Sirenengesang - Artur Kilian Vogel - E-Book

Sirenengesang E-Book

Artur Kilian Vogel

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Beschreibung

Wer ist die großgewachsene Frau im grünen Seidenkleid mit der rotblonden Haarmähne am Nebentisch im Restaurant? Er nennt sie Linda Evangelista, weil sie ihn an das ehemalige Supermodel erinnert. Das Bild der Frau lässt ihn nicht los; er will sie um jeden Preis finden. Beharrlich verfolgt er ihre Spur. Auf seinen Streifzügen durch die nächtliche Stadt bleibt er im Schatten, unsichtbar, unheimlich. Im Verlauf der atemberaubenden Stalking-Geschichte erfährt man, dass der Mann eine traumatische Jugend erlebt hat, dass er ein Einzelgänger ist, Hemmungen im Umgang mit Frauen hat und dass er seine Gewaltfantasien schon ausgelebt und dafür sogar verurteilt worden ist. Schließlich findet er die Frau. Sie heißt Cléa. Es gelingt ihm, sie für sich einzunehmen und eine Nacht mit ihr zu verbringen. Als sie ihn danach zurückweist, erreicht die rasante, fast unerträglich spannende Geschichte ihren dramatischen Höhepunkt.

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Seitenzahl: 156

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1. Auflage 2023

Copyright ©2023 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur

für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-03951-043-6

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Every breath you take

And every move you make

Every bond you break

Every step you take

I’ll be watching you

Sting, The Police

Ich hörte auf, nach dir zu sehen

Ich hörte auf, auf dich zu warten

Ich hörte auf, für dich zu sterben

Und fing an, es für mich selbst zu tun

1

Ein Mann und eine Frau setzen sich an den Nebentisch. Es ist Viertel vor acht. Draußen hat die Nacht ihre feuchtschwarzen Tücher über die Stadt gebreitet. Verstohlen beobachte ich das Paar. Er sitzt mit dem Rücken zu mir, sie mir schräg gegenüber.

Wie wenn sie mit einer frischen Farbe den Frühling heraufbeschwören wollte, den sie sich herbeisehnt, trägt die Frau ein lindengrünes, beinahe bis zum Boden reichendes Seidenkleid. Darunter lugen dunkelbraune Stiefel mit dicken Sohlen hervor, die an den Winter erinnern, der erst vor kurzem einem nasskalten Vorfrühling gewichen ist. Der Ausschnitt ihres Kleides verbirgt sich unter einem wärmenden grünen Schal mit verschlungenem roten Paisley-Muster. Erst viel später, als es schon Sommer ist, werde ich wissen, dass ihre Haut mit Sommersprossen gesprenkelt ist. Sie hat sich für den Abend sorgfältig zurecht gemacht.

Vielleicht treffen sich die beiden zum ersten Rendezvous. Haben sie sich auf einer Dating-Plattform im Internet kennengelernt? Sind sie verlobt, seit kurzem verheiratet, befreundet? Schlafen sie miteinander? Noch nicht? Nicht mehr? Hat er sie am Arbeitsplatz aufgescheucht und zu einem Essen überredet? Befinden sie sich noch im Stadium der Hoffnung, schon im Stadium der Erkenntnis oder jenem dritten der Ernüchterung, das zur Trennung oder zu einem Zustand der andauernden Unzufriedenheit und des steten unterschwelligen Zwistes führt, den viele Paare hartnäckig austragen, bis dass der Tod euch scheidet?

Ich habe nicht viel Umgang mit Frauen und wenig Erfahrungen. Seit der Geschichte mit Kathy vor einigen Jahren bin ich allein. Single nennt man den Zustand verniedlichend, wenn du auf der Suche bist und nicht findest, Sehnsüchte hast, die nie gestillt werden, wenn du verzweifelst ob deiner Unfähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und aufrecht zu erhalten. Single ist einer jener Ausdrücke, mit denen wir unerfreuliche Umstände schönreden wie mit Best Age das Altwerden.

Rötlichblonde Locken stürzen geschmeidig über ihre Schultern. Manchmal wirft sie die Mähne mit einer energischen Kopfbewegung zurück. Sie hat hellroten Lippenstift aufgetragen und die Fingernägel in derselben Farbe lackiert. Männer mustern sie über die Tischdekorationen hinweg. Sie verbergen ihre begehrlichen Blicke, um sie vor ihren Begleiterinnen zu verschleiern.

