Gnadenhochzeit - Artur Kilian Vogel - E-Book

Gnadenhochzeit E-Book

Artur Kilian Vogel

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Beschreibung

«Ich kann mir das Theaterstück bereits vorstellen, das zwischen dem Esszimmer, den Salons, der Veranda und den Rasenflächen dieses Herrenhauses aufgeführt werden wird: eine Aufführung, die manchmal ins Komödiantische, manchmal ins Dramatische abdriften wird und in welcher sich die Privilegierten ungewollt in gewöhnliche Menschen mit Schwächen und Stärken, Lastern und Tugenden verwandeln und die Ausgestoßenen endlich Gnade finden werden.» Sommer 1984. In Genf trifft sich eine große Sippe zur Feier eines siebzigsten Hochzeitstages. Kinder und Enkel sind aus der Waadt, dem Wallis, aus Bern, Luzern, Baden und der Ostschweiz, aus Frankreich und Schottland angereist. Man speist miteinander, gerät ins Erzählen – und je weiter der Tag fortschreitet, umso mehr gut gehütete Geheimnisse kommen ans Tageslicht. Ein Mitglied der Familie, der Anwalt Emmanuel Stierli, tritt als Erzähler auf. Seine spannende, detailreiche Geschichte der Familien Corbaz, Stierli und de Blanchard hat nicht einen überraschenden Schluss, sondern gleich deren zwei.

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Seitenzahl: 370

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© Copyright 2022 by Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-03951-006-1

eISBN: 978-3-03951-016-0

ARTUR KILIAN VOGEL

Gnadenhochzeit

Eine Familiensaga aus der Schweiz

Das Wort «Familienbande» hat einenBeigeschmack von Wahrheit.

Karl Kraus

You have to work out where your place is.And who you are. But we’re all spirit.That’s all we are, we’re just walking dressedup in a suit of skin, and we’re going to leavethat behind.

Bob Dylan

Inhalt

Prolog

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Epilog

Nachwort

Mein Dank

Stammbaum

Tischordnung

Prolog

14. Juli 2014 Am gestrigen Sonntag gewann die deutsche Nationalmannschaft in Rio de Janeiro im Endspiel gegen Argentinien die Fußballweltmeisterschaft. Und in Genf starb Marc-André Stierli, mein älterer Bruder.

Wenn der Bruder stirbt, zu dem man trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe ein spezielles Verhältnis hat, wird einem die eigene Endlichkeit drastisch vor Augen geführt. Marc-André war erst zweiundsiebzig. Kein Alter zum Sterben heutzutage, da uns die Medizin ein fast ewiges Leben verspricht. Seine Existenz hatte er der Geldvermehrung gewidmet, Investieren, Spekulieren, Akquirieren, Liquidieren. Er kümmerte sich wenig um die Familie, fiel durch keine Eskapaden auf, keine Geliebte, keine Veruntreuung von Kundengeldern, keinen Hang zu Glücksspielen, Alkohol, Drogen oder Rotlichtvierteln. Zu Exzessen neigte er höchstens bei der Anschaffung schneller Automobile sowie englischer Maßanzüge – und beim schrankenlosen Konsum von Zigaretten. Wobei er, bis es zu spät war, stets beteuerte, jederzeit mit dem Paffen aufhören zu können, wenn er es denn wollte. Zwar wusste ich, dass Marc-André an Lungenkrebs litt, an einem Bronchialkarzinom im fortgeschrittenen Stadium, aber so nah waren wir uns nicht mehr, als dass er mich in seine Selbstmordabsichten eingeweiht hätte.

Am Freitagmorgen vertrat Marc-André noch die Interessen der Genfer Privatbanken vor der Eidgenössischen Bankenkommission in Bern. Am Nachmittag hatte er einen Termin beim Onkologen in einer Genfer Privatklinik, der ihm taktvoll eröffnete, dass weder die Entfernung des einen Lungenflügels noch die anderen Therapien den Krebs daran gehindert hatten, neue Metastasen zu bilden. Marc-André hatte zeitweise so starke Schmerzen, dass er nur mit Morphium dagegen ankam, ein Stoff, den er hasste, «weil ich die Kontrolle verliere, wenn ich ihn einnehme». Kontrollverlust war das Schlimmste, was sich mein Bruder vorstellen konnte.

Am Samstagabend dinierten die beiden in einem edlen Restaurant, nachdem Marc-André nochmals alle relevanten Papiere gesichtet hatte. Gestern machte er mit Eléonore einen langen Spaziergang am See; am späten Nachmittag starb er an einem Medikamentencocktail. Ein befreundeter Arzt hatte ihm die Substanzen verschrieben.

«Als ich neben deinem Bruder auf dem Sofa saß – stell dir vor! Er rauchte eine Zigarette und trank einen Single Malt in kleinen Schlucken, schwenkte das Glas und betrachtete lange das Getränk. Er umarmte mich. Dann leerte er den Wasserbecher mit den Substanzen in einem Zug und schlief ohne Schmerzen ein. Sofort», erzählte mir Eléonore am späten Abend am Telefon. Fast hätte ich es klingeln lassen; der Anruf kam mitten in der Übertragung des Fußballspiels. Allerdings habe sie danach mit einer jungen, übereifrigen Staatsanwältin Scherereien gehabt, die nach dem Anruf bei der Polizei mit zwei uniformierten Beamten auftauchte. «Sie äußerte den Verdacht, ich hätte meinen Mann vergiftet. Wirklich impertinent, diese jungen Streber! Gott sei Dank konnte ich Marc-Andrés Abschiedsbrief vorlegen, den er für alle Fälle sogar notariell hatte beglaubigen lassen. Durchorganisiert bis in den Tod, dein Bruder. Du kennst ihn. Ich meine, du kanntest ihn.»

Der Verdacht der Staatsanwältin war unbegründet, aber begreiflich. Schließlich ist Eléonore bis zu ihrem eigenen Ableben Nutznießerin des Mehrheitsanteils, den Marc-André an der Privatbank Golbet & Stierli hielt, deren Mitgründer, Präsident und Generaldirektor er war. Wie viel Geld das wirklich ist, weiß sie nicht genau. Aber es ist viel. So viel, dass Eléonore fürchtet, eines Tages auf die Liste der dreihundert reichsten Schweizerinnen und Schweizer zu geraten.

Eléonore bat mich, Mutter in Siders zu informieren; sie wusste, dass ich mit Irina ein paar Tage in unserem Chalet in Vercorin verbrachte, das nur zwanzig Autominuten entfernt liegt. Mutter geht auf die siebenundneunzig zu, ist geistig präsent und körperlich in besserer Verfassung als viele Jüngere. Aber seit Vater gestorben ist – schon achtundzwanzig Jahre ist das her; unglaublich! – seit Vaters Tod geht sie das Leben nicht mehr so heiter an; man musste ihr schlechte Nachrichten schonend beibringen. Ich bot ihr an, die Nacht bei ihr an der Rue du Bourg zu verbringen, aber sie lehnte ab.

