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Die österreichische Krimi-Erfolgsreihe ist zurück: Der beliebte Wiener Chefinspektor Martin Glück ermittelt in der Südsteiermark Nach dem Fiasko seiner verpatzten Hochzeit flieht Chefinspektor Martin Glück aus Wien in die Südsteiermark und nach Glanz an der Weinstraße, die Österreich von Slowenien trennt. Das Grenzland ist betörend schön, doch seine Geschichte hat auch hässliche Seiten. Als Glück sein Domizil, ein altes Winzerhaus, bezieht, findet er die Leiche eines Immobilienhais. Ein Racheakt aus der Vergangenheit? Gier und Verlust als Motiv? Glück sieht Gespenster und fürchtet zudem die Rache der verschmähten Braut …
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Christine Grän wurde in Graz geboren, lebte in Berlin, Bonn, Botswana und Hongkong und ist heute in ihrer Geburtsstadt zu Hause. Die gelernte Journalistin wurde durch ihre Anna-Marx-Krimis bekannt. Bei ars vivendi erschien 2014 ihr Kurzgeschichtenband »Amerikaner schießen nicht auf Golfer«, 2015 folgte »Sternstraße 24 – Weihnachtsgeschichten vom Parterre bis unters Dach«, 2021 »Anna Marx und der sanfte Tod«.
Hannelore Mezei kommt aus Graz und studierte dort Germanistik und Anglistik. Sie arbeitete viele Jahre als Redakteurin in Wien und war zwischendurch längere Zeit in Zimbabwe und Südkorea. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Wien und Velden am Wörthersee. Hannelore Mezei veröffentlichte bisher Kurzgeschichten für Anthologien sowie Sachbücher und gemeinsam mit Christine Grän die »Glück-Krimis«.
2016 erschien bei ars vivendi »Glück am Wörthersee«, der erste gemeinsame Kriminalroman von Grän & Mezei um Chefinspektor Martin Glück. 2018 folgte »Glück in Wien«, 2019 »Glück in der Steiermark«, 2020 »Glück in Salzburg«, 2021 »Glück im Burgenland«, 2022 »Glück in Kitz«, 2023 »Glück in Bad Ischl«.
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Liebe Leserin, lieber Leser, sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzens-anliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten. Ihr Norbert Treuheit, Verleger und Geschäftsführer
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Mai 2025)
© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG
Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
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www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: ars vivendi
Motivauswahl: ars vivendi
Coverfoto: © Andrej Safaric/ shutterstock
eISBN 978-3-7472-0651-5
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Glossar
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Hinter ihm: der Küniglberg und Jahre der Freiheit.
Vor ihm: Rosie und hundertzwanzig Hochzeitsgäste im Schloss Belvedere.
Martin Glück fährt im Schleichtempo durch Hietzing, was ihm nichts nützen wird, er weiß es, und auch das: Vielleicht liebt er Rosie, aber heiraten will er sie auf keinen Fall. Nicht Prinzgemahl einer Frau werden, die mehr Geld geerbt hat, als ihr guttut. Schon dieser Anzug, den sie ihm gekauft hat und der ein kleines Vermögen kostete. Er schimmert nachtblau, ist tailliert geschnitten, und ihm ist wurscht, ob das jetzt Männermode ist, er fühlt sich beengt und verkleidet. In vielerlei Hinsicht! Und Rosie, die es immer nur gut meint, versteht überhaupt nicht, warum es ihn so stört, wie sie ihn mit ihrem Geld zuschüttet …
Gedanken, die sich im Kreis drehen, und nichts kann er tun, als weiterzufahren zum Ort des Schreckens. Wenn Martin wütend ist, dann nicht auf Rosie, sondern auf sich selbst. Weil er all das zugelassen hat: die Heirat, den Anzug, das maßlos aufgeblähte Fest, die Hochzeitsreise in die Antarktis …
Den Hund, der vor dem Schloss Schönbrunn auf die Straße läuft, direkt vor sein Auto, sieht Martin erst in letzter Minute. Er tritt auf die Bremse und lenkt den Wagen nach rechts, auf ein Verkehrsschild zu, das er mit dem rechten Kotflügel streift, bis er zum Stehen kommt. Hinter ihm hupt ein Idiot, der beinah aufgefahren wäre. Martin steigt aus dem Auto und zeigt dem Fahrer den Vogel, als der schimpfend vorbeifährt, ihm und dem Hund ausweichend, 8der jaulend neben dem Auto liegt. Noch ganz, wie Martin erleichtert feststellt, doch aus seiner Pfote spritzt in hohem Bogen Blut. Eine Frau läuft über die Straße und schreit »Bedo«. Schrille Stimme, sie bleibt schwer atmend vor Martin stehen. »Oh mein Gott! Er hat ein Eichhörnchen gesehen oder eine Katze und hat sich losgerissen und ist über die Straße … Eine Sekunde hab ich nicht aufgepasst. Ist Ihnen was passiert?«
