Glück aus Tränen geboren - Aliza Korten - E-Book

Glück aus Tränen geboren E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Draußen rann der Regen. Ab und zu schlug ein Zweig gegen das Fenster, denn die Windstöße, die sich in unregelmäßigen Abständen wiederholten, waren heftig. Oliver Holtau fand keinen Schlaf. Seit Wochen war das schon so. Tagsüber konnte er sich durch intensive Arbeit von seinem Schmerz ablenken, doch in den Nächten quälte ihn die Erinnerung an Christas grausame Krankheit – an ihren Tod. Sie war zu jung gewesen, um zu sterben, erst vierundzwanzig. Die Ärzte hatten gesagt, er müsse ihr das Ausruhen von ihren Schmerzen gönnen. Ihr Leiden sei unheilbar gewesen. Es habe keine Rettung für sie gegeben. Er aber sehnte sich nach seiner geliebten Frau. Auch Kathrin fragte immer wieder nach ihrer Mutti. Oliver schaltete die Lampe am Bett ein und stand auf. Die Uhr zeigte auf zwei. Im Bademantel ging Oliver ins Wohnzimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Einer Eingebung dieser nächtlichen Stunde folgend, wollte er endlich Christas persönliche Papiere durchsehen, die in einer ledernen Mappe verschlossen waren. Bisher hatte er sich dazu nicht aufraffen können. Jetzt fühlte er plötzlich den Wunsch, die letzte Botschaft seiner Frau kennenzulernen, sofern sich in den Papieren eine solche finden sollte. Oliver nahm die Mappe aus der Schublade und öffnete das kleine Schloss. Den Schlüssel hatte Christa stets bei sich getragen. Nachdem er den Deckel der Mappe aufgeschlagen hatte, zögerte er.

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Sophienlust – 278–

Glück aus Tränen geboren

Wie Oliver, Moni und Kathrin doch noch eine Familie wurden …

Aliza Korten

Draußen rann der Regen. Ab und zu schlug ein Zweig gegen das Fenster, denn die Windstöße, die sich in unregelmäßigen Abständen wiederholten, waren heftig.

Oliver Holtau fand keinen Schlaf. Seit Wochen war das schon so. Tagsüber konnte er sich durch intensive Arbeit von seinem Schmerz ablenken, doch in den Nächten quälte ihn die Erinnerung an Christas grausame Krankheit – an ihren Tod.

Sie war zu jung gewesen, um zu sterben, erst vierundzwanzig. Die Ärzte hatten gesagt, er müsse ihr das Ausruhen von ihren Schmerzen gönnen. Ihr Leiden sei unheilbar gewesen. Es habe keine Rettung für sie gegeben. Er aber sehnte sich nach seiner geliebten Frau. Auch Kathrin fragte immer wieder nach ihrer Mutti.

Oliver schaltete die Lampe am Bett ein und stand auf. Die Uhr zeigte auf zwei. Im Bademantel ging Oliver ins Wohnzimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Einer Eingebung dieser nächtlichen Stunde folgend, wollte er endlich Christas persönliche Papiere durchsehen, die in einer ledernen Mappe verschlossen waren. Bisher hatte er sich dazu nicht aufraffen können. Jetzt fühlte er plötzlich den Wunsch, die letzte Botschaft seiner Frau kennenzulernen, sofern sich in den Papieren eine solche finden sollte.

Oliver nahm die Mappe aus der Schublade und öffnete das kleine Schloss. Den Schlüssel hatte Christa stets bei sich getragen. Nachdem er den Deckel der Mappe aufgeschlagen hatte, zögerte er. Es war unendlich schmerzlich, ihre saubere, klare Schrift zu lesen. Christa Holtau – Urkunden und persönliche Dokumente, hatte sie auf das erste Blatt geschrieben. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er strich sich über die Stirn.

Die Leute redeten so viel. Das Leben geht weiter – das war eine Redensart, die er schon bis zum Überdruss gehört hatte. aber für ihn war alles stehen geblieben seit Christas Tod.

