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Johann Wolfgang von Goethe wird kurz vor seiner Italienreise durch ein Zeitsprung-Experiment ins heutige Halle versetzt. Von dort aus reist er mit Hilfe einer Medizinstudentin über Weimar, Nebra und Frankfurt durch Italien bis zum Vesuv - dabei immer auf der Flucht vor einem Professor, der das »wissenschaftliche Wunder« für sich nutzen möchte. Unterwegs erobert die Studentin das Herz Goethes und gewinnt sein Vertrauen. Sie erfährt sowohl überraschende als auch sehr pikante Dinge aus seinem Leben. Ihr geheimer Wunsch, mit ihm ins 18. Jahrhundert zurückzuspringen, wird immer stärker ...
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Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2019
Barbara Boy
GoethesDoppelspiel
Roman
Copyright: © 2019 Barbara Boy
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Titelbild: © Rainer Dörner
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7497-7342-8 (Paperback)
978-3-7497-7343-5 (Hardcover)
978-3-7497-7344-2 (e-Book)
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Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie,
Was nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie.
(Friedrich Schiller, An die Freude)
Prolog
Die Freundinnen Lily und Gemma waren nach Weimar gezogen, in eine alte Villa, die Erstere nach dem Tod ihres Mannes geerbt hatte. Dort gründeten sie eine Detektei: Ungelöste Familienrätsel? – Unsere Spezialität!
Liliana Josepha Baronin von Teutschenthal war eine echte Adelige, verwendete aber Namen und Titel nicht öffentlich und ließ sich im Allgemeinen Lily nennen. Die Beziehungen zu ihren Kreisen nutzte sie jedoch hemmungslos für Recherchen bei den oberen Zehntausend. Da wirkte ihr Name regelmäßig wie ein Türöffner und erleichterte den Detektivinnen die Arbeit. Ihre Tochter Emilia, meist nur Emmi genannt, studierte noch und pflegte in der Öffentlichkeit klassisches Understatement, Lily dagegen kleidete sich extravagant und sehr farbenfroh. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie auch mal Schrilly-Lily genannt.
Gemma war zufrieden geschieden und hatte keine Kinder. Ihr Hobby war die Schauspielerei. Sie verkleidete sich gern und konnte die verschiedensten Charaktertypen darstellen, was für die Detektei durchaus von Vorteil war.
Die Mappe mit der Aufschrift Goethes Geheimnisse lag auf Lilys pompösem Schreibtisch. Als Auftraggeber war N. N. vermerkt – Name unbekannt. Es sollte schließlich keiner wissen, dass diese Untersuchung das Privatvergnügen der beiden war und nebenbei lief. Sie suchten nach Beweisen für eine von ihnen aufgestellte These, mit der sie mutmaßliche Lügen in des Dichters Liebesleben von biografischen Verkrustungen befreien wollten. Es war an der Zeit, Johann Wolfgang von Goethe – die literarische Galionsfigur der Deutschen – in all seiner Menschlichkeit zu zeigen, in seiner Stärke und in seiner Verletzlichkeit.
Die beiden waren geradezu besessen von Goethe. Schon als Teenager hatten sie ihn angebetet. Als sich Mitschülerinnen Kofferradios oder Plattenspieler zu Weihnachten wünschten, standen Goethes gesammelte Werke auf ihrem Wunschzettel. Was für ein toller Mann! Dichter und Denker, Gelehrter und Genießer, Naturforscher und Freigeist … sogar Freimaurer, Maler, Mime und Minister. Ansehnlich und groß gewachsen war er, für seine Zeit jedenfalls. Er konnte reiten, schwimmen, fechten, tanzen und, und, und … Und wundervolle Liebesbotschaften schreiben. Leider angeblich an Frau von Stein. Goethe und die Stein?
Das passte für die Detektivinnen überhaupt nicht zusammen. Das war wie ein Luxusauto mit Kunstlederpolstern. Ein einfaches Liebchen für die körperlichen Bedürfnisse? Das konnte man akzeptieren. Einen Bettschatz mit Geschick für Haushalt und Hof? Es wäre ihm gegönnt gewesen. Aber was war mit dem Rest, dem riesengroßen genialen Rest?
Goethe
Mit letzter Kraft konnte sich Goethe ans Ufer der Saale unterhalb der Burg Giebichenstein retten, denn die vollgesogene Kutte hatte sich um sein linkes Bein geschlungen und hätte ihn fast untergehen lassen. Er war benommen vom Aufprall, aber erleichtert, dass er lebte. Bei aller Freude bemerkte er, dass seine nasse Kleidung widerlich stank. Am Ufer blinkten Lichter … trotz nächtlicher Stunde waren Leute gekommen, um ihm zu helfen. Er ließ sich aufheben und in eine weiße Kutsche tragen. Dann wurde er ohnmächtig.
Als er wieder zu sich kam, lag er in blütenweißen Laken. An einem einfachen Spind entdeckte er Bügel mit seiner Kleidung, sorgfältig gereinigt und aufgehängt: sein blauer Überrock mit den gesponnenen Knöpfen, die schmal gestreifte Weste aus