»Mir nicht, aber Ihrem Hund. Gestatten Sie …« Martin reißt ihr den Schal vom Hals und kniet neben Bedo nieder, einem Berner Sennenhund, ausgewachsen. Seine Pfote sieht schlimm aus, bei der Kollision muss eine Arterie verletzt oder durchtrennt worden sein, sonst würde er nicht so heftig bluten. Martin streichelt ihn kurz. »Ganz ruhig, Bedo, ich muss dich nur schnell verbinden, dann bringen wir dich in die Tierklinik.«
Der Hund scheint zu verstehen. Er legt den Kopf zur Seite und lässt Martin gewähren. Der mit dem Schal einen Druckverband anlegt, wie er es beim Erste-Hilfe-Kurs der Polizei gelernt hat. Hinter ihm steht wehklagend die Besitzerin, sie nervt ihn, deshalb sagt er in seinem strengen Vernehmungston: »Kein Grund zur Panik, es hätte viel schlimmer kommen können. Bedo muss wahrscheinlich operiert werden, um die Blutung ganz zu stoppen. Die nächste Tierklinik ist in Meidling. Da fahren wir jetzt hin. Helfen Sie mir, ihn auf die Rückbank zu legen.«
Sie ist keine große Hilfe, aber sie schaffen es schließlich, vierzig Kilo Hund ins Auto zu heben, und Bedo jault auf, als er mit der verletzten Pfote am Vordersitz anstößt. Sie öffnet die Beifahrertür und lässt sich auf den Sitz fallen. »Mein Gott, Ihr schöner Anzug ist ja voller Blut. Und das Hemd auch …«
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Martin startet den Wagen. »Kollateralschaden. Schnallen Sie sich an und behalten Sie Bedo im Auge. Er soll sich möglichst wenig bewegen, bis wir da sind.«
Es ist nicht weit bis zur Tierklinik, und Martin fährt noch langsamer als vorher, die Huper hinter ihm ignorierend. Sieht an sich herunter, Blut überall, und denkt: So kann ich wohl kaum zu meiner Hochzeit erscheinen. Rosie würde in Ohnmacht fallen. Oder einen Tobsuchtsanfall kriegen. Er schaut seine Beifahrerin an, sie hat kaum Blut abbekommen, ihr blauer Hosenanzug sieht fast unversehrt aus. »Ich bin übrigens Martin Glück. Bedo kenn ich ja schon. Und Sie?«
»Ich bin Katharina Fuchs, Kathi. Aus Glanz. Südsteiermark. Wird er es überleben? Er hat so viel Blut verloren …«
»Ich glaub schon.« Martin fährt den Wagen bis vor die Tür, steigt aus und holt einen Helfer mit fahrbarer Trage. Bedo bleibt ganz ruhig, als sie ihn aus dem Auto auf die Trage hieven. Martin parkt das Auto, erst dann greift er nach seinem Handy und wählt Rosies Nummer. »Hier ist Martin, du, ich …«
Weiter kommt er nicht. »Wo zum Teufel bist du?!? Alle sind hier, nur der Bräutigam nicht! Deine einzige Entschuldigung wäre jetzt ein Verkehrsunfall, und du auf dem Weg in die Intensivstation!«
»Tatsächlich gab es …«
Sie unterbricht ihn mit der schrillsten Version ihrer Stimme: »Ist mir egal. Wenn du in fünfzehn Minuten nicht hier aufkreuzt, blase ich die Hochzeit ab – und du wirst es bereuen.«
»Lass mich doch …«
Sie beendet das Gespräch. Martin versucht es erneut, doch sie geht nicht mehr ran. Er blickt auf die Uhr. Natürlich 10könnte er nach Hause und sich umziehen. Der sündteure Anzug ist hinüber, das Hemd vermutlich auch. Aber in einer Viertelstunde wäre das sowieso nicht zu schaffen, und er möchte schließlich wissen, wie es Bedo geht. Die klaffende Wunde hat im Auto weitergeblutet, ohne den Druckverband hätte Bedo wohl wirklich zu viel Blut verloren. Und seine Besitzerin war mit der Situation ganz offensichtlich überfordert.
Kathi Fuchs sitzt im Wartezimmer. Sie legt ihr Handy weg, als sie Martin sieht. »Sie haben Bedo für die OP fertig gemacht. Die Verletzung wäre an sich lebensgefährlich, ein Blutgefäß wurde durchtrennt. Aber Ihr Druckverband hat ihn gerettet, sagt die Tierärztin. Ein Glück, dass Bedo ausgerechnet in Ihr Auto gelaufen ist.«
Martin Glück dämmert, dass das Schicksal für ihn entschieden hat. Er kann unmöglich in einer Viertelstunde umgezogen zu seiner Hochzeit erscheinen. Oder so, wie er ist. Schmutzig, voller Blut. Rosie würde es nicht verstehen, so oder so. Also setzt er sich hin und schreibt ihr eine SMS. Ich hatte einen Verkehrsunfall mit einem Hund und musste ihn in die Tierklinik bringen. Bitte verzeih mir.