Im Hause hatte sich kaum etwas verändert. Christas Schwester war geblieben, Monika, so hieß Christas Schwester, hatte seinerzeit als Krankenschwester gekündigt und die Pflege von Christa übernommen. Auch um Kathrin hatte sie sich gekümmert – und sie tat dies bis zum heutigen Tage, rührend und aufopfernd. Moni führte den Haushalt und sorgte dafür, dass die kleine Kathrin das Lachen nicht verlernte. Es war gut und tröstlich, die blonde Moni um sich zu haben. Sie besaß eine starke Ähnlichkeit mit der Verstorbenen. Fast war es, als gehe Christa auch jetzt noch durch das Haus.

Keine Frage, Moni würde bis auf Weiteres bei ihm bleiben. Vielleicht tat sie es nicht sosehr um seinetwillen als wegen des Kindes. Kathrin hing mit abgöttischer Liebe an Moni. Schon während der Krankheit ihrer Mutter war Moni für sie unmerklich an deren Stelle gerückt. Christa und Moni flossen für Kathrin zu einer einzigen geliebten Gestalt zusammen. Oliver war dafür dankbar. So brauchte wenigstens sein Töchterchen nicht zu leiden.

Über die weitere Zukunft hatte Oliver sich bisher keine Gedanken gemacht. Ihm fehlte dazu die Kraft. Ein einziges Mal hatte Wulf Gerhardt, Architekt wie Oliver und sein Partner, angedeutet, dass er zu späterer Zeit wohl Moni heiraten würde, er aber hatte diese Möglichkeit weit von sich gewiesen.

Jetzt fiel Olivers Blick auf Christas Bild. Es war eine Aufnahme aus glücklichen, gesunden Tagen. Das Herz tat ihm weh. Wieder einmal bäumte er sich gegen das unbegreifliche Schicksal auf, das ihm die Frau und der kleinen Kathrin die Mutter entrissen hatte. Wie immer hatte Moni frische Blumen neben das Bild gestellt. Sie verbreiteten einen schwachen, süßen Duft.

Oliver seufzte und begann die Blätter in die Mappe zu sichten. Christa hatte ihre Schulzeugnisse aufbewahrt, Impfbescheinigungen, sowie alle sämtlichen Papiere. Auch fand Oliver einige, rührende Erinnerungsstücke, wie ihre Heiratsanzeige und auch die hübsche Karte, auf der sie Kathrins Geburt allen Verwandten und Freunden mitgeteilt hatten. Das war vor etwas mehr als vier Jahren gewesen. Wie hätten sie ahnen sollen, dass ihr schattenloses Glück nur so kurze Zeit währen sollte?

Oliver entdeckte auch einige Briefe, die er selbst an Christa geschrieben hatte. Viele waren es nicht, denn er und Christa waren kaum getrennt gewesen. Auf die bittere Frage, warum er Christa verlieren mußte, gab es keine Antwort.

Im untersten Fach der Mappe lag ein versiegelter Umschlag. Er war an Oliver adressiert. Für den Fall meines Todes stand darauf. Olivers Herz schlug rascher. Also hatte Christa ihm doch einen letzten Gruß hinterlassen. Hatte sie gewusst, dass sie sterben musste?

Mit der großen Schere auf seinem Schreibtisch schnitt Oliver den Umschlag auf. Zwei eng beschriebene Bogen fielen ihm in die Hand.

Mein über alles geliebter Oliver! Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr bei Dir und Kathrin. Ich habe gestern gehört, wie der Professor mit unserem Doktor sprach. Die beiden glaubten wohl, dass ich schlafe. Nun weiß ich, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Schon seit einiger Zeit spüre ich, dass meine Kräfte nachlassen. Eigentlich ahnte ich es gleich zu Beginn der Krankheit, aber dann habe ich doch wieder gehofft.

Es soll also nicht sein, Oliver. Ich darf nicht bei Dir und Kathrin bleiben. Das große Glück unserer Liebe war nur eine geliehene Gabe. Ich möchte jedoch nicht von Euch gehen, ohne Dir zu gestehen, was mich in diesen Jahren bedrückt hat – meine Schuld. Wenn ich nicht mehr bei Euch bin, darf die Lüge nicht für alle Ewigkeit zwischen uns stehen. Es handelt sich um Kathrin.

