickte mit starrem Blick aus dem Fenster, und alle hingen ihren Gedanken nach.

Pia und Ava saßen im Wohnzimmer und hatten eine Kerze angezündet. Auf dem Tisch standen eine Kanne Tee und zwei Becher. Die Wangen des Mädchens waren eingefallen, ihre Stirn rot gefleckt vom Weinen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, aber sie war gefasst. Als Lene und die Beamten in den Raum kamen, wollte sie aufspringen, doch Ava drückte sie sanft zurück in die Kissen und erhob sich, um Lene neben ihrer Tochter Platz zu machen.

»Setz dich erst einmal hin, meine Liebe.« Sie drückte ihre Freundin kurz an sich und trat dann zur Seite. »Du siehst aus, als könntest du einen heißen Tee gebrauchen.« Sie wandte sich den Polizisten zu. »Für Sie auch?«

Alle drei nickten dankbar. »Ich kümmere mich darum.« Mit diesen Worten verschwand sie in der Küche.

Als Lene ihre Tochter fest in ihre Arme zog, begann sie erneut zu weinen.

Hark spürte, was Kerrin durch den Kopf ging. Den privaten und menschlichen Teil in ihr drängte es danach, die Familie erst einmal allein zu lassen. Aber die professionelle Seite wusste, dass sie das nicht durften. Es war wichtig, so rasch wie möglich Informationen zusammenzutragen.

Als Ava mit einem Tablett und einer frischen Kanne Tee zurückkam, atmeten alle auf. Hark fühlte sich durch das dampfende Getränk seltsam getröstet.

Schließlich ergriff Kerrin das Wort. »Leider können wir Sie noch nicht in Ruhe lassen.«

Lene nickte, griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. »Das verstehe ich«, antwortete sie leise. »Bitte fragen Sie alles, was Sie wissen müssen, und nehmen Sie keine Rücksicht auf uns. Das Wichtigste ist jetzt, dass der Mörder gefunden wird.«

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, begann Kerrin.

Lene überlegte einen Moment. »Vor drei Tagen, durch Zufall am Sandwall. Sie wissen ja, dass es zuletzt nicht so gut zwischen uns lief. Wir hatten den Kontakt erst einmal ausgesetzt, ich war mit meinem Latein am Ende und hatte gehofft, dass wir durch die Einschaltung der Polizei irgendeine Lösung finden könnten, aber jetzt …« Ihre Stimme brach.

»Dass Arndt heimlich hier im Haus gewesen ist, hat Lene natürlich einen Schrecken eingejagt, vor allem, weil er es immer wieder abgestritten hat«, sprang Ava ihrer Freundin zur Seite.

»Das verstehe ich nicht ganz«, mischte Jörn sich ein. Hark musterte ihn aufmerksam. Er hatte das Verhältnis zwischen ihm und Kerrin noch nicht durchschaut. Sie gingen kollegial miteinander um, aber Hark fragte sich trotzdem, ob Jörn sich wirklich so leicht einer jüngeren Frau unterordnen konnte. Er selbst hätte in seinem Alter Probleme damit gehabt. Aber er entstammte ja auch einer anderen Generation. Vielleicht war das heutzutage keiner weiteren Grübeleien wert. »Wie können Sie sich so sicher sein, dass er tatsächlich hier war?«

Pia hatte bisher stumm zugehört, ihre Tränen waren versiegt, aber jetzt entzog sie sich den Armen ihrer Mutter. »Da hat er recht. Warum warst du dir da so sicher? Wie konntest du deinen eigenen Mann anzeigen? Er ist mein Vater, er würde uns doch nie etwas tun.« Sie schluchzte wieder. »Als er nach Föhr zurückkam, hast du doch selbst gesagt, dass wir bald wieder als Familie zusammen sein würden. Und es war doch alles gut. Papa hat uns geliebt, er wollte nur zurück nach Hause. Das hat er mir immer wieder gesagt, das letzte Mal gestern.« Mit Tränen in den Augen sah sie ihre Mutter herausfordernd an.

»Gestern?« Lene warf einen Hilfe suchenden Blick zu Ava. »Wo hast du ihn gesehen? Wir hatten doch vereinbart, dass jetzt erst einmal Ruhe einkehren sollte.«

»Du hast das vereinbart, ich nicht. Und Papa auch nicht. Du kannst uns doch nicht verbieten, dass wir uns sehen. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn er wieder bei uns gelebt hätte.« Pias Stimme klang jetzt hart und wütend.

Lene zuckte wie geschlagen zusammen. Tiefer Schmerz stand in ihren Augen, sie antwortete aber nicht.

»Beruhigt euch bitte, keiner hat etwas davon, wenn es Streit gibt. An dem Tod deines Vaters trägt ganz allein der Täter die Schuld und niemand anders«, versuchte Hark, die Situation zu entschärfen.