Kathi Fuchs reicht ihm ein Erfrischungstuch aus ihrer Handtasche, er wischt sich die blutigen Hände notdürftig ab. Geht danach zur Toilette und wäscht sich. Er sieht aus wie nach einem Schlachtfest. Martin löst den Knoten der Tausend-Euro-Seidenkrawatte von irgendeinem englischen Hoflieferanten, den man laut Rosie einfach kennen muss, und wirft sie in den Mülleimer. Zieht eine Grimasse im Spiegel. Sein Handy piepst. Rosie: Das ist die blödeste 11Ausrede, die ich je gehört habe. Ich schicke die Gäste jetzt nach Hause. Ich verzeihe dir nicht, Martin. niemals.
»Ich bezahle natürlich alles. Den Schaden am Auto, die Reinigung und den Anzug«, sagt Kathi Fuchs, als er zurückkommt.
Martin bewegt sich zwischen den Parametern von Euphorie und Verzweiflung. »Das mit dem Auto ist nicht so schlimm. Der Anzug kann weg, den brauche ich nicht mehr. Und Bedo? Hat er eine Krankenversicherung?«
Sie denkt kurz nach und nickt dann. »Ja, wenn ich mich recht erinnere. Ich bin so aufgeregt. Und allmählich lässt das Gedächtnis nach, finden Sie nicht?«
Martin nickt, obwohl er das für sich nicht behaupten würde. Sie könnten ungefähr im gleichen Alter sein, vielleicht ist sie ein paar Jahre älter als er. Im nächsten Jahr wird er fünfzig – sofern Rosie ihn nicht vorher umbringt.
Kathi Fuchs schreibt ihre Adresse und Telefonnummer auf einen Zettel. »Schicken Sie die Rechnungen, und ich bezahle.«
Martin steckt ihn in die Anzugtasche. »Ich fürchte, ich kann Ihnen keine Adresse geben. Im Schrebergartenhaus wohne ich offiziell nicht mehr, das gehört einem Freund, der wieder einziehen will, ich hab nur noch ein paar Sachen dort. Und aus der Villa meiner Verlobten werde ich mit Sicherheit rausgeworfen. Wir wollten nämlich heute heiraten. Und morgen in die Flitterwochen in die Antarktis fliegen.«
Er sieht auf seine Armbanduhr, ein Geschenk von Rosie, das ihm viel zu wertvoll ist. Er sollte sie ihr zurückgeben. »Vor ein paar Minuten wäre die Trauung gewesen. Bedo ist 12dazwischengekommen.« Er versucht ein Lächeln, das missglückt, und sie legt ihre Hand auf seinen Arm. Kathi Fuchs hat schöne braune Augen, passend zur Haarfarbe. Und sie trägt einen Pferdeschwanz, was für eine Frau ihres Alters ziemlich ungewöhnlich ist. Weiß der Teufel, warum er ihr jetzt von Rosie erzählt? Von Anfang an: über die wilden Jahre mit der leidenschaftlichen Anarchistin. Die Polizeiautos abfackelte und danach aus Wien verschwinden musste, worüber er damals beinah erleichtert war. Jahrzehnte vergingen, und dann traf er sie ausgerechnet in Kitz wieder. Nur war Rosie jetzt eine Oligarchenwitwe mit Villen in Kitzbühel, Wien, Petersburg, London und Rom. Eine gemeinsame Nacht, dann tauchte sie plötzlich in Wien auf, und bald darauf setzte sich Rosie in den Kopf, ihre Jugendliebe zu heiraten. »Eine protzige Veranstaltung, die ich von Anfang an nicht wollte. Und eigentlich wollte ich auch nicht heiraten, ich war nur zu feig, das Theater zu stoppen. Das mit Bedo, das war Schicksal, meinen Sie nicht?«
Sie seufzt. »Die arme Rosie. Das ist wohl das Schlimmste, was einer Frau passieren kann. So schrecklich demütigend. Wie hat sie es aufgenommen?«
Martin hebt die Schultern. »Nicht gut. Ich glaube, sie will mich umbringen. Und Rosie hat einen furchterregenden Bodyguard oder Chauffeur oder was auch immer …«
Kathi Fuchs ergreift seine Hand. »Okay, Sie haben Bedo gerettet. Dafür schulde ich Ihnen mehr als nur die Kostenerstattung. Da Sie sozusagen obdachlos sind und Urlaub genommen haben für die Hochzeitsreise, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ich habe in Glanz ein Zimmer frei – in meinem Winzerhaus. Das Weingut habe ich zwar verkauft, aber ich habe lebenslanges Wohnrecht dort. Es ist sehr idyllisch, inmitten von Weinbergen, mit einem traumhaften 13Blick auf die Hügel und weit hinein nach Slowenien. Ist natürlich nicht so exotisch wie die Antarktis, aber herrlich, um zur Ruhe zu kommen.«
Martin sieht sie entgeistert an.