Du wirst Dich erinnern, dass ich mich als siebzehnjährige Schülerin in den Geiger Jan Konstantin glühend verliebt hatte. Ich habe Dir ein paarmal davon erzählt. Er war damals schon ein Frauenheld und hat mich bitter enttäuscht, während ich seine Treueschwüre für bare Münze nahm. Als ich Dich kennen- und liebenlernte, mein Oliver, glaubte ich, dass Jan keine Macht mehr über mich hätte. Doch ich hatte mich getäuscht. Kurz vor unserer Hochzeit traf ich ihn zufällig wieder. Er bat mich um ein Wiedersehen, sprach davon, dass er mir bitteres Unrecht zugefügt habe. Noch einmal erlag ich seinem Charme. Ich vertraute ihm blind und war entschlossen, meine Verlobung mit Dir zu lösen. Jan Konstantin versprach mir die Ehe, doch er belog mich, als er das tat. Er wollte, was er immer gewollt hatte – eine Nacht voller Leidenschaft. Schon am nächsten Morgen erfuhr ich, dass er verheiratet war. Ich hörte ihn mit seiner Frau telefonieren, hörte, dass er zärtliche, liebevolle Worte zu ihr sagte, die eben noch mir selbst gegolten hatten. Es war ein schlimmes Erwachen. Nie werde ich diesen unseligen Morgen vergessen.

Ich floh zu Dir, um Dir alles zu gestehen. Du nahmst mich in die Arme und fragtest nicht, warum ich weinte. Plötzlich wusste ich, dass ich nur Dich wirklich liebte. Ich hatte entsetzliche Angst, Dich zu verlieren. So schwieg ich.

Schon am Hochzeitstag wusste ich, dass die Nacht mit Jan Konstantin nicht ohne Folgen geblieben war. Da ich Deine hohe Auffassung von Moral nur zu gut kannte, brachte ich nicht den Mut auf, dir die Wahrheit zu bekennen. So musstest Du Kathrin für Dein eigenes Töchterchen halten. Auch wurdest Du amtlich als ihr Vater eingetragen. Ich war froh darüber, denn ich wollte verhindern, dass jemals eine Verbindung zwischen meinem Kind und seinem gewissenlosen Vater entstand. Zugleich quälte es mich, dass ich Dich belogen hatte.

Ich kann und will diese Lüge nicht mit in die Ewigkeit nehmen. Du weißt nun, dass Kathrin das Kind des Geigers ist. Doch ich vertraue auf unsere Liebe und bin sicher, dass du Kathrin nicht verstoßen wirst. Sie braucht Dich, wenn sie keine Mutter mehr haben wird. Nie soll sie erfahren, wer ihr Vater ist. Darum bitte ich Dich von ganzem Herzen.

Mir bleibt nur, Dir für deine Liebe zu danken, Oliver. Jeder Tag an Deiner Seite war für mich erfüllt von Glück. Verzeih mir, dass ich zu schwach war, um mich Dir anzuvertrauen. Lass es Kathrin nicht entgelten. Das Kind ist ohne Schuld.

Oliver las nicht weiter. Sein Verstand weigerte sich, das Ungeheuerliche zu begreifen. Kathrin war das Kind eines anderen! Christa hatte ihn hintergangen und belogen – all die Jahre hindurch – jeden einzelnen Tag ihrer Ehe.

Jäh schlug sein Schmerz um die Verstorbene in Anklage um. Zu groß war der Schock. Ja, Christa hatte vor längerer Zeit einmal über den Geiger Jan Konstantin gesprochen und von ihrer jugendlichen Schwärmerei für ihn erzählt. Auch von ihrer Enttäuschung war die Rede gewesen. Sie hatte damals sehr harte Worte gebraucht. Offenbar hatte der berühmte Künstler ein gewissenloses Spiel mit der Siebzehnjährigen getrieben. Dass es jedoch kurz vor ihrer Hochzeit erneut eine Verbindung zwischen Konstantin und Christa gegeben hatte, war erschreckend.