Die beiden haben beim Kellner, der eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und darüber eine schwarze Schürze mit dem goldenen, aufgestickten Logo des Lokals trägt, ihr Essen bestellt. Zuvor hatten sie lange in der Speisekarte geblättert.

Regen klatscht gegen das große Fenster. Als verwischte Schatten rauschen Autos vorbei. Ihre Lichter tanzen über die regennasse Straße. Eilige Passanten kämpfen mit aufgespannten Schirmen gegen den kalten Märzenwind an. Die einen, die von rechts nach links durch das Bild laufen, sind nach vorne gebeugt wie angreifende Stiere und tragen ihre Schirme wie Waffen vor sich her. Die andern, die von links nach rechts eilen, sind etwas zurückgelehnt, lassen sich vom Wind treiben und halten die Schirme dicht über den Hinterköpfen, damit diese nicht vom Wind zerzaust werden.

Das Fenster nimmt wie das Schaufenster eines altmodischen Kaufhauses fast die ganze Breite der einen Wand ein. Drei weiße horizontale Sprossen und zwölf vertikale teilen es in zweiundfünfzig Abschnitte. Ich habe nachgezählt. Ich bin allein, als einziger in diesem Lokal sitze ich allein an einem runden Tischchen mit einem verzierten Fuß aus Gusseisen zwischen Paaren und kleinen Gruppen an größeren Tischen und habe Zeit zum Zählen. Alle Fensterausschnitte sind rechteckig außer je dreien links oben und rechts oben, die abgerundet sind.

Ich stelle mir Schaufensterpuppen auf dem breiten Sims dieses Fensters vor. Puppen, in elegante Kleider aus früheren Epochen gehüllt. Wattierte Oberteile, Rüschenröcke, schmale, von Korsagen zusammengehaltene Taillen für die Frauen und Fräcke, Zylinder, gestreifte Hosen und plissierte Hemden mit sorgfältig geknoteten Halsbindern für die Männer. Das Fenster ist mit zwei Sträußen von weißen und rosaroten Christrosen in geschliffenen Kristallvasen und, zwischen ihnen, mit einem mächtigen silbernen Leuchter mit neun roten Kerzen geschmückt. Von oben werden die Blumen indirekt mit weichem, fast gelbem Licht geflutet, das im Kristall der Vasen vielfach gebrochen wird.

Der Kellner hat sich von dem Paar abgewandt. Er gibt in der Küche die Bestellung auf. Der Mann hat sein Mobiltelefon aus der Innentasche der Jacke hervorgeholt. Er tippt darauf mit beiden Daumen wie ein Teenager. Die Tische sind mit weißen Tischdecken belegt; Messer, Gabeln, Löffel flankieren kunstvoll gefaltete weiße Servietten. Gläser für Wasser, Weißwein und Rotwein stehen an jedem Platz und eine Kerze in einem weißen Porzellankerzenständer und ein weißes Porzellanblumengefäß mit Trockenblumen in der Tischmitte.

Ich mag das Lokal wegen des erleuchteten, dekorierten Fensters. Hinter diesem Fenster fühle ich mich geborgen. Es führt mir die unwirtliche Außenwelt vor Augen und schirmt mich doch von ihr ab. Am Fenster stehen Vierer- und Sechsertische; die Zweiertische befinden sich in der Raummitte; zwei einsame, runde Einzeltische stehen vor dem rotsamtenen Vorhang. Dieser verbirgt eine Treppe, die hinunter zu den Toiletten führt. Ich sitze direkt vor dem Vorhang, weißes Polohemd vor dunkelrotem Hintergrund, und habe mir oft ausgenalt, wie es wäre, wenn eine einsame, attraktive Frau am Nebentisch säße und ich mit ihr ins Gespräch käme, was unwahrscheinlich ist, denn Frauen gegenüber bin ich gehemmt.