Sie lächelt. »Ich meine es ernst! Ich bleibe noch in Wien, muss ein paar Sachen erledigen und ohnehin darauf warten, dass Bedo transportfähig ist. Aber Sie, Martin Glück, könnten morgen hinfahren. Die Adresse haben Sie ja, und der Schlüssel liegt unter dem großen Stein rechts neben dem Gartenhaus. Die zwei Gästezimmer sind im ersten Stock, sie haben Balkon und ein eigenes Bad. Ab und zu vermiete ich sie an nette Menschen, aber zurzeit sind sie gerade frei, weil jemand abgesagt hat.«
Martin denkt nach. Alle werden sie über ihn herfallen: seine Mutter, sein Freund und Trauzeuge Fassl, seine Ex, die Rosie aus unerfindlichen Gründen nebst Ehemann einladen wollte. Rosies Sohn, der ihn sowieso nicht leiden kann. Alle Frauen dieser Welt – mit Ausnahme von Romana vielleicht, seiner Wörthersee-Freundin, über siebzig und kein bisschen weise.
»Sie verschwinden einfach aus Wien, mit unbekanntem Ziel.« Kathi lächelt aufmunternd. »Der Herbst ist die schönste Zeit in der Südsteiermark. Es wird Ihnen gefallen, das verspreche ich Ihnen.«
Ein Mädchen kommt um die Ecke. Sie trägt Tattoos und einen Nasenring. »Bedo ist jetzt im Aufwachraum. Die Frau Doktor hat die Blutung gestoppt und die Wunde genäht. Der Patient ist noch ein bisserl dasig, aber der wird schon wieder. In einer halben Stund oder so können S’ ihn mitnehmen. Die Rechnung bittedanke vorn an der Rezeption begleichen. Wir nehmen auch Kreditkarten. Der Aufwachraum ist neben dem OP-Saal rechts.«
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Fort ist sie, und ihr letztes Lächeln verriet, dass sie auch ein Zungenpiercing hat. Martin fühlt sich sehr alt. Sehr schuldig. Zu seiner Überraschung umarmt ihn Kathi Fuchs. Als sie sich löst und ihn erwartungsvoll ansieht, sagt er: »Warum nicht? Danke für die Einladung – und ich nehme sie an!«
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Er hatte eine Horrornacht im fast leeren Schrebergartenhaus. Zum einen war das harte Sofa – eines der letzten Relikte, die zum Haus gehören – keine schlaffördernde Bettstatt. Zum anderen quälten ihn Gewissensbisse, die nagender waren als das diffuse Gefühl der Erleichterung. Irgendwann gegen drei stand er auf, um sich mit einem Glas Whisky oder Cognac in den Schlaf zu trinken. Doch seine Mutter hatte schon alles entsorgt, wahrscheinlich in ihre Wohnung gebracht, weil es in Rosies Villa an nichts fehlt. Außer am Bräutigam!
Frustriert warf er einen Blick auf das stumm geschaltete Telefon. Mehrere Anrufe von seiner Mutter, von Fassl, von Romana. Sie alle hatten Nachrichten hinterlassen, die er sich irgendwann würde anhören müssen. Nicht in dieser Nacht. Vorwürfe konnte er nicht auch noch brauchen. Doch er hatte noch mehrmals versucht, Rosie telefonisch zu erreichen – ohne Erfolg. Einmal sprang zumindest die Mobilbox an, und er konnte draufsprechen und erklären, was nicht zu erklären ist. Er hat die Braut sitzen lassen in letzter Minute, aus, basta. Aber er versuchte trotzdem noch einmal, die Situation mit dem verletzten Hund genauer zu schildern, den er ins Tierspital bringen musste. Als gäbe es keine Taxis.
Gegen fünf beschließt Martin dann, schon jetzt aus Wien zu verschwinden. Den kleinen Bordkoffer hatte er ohnehin am Vortag für die Reise gepackt. Der große Koffer steht in der Gloriettegasse bei Rosie. Schließlich wollten sie die Hochzeitsnacht in Rosies Haus verbringen und am nächsten Tag zum Flughafen.
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Er lädt den kleinen Bordkoffer ins Auto und fährt los. Nicht zum Airport, sondern in Richtung Südsteiermark. Nach etwa eineinhalb Stunden fallen ihm langsam die Augen zu. Keine gute Idee mitten auf der Autobahn. An der nächsten Raststätte – Arnwiesen vor Gleisdorf – wird er einen starken Kaffee trinken und etwas essen. Und vielleicht die Handynachrichten abhören. Falls er sich dann mutig genug fühlt.
Noch zwei Kilometer bis zur Abfahrt, noch einer, fünfhundert Meter … Endlich ist er da. Martin parkt vor der Raststätte und geht die paar Stufen hinauf in einen leeren Gastraum. Setzt sich in eine Nische und bestellt beim Kellner, der auch nicht sehr munter wirkt, einen großen Kaffee und ein Butterkipferl. Dann googelt er die weitere Route nach Glanz. Die Nachrichten müssen warten, bis er was im Magen hat.