In seiner Enttäuschung bedachte Oliver nicht, wie leicht es für Christa gewesen wäre, für immer zu schweigen. Sein Zorn ließ ihn nichts anderes sehen als die Tatsache, dass er hintergangen worden war. Er fühlte sich gedemütigt wie nie zuvor in seinem Leben.

Bisher war ihm alles nach Wunsch gegangen. Er hatte den Beruf seiner Wahl ergreifen und Architektur studieren können. Gemeinsam mit seinem Freund und Partner hatte er als freischaffender Architekt begonnen. Von Anfang an war ihnen Erfolg beschieden gewesen. Als er Christa kennengelernt hatte, war er bereits in der Lage gewesen, das schöne Einfamilienhaus zu bauen, in dem sie dann wohnten. Er hatte seine Frau geliebt und ihr rückhaltlos vertraut.

Christas unheilbares Leiden – ihr Tod – das waren die ersten Schicksalsschläge gewesen, die ihn getroffen hatten. Zuvor war alles glücklich, problemlos und wunderbar gewesen. Jedenfalls schien es so gewesen zu sein. Doch in dieser stürmischen Regennacht wurden ihm nun mitleidlos die Augen geöffnet. Er hatte mit seiner schönen Illusion gelebt! Christa war nicht der Engel gewesen, für den er sie gehalten hatte, und Kathrin war nicht seine Tochter.

Oliver erschrak, als er leichte Schritte vernahm. Nun klopfte es behutsam an der Tür, und Moni trat ein. Ihre Wangen waren vom Schlaf sanft gerötet. Ihre Ähnlichkeit mit Christa war für Oliver wie ein körperlicher Schmerz.

»Warum schläfst du nicht, Oliver?«, fragte Monika. »Ich habe nach Kathrin geschaut. Sie hatte wohl geträumt und im Schlaf gerufen. Dann sah ich, dass du hier Licht hast. Kann ich etwas für dich tun? Möchtest du etwas trinken?«

Hastig schloss er die Ledermappe, damit Monika den Brief nicht sah. »Ich habe ein paar Papiere durchgelesen«, antwortete er mit fremder, erstickter Stimme. »Du weißt ja, dass ich meistens nicht schlafen kann. Morgen früh muss ich sehr früh zu einer Baustelle fahren. Also ist es sicherlich vernünftig, schon ein bisschen zu arbeiten.«

Moni schüttelte den Kopf. In ihren blauen Augen stand Mitleid. »Du solltest die Nacht nicht zum Tage machen, Oliver. Vielleicht musst du einmal ein paar Tage lang ein Schlafmittel nehmen. Auf die Dauer wirst du krank werden, wenn du so weitermachst. Wulf sagte erst gestern, dass du zu viel arbeitest.«

»Ich arbeite, damit ich nicht nachdenken kann, Moni. Du musst mich schon auf meine Art mit dem fertig werden lassen, was geschehen ist.«

Die blonde Krankenschwester seufzte. »Darf ich dir wenigstens rasch einen Pfefferminztee aufgießen?«, erbot sie sich.

»Wenn du unbedingt willst. Ich war gerade im Begriff, mich wieder hinzulegen. Vielleicht schlafe ich doch noch für ein paar Stunden ein.«

Moni nickte ihm zu. »Ich stelle dir den Tee ans Bett.«

»Danke, du bist sehr freundlich.«

Er bemerkte ihren verwunderten Blick, weil er sich ihr gegenüber anders verhielt, als sie es von ihm gewohnt war. Moni war Christas Schwester! Sie mochte ahnungslos geblieben sein, aber für ihn gehörte sie zu Christa. Deshalb störte ihn ihre Anwesenheit, für die er noch am Abend dankbar gewesen war.

Sobald Moni hinausgegangen war, verschloss Oliver Christas Brief im Wandsafe unter dem Fenster. In der Mappe schien ihm das schreckliche Bekenntnis seiner Frau nicht mehr sicher genug zu sein. Sorgsam zerriss er den Umschlag in kleine Stücke, die er im Aschenbecher verbrannte. Dann erst legte er die Ledermappe in den Schreibtisch zurück. Sie barg nun kein Geheimnis mehr.