Dass ich an der Rückwand vor dem Vorhang sitze, ist gut. So kann ich den Raum überblicken. Säße ich mittendrin, fühlte ich mich unwohl. Ich spürte stets einen Bereich dieses Raumes bedrohlich in meinem Rücken, von mir nicht einsehbar und nicht kontrollierbar. Indem ich ganz hinten sitze, dort, wo der Vorhang den Raum abschließt, habe ich das ganze Lokal im Blick. Ich liebe es zu beobachten und hasse es, beobachtet zu werden.

Der Besuch des Lokals mit dem großen Kaufhausfenster jeden Donnerstagabend um halb acht gibt meinen Wochen eine Struktur. Die Mahlzeit, die ich mir hier auftragen lasse, ist der einzige Luxus, den ich mir leiste. Die einzige Abwechslung, sieht man einmal von den Computerspielen ab. Ich besitze kein Auto, nur eine Vespa, mit der ich manchmal nachts durch die Gegend fahre, wenn ich keinen Schlaf finde. Ich habe keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, nicht einmal einen Hund oder eine Katze oder einen Kanarienvogel. Mir gehören keine teuren Kleider oder Schuhe.

Ich lebe in einer Zweieinhalbzimmerwohnung mit einer offenen Küche, einer Dusche, einem Schlafzimmer mit einem schmalen Bett und einem halbvollen Kleiderschrank sowie mit einem großen Wohnraum. Dort befinden sich ein Sofa, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Ständerlampe, ein Drehstuhl am Pult, auf dem zwei große Bildschirme fast den ganzen Platz einnehmen. Dazu viele Bücher in billigen Bücherregalen aus weiß verkleideten Spanplatten. Aber seit langem lese ich keine Bücher mehr. Die wichtigste Einrichtung in meiner Wohnung ist eine schnelle, leistungsstarke Internetverbindung. Ich mache keine Ferien und verreise nie. Mein Leben besteht aus Arbeit, Computerspielen, Beobachtungen, Fahrten mit der Vespa und diesem einen Abstecher ins Restaurant jeden Donnerstag.

In Rinnsalen läuft das Regenwasser die Scheibe herunter, silbern glänzend im gedämpften, indirekten Licht der unsichtbaren Lampen und im Schein der Kerzen. Sie flackern, wenn Manolis Kakogiannis, der Inhaber des Lokals, die Türe öffnet und neue Gäste eintreten lässt, vor denen er Verrenkungen vollführt, die Verbeugungen andeuten sollen.

Der Mann am Nebentisch trägt einen dunkelgrauen, fast schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkelrot schimmernde Seidenkrawatte und im Veston ein Einstecktuch in der Krawattenfarbe. Er benimmt sich wie jemand, der sich seiner Bedeutung bewusst ist, und der von den Umstehenden erwartet, dass sie diese Bedeutung wahrnehmen. Ich schätze ihn auf etwa fünfundvierzig, wenig jünger als ich. Ein Advokat? Ein Banker? Ein Bestattungsunternehmer? Wer trägt heute noch dunkle Anzüge mit weißen Hemden, Krawatten und Einstecktüchern? Er starrt auf sein Telefon und tippt; sie blickt um sich. Sie sind zu zweit, aber sie sind kein Paar. Nach wenigen Minuten der Beobachtung ziehe ich diesen Schluss. Sie haben unterschiedliche Ansprüche ans Leben. Sie giert nach Liebe; er schmückt sich mit ihr.

Der Mann steht auf, das Telefon am Ohr, geht an mir vorbei hinter den Vorhang, von wo man seine Stimme hört, die mal laut wird und mal zu einem Flüstern verebbt. Er trägt einen sorgfältig gestutzten dunklen Bart mit scharf ausrasierten Konturen.

Ich weiß, was Einsamkeit bedeutet. Seit ich gezwungen bin, zu Hause zu arbeiten, um die Ansteckungsgefahr in den Büros zu bannen, treffe ich niemanden mehr. Ich komme einmal die Woche in dieses Lokal, donnerstags, und trage die Wocheneinkäufe in Papiertüten mit mir. Anfänglich schämte ich mich. Ein nicht sehr sorgfältig gekleideter, etwas übergewichtiger fünfzigjähriger Mann in weißem Poloshirt, schwarzen Jeans und einer Armeejacke, wenn es draußen kalt ist, mit vollgepackten Supermarkttüten in einem solchen Restaurant …

Das Lokal trägt die Verlockung im Namen: Sirenengesang. Früher befand sich eine Pizzeria in diesen Räumlichkeiten. Sie hieß Dolce Vita. Noch früher, als Quartierläden noch nicht von Supermarktketten verdrängt waren, wurden hier Früchte, Gemüse, Colonialwaren verkauft. Niemals hätte ich eine Pizzeria namens Dolce Vita betreten oder Carpe Diem oder Bella Napoli. Aber Sirenengesang! Diesem entkommt man nicht, außer man ließe sich wie Odysseus an einen Schiffmasten fesseln.