Jetzt bin ich zurück in Bern und habe mir vorgenommen, endlich die Chronik unserer Familien niederzuschreiben, welche die Deutschschweizer Stierli, die Familie meines Vaters, mit den welschen Corbaz meiner Mutter verknüpft. Obwohl wir in der Verwandtschaft einen Historiker und eine Historikerin haben, hat man diese Aufgabe stillschweigend mir zugehalten. Ich besitze die Tagebücher meines Großvaters mütterlicherseits, Henri Corbaz. Ich besitze auch einige Papiere meiner Urgroßmutter Henriette, Henris Mutter. Diese fand ich in einem antiken Sekretär, den ich geerbt hatte. Und vor allem hat mir Onkel Otto den famosen Überseekoffer überlassen. Er stand einst auf dem Dachboden meiner Großmutter väterlicherseits im Berner Oberland, Elise Stierli, geborene Brawand, die ein ungeordnetes Sammelsurium von Notizen, Aufzeichnungen, Zeitungsausschnitten, Plänen und Briefen hinterließ.

Ich habe seit jenem Samstag im Juni 1984, da wir in Marc-Andrés Bank den denkwürdigen siebzigsten Hochzeitstag von Großvater Henri Corbaz und Großmutter Gabrielle de Blanchard feierten – ihre Gnadenhochzeit oder auch Platinhochzeit, wie man den seltenen Anlass offenbar nennt –, auch mit einigen Verwandten lange Gespräche geführt. Was ich hier niederschreibe, dürfte also einigermaßen akkurat sein.

Teil 1

Das Jubiläum

23. Juni 1984 Das schwere Tor mit den Spitzen, die wie goldene Speere in der Sonne blinken, der Park mit sorgfältig angelegten Blumenbeeten und makellosen Rasenflächen, das Haus aus Sandstein und Kalk – alles trägt bei zur zurückhaltenden und doch luxuriösen Atmosphäre. Langsam fahre ich mit Griselda im neuen flaschengrünen Mercedes auf dem Kiesweg die Einfahrt hinauf. Noch eine kleine Kurve, und wir stehen in der Vorfahrt vor der Freitreppe. Marc-André eilt herbei, gefolgt von einem Butler in gelb-schwarz gestreifter Weste.

«Willkommen, willkommen!», ruft mein Bruder und rudert mit den Armen. «So eine Freude! Kommt, kommt! Lass den Autoschlüssel stecken!», fordert er mich auf. «Monsieur Jordan wird das Auto in der Tiefgarage parken.»

Als Mitgründer und Teilhaber der Privatbank Golbet & Stierli empfängt Marc-André unsere Familie am Hauptsitz des Geldinstitutes, einer eleganten und diskreten Villa auf dem Plateau von Champel im Herzen der Stadt Genf. Wir steigen aus, wir umarmen einander. Tadellos sieht er aus, mein Bruder. Aber er hat gerade geraucht; ich rieche seinen Atem, während ich das edle Tuch seines grauen Bankeranzugs befühle. Bestimmt hat er ihn an der Savile Row in London anfertigen lassen. Eléonore, in einem hellen, langen, eng anliegenden Kleid, kommt lebhaft auf uns zu.

«Welch eine Freude! Man muss aus der Deutschschweiz anreisen, um pünktlich zu sein», gurrt sie. Manchmal sage ich mir, dass meine mondäne Schwägerin wirklich meint, was sie deklamiert. Bevor sie einen Banquier heiratete, war sie Krankenschwester. Sie hat sich perfekt angepasst, das kann man wohl sagen.

«Wir haben die Kinder in Bern gelassen», sagt Griselda. «Dank der neuen Autobahn sind wir so schnell hier, es ist unglaublich.»

Griselda, ganz die sportliche Deutschschweizerin, wird dem Anlass mit harmlosem Geplapper gerecht, fein gewürzt mit ihrem köstlichen Luzerner Akzent. Eléonore, die Hohepriesterin der höfischen Sitten, schätzt das und führt Griselda mit einer schwesterlichen Geste nach drinnen. Sie wolle ihr zeigen, wie sie die Gäste am Tisch zu platzieren gedenke, sagt sie. «Wir sind vierundzwanzig …», höre ich noch, bevor sich die Stimmen im Haus verlieren.

Der Himmel ist wolkenlos, und die Geräusche der Stadt dringen nicht bis hierher. Alles atmet Ruhe, Maß, Kontrolle, Beherrschung im Epizentrum der protestantischen Bankenwelt.

Marc-André steckt diskret eine weitere Zigarette an. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, alle Ankommenden auf der Freitreppe willkommen zu heißen.

Ich kann mir das Theaterstück bereits vorstellen, das zwischen dem Esszimmer, den Salons, der Veranda und den Rasenflächen dieses Herrenhauses aufgeführt werden wird: eine Aufführung, die manchmal ins Komödiantische, manchmal ins Dramatische abdriften wird und in welcher sich die Privilegierten ungewollt in gewöhnliche Menschen mit Schwächen und Stärken, Lastern und Tugenden verwandeln und die Ausgestoßenen endlich Gnade finden werden.

Im hinteren Teil des Parks reißt mich das Geräusch eines Autos aus meiner Träumerei; Marc-André hat zwischen den Bäumen den imposanten Wagen der Jubilare erblickt; er drückt hastig seine Zigarette aus. «Bleib bei mir! Du musst Großvater aus dem Auto helfen», sagt er.

«Erinnere mich daran, wer kommt», antworte ich.

«Wir erwarten vierundzwanzig Leute. Auch Onkel Louis und Tante Ghislaine haben zugesagt. Ronald und Elizabeth sind am Donnerstag aus Schottland eingetroffen. Wir haben ihnen eine Unterkunft in der Stadt besorgt. Horace und Heidi bringen Tante Sidonie mit, aber ob Claudia und Alexandre schon in Genf sind, weiß ich nicht. Papa und Mama kommen direkt mit dem Zug aus Siders, Gérald und Lisette holen sie am Bahnhof Cornavin ab. Wer noch? Ah ja, die vier Bourdillon.»

Marc-André bilanziert wie ein Börsenmakler, aber meine Frage, wo er Papa hinsetzen will, hat er überhört. Die Großeltern Corbaz haben die Liaison ihrer Tochter Anne – meiner, Lisettes und Marc-Andrés Mutter – mit unserem Vater nie akzeptiert. Sie schneiden ihn seit fast fünfundvierzig Jahren, haben ihn nie eingeladen, weder in ihr Haus in der Stadt noch auf ihren Landsitz.

Hier sind Jubilarin und Jubilar. Das lange cremefarbene Automobil scheint über die Einfahrt zu schweben, hält mit einem diskreten Knirschen der Reifen auf dem Kies in der Mitte der Freitreppe an. Die Limousine ist fast dreißig Jahre alt und macht Eindruck. Großvater erwarb den Mercedes-Benz im Jahr 1955. Man nannte das Auto «Adenauer-Mercedes» nach dem ersten Bundeskanzler; es symbolisierte die Bonner Republik und das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Krieg. Die Boches, obwohl sie den Krieg verloren hatten, bauten auf ihren Schutthalden Wunderwerke, während die Franzosen und Engländer noch Coupons für ihre Brot- und Butterrationen schnitten, hieß es damals. In den ersten Jahren fuhr Henri das Ungetüm selbst; aber seit den Neunzehnsechzigern hat er es vorgezogen, hinten zu sitzen und seinen Angestellten die Arbeit machen zu lassen. Dieser, Kammerdiener, Gärtner, Fahrer und Mädchen für alles, heißt José; wie seine Frau, die ebenfalls für Henri und Gabrielle arbeitet, stammt er aus einem Dorf im rauen spanischen Galicien.

Marc-André eilt zur hinteren Tür der Limousine, während José Großvaters Rollstuhl aus dem Kofferraum hievt. Ich gehe um die lange Karosse herum und nähere mich Großmutter, die ihren Fuß vorsichtig auf den Boden gesetzt hat.