»Pia, wir verstehen, dass du aufgewühlt bist, aber bitte ziehe mit deiner Mutter an einem Strang«, nahm auch Ava Partei für Lene. »Ihr müsst euch jetzt gegenseitig unterstützen.«

Pia sah sie nicht an und schwieg.

»Wo und wann hast du dich gestern mit deinem Vater getroffen, Pia?« Kerrin beugte sich ein wenig vor und schaute das Mädchen aufmerksam an.

»Nach der Schule am Strand. Wir sind ein bisschen durchs Watt gelaufen und haben im Sand gelegen.«

»War er irgendwie anders als sonst? Vielleicht ängstlich oder besonders wachsam? Hat er irgendetwas gesagt, das dir im Nachhinein merkwürdig erscheint, möglicherweise eine Verabredung erwähnt?«

Pia schüttelte langsam den Kopf. »Er war traurig, weil Mama ihm nicht glaubt und ihm die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Er hat mir von dem Gespräch mit Ihnen«, sie schaute zu Hark hinüber, »berichtet. Er hatte das Gefühl, dass Sie ihm glauben. Und er hat gehofft, dass Sie auch Mama davon überzeugen würden.«

Hark nickte. »Auf mich machte er tatsächlich einen aufrichtigen Eindruck, aber ich hatte seitdem leider noch nicht die Gelegenheit, mit deiner Mutter zu sprechen.«

»Aber Pia, Schatz, alles spricht doch dagegen, dass er die Wahrheit sagt«, meldete sich Ava erneut zu Wort.

»Was genau meinen Sie damit?«, wollte Kerrin wissen.

»Es hat mit den Eigenheiten meines Mannes zu tun«, antwortete Lene an Avas statt. »Er hat schon immer viele Dinge auf eine bestimmte Art und Weise machen müssen. Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele nennen, aber ich beschränke mich mal auf die Sachen, die ich in der letzten Zeit hier im Haus vorgefunden habe.« Sie seufzte. »Ich habe eine Besteckschublade, in die ich Kochlöffel, Rührbesen, Stampfer und so weiter einfach reinlege. Ohne irgendeine Ordnung. Früher mit Arndt war das nicht möglich. Alles musste in einer Reihe nebeneinanderliegen, die Unterseiten mit der Schublade abschließend. Genau so habe ich meine Schublade vor vier Wochen vorgefunden, gerade einmal zwei Wochen nach seiner Rückkehr.« Lene schluckte kurz und fuhr dann fort: »Eine Woche später war der Kühlschrank dran. Auch hier durfte früher nichts dem Zufall überlassen werden. Alle Lebensmittel hatten ihren Platz, und ganz wichtig war darüber hinaus, dass die Etiketten immer genau nach vorn zeigten. Nachdem Arndt weg war, haben wir darauf natürlich nicht mehr geachtet, bis er dann von irgendjemandem wieder genau so angeordnet wurde.«

»Das ist in der Tat merkwürdig«, gab Kerrin zu.

»Ich bin noch nicht am Ende.« Lene ergriff erneut das Wort. »Wieder eine Woche später waren im Badezimmer alle Handtücher nach Größe und Farbe sortiert. Das Fass zum Überlaufen gebracht hat dann der letzte Vorfall. Das Regal dort«, sie zeigte nach hinten, »mit den Büchern und CDs war früher alphabetisch geordnet. Ich habe das nicht bewusst verändert, aber im Laufe der letzten beiden Jahre ist es immer mehr durcheinandergeraten. Wir hören noch CDs und nutzen keine Streamingdienste, und ich lese viel. Wenn ich ein Buch oder eine CD zurückgestellt habe, habe ich nie auf die Sortierung geachtet. Jetzt hat sich aber jemand die Mühe gemacht, es alles neu zu ordnen.«

»Kannst du dir das erklären?« Kerrin schaute Pia an.

»Nein«, antwortete sie fast trotzig. »Aber wenn Papa sagt, dass er es nicht war, dann glaube ich ihm das.« Ihre Stimme wurde lauter. »Warum sollte er es auch getan haben? Er wollte zurück zu uns, und alles war auf einem guten Weg. Mama und Papa haben sich prima verstanden, wir drei haben viel gelacht und Spaß miteinander gehabt. Warum hätte er das kaputt machen sollen?«

Lene zuckte verzweifelt die Schultern. »Das weiß ich auch nicht, Pia. Aber Fakt ist doch, dass im Haus alles so war, wie er es ordnet. Und der Einbrecher muss einen Schlüssel gehabt haben. Wer soll das denn sonst gewesen sein?«

»Wer weiß von den Eigenarten Ihres Mannes?«, mischte sich nun Jörn in das Gespräch ein.

»Keiner so genau.« Lene dachte einen Moment nach. »Unsere engeren Freunde haben bestimmt das eine oder andere mitbekommen. Aber wir sind nie mit den Einzelheiten hausieren gegangen. Das war dann doch zu privat.«

»Maren, Ben und die Kinder wissen es«, wandte Pia ein.

»Wer sind Maren und Ben?«, wollte Kerrin wissen.

Ende der Leseprobe