Inzwischen kennt mich der Kellner, ein alter Italiener mit sonnengegerbtem Gesicht und langen grauen Haaren, die er am Hinterkopf nach neuester Mode zu einem Dutt verknotet hat, und der nach vierzig Jahren in unserem Land noch immer mit den Tücken unserer Sprache kämpft. Die jüngere Serviererin vom Balkan, eine adrette Frau mit blondierten Haaren und einem dunklen Scheitel, der die originale Haarfarbe verrät, kennt mich auch und zwinkert mir manchmal kumpelhaft zu. Ich muss meinen Tisch nie reservieren, bekomme ihn stets automatisch zugewiesen, immer denselben. Da ich jedes Mal das gleiche esse – einen Saisonsalat mit italienischem Dressing und Garnelen zur Vorspeise und danach Kalbsleber an einer Zwiebelsauce mit Röstkartoffeln –, fragen sie mich nicht mehr nach meinen Wünschen, sondern erfüllen diese stillschweigend. Sie haben mich auch stillschweigend in den Kreis ihrer Stammgäste aufgenommen, obwohl ich nicht in dieses Lokal passe, wie ich überhaupt nirgendwo hinpasse, wenn ich es mir überlege. Ein Glas Riesling und ein halber Liter Mineralwasser mit Kohlensäure zu Beginn; mit der Leber und den Kartoffeln ein Glas Merlot und später noch eines. Danach ein Espresso ohne Zucker, mit wenig Milch, und ein Grappa.

Manolis Kakogiannis, der eigentlich ein kleiner, schmächtiger Mann ist, vergrößert seine Erscheinung mit einem üppig wuchernden Haarschopf wie Mikis Theodorakis in jungen Jahren. Er begrüßt mich immer überschwänglich. Er hatte das Lokal zwei Monate lang geführt, als es von den Behörden geschlossen wurde. Pandemie! Zwei Jahre lang ging es mit dem Sirenengesang auf und ab wie mit dem Schiff von Odysseus zwischen Skylla und Charybdis. Ein rauer Wellengang wie für alle Gastronomiebetriebe: monatelang geschlossen; nur mit strikten Auflagen wie Maskenpflicht, Zertifikatspflicht, Minimalabständen und Plexiglaswänden zwischen den Tischen wieder geöffnet; nur die Terrasse bewirtschaftet. Und so weiter. «Die totale Verunsicherung», seufzte Manolis. Erst seit wenigen Wochen darf der Sirenengesang wieder normal wirtschaften, Tische in normalem Abstand zueinander aufstellen und Gäste ohne Maske und ohne Impfzertifikat empfangen. Jeder ist willkommen. Manolis muss zwei verlorene Jahre aufholen. Viele wagen sich noch nicht in öffentliche Räume. Man hat ihnen Angst vor der Krankheit eingejagt.

«Entschuldigunge», sagt der Kellner, «wir eute aben kein Kalbsleberli.» Ich bin irritiert. Wieso keine Leber? Es gibt immer Leber am Donnerstag. Nichts esse ich lieber als Leber. Was soll ich wählen? Die Wahl eines anderen Hauptganges überfordert mich. Ich werde wütend und schnauze den Italiener an: «Was heißt das, keine Leber?»

Er steht verdutzt vor mir.

«Sie wissen doch, dass ich jeden Donnerstagabend …», knurre ich. Er zuckt mit den Schultern. Das erzürnt mich noch mehr. Ich spüre, wie mein innerer Vulkan zu brodeln beginnt. Ich nenne ihn meinen Eyjafjallajökull. Wenn das erste Magma zäh über den Kraterrand fließt, kenne ich kein Halten mehr. Seine Eruption lässt auch mich explodieren. Am liebsten würde ich aufspringen und den Kellner würgen. Er steht noch immer verlegen vor meinem Tisch. Mit Mühe halte ich mich zurück.