»Martin Glück?«
Die Stimme in seinem Rücken kommt ihm irgendwie bekannt, wenn auch nicht vertraut vor. Er dreht sich um, vor ihm steht Hannes Lammer, der sympathische Oberst von der Grazer Landespolizeidirektion, den er seit seiner Grazer Zeit bei »Leib und Leben« vor drei Jahren nicht mehr gesehen hat. Dabei hatte Martin sich fest vorgenommen, mit den steirischen Kollegen, die ihm damals zum sechsundvierzigsten Geburtstag ein Saxofon geschenkt hatten, Kontakt zu halten. Lammer scheint seine Gedanken zu lesen: »Wolltest du nicht zu deinem Siebenundvierziger bei uns aufspielen? Das ist aber auch schon ein paar Jahre her …«
Martin blickt verlegen drein. »Es war halt … ich …«
Doch Lammer lacht. »Lass nur. Ich weiß eh, wie das so ist im Leben. Die guten Vorsätze bröseln einem im Alltag einfach weg. Spielst überhaupt noch Saxofon?«
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Martin will nicht lügen. »Schon, aber ich mach nur langsam Fortschritte. Es kommt halt immer was dazwischen, sodass ich die Stunden absagen muss. Meistens ein Mord. Aber ich bin euch echt dankbar, dass ihr mir diesen Traum mit dem Saxofon erfüllt habt. Ich denk beim Spielen so oft an euch.«
»Vielleicht wär’s aber besser, an die Noten zu denken, während du spielst«, grinst Lammer. »Wohin bist denn unterwegs?«
Themenwechsel, Gott sei Dank! »In die Südsteiermark, nach Glanz. Und du? Willst dich nicht zu mir setzen?«
»Gern. Ich komm grad aus Wien, hab gestern meine Tochter in ihre WG übersiedelt. Sie fängt dort an zu studieren – Publizistik, das gibt’s in Graz nicht. Aber wahrscheinlich ist sie auch ganz froh, von der heimischen Fürsorge wegzukommen. Ich muss heute sehr früh wieder zurück in die Dienststelle. Und du fährst in die Südsteiermark? Ist eh genau die richtige Jahreszeit. Warst seit dem Mordfall damals wieder an der Weinstraße?«
»Nein, leider nicht. Und in Glanz überhaupt noch nie.«
»Interessante Gegend, dieses Glanz. Vor allem historisch. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Untersteiermark an Jugoslawien gefallen ist, haben sie die Grenze mitten durch Glanz gezogen. Teilweise wurden auf diese Weise sogar Gehöfte und Familien auseinandergerissen. Ein Acker Jugoslawien, der andere Österreich.« Der Hobbyhistoriker ist in seinem Element. »Es gibt inzwischen einen Grenztisch in Glanz, wo mittendurch die Grenze verläuft. Sehr symbolisch. Musst dir anschauen. Und natürlich ist die Gegend landschaftlich sehr hübsch, mit den Weingärten und Winzerhäusern. Gehört ja jetzt alles zu Leutschach, wurde irgendwann eingemeindet …«
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All das hat Martin nicht gewusst, er hatte seit gestern weder Zeit noch Lust, sich mit der Ortskunde zu beschäftigen. Das Einzige, was er wissen musste, war, dass in Glanz ein Zimmer auf ihn wartet. Wohin er flüchten kann. Und wo ihn niemand findet. Hoffentlich! Bevor er etwas sagen kann, kommt sein Frühstück.
Lammer blickt neidisch auf Martins Butterkipferl. »Mei, so was hab ich ewig nimmer gessen. Mir auch dasselbe, bitte«, bestellt er beim Kellner, der diskret gähnt und sich dann gemessenen Schrittes zur Kaffeemaschine bewegt.
»Fährst jetzt dienstlich nach Glanz, da müsst ich aber wohl was drüber wissen, wenn da was passiert wär? Oder machst Urlaub?«, fragt der Grazer Polizist.
»Mehr Flucht als Urlaub«, gesteht Martin.
Lammer sieht ihn fragend an.
»Hab meine eigene Hochzeit geschwänzt, Hannes.« Es sollte witzig klingen, kommt aber eher kläglich rüber.