«Emmanuel, mein Lieber, gut bist du hier. Hilf mir! Dein Großvater ist viel zu alt, um mich zu stützen. Ist deine Mutter angekommen?»

Wie üblich stellt sie eine Frage nach der anderen, ohne dem Gegenüber jemals Zeit für eine Antwort zu lassen. Oder sie antwortet selbst, bevor sie zur nächsten Frage übergeht.

«Guten Tag, Grand-Maman, lass mich deinen Stock nehmen und stütze dich dann auf meinen Arm! Ich nehme deinen Schal mit; er könnte am späteren Nachmittag nützlich werden.»

Mit kleinen Schritten schließen wir uns Marc-André an, der gerade Großvater auf seinem Stuhl installiert hat. José will den Mercedes selbst in die Tiefgarage fahren; kein Fremder soll die königliche Karosse berühren. Monsieur Jordan steht da und schwenkt die Arme, als wir ins Haus gelangen, den Flur durchqueren, den großen Salon betreten. Elizabeth und Ronald stürzen herein, begrüßen uns eindringlich und feierlich, sie in manieriertem Französisch, er auf Englisch. Meine schottischen Cousins wirken, als wären sie aus der Zeit gefallen.

Griselda und meine Schwägerin umflattern die Neuankömmlinge. «Guten Tag, guten Tag», rufen sie im Chor.

«Das Wetter ist so schön, dass wir vor dem Essen noch ein Weilchen in den Garten gehen könnten. Großvater, du hast deine Pfeife bestimmt nicht vergessen», fügt Eléonore hinzu.

«Ja, genauso ist es geplant», wirft mein Bruder ein. «Wir werden uns um halb eins zum Mittagessen hinsetzen.»

Ich gehe mit ihm hinaus, um auf die nächste Gruppe zu warten. Drei Fahrzeuge, darunter ein Taxi, knirschen gleichzeitig die Auffahrt hinauf. Marc-André hat es geschafft, sich eine neue Zigarette anzuzünden; er kann es kaum erwarten, den Rauch tief zu inhalieren. Ich schaue ihn an: makellose Silhouette, scharf geschnittenes Gesicht, markanter Kiefer, manikürte Hände, teurer Ehering. Unter der linken Manschette des Popeline-Hemdes, zusammengehalten von auffälligen Manschettenknöpfen, kann ich das Weißgold einer mechanischen Patek Philippe erahnen.

Das Taxi stoppt; mein Onkel und Schwiegervater springt heraus, Doktor Otto von Sury. Ja, richtig gelesen. Otto ist tatsächlich sowohl mein Onkel als auch mein Schwiegervater: Zusammen mit seiner Frau, meiner Tante Barbara, hat er Griselda nach ihrer Geburt 1953 adoptiert. So habe ich 1972 eine unechte Cousine geheiratet, was einen Teil unserer Bekannten allerdings nicht daran hinderte, sich zu wilden Spekulationen über unsere angeblich inzestuöse Verbindung hinreißen zu lassen. Otto ist siebzig Jahre alt. Er hat den Tod seiner Frau überwunden. Nach Barbaras Unfall kurz nach meiner Heirat mit Griselda praktizierte er noch einige Jahre, bevor er zuerst die Tätigkeit im Spital und später auch die Privatpraxis aufgab. Seither führt er ein zurückgezogenes Leben in Luzern, wenn er nicht gerade auf Reisen ist, und besucht uns von Zeit zu Zeit in Bern. Griselda hofft, er werde eine neue Frau kennenlernen, um mit ihr seinen Lebensabend verbringen zu können, aber Otto scheint immun gegen Avancen. Zu uns war er immer großzügig: Nachdem er die Villa in Luzern sehr gut verkauft hatte, überließ er uns fast eine Million Franken und eröffnete bei der Geburt jedes unserer Kinder ein substanzielles Sparkonto.

«Otto, was für eine Freude!», sagt Marc-André, der mir vorausgegangen ist.

«Salü Marc-André, alles in Ordnung! Ich hatte eine tolle Reise von Luzern. Es ist jedes Mal ein unglaublicher Moment am Ausgang des Tunnels von Chexbres, wenn der Zug oben im Lavaux ankommt und sich die Weinberge und der See den Blicken öffnen», erzählt mein Schwiegervater in seinem ausgezeichneten Français fédéral.

«Hey Emmanuel», ruft er, als er mich sieht. «Habt ihr eine Lösung für die Kinder gefunden?»

Tatsächlich waren die Urenkel heute nicht eingeladen. Meine Mutter und Tante Gisèle wollten Henri und Gabrielle Corbaz nicht ein Dutzend braune und blonde zappelige Bengel zumuten, die den ganzen Tag fröhlich durcheinandergebracht hätten.

«Ja, Romain und Michelle sind am Samstag bei den Pfadfindern, und Dominique haben wir für den Tag bei Nachbarn untergebracht. Wir werden sie alle heute Abend wiedersehen.»

In diesem Augenblick kommen mein Großonkel Louis de Blanchard und seine muntere Gattin Ghislaine de Blanchard-d’Estivelle an. Sie werden bestimmt dazu beitragen, Spannungen abzubauen, sage ich mir. Im Gegensatz zu Henri und Gabrielle Corbaz haben sie meinen Vater mehrmals freundschaftlich in ihrem Haus in Moiry aufgenommen. Als Generalstabsoffizier versuchte mein Großonkel während seiner gesamten Laufbahn, eine martialische und strenge Allüre an den Tag zu legen. Aber er hat nicht viele Leute zum Narren gehalten; sobald er den Mund aufmacht, versteht man, dass man es mit einem Mann von gesundem Menschenverstand zu tun hat, der zwar Gewohnheiten, Vorschriften und Richtlinien respektiert, aber auch darauf bedacht ist, dass jeder auf seine Rechnung kommt.

«Aber was für eine Überraschung!», ruft Ghislaine, als sie würdevoll aus einem kleinen dunkelgrünen englischen Kombi steigt. Im Alter von fünfundsiebzig Jahren wirkt die Erbin der Privatbank d’Estivelle frisch; sie macht ein paar Tanzschritte, bevor sie sich mir um den Hals hängt. Sie riecht gut, ein Parfüm, das diskret und einnehmend zugleich ist. Ein Duft, der mich an die Vergangenheit dieser privilegierten Frau erinnert: Sie folgte ihrem ersten Mann nach Asien, sie genoss ein Leben in Saus und Braus in den britischen Kolonien; sie lebte auf riesigen Plantagen, in prunkvollen Häusern, wurde von Horden von Dienern bedient. Und doch ist sie spontan geblieben, fähig, mit einer Putzfrau ebenso zu plaudern wie mit ihrem Freund Charlie Chaplin, den sie regelmäßig trifft.

«Emmanuel, wie geht es dir? Und Griselda? Und den Kindern? Kommt doch wieder mal für ein Wochenende nach Moiry! Wir haben ein großes Schwimmbecken bauen lassen; es wäre schön, euch bei uns zu haben.»

«Mit Vergnügen», antworte ich, und das ist keine leere Floskel. Wir würden uns wirklich freuen, ein paar Tage in ihrem prächtigen Haus zu verbringen. Der riesige Wohnsitz unter dem Salève strahlt Ruhe aus; der Park verläuft entlang der französischen Grenze; die Zeit scheint dort stehen geblieben zu sein.