Wenn ich sage, ich hätte wenig Umgang mit Frauen, so heißt das nicht, dass ich völlig unerfahren wäre. Ich habe eine Freundin gehabt vor einigen Jahren. «Partnerin» wäre der falsche Ausdruck für unsere Beziehung gewesen, denn es fehlten die konkreten Projekte. Sie war die Einzige, die in mir den Wunsch nach mehr als einer flüchtigen Begegnung weckte. Sie hieß Katharina, nannte sich als Kind «Käthi» und später «Kathy». Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander, wirklich. Kathy glaubte an offene Beziehungen, wie sie damals gerade in Mode waren. Sie war in unserer Zeit auch mit anderen Männern zusammen. Sie verheimlichte mir nichts. «Ehrlichkeit ist das Fundament jeder Beziehung.»

Wäre sie still und heimlich fremdgegangen, hinter meinem Rücken, wären ihre Affären erträglicher gewesen. Meinerseits hätte ich ihr nicht vom Fremdgehen erzählt, wenn ich denn fremdgegangen wäre. Sie hingegen ging zu weit, wirklich! Sie schilderte mir Einzelheiten dieser Begegnungen. Nicht nur ihre Eskapaden befriedigten sie, auch das Erzählen. Frauen können grausam sein, und ich denke, Kathy machte es Spaß, mich leiden zu sehen. Treue sei spießig, meinte sie. Man könne mehrere Menschen gleichzeitig lieben oder mindestens begehren. «Wenn es nicht so wäre, hätte kein einziger Roman der Weltliteratur geschrieben werden können.»

Wie sie mit diesem oder jenem Mann am Wochenende in den Süden gefahren war, beschrieb sie in allen Details. Wie sie in einem Fünfsternehotel genächtigt hatten mit einem großen Park mit Palmen und Skulpturen und Liegestühlen auf der riesigen Rasenfläche zum See hin. Wie es aufregend und anders gewesen war und sie am nächsten Tag im Spa sich erholten und entspannten und danach im See schwammen.

Anders als was?, fragte ich mich und gab mir selbst die Antwort: Anders als mit mir. Wenn sie mich vergleicht, sagte ich mir, dann ziehe ich den Kürzeren. Ich bin nicht attraktiv, nicht witzig und im Bett keine Kanone. (Wenn ich mich richtig erinnere, sprach sie nicht von Kanonen, sondern von Granaten. Egal. Ich bin auch keine Granate.) Mich zappeln zu lassen, schien sie zu stimulieren. Manchmal näherte sie sich mir in solchen Momenten augenaufschlagend und schnurrend wie ein kleines Raubtier. Aber ich war jeweils wie gelähmt und unfähig, mich von ihr verführen zu lassen.

Ich liebte sie wirklich. Kathy. Nein. Lieben ist eine unpräzise Wortwahl. Lieben benutzt man für alle möglichen flatterhaften Gefühlsregungen und Aggregatszustände gegenseitiger – oder auch einseitiger – Zuwendung. Ich war von ihr besessen. Ich stand unter ihrem Bann. All meine Sinne waren wie Peilantennen auf sie ausgerichtet. Ich wollte sie verlassen, weil sie mich verletzte, weil mich Gedanken an die anderen Männer, mit denen sie sich vergnügte, innerlich beben ließen. Gleichzeitig verkrampfte sich mein Magen, und ich spürte, wie eine Migräne in meinen Kopf zu hämmern begann, wenn ich daran dachte, dass sie sich von mir abwenden könnte. Mehr als vor allem anderen hatte ich Angst, sie zu verlieren. Wenn ich mir vorstellte, wie sie unter einem anderen Mann lag, wie sie stöhnte, wenn er in sie eindrang, konnte ich mich kaum kontrollieren. Mein Eyjafjallajökull spie Lava. Eifersucht war verpönt. Sie galt als kleinbürgerliche Attitüde, die man zu unterdrücken hatte. Ich war eifersüchtig.