Eine Weile stand Oliver wartend am Fenster und betrachtete die Regentropfen, die an der Scheibe herabliefen. Erst als er sicher sein konnte, dass Moni längst wieder im Bett liegen musste, ging er zurück ins Schlafzimmer, wo er den dampfenden Tee auf dem Nachttisch vorfand. Er legte sich hin und trank den Tee in kleinen Schlucken. Er fühlte sich krank und elend. Wie mit Flammenbuchstaben geschrieben stand es vor ihm. Immer wieder musste er es lesen, ob er wollte oder nicht. Kathrin ist nicht mein Kind!

Was soll ich tun?, fragte er sich. Ich kann Kathrin nicht mehr so lieben wie bisher. Christa hat es sich sehr leicht gemacht. Leider hat sie nicht daran gedacht, wie ich damit fertig werden soll.

Neben der geleerten Tasse auf dem Nachttisch stand eine Aufnahme von Kathrin. Es war ein besonders niedliches Bild der Kleinen, im Sommer aufgenommen. Sie schützte die Augen mit dem Ärmchen gegen die helle Sonne und blickte den Fotografen liebevoll an. Oliver selbst hatte Kathrin geknipst und erinnerte sich noch an jede Einzelheit dieses herrlichen warmen Tages, der nun tausend Jahre zurückzuliegen schien.

Mit tiefem Aufatmen ergriff er das Bild, um es sich genau anzusehen. Wie oft hatte er vermeintliche Ähnlichkeiten mit sich selbst bei Kathrin festgestellt. Welch ein Irrtum war das gewesen! Er war mit diesem entzückenden, kleinen Geschöpf nicht verwandt. Die Ähnlichkeit mit Christa war dagegen unverkennbar. Hier gab es keinen Zweifel.

Ich werde es auf die Dauer nicht ertragen, das Kind im Hause zu haben und täglich um mich zu sehen, dachte er. Irgendetwas muss mir einfallen!

Wie konnte Christa mir das antun? Wie konnte sie mit dieser entsetzlichen Lüge leben?

Oliver starrte auf das Bild, bis ihm die Augen zufielen. Seine Hand sank schlaff auf die Bettdecke. Er schlief ein, ohne das Licht zu löschen. Eine Welt war für ihn zusammengebrochen.

*

Der Wecker summte. Oliver erwachte und brauchte ein paar Sekunden, um sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Die Lampe brannte, und Kathrins Fotografie lag auf seiner Bettdecke. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und schob das Bild in die Schublade, um es nicht mehr ansehen zu müssen. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern müde und zerschlagen, doch er musste aufstehen. Eigentlich war er sogar erleichtert, dass nun die Arbeit auf ihn wartete. Alles war besser, als nachzugrübeln und doch zu keinem Ergebnis zu kommen.

Oliver ging ins Bad, duschte und rasierte sich. Sein Gesicht wirkte im Spiegel kalt und fremd. Über der Nasenwurzel stand eine Falte, die am Tag zuvor noch nicht dort gewesen war.

Im Esszimmer hatte Moni wie immer den Frühstückstisch gedeckt. Sie trug ein hellblaues Schwesternkleid.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Oliver die Szene, die ihn verwirrte und in Verlegenheit brachte. Moni trug eben die Kaffeekanne herein. Kathrin folgte ihr auf dem Fuße und lief mit ausgebreiteten Ärmchen auf ihn zu. So war es jeden Morgen gewesen – aber jetzt fiel es ihm schwer, das blonde Kind aufzufangen und hoch in die Luft zu heben.

»Morgen, Vati. Hast du gut geschlafen?« Kathrin küsste Oliver, während er sie wieder auf den Teppich stellte.

»Morgen, Kathrin. Ja, ich habe recht gut geschlafen. Du auch?«

»Ja, prima. Du, Moni hat neue Marmelade aufgemacht, Kirsche. Magst du Kirschmarmelade? Ich nämlich sehr.«

Oliver fühlte sich in Verlegenheit gebracht. Er rang sich ein verzerrtes Lächeln ab und behauptete, dass er Kirschmarmelade auch gern esse. In Wahrheit hatte er keinen Hunger.