«Hallo Onkel Louis, herzlich willkommen. Komm rein, komm rein! Die anderen sind schon im Garten. Aber keine Sorge! Ihr seid nicht die Letzten. Wir sehen uns später; ich warte noch hier.»

Als ich zu Marc-André zurückgehe, zerreißt ein Hupen den Frieden des Vormittags. Unsere Cousins aus Grenoble fahren in einem großen schwarzen Peugeot vor. «Wir sind es, wir sind es!», ruft Camille, die das hintere Fenster heruntergelassen hat, aus voller Kehle.

Die jüngste Tochter von Claude und Gisèle Bourdillon hat gerade ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert. Das lebhafte, fröhliche Mädchen setzt sich selbstbewusst über die festgefahrene Logik seiner Eltern, seiner Tanten und Onkel, wenn nicht gar seiner älteren Cousins und Cousinen hinweg; Camille kann einen zurückhaltenden und strengen Ton auflegen, aber auch einen schelmischen und ungezwungenen. Ihr Vater betet sie an und verzeiht ihr alle Launen. Als Stütze des Rassemblement pour la République folgt er der politischen Linie von General de Gaulle. 1944 war Claude Bourdillon achtzehn Jahre alt und ließ sich von den alliierten Streitkräften rekrutieren – ein Abenteuer, das ihn bis zu Hitlers Adlerhorst in Berchtesgaden im bayerischen Obersalzberg führte. Seit seiner Heirat mit meiner gebildeten, aber überkorrekten Tante Gisèle spricht er kaum noch darüber. Hier ist sie gerade.

«Marc-André, Emmanuel, boooooonjuuur!», ruft sie und dehnt die Vokale, als ob die Us und Os länger bräuchten, um die Barriere ihrer Lippen zu überwinden. «Es ist eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wann kommt ihr uns endlich mal in unserem Haus im Süden besuchen?»

«Bald, bald», antwortet mein Bruder eifrig.

Hier sind meine Eltern, abgeholt am Bahnhof von meiner Schwester Lisette und meinem Schwager Gérald. Sie sitzen auf der mit beigem Leder bezogenen Rückbank eines nachtblauen großen BMW. Ich bin überzeugt, dass Gérald Moser die Bewunderung der ganzen Familie für dieses prächtige Fahrzeug erheischt.

«Hallo Emmanuel», sagt er und winkt mit der Hand durch das heruntergelassene Fenster. «Sind wir die Letzten?»

«Fast», erwidere ich. «Aber kein Problem, ihr seid noch im Zeitplan.»

Gérald übergibt Monsieur Jordan fast widerwillig die Autoschlüssel, während meine Mutter und meine Schwester in eine geheimnisvolle Konversation verstrickt sind. Ich verstehe vage, dass es um die Tischordnung für das Mittagessen geht, aber ich möchte mich nicht einmischen und kümmere mich stattdessen um Papa, der mühsam aus den Tiefen seines Sitzes klettert. Ich sage mir, dass dieser Nachmittag für ihn nicht einfach wird. Wie wird er sich gegenüber seinen Schwiegereltern verhalten? Wird er ihnen entspannt entgegentreten und so tun, als sei nichts geschehen? Wird er sich ihnen entziehen, sie ignorieren? Wird er sie demütigen, indem er sie daran erinnert, dass das angesehene Etablissement, in dem sie heute zu Mittag essen, seinem Sohn gehört, einem Nachkommen jener Deutschschweizer, die sie so verachten?

«Mach dir keine Sorge!», meint Papa, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. «Alles kommt gut.»

Ich bewundere meinen Vater in diesem Moment; ich mag seine Menschlichkeit, seine bedingungslose Freundlichkeit, seine Art, mit der Verachtung seiner Schwiegereltern umzugehen.

«Gisèle trifft Maman im kleinen Salon, um den Tischplan aufzustellen», sagt Lisette, die sich mit Gérald zu uns gesellt hat. «Ich schlage vor, wir gehen in den Garten.»

Ich erkläre ihr kurz meine Strategie. Ich möchte, dass Papa bei mir auf der Freitreppe bleibt, um die letzten Ankömmlinge zu begrüßen. Erst danach begleite ich ihn in den Garten. Ich will dabei sein, wenn er sich den Großeltern präsentiert, und ich möchte Maman auch dabeihaben. Meine Schwester stimmt zu und stürmt mit geblähten Segeln ins Haus.

«Also bleiben wir einfach hier?», fragt Vater.

«Nur für einen Moment. Schau, die letzten Corbaz treffen gerade ein. Wir begrüßen sie gemeinsam und gehen direkt nach ihnen in den Garten.»

Ich drehe den Kopf genau in dem Moment, da zwei Taxis vorfahren. Dem ersten entsteigt elegant Sidonie Corbaz, die Witwe meines Onkels Lucien.

«Walter, was für eine Freude», sagt sie.

Tante Sidonie scheint sich vom Tod ihres Mannes vor zwei Jahren erholt zu haben. Sie wirkt fröhlich und neugierig, gibt Papa einen Kuss auf beide Wangen. Wie Louis und Ghislaine hat sie meinen Vater nie geschnitten. Sie ist Onkel Lucien nach Baden im Aargau gefolgt und lebt seit vierzig Jahren in der Deutschschweiz. Ihre Kinder haben dort Familien gegründet und denken nicht daran, in die französischsprachige Schweiz umzuziehen. Diese, meine Cousins Horace und Alexandre, und ihre Frauen, sind im zweiten Taxi. Heidi Klopfenstein und Claudia Meili könnten Schwestern sein, doch Heidi kommt aus Spiez am Thunersee, Claudia aus dem Bergell am Ende des Bündnerlandes. Heidi hat vor etwa zehn Jahren ihren ersten Sohn Adrian durch plötzlichen Kindstod verloren, was erklären mag, wieso sie Alois und Caroline, die sie später bekam, allzu sehr behütet und beschützt. Alexandre und Claudia haben dreizehnjährige Zwillinge, Erich und Timo.

«Hereinspaziert, hereinspaziert!», ruft Marc-André in die Runde, froh, Tante Gisèle entkommen zu sein. «Emmanuel, bitte begleite Papa!»

Verpönte Liaison

Bevor ich mit der Erzählung jenes denkwürdigen Tages fort-fahre, will ich schildern, wieso Großvater Henri und Großmutter Gabrielle meinen Vater während mehr als vier Jahrzehnten mit Verachtung und Nichtbeachtung gestraft haben.

Walter Stierli und Anne Corbaz lernten sich im September 1940 kennen. Als Studentin an der Universität Lausanne engagierte sie sich mit siebzehntausend anderen Freiwilligen im militärischen Frauenhilfsdienst, dem FHD. Als emanzipierte Neunzehnjährige hatte sie schon 1937 ihre Fahrprüfung abgelegt. Dank ihrem Führerschein wurde Anne einer motorisierten Abteilung zugewiesen und dort als Fahrerin für schwere Nutzfahrzeuge ausgebildet. Danach erhielt sie den Befehl, sich nach Gwatt bei Thun zu begeben. Walter, mein zukünftiger Vater, war gerade zum Wachtmeister befördert worden und diente in derselben Ambulanzkolonne wie Anne. Er war vierunddreißig Jahre alt.

An einem Samstag im September, die meisten ihrer Kameraden sind im Urlaub, obwohl die Nazis gerade Frankreich erobert haben und um England eine Luftschlacht tobt, hat Anne einen freien Nachmittag. Sie will zum See hinunter und ins Städtchen Thun laufen. Kaum hat sie die Kaserne verlassen, trifft sie auf Wachtmeister Stierli, der auf einem Fahrrad dahergefahren kommt.