Als der Oberst verständnisvoll nickt und nicht nachfragt, bricht es aus Martin heraus. Die ganze Geschichte mit Rosie, die Hochzeit, die er nie wollte, der Hund, den er angefahren hat. Schließlich die Einladung nach Glanz. Als Lammers Kipferl kommt, stoppt Martin seinen Redeschwall, und sie essen schweigend. Bis der Oberst sagt: »Ja, so eine Ehe ist schon eine Herausforderung. Und wenn man dann noch von vornherein Zweifel hat … Also, das mit dem Hund war offenbar ein Schicksalswink.«
So möchte Martin es auch gerne sehen, aber so einfach ist es nicht. »Ich hätte früher die Notbremse ziehen müssen! Es war eine Gemeinheit, Rosie mit all den Gästen sitzen zu lassen. Dafür gibt’s keine Entschuldigung. Ich weiß das schon.«
Lammer nickt. Inzwischen ist eine Familie mit drei lärmenden Kindern eingetroffen und hat am Nebentisch Platz 19genommen. Der Oberst beugt sich näher zu Martin und sagt mit gedämpfter Stimme: »Ist schon klar, Martin. Warst halt zu feig. Wir Männer neigen dazu, über Gefühle nicht tief-greifend nachzudenken. Um dann im letzten Moment die Reißleine zu ziehen. Aber vielleicht kannst du ihr alles erklären. Nicht nur per Mobilbox. Wenn sie weiterhin nicht auf deine Anrufe reagiert, schick ihr einen Brief …« Lammers Handy läutet. »Entschuldige, Martin.« Er nimmt das Telefonat entgegen. »Okay, bin eh schon vor Gleisdorf und gleich da. Der Felix soll schon einmal hinfahren.«
Zu Martin: »Sorry, Mord im Stiftingtal. Muss los.« Zum Kellner: »Zahlen, bitte.«
»Ach Gott, der Felix! Wie geht’s ihm denn?«, fragt Martin noch.
»Gut. Unser sensibler Felix hat sich inzwischen sogar von seinem Liebeskummer erholt. Hat endlich eine nette neue Frau g’funden. Nächste Woche heiraten die beiden. Die Feier ist übrigens in der Südsteiermark in Gamlitz. Wir sind alle da. Willst nicht … Na ja, nein, das war jetzt wohl das falsche Timing für eine Hochzeitseinladung. Sorry. Ich hab daheim schon einen ganzen Geschirrschrank voll mit meinen Fettnäpfchen.«
Der Kellner, der zum Kassieren kommt, rettet Lammer. Doch Martin lacht nur ganz kurz auf. Er hat ihn immer gemocht, den Grazer Oberst. Und es tut ihm leid, dass er sich nicht mehr bei ihm gemeldet hat. »Vielleicht schau ich während meines Fluchturlaubs einmal bei euch in Graz vorbei. Seid ihr noch am Paulustor?«
»Nein, inzwischen sind wir auch nach Straßgang übersiedelt. Schluss mit Sonderbehandlung. Die Kollegen würden sich über deinen Besuch sicher freuen. Und wenn du eventuell in Graz übernachtest, gemma gemeinsam in ein 20Jazzkonzert. Aber jetzt erhol dich einmal von deiner Hochzeitskatastrophe.« Er klopft Martin auf die Schulter, legt ihm noch seine Visitenkarte hin und ist weg.
Martin bestellt noch einen Kaffee und holt sein Telefon raus, um endlich alle Nachrichten zu checken. Kein Aufschub mehr, da muss er jetzt durch!
Die erste Nachricht stammt von seiner Mutter Lotte. »Um Gottes willen! Was ist dir denn passiert?«, kreischt sie ins Telefon. Dann noch dreimal: »Bist du schwer verletzt?« – »Melde dich endlich!!« – »Oder wirst du grad operiert?« – Anruf Nummer vier: »Wir kommen!«
Nachricht eins von Romana: »Klinik? Womöglich Unfallklinik? Na, dann muss es dich ja arg erwischt haben.« – Gleich danach: »Kannst nicht telefonieren, Bub? Bist bandagiert? Wir sind in größter Sorge.« – Schließlich: »Wir wissen gar nichts. Uns sagt ja keiner was. Die Rosie war so echauffiert und ist nach der Hochzeitsstornierung gleich abgerauscht.«
Dann Fassl, aufgeregt: »Ja, Martin, was ist denn los? Die Rosie hat uns nur gesagt, du hattest einen Unfall und bist in einer Klinik. Daher muss die Hochzeit verschoben werden. Wenn du kannst, melde dich. Die Rosie ist jetzt auch nicht mehr erreichbar.«
Jetzt ist Martin alles klar. Rosie hat die Hochzeit mit der Begründung abgesagt, er habe auf dem Weg dorthin einen Unfall gehabt und sei nun verletzt im Spital. Wie clever von ihr! Sie hat ihn erst einmal vor den Vorwürfen von Lotte und Co. gerettet. Und sich selbst eine Riesenpeinlichkeit erspart. Irgendwann werden Nachfragen kommen, doch zunächst hat sie die Blamage abgewehrt. Er wählt Rosie zum x-ten Mal an. Wie immer kommt die Ansage: »Diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
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Martin gibt auf, steckt das Handy ein und verlässt die Raststation. Den durch den Unfall verbeulten Käfer kann er ja in der Südsteiermark richten lassen, dort sind die Werkstattpreise vielleicht auch nicht so hoch wie in Wien. Etwas weniger deprimiert und kaffeegestärkt macht er sich wieder auf den Weg nach Glanz.