Sie setzten sich an den Tisch, und Moni band Kathrin das bunte Lätzchen um. An jedem anderen Morgen hatte Oliver ihr dabei gern zugeschaut. Jetzt wandte er den Blick ab.

»Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte Moni besorgt.

»Wieso? Es geht mir wie immer. Allmählich habe ich mich daran gewöhnt, dass ich nur wenig schlafen kann.« Seine Antwort klang abweisend, fast schroff. Er hörte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun.

Kathrin blieb von der seltsam gespannten Stimmung unberührt. Sie trank ihren Kakao und ließ sich von Moni ein Brötchen mit Butter und Marmelade zurechtmachen. Oliver begnügte sich mit schwarzem ungesüßtem Kaffee. Monika wagte es offenbar nicht, ihm etwas zu essen anzubieten. Mochte sie denken, was sie wollte. Vielleicht schob sie sein Verhalten auf die schlaflose Nacht oder auch auf irgendeinen beruflichen Ärger.

Es war bedrückend, dass er sie nun unwillkürlich mit Christa verglich. Auch seine Frau hatte ihn niemals mit Fragen belästigt, wenn er einmal verstimmt gewesen war. Ruhig und freundlich hatte sie gewartet, bis die Wolken sich verzogen hatten. Moni hielt es genauso. Im Moment war er ihr dankbar dafür. Wie hätte er ihr erklären sollen, was er empfand?

Schweigend füllte Moni ihm die Tasse zum zweiten Mal. Dann stand er auf. »Ich bin in Eile«, erklärte er leise.

Moni nickte und reichte ihm die Hand. Kathrin bedachte ihn mit einem etwas klebrigen Kuss, dem er sich nicht entziehen konnte.

Er atmete auf, als er sich in den Wagen setzen konnte. Vom Fenster aus winkten ihm Monika und Kathrin nach. Er hob die Hand, um den Abschiedsgruß zu erwidern.

So darf es nicht weitergehen, dachte er dabei. Ich muss das ändern, und zwar so bald wie möglich, sonst verliere ich den Verstand.

Wulf Gerhardt saß bereits am Schreibtisch und sah die Post durch, die er aus dem Schließfach geholt hatte. Wulf war siebenundzwanzig, zwei Jahre jünger als Oliver. Die Partnerschaft der beiden Freunde hatte sich glänzend bewährt. Jeder konnte sich auf den anderen verlassen wie auf sich selbst.

»Grüß dich, Oliver. Wir haben den Zuschlag für den Umbau am Rathaus bekommen. Das Schreiben der Stadtverwaltung ist eben gekommen. Das bedeutet wieder einmal eine Menge Arbeit, aber auch eine gute Einnahme. Wir können uns gratulieren.«

Oliver schüttelte dem Freund die Hand. »Morgen, Wulf. Ich habe sowieso fest mit diesem Auftrag gerechnet. Unser Angebot war solide und scharf kalkuliert.«

»Na ja, dann müssen wir also die Aufträge an die Baufirmen weitergeben. Keine Müdigkeit vorschützen. Wie beurteilst du unsere Chancen für das Berliner Projekt?«

»Keine Ahnung!«, erwiderte Oliver, die Schultern bebend. »Es wäre eine interessante Aufgabe. Aber es hat ja noch etwas Zeit. Fassen wir uns in Geduld.«

»Es wäre mir schon recht, wenn wir auf diese Weise woanders bekannt werden könnten, Oliver. Sag mal«, er sah seinen Partner prüfend an, »was ist los mit dir? Du siehst miserabel aus.«

»Schlecht geschlafen wie gewöhnlich, Wulf. Sonst nichts.«

»Du darfst jetzt nicht krank werden, Oliver. Wir haben zu viel zu tun, um uns das leisten zu können. Du hast ständig für neue Aufträge gesorgt, obgleich ich manchmal das Gefühl hatte, dass uns das Ganze über den Kopf wächst.«