Der Mann ist zurück am Tisch. Ich habe, während er hinter dem Vorhang telefonierte, erfolglos versucht, die Frau im lindengrünen Kleid auf mich aufmerksam zu machen. Manchmal denke ich, dass ich unsichtbar bin. Unsichtbarkeit hilft, wenn ich beobachte. Wenn ich jemanden beschatte. Wenn ich im Schatten hinter ihm herschleiche. Unsichtbarkeit ruiniert aber das Selbstbewusstsein, wenn ich Aufmerksamkeit erhaschen möchte und übersehen werde.

Der Kellner hat auf einem silbernen Tablett ein Bier zum Tisch der beiden balanciert, das der Mann jetzt vor sich stehen hat, und einen langstieligen Kelch mit Champagner für die Frau. Wie abwesend haben sie einander zugeprostet. Die zwei habe ich hier noch nie gesehen. Manolis tritt an ihren Tisch. Sie reden über die Pandemie und die Ukraine, von Russland vor wenigen Wochen überfallen. Aber ich bekomme nur Satzfetzen mit. Im Lokal wird geschwatzt. Im Hintergrund plätschert ein Violinkonzert von Mozart ab Band. Später werde ich Manolis unauffällig fragen, ob er das Paar kenne. Er wird die Frage verneinen.

Bevor ich aus dem Haus gehe, dusche ich und ziehe ein frisches Polohemd über. Alle meine T-Shirts und Polohemden sind weiß oder schwarz, alle meine Hosen und Pullover und das Sakko sind schwarz und die wenigen Hemden, die ich besitze, weiß. Nur die Armeejacke ist feldgrau. Zwei Paar schwarze Schuhe stehen in meinem Schuhregal, zudem schwarz-weiße Turnschuhe und weiße Sneakers, die ich von Zeit zu Zeit in die Waschmaschine stecke, wenn sie verdreckt sind. So muss ich nie überlegen, was zusammenpasst. Ich kann blind in den Schrank greifen und mich blind anziehen.

Jeden zweiten Mittwoch kommt eine alte Portugiesin, putzt meine Wohnung und bügelt die Poloshirts, die Bettwäsche und die Hemden. Das ist die zweite Regelmäßigkeit in meinem Leben. Ich halte die Füße aufs Pult, damit sie unter mir staubsaugen kann. Sie meckert in einem fort halblaut vor sich hin. Doch ich verstehe kein Portugiesisch und schenke ihr keine Aufmerksamkeit. Sie heißt Caridade. Das bedeutet Nächstenliebe. Caridade liebt mich nicht. Ich liebe sie auch nicht. Ohne sie würde ich vergammeln.

Außer donnerstags dusche ich mich manchmal die ganze Woche nicht. Wozu? Mit den Kollegen und den wenigen Kolleginnen sowie mit Kunden verkehre ich über eine Konferenzschaltung, oder ich schalte mich direkt in ihre Systeme ein. Ich ziehe mein schwarzes Sakko über das Shirt und gucke professionell in die Kamera. Ob ich vom Gürtel abwärts nackt bin, in Pyjamahosen stecke oder in Boxershorts, spielt keine Rolle. Bei Konferenzschaltungen existiert man nur bis zur Pultkante; was darunter ist, bleibt verborgen.

Dass ich geimpft bin, seit Dezember sogar dreimal, dass ich mich zum Impfen durchgerungen habe, obwohl ich diesen wenig erprobten Impfstoffen gegenüber eine gewisse Skepsis entwickelt habe, spielt keine Rolle. Sie wollen mich trotzdem nicht am Arbeitsplatz sehen, nicht einmal mit Maske. Knellwolf, mein Vorgesetzter, hat ein Instrument, dank dem er meine Performance im Home Office messen kann. Das hat mir seine Assistentin verraten. Meine Leistung messen können sie; riechen können sie mich am Bildschirm nicht. Sie konnten mich auch früher nicht riechen, als ich noch physisch vorhanden war in den Büros, und gingen mir aus dem Weg, wenn wir uns beim Kaffeeautomaten trafen, der eine wässerige Lösung in die Kartonbecher tropfen ließ. Knellwolf mag mich nicht. Er steht hierarchisch über mir. Aber ich bin fachlich besser, viel besser. Das weiß er und das beschädigt sein Selbstwertgefühl.