Er wird Rosie nach seiner Ankunft vielleicht einen Brief schreiben, wie Lammer ihm geraten hat. Ein Brief ist grundsätzlicher als SMS oder WhatsApp. Das ist das Mindeste, was sie verdient hat, diese großartige Frau. Auch wenn er sie trotzdem nicht heiraten will. Rosie wird es verstehen. Er ist einfach kein Mann für die Ehe.
Erinnerungen werden wach, als Martin hinter Leibnitz von der Autobahn abfährt und sein Auto langsam die Weinstraße entlangkutschiert. Erinnerungen an Gigi, mit der er vor drei Jahren hier war. Nur einen Tag – und eine Nacht. Keine so gute Idee, diese Nacht. Mit Gigi war es ja nur Freundschaft plus, aber sogar diese Freundschaft hat er vergeigt und sich nie mehr gemeldet. Offenbar ist er nicht einmal zu freundschaftlichen Beziehungen imstande.
Martin Glück und die Frauen – eine Tragikomödie in mehreren Akten. Zum Beispiel Larissa, seine Geschiedene. Okay, sie war die falsche Wahl, hat sich im Lauf der Ehejahre auch extrem verändert. Woran er vielleicht mit schuld war. Die Sache mit dem Kind damals, das sie verlor. Von da an war sie eine andere. Eine unerträgliche andere. Na ja, jetzt dürfte sie mit ihrem Anwalt doch noch das Glück gefunden haben. Dann kam Lily. Am Wörthersee. Sie hätte die Richtige sein können. Auch das hat er vermasselt, weil 22er zu keiner engeren Bindung fähig war. Was heißt fähig? Er konnte sich nicht dazu entschließen. Hatte Angst nach dem ganzen Desaster mit Larissa. Später oder fast gleichzeitig in Graz die Gigi. Aus der Freundschaft hätte schon eine Liebe werden können. Doch es war der falsche Zeitpunkt. Für beide. Ist es nicht oft so mit der Liebe? Entweder trifft man die Richtige zur falschen Zeit oder die Falsche zur richtigen Zeit. Schließlich Caro in Salzburg. Das war eine Tragödie, an der er ausnahmsweise nicht schuld war. Und dann Rosie. Gerade als er mit den Gedanken bei seiner verschmähten Braut ist, summt sein Handy, das neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt. Eine WhatsApp von ihr. Endlich! Er lenkt den Käfer an den Straßenrand und bleibt stehen, um die Nachricht zu lesen. Nur ein Foto. Es zeigt einen Galgen.
Martin ist geschockt. So eine dramatische Drohung! Dann die nächste Botschaft: Das wirst du büßen! Und gleich noch eine weitere: Ich werde dich finden, worauf du Gift nehmen kannst!
Er klickt die Nachrichten weg und fährt langsam weiter. Während er den Käfer hügelauf, hügelab lenkt und zwischen Weingärten enge, kurvige Straßen entlangfährt, hat er keinen Blick für die sanft geschwungenen Weinhügel, für herbstlich gefärbte Wälder, idyllische Obstgärten und Wiesen. Er denkt nur an eines: Ist es ihre erste Wut oder meint Rosie es ernst? Er fährt mit einem Seitenblick auf das Handydisplay im Schritttempo weiter, und gerade, als er die Ortstafel von Glanz passiert, glaubt er Boris zu sehen, wie der in einen schwarzen Range Rover steigt. Boris, Rosies Bodyguard, Chauffeur und Mann für alles. Was macht Boris hier? Hat er Rosie hergefahren? Sind sie hinter ihm her? Woher weiß sie … Blödsinn, schilt er sich. Jetzt hab ich schon Hirngespinste. Boris ist in Kitzbühel und Rosie 23in Wien. Und trotz der Drohnachrichten ist sie kein Racheengel, sondern immer noch seine alte und neue Rosie, die mit den Schinkenfleckerln und Palatschinken. Sie ist zutiefst verletzt und reagiert entsprechend. Rosie neigte schon immer zu Übertreibungen.
Angekommen! Das Haus, von dem Kathi Fuchs gesprochen hat, ist ein wunderbares Winzerhäuschen mit kleinen Fenstern, eingebettet in einen blühenden Garten. Martin steigt aus, holt den Bordkoffer aus dem Kofferraum und geht zum Haustor. Er kann sich gut vorstellen, hier ein paar Tage zu bleiben. Als er durch den Garten ums Haus streift, ist er beeindruckt von dem Blick. Über den Hügeln liegt noch feiner Nebel, die Weingärten zeichnen sich aber schon ab. Man sieht trotz der Nebelschwaden bis nach Slowenien. Jedenfalls nimmt er an, dass die Hügel auf der anderen Straßenseite in Slowenien liegen. Kurz vergisst Martin seine Sorgen und freut sich an dem Anblick. Wie schön die Welt sein kann!