«Mademoiselle Corbaz», redet er sie in gutem Französisch, aber mit starkem schweizerdeutschem Akzent an. «Wohin des Weges?»

«In die Stadt, ich kenne diesen Ort überhaupt nicht», antwortet sie.

«Ich will auch dorthin. Setzten Sie sich hinten auf den Gepäckträger; wir fahren zusammen!»

Zu zweit auf dem Rad besichtigen sie Thun, das Schloss, das Rathaus, die hölzerne gedeckte Brücke über die Aare und die Schleusen mitten in der Altstadt, mit denen der Abfluss aus dem Thunersee reguliert wird. Die Studentin und der Elektriker verstehen einander sofort und duzen sich spontan. Auf dem Rückweg schiebt Walter mit der einen Hand das Fahrrad, mit der anderen weist er auf die Kulisse der verschneiten Gipfel und nennt der Reihe nach ihre Namen.

«Wir sind fast da. Danke für den wunderbaren Nachmittag. Wann sehen wir uns wieder?»

«Morgen Abend, Ausgang um neunzehn Uhr laut Tagesbefehl», antwortet sie mit strahlenden Augen.

Wie es weitergegangen ist, kann ich mir nur vorstellen. Am Sonntagabend gehen sie Hand in Hand; am Montag küssen sie sich zum ersten Mal; drei Tage später wird aus ihnen ein Liebespaar. Anne hat noch nie einen solchen Rausch erlebt. Auch Walter, der nur ganz kurz an Aquitanien und an die schöne, geschundene Maïté denkt, kommt sich ganz unschuldig vor.

In den folgenden Wochen geben sie sich ohne Scham diesen bisher unbekannten Freuden hin. Am Ende des Monats werden die Turteltauben aus dem Dienst entlassen. Beide kehren vorerst nach Hause zurück, er nach Wengen, sie nach Vevey. Im Oktober kuscheln sie in der Pension einer freundlichen Witwe in Bönigen am Brienzersee. Walter ist auf Arbeitssuche; Anne stellt gegen Ende Monat fest, dass sie schwanger ist. Noch am selben Abend ruft sie ihre Mutter an und berichtet von ihrer Situation. Grand-Maman Gabrielle fällt aus allen Wolken, fleht sie an, nachzudenken, und deutet an, dass es diskrete Kliniken gebe, die diese Art von Peinlichkeit aus der Welt schafften. Anne ist verwirrt; von ihrer strengen Mutter hätte sie keine fragwürdigen Vorschläge erwartet.

Am nächsten Tag ruft Anne ihren Vater an. Er ist bereit, mit Walter zu reden. Die beiden Männer vereinbaren, sich am 9. November um zehn Uhr am Bahnhof Freiburg zu treffen.

9. November 1940 Der Himmel ist grau, fast weiß; nasser Schnee fällt, als Grand-Papa Henri aus dem Zug steigt. Wie in einem Spionageroman hält er als Erkennungszeichen die «Gazette de Lausanne» in der Hand. Er hat Erkundigungen über die Familie Stierli und seinen potenziellen Schwiegersohn eingezogen und ob dem bescheidenen Vermögen der Berner Oberländer die Stirn gerunzelt. Diese Leute sind in keiner Weise Teil seiner Welt. Immerhin sehen sie respektabel und ehrlich aus, sagt er sich, als er die Buffettür aufstößt.

«Herr Corbaz, ich bin Walter Stierli», stellt sich Vater vor, der die Tür des Lokals überwacht hat.

«Bonjour Monsieur», antwortet Großvater kühl.

Sie sitzen an einem kleinen, runden Tisch. Um sie herum genehmigen sich die Stammgäste die ersten Schnäpse. Eine dicke Rauchwolke von billigen Zigarren mindert kaum den ranzigen Geruch, der durch das Lokal wabert. Ein Porträt des Generals hängt über dem Tresen. Der Boden ist dick mit Sägemehl belegt, um Feuchtigkeit aufzunehmen. Die Kellnerin wirkt müde, als sie ihre Bestellung aufnimmt. Als sie den Kaffee serviert, beginnt das Gespräch, das rasch in ein veritables Waterloo für meinen Vater ausmündet. Verunsichert durch alles, was Anne ihm über ihren Vater, den ehemaligen Banquier, erzählt hat, verrennt sich Papa in eine verrückte Lügengeschichte. Er beschönigt die Situation seiner Eltern, bekränzt sich selbst mit fiktiven Titeln, erfindet ein nicht existierendes Vermögen und gibt vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Henri Corbaz fragt gezielt und mit der Präzision eines Inquisitors nach, und Walter verstrickt sich in Widersprüche, stottert kläglich und redet wirr.

«Genug, Monsieur!», soll mein Großvater damals geschnaubt haben. «Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass Sie der Ehemann sind, den meine Tochter verdient. Leben Sie wohl!»

Vater reißt sich zusammen, geht zurück nach Bönigen und schildert Anne zerknirscht, was passiert ist. Diesmal lässt er das Lügen und berichtet detailliert über das Vorgefallene.

«Ich habe deinem Vater gesagt, ich sei Elektroingenieur. Darauf löcherte er mich mit Fragen über meine Ausbildung, meine Professoren, die Universitäten, die ich angeblich besucht habe, und ich musste schließlich zugeben, dass ich nur eine Lehre gemacht hatte.»

«Aber Walter, das hättest du nicht tun müssen. Und warum wurde er am Ende wütend?»

«Ich habe behauptet, ich besäße ein Bankportfolio. Da fragte er mich nach meinen Wertpapieren und meiner Anlagestrategie. Ich habe versucht, etwas zu erfinden, aber ich habe nur Unsinn erzählt, worauf sein Geduldsfaden gerissen ist.»

«Ist ja klar. Ich hätte dich warnen sollen. Aber warum hast du dich zu Lügen hinreißen lassen? Das wäre nicht nötig gewesen.»

«Ja, ich weiß, zu blöd. Ich wollte vor deinem Vater bestehen. Jetzt bin ich in seinen Augen ein krankhafter Lügner. Das tut mir so leid, Anne.»

«Ich vergebe dir, Liebster. Wir brauchen sie, ihr Geld und ihre Verbindungen nicht. Wir werden unsere Familie aus eigener Kraft gründen.»

Im Alter von dreiundzwanzig Jahren stürzt sich die junge Großbürgerin aus dem Waadtland bedenkenlos ins Abenteuer, zu glücklich, der üblichen konventionellen Ehe mit einem Anwalt, Arzt oder Banquier entgangen zu sein. Und der vierunddreißigjährige Berner, der so lang im Ausland war, hat nichts dagegen, wieder in der Schweiz ansässig zu werden. Sie treten an einem Freitag Ende November 1940 vor den Standesbeamten im Rathaus von Oberhofen am Thunersee. Zwei Freunde dienen als Zeugen. Am nächsten Tag reist das Paar nach Wengen, wo Walter Anne seiner Familie vorstellt. Großmutter Elise ist aus dem Häuschen und heißt die schöne, welsche Großbürgerin als neue Schwiegertochter herzlich willkommen. Am Sonntag fahren alle hinunter nach Lauterbrunnen zum Gottesdienst. Während des anschließenden Essens spürt Anne, wie ihre Schwiegermutter Elise die Familie zusammenzuhalten versucht, obwohl ihr Mann schon lange nicht mehr nach Wengen kommt und ihre Söhne Hans Christian und Hektor längst ausgeflogen sind. Walters jüngere Geschwister Barbara, Marianne und Gottfried schließen Anne sofort ins Herz; Verwandte und Nachbarn kommen, um sie freundlich zu begrüßen.