Vor dem Gartenhaus hebt er den besagten Stein auf und findet darunter den Schlüssel. Er geht zurück zum Haus, sperrt auf, rollt seinen kleinen Koffer in einen gemütlichen Vorraum mit altem Bauernkasten und einer bemalten Truhe. Neugierig beschließt er, eine kurze Runde durch die Zimmer im Erdgeschoss zu drehen, bevor er in den Oberstock zu seinem Gästezimmer geht. Gemütlich eingerichtet mit antiken Bauernmöbeln, aber wegen der kleinen Fenster eher dunkel. Das war früher so gewollt, weil ein Raum mit kleinen Fenstern leichter zu heizen war. Dreifachvergla-sung, Thermofenster und ähnliche Errungenschaften gab es damals ja nicht. Wohnzimmer, einst Stube genannt, und Esszimmer gehen ineinander über. Der Esstisch, ein alter quadratischer Jogltisch mit Sitzbank und zwei gemütlichen 24Korbsesseln, ist teilweise vom grünen Kachelofen verdeckt. Als Martin einen Blick hinter den Ofen wirft, erschrickt er. Am Jogltisch sitzt oder vielmehr schläft ein Mann, Arme und Kopf auf dem Tisch. Nackter Oberkörper, auf dem Boden liegt ein weißes Hemd.
»Entschuldigung, ich bin …« Er berührt den Fremden sanft an der Schulter. Der Kopf fällt zur Seite. Martin tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Er weiß, dass dieser Mann nicht schläft. Er ist tot.
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»Des ano«, sagt Martin Glück und setzt sich auf die Bank gegenüber der Leiche.
Es sieht immer noch so aus, als ob der Mann schläft. Und er kommt ihm irgendwie bekannt vor. Martin starrt den Toten an, bis er weiß, warum: Er sieht ihm ähnlich, zumindest für den oberflächlichen Betrachter. Vom Alter her und von der Statur, und er hat die gleiche dunkle Haarfarbe, nur ein bisserl kürzer geschnitten. Beim Gesicht hört die Ähnlichkeit schon auf. Die Nase kleiner, der Mund voller. Kein schlecht aussehender Mann, nur halt tot. Äußere Verletzungen, Stich- oder Schusswunden kann Martin nicht feststellen. Vielleicht war es ein Herzinfarkt? Oder ein Hirnschlag? Aber was zum Teufel machte der Mann im Winzerhaus von Katharina Fuchs? Und warum liegt sein Hemd auf dem Fußboden?
Martin ist schon klar, dass er hier nicht ewig sitzen und die Leiche anstarren kann. Wer ist hier zuständig? Er als Wiener Polizist ganz sicher nicht. Martin ruft Oberst Lammer an. Und der geht sogar ran und holt erst einmal tief Luft, als Martin ihm von seinem Fund berichtet. Dann sagt er: »Stich- oder Schusswunden? Nein? Also wenn’s eine gewöhnliche Leich ist, dann ist erst einmal der Amtsarzt zuständig, aber wenn du Zweifel hast, die Polizei in Leutschach. Wir kommen ja nur bei Kapitalverbrechen zum Zug. Frag nach Melania Löss, die Bezirksinspektorin ist auf Zack, ich hab sie schließlich ausgebildet. Aber erschrick nicht, wenn du sie siehst.« Damit beendet er das Gespräch, bevor Martin fragen kann, wie er diesen letzten Satz gemeint hat.
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Er wartet auf die Frau, die ihn erschrecken könnte, schaut sich in der Stube um und findet eine Tafel Zotter-Schokola-de. Draußen im Garten stillt er erst einmal seinen Hunger damit. Sitzt auf der Holzbank hinter dem Haus und hält sein Gesicht der Sonne entgegen. In Wien war schlechtes Wetter, doch hier kündigt sich bereits ein warmer Herbsttag an. Die Südsteiermark ist ja fast schon Italien, und mancherorts sieht es aus wie in der Toskana. Es könnte so schön sein, wenn nicht …
Martin ist eingeschlafen, als er von quietschenden Bremsen geweckt wird. Klingeln an der Haustür. Er schreckt hoch und geht ums Haus herum an die Eingangstür. Er hat ein paar Schritte, bis er vor ihr steht, und die reichen aus, um sein Gesicht unter Kontrolle zu bringen. Sie ist sehr, sehr groß. Er schätzt Melania Löss auf zwei Meter, und obwohl er nicht klein ist, fühlt er sich auf einmal zwergenhaft. Sie ist kräftig gebaut, muskulös, mit weißblonden, kurz geschnittenen Haaren. Eine Riesin. Dreißig vielleicht. Schwer zu schätzen.
»Sie haben angerufen«, sagt Melania mit überraschend zarter Stimme. »Wo bitte ist die Leich?«
»Im Haus. Grüß Gott, Inspektorin Löss. Ich bin Chefinspektor Martin Glück aus Wien. Aber hier in privater Mission.«