Deshalb wird Vater heute zum ersten Mal in fast vierundvierzig Jahren seine Schwiegereltern treffen, den alten Banquier Corbaz und dessen adlige Gattin Gabrielle.

«Verrückt, Papa», sage ich, «dass diese Bank Stierli heißt. Dabei ist das nicht einmal unser ursprünglicher Name.»

«Ja, stimmt.» Man sieht Vater seine achtundsiebzig Jahre nicht an; er könnte auch zehn Jahre jünger sein. Er schnauft nicht beim Gehen wie andere alte Männer, ist schlank geblieben, geht aufrecht, sein faltiges Gesicht ist braun gebrannt. Der altmodische dunkelblaue Anzug steht ihm gut; es könnte fast sein Hochzeitsanzug sein, wenn man nach den Schwarz-Weiß-Fotos von damals geht.

«Und es ist auch verrückt», fährt Vater fort, «wie weit es unsere Familie gebracht hat, wenn du bedenkst, dass dein Urgroßvater Rudolf unehelich geboren wurde. Dass er ursprünglich nicht einmal Stierli hieß, sondern Blaser, Rudolf Blaser. Dass seine Mutter Magd auf einem Hof war. Und dass sie erst 17 Jahre alt war, als sie Rüedu zur Welt brachte. Dass sie schizophren wurde und Jahre im Irrenhaus verbrachte.»

Vater und ich haben inzwischen den Rasen betreten, eine sorgfältig gepflegte Grünfläche, so kurz und dicht und akkurat gestutzt, dass unsere Schritte darauf federn. Mir ist bang. Wie wird der alte Corbaz reagieren, der steife Protestant mit dem gestärkten Hemdkragen? Wird er meinen Vater herrisch und von oben herab behandeln (obwohl er nicht mehr auf eigenen Beinen stehen kann)? Wird sich Vater wehren? Wird es einen Eklat geben? Oder wird Großvater seine steife Oberlippe bewahren, sich nichts anmerken lassen? So tun, als ob es diese vierundvierzig Jahre des Schweigens und der Missachtung nicht gegeben hätte? Und Großmama Gabrielle, diese stolze Frau, elegant und rigide? Wie wird sie auf meinen Vater reagieren, den man verächtlich den Paysan suisse-allemand genannt hat, als ob es eine Krankheit wäre, auf der anderen Seite des Saanegrabens aufgewachsen zu sein? Immerhin hat die Familie Stierli in der Person meines Bruders Marc-André die Banquier-Tradition nach Genf zurückgebracht, die meiner vornehmen welschen Verwandtschaft entglitten war, weil sie bequem wurde und keine frischen Ideen mehr hervorbrachte. Und immerhin trägt die Bank unseren Namen, Stierli, und nicht den von Corbaz oder de Blanchard oder de Chailly.

Mitten im Park ist ein weißes Stoffzelt aufgeschlagen, und eine junge, grazile Frau in einer weißen Bluse und schwarzem Jupe balanciert ein Silbertablett, auf dem sich Gläser mit Champagner, Weißwein, Orangensaft und Mineralwasser drängeln. Auf einem Tisch sind kleine Blätterteiggebäcke gestapelt und Mini-Sandwiches mit Lachs, Rohschinken und Camembert. Marc-André, der begnadete Zeremonienmeister, hat keinen Aufwand gescheut, um dieses Fest zu inszenieren, den siebzigsten Hochzeitstag unserer betagten Großeltern.

Der Moment, auf den wir bange gewartet haben, ist da. Vater nähert sich dem Jubilar, welcher, in seinen Korbsessel versunken, die Honneurs entgegennimmt, während sich Grand-Maman Gabrielle steckengerade auf einen Stuhl neben ihn gepflanzt hat, wie um über ihn zu wachen. Vater geht direkt auf Henri Corbaz zu, während von links Großonkel Louis de Blanchard hinzutritt, als ob er beim Versöhnungsversuch des Schwiegervaters mit seinem Schwiegersohn, meinem Erzeuger, sekundieren wollte. Kommt es jetzt zur Auseinandersetzung? Oder können sich die beiden Männer zusammenreißen und sich wie Erwachsene benehmen, mein achtundsiebzigjähriger Vater und mein neunundneunzigjähriger Großvater? Der Waadtländer Großbürger und frühere Banquier und der Deutschschweizer Elektriker?

Großonkel Louis, der auch schon auf die Neunzig zugeht, läuft im Gegensatz zu Großpapa Henri noch ohne Gehhilfe; er wirkt stramm und aufrecht, und der Blazer aus großkariertem Kaschmirstoff, das blau-weiß gestreifte Hemd mit offenem Kragen, in dem ein grünes Seidentuch mit Paisley-Muster steckt, die dunkelgraue Flanellhose und die braunen Budapester geben ihm den Anstrich eines englischen Land edelmannes.

Die Intervention von Louis ist nicht nötig. Vater geht vor Henris Stuhl in die Hocke und nimmt die Hand des alten Mannes.

«Monsieur Corbaz, Henri, bonjour», sagt er, für alle Umstehenden hörbar, in seinem korrekten Französisch. «Vielleicht erinnern Sie sich. Ich bin Walter, Walter Stierli, der Ehemann Ihrer Tochter, der Vater Ihrer Enkel Lisette, Marc-André und Emmanuel. Es ist mir eine große Freude, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Und ich möchte Ihnen und Madame», er verbeugt sich leicht nach links, wo Grand-Maman Gabrielle wie eine Königin thront, «aufrichtig zu Ihrem fantastischen Jubiläum gratulieren.»

Henri verwickelt meinen Vater, schleppend zwar und leise, in ein Gespräch über das Wetter, die Finanzen und die politische Lage, die Henri für absurd hält. «Stellen Sie sich vor, Genf hat jetzt einen kommunistischen Bürgermeister. Genf, die Stadt Calvins, die Stadt der Privatbanken! So weit sind wir gekommen. Die Welt ist verrückt geworden.»

Anne, meine Mutter, tritt hinzu. Sie hat ihr Aussehen von ihrer Mutter Gabrielle und ihrer Großmutter Caroline de Broissy geerbt, die als junges Mädchen auf vergilbten Schwarzweiß-Fotos aussieht wie eine Schönheitskönigin des neunzehnten Jahrhunderts, mit hochgeschlossenen, mit Spitzen verzierten Blusen, welche die ebenmäßigen Züge ihres schmalen Gesichts noch unterstreichen. Mutter ist, wie Vater, schlank geblieben, schließlich verbringen die beiden die meisten Wochenenden wandernd oder im Winter skifahrend in den Walliser Bergen. Die goldgelbe Farbe ihres Chiffonkleides unterstreicht ihren gesunden, gebräunten Teint. Sie legt die Arme um die Schultern ihres sitzenden Vaters und ihres Ehemanns, der noch immer neben Henri Corbaz kauert, als ob sie die Aussöhnung der beiden alten Männer physisch besiegeln wollte.

Mutter und Vater, die schöne Großbürgertochter aus der französischen Schweiz und der Mann aus den Berner Oberländer Bergen: welch ein Kontrast! Und doch hat ihre Ehe dreiundvierzig Jahre gehalten, ohne dass wir Anzeichen von Zerwürfnis oder Langeweile registriert hätten. Vielleicht, denke ich, sind es gerade diese Unterschiede, welche die beiden zueinander hingezogen haben. Oder Mutter entschied sich erst recht für Vater, als der Druck ihrer Familie zunahm.

Griselda

Griselda hat die Szene vom Fenster eines kleinen Salons aus betrachtet, wo sie mit ihren Schwägerinnen Lisette, meiner großen Schwester, und Eléonore, Marc-Andrés Frau, die Sitzordnung austüftelt. Sie wirft mir eine Kusshand zu, als sich unsere Blicke kreuzen. Wir sind nun auch schon zwölf Jahre verheiratet und haben drei Kinder. Gegen außen scheint die alte Komplizenschaft ungebrochen. Die Erinnerung an das Osterwochenende 1969 ist präsent, als Griselda mit ihrer Mutter Barbara in Bümpliz auftauchte, bei Gottfried, Barbaras Bruder, ihrem Paten. Ich studierte damals Jura in Bern und hatte bei Gottfried ein Zimmer bezogen, der ja auch mein Onkel war. Ja, eigentlich sind Griselda und ich Cousin und Cousine, und natürlich hatten wir uns schon früher an Familienfesten getroffen. Aber verliebt habe ich mich in jenem April 1969, und ich war erleichtert, als sie mir mit munterer Unbekümmertheit erzählte, dass Onkel Otto und Tante Barbara nicht ihre leiblichen Eltern seien.

Sie war ein großes blondes Mädchen von knapp sechzehn Jahren und ich ein Student mit wenig Erfahrung und seltsamen politischen Ansichten. Doch dass ich mich in sie verliebte, fand ich ganz normal. Bei ihr war es weniger klar; sie brauchte einige Zeit, um das Offensichtliche zu akzeptieren. Ich setzte alles daran, sie wiederzusehen, und ich fand gegenüber ihren Eltern einen plausiblen, sogar willkommenen Vorwand: Wir spielten beide Tennis, und so schlug ich vor, die von Sury zu Beginn der Semesterferien Ende Mai 1969 für ein paar Tage in Luzern zu besuchen, statt dass ich direkt ins Wallis reiste. Tante Barbara holte mich am Bahnhof in ihrem schicken weißen Lancia Fulvia Coupé ab. Griselda war noch in der Schule, im Gymnasium am Alpenquai.

Am Tag danach, einem Samstag, fuhr ich Griselda im Auto, das uns ihre Mutter großzügig überlassen hatte, zum Tennisclub Allmend. Ich ging das Match gegen sie locker an, was ein taktischer Fehler war: Den ersten Satz gewann sie. Den zweiten entschied ich für mich, doch sie verlangte einen dritten, in welchem sie mich scheinbar mühelos bezwang. Sich von einer Sechzehnjährigen in Grund und Boden spielen zu lassen! Der Sieg über mich brachte sie in Stimmung. Nach dem Tennis fuhren wir zurück, doch bevor wir in die in Sandstein gefasste Bürgerlichkeit der Hitzlisbergstraße mit ihren Häusern aus der Jahrhundertwende einbogen, schlug Griselda einen Spaziergang auf dem Dietschiberg vor. Wir fuhren das steile Sträßchen hinauf, vorbei am Schlösschen Utenberg, und parkten auf dem Parkplatz des Golfclubs, wo große deutsche, englische und amerikanische Autos standen, zwischen die sich der Lancia zierlich duckte. Die Sonne ging allmählich unter. Weit unten dämmerte die Stadt, der See kräuselte sich, der zweizackige Gipfel des Pilatus stach schwarz in den Himmel. Staunend standen wir da, überwältigt von diesem Panorama, und irgendwann fühlte es sich natürlich an, dass sich unsere Körper einander näherten, während wir das Küssen einübten, verhalten zuerst, dann offensiver und fordernder.

Griselda sitzt auf dem Fensterbrett. Sie trägt einen grünen Hosenanzug, der ihrem trainierten Körper schmeichelt. Sie ist über dreißig und hat drei Kinder geboren, und doch hat sie ihre natürliche Anmut bewahrt, ihre fast unschuldig wirkende Lieblichkeit. Wir schauen uns an. Ich bin nicht mehr stürmisch in sie verliebt wie damals; der Sturm ist einer angenehmen Brise gewichen. Sie ist nicht mehr die Geliebte, sondern die Gefährtin, auf die man sich verlässt. Sie ist die Mutter unserer Kinder, der Mittelpunkt ihres Universums.

Damals sahen wir uns kaum, telefonierten nur miteinander, trafen uns von Zeit zu Zeit in Luzern, wo wir Gelegenheiten für kleine Zärtlichkeiten fanden, mehr nicht. Erst im darauffolgenden Sommer kam sie ins Wallis.

Unsere Mütter, Barbara und Anne, hatten vor diesem Besuch lange miteinander telefoniert, und Anne hatte versprochen, auf Griselda aufzupassen, was natürlich misslang. Bei einer Wanderung zum Lac de Tzeuzier, auf dem Rückweg, machten wir in einem offenen Unterstand Halt. Ich war erregt, aber ich wagte es nicht, einfach loszustürmen. Wieder, wie damals auf dem Dietschiberg beim ersten Kuss, ergriff sie die Initiative. Behutsam kamen wir einander näher. Dann wurden wir stürmischer, umklammerten einander, vergaßen alles um uns herum. In einem nüchternen Augenblick bat sie mich noch: «Bitte zieh dich rechtzeitig zurück, Liebling. Ich möchte nicht schwanger werden.»

Ich drang in sie ein. Sie stöhnte, ich stöhnte, wir atmeten heftig im gleichen Rhythmus. Dann schrien wir gleichzeitig auf. Es war wie eine Kernfusion.

Griselda macht eine einladende Geste. Ich lasse die alten Männer allein; mein Beistand ist nicht nötig. Großpapa Henri wird nicht mehr lange leben. Er hat sich in eine eigene Welt zurückgezogen, aus der er nur noch selten hervortritt, wie jetzt gerade. Sein geschrumpfter und gekrümmter Körper füllt den schwarzen Maßanzug nicht mehr aus. Faltig steckt sein Hals im viel zu weiten weißen Hemdkragen, den eine bordeauxrote Krawatte zusammenhält. Über die Knie hat Henri eine elegante graue Wolldecke gelegt.

Nachdenklich gehe ich hinüber zu der prächtigen Villa. Rudolf Stierli, mein Urgroßvater, hätte sich eine solche Szenerie nicht in seinen wildesten Träumen ausmalen können. Vier Generationen nur und hundert Jahre liegen zwischen der lähmenden Armut im Berner Seeland und diesem diskreten, mit Millionen ausgepolsterten Luxus am Genfersee und unserem Namen, der neben dem von Golbet mit goldenen Lettern in die Eingangstür des vornehmen Gebäudes eingelassen ist. Eigentlich hat der Aufstieg meiner Familie mit diesem meinem Urgroßvater begonnen und mit seiner Frau, Ida Strübi, mit der er zehn Kinder hatte.

Woher ich das alles weiß? Otto hat es mir erzählt, Griseldas Vater. Und der wusste es von Tante Barbara, seiner Frau, welche alle Papiere ihrer Mutter Elise Stierli aufbewahrte, als diese 1955 gestorben war.

«Gott sei Dank bist du hier», seufzt Griselda, als ich den kleinen Salon betrete. «Wir kommen mit dieser vermaledeiten Tischordnung einfach nicht zurecht. Klar, Henri und Gabrielle sitzen als Ehrengäste in der Mitte des Tisches und Marc-André und du, Eléonore», sagt sie, an ihre Schwägerin gewandt, «ihr sitzt als Gastgeber ihnen gegenüber. Aber dann wird es schwierig. Deine Cousine Elizabeth kann zwar Französisch, schließlich unterrichtet sie das. Aber Ronald hat alles vergessen; wir müssen also jemanden neben ihn setzen, der Englisch redet.»

Auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier; darauf sind ein Rechteck eingezeichnet und 24 Stühle. Die Ehrengäste, Henri und Gabrielle, und die Gastgeber, Marc-André und Eléonore, sind in der Mitte eingetragen, doch darum herum herrscht Verwirrung: Namen wurden durchgestrichen, überschrieben, mit Pfeilen in andere Positionen gebracht.

«Griselda, gib mir ein frisches Blatt Papier, bitte!»

Meine Frau geht zum Sekretär aus dunklem Edelholz, holt ein Blatt Papier hervor und legt es auf den Tisch. Ich zücke meinen Füllfederhalter, zeichne ein längliches Rechteck und male 24 Halbrund für die Stuhllehnen der 24 Gäste. Dann trage ich Grand-Papa Henri und, zu seiner Rechten, Grand-Maman Gabrielle in der Mitte ein und ihnen gegenüber Marc-André und Eléonore.

«Heidi kann sehr gut Englisch, die können wir problemlos neben Ronald setzen. Und Camille spricht ebenfalls ein passables Englisch – für eine Französin mindestens», sagt Lisette.

«Also, Mesdames, dann haben wir ein Problem bereits gelöst: Am unteren Tischende sitzt Ronald, links von ihm Heidi und ihm gegenüber Camille, neben die wir Alexandre setzen.»

«Aber Camille wird sich langweilen zwischen all den alten Leuten», sagt Griselda.

«Camille ist nun mal die Jüngste der ganzen Truppe», antworte ich. «Das können wir nicht ändern, und wir werden niemanden ihres Alters finden. Und Alexandre ist ein interessanter Typ, der sehr viel weiß.»

«Aber Alexandre ist Sozialist», wendet Eléonore ein, «obwohl er an der kapitalistischen Hochschule St. Gallen lehrt.»

«Ja, weiß ich doch, aber er ist ein spannender Erzähler. Sie wird sich nicht langweilen mit ihrem Cousin.»

Jetzt rauscht Mutter in ihrem goldgelben Chiffonkleid herein wie eine frische Brise. «Na, kommt ihr mit der Sitzordnung zurecht?»

«Es geht so», antworte ich. «Übrigens, Maman, du gehörst neben Grand-Papa Henri, schließlich bist du sein ältestes noch lebendes Kind.»

«Meinst du?», fragt Mutter. »«Müsste da nicht jemand Wichtigeres sitzen, Louis oder Otto?»

«Nein, Mutter», sagt Lisette. »Du gehörst neben Großvater, ganz klar.»

Ich trage Anne neben Henri ein.

«Großonkel Louis kann neben dir sitzen, Eléonore, mit dir flirtet er eh die ganze Zeit», meint Lisette.

«Gute Idee», sage ich, «Louis neben Eléonore, der neunzigjährige Beau und die elegante Schwägerin. Das passt. Neben dich, Maman, setzen wir deinen Neffen Horace, schließlich bis du seine Taufpatin.»

«Ja, neben Horace sitze ich gern», antwortet Mutter.

«Dann ist es logisch, dass seine Schwägerin Claudia ihm gegenübersitzt. Louis, der Glückspilz, wird dann gleich von zwei attraktiven Damen eingerahmt; schauen wir mal, für welche er sich mehr erwärmt. Also Ladies», sage ich. «Machen wir vorwärts, sonst wird dieser Tisch nie voll! Wie wäre es, wenn wir Tante Sidonie neben Alexandre setzen? Dann wird er nicht zu übermütig.»

«Lucien war noch jung», antwortet Mutter. «Du freust dich auf die Jahre nach der Pensionierung, wenn du endlich das Leben genießen, auf die Reisen gehen kannst, für die du nie Zeit hattest, und kaum bist du pensioniert, wirst du krank und stirbst. Quelle misère!»

Ich lege den Arm um ihre Schulter.

«Maman, häng jetzt nicht diesen depressiven Gedanken nach! Freu dich auf das Fest!»

«Also, Leute», fährt Lisette in ihrer zupackenden Art dazwischen. «Machen wir vorwärts! Wie wäre es, wenn wir dich, Emmanuel, neben Sidonie setzten? Und Ghislaine setzen wir rechts von dir und links von Marc-André. Dann kannst du zwei ältere Damen gleichzeitig betören, das machst du ja gern, oder?»

«Mir bleibt heute aber auch nichts erspart», klage ich theatralisch. Ghislaine d’Estivelle, Großonkel Henris Gattin, ist eine Dame von altem Schrot und Korn, auch schon fünfundsiebzig, aber alert wie eine Gazelle und immer zu einem Flirt aufgelegt. Ghislaine hat in ihrem Leben nichts anbrennen lassen, genau so wenig wie Henri. Er ist ihr dritter Ehemann und sie seine zweite Frau. Die passen zusammen.

«Vater setzen wir neben Gabrielle. Das wird nicht lustig für ihn, aber ich meine, dass er da durchmuss», sagt Lisette.

«Zum Ausgleich platzieren wir Tante Gisèle an seiner rechten Seite. Dann kann er mit ihr diskutieren. Sie ist sehr belesen. Und deinen Göttergatten, Lisette, setzen wir zwischen Gisèle und Heidi. So, wer bleibt jetzt noch?», frage ich und gebe die Antwort gleich selbst: «Du, Lisette, und du, Griselda. Dazu Otto, Sebastien, Elisabeth und Claude.»

«Ich möchte neben Claudia sitzen», sagt Griselda und nimmt meinen Arm von ihrer Schulter. «Wir tratschen gern über andere Leute, und wir interessieren uns beide für Sport.»

«Gut, und dann kommt Sébastien auf deine rechte Seite. Ihr seid fast gleich alt, und er kann kein Deutsch; du musst also dein Französisch hervorholen, Chérie», sage ich und zwicke Griselda leicht in den Arm.

«Perfekt», sagt Lisette, «dann setze ich mich neben Cousin Horace. Der ist ein bisschen verrückt; das mag ich.»

«Und an deine linke Seite kommt Otto. Auch mit dem wirst du dich prächtig unterhalten. Bleiben Claude und Elisabeth am obersten Ende des Tisches.»

Ich gehe zum hohen Fenster, setze mich auf die Fensterbank. Großpapa Henri scheint mit seinem Sessel verschmolzen. Gabrielle hat die Hand auf den Ärmel seines altmodischen Anzugs gelegt und redet mit Sidonie, ihrer Schwiegertochter, die sich zu ihr hinabbeugt. Henri hat viele überlebt: seinen Sohn Lucien, der vor zwei Jahren gestorben ist, seine Tochter Alice, die schon fast zehn Jahre tot ist, und ihren Mann, Nicholas Gilmore, der 1981 starb. Die halbe Generation meiner Eltern, das heißt von Großpapa Henris Kindern, ist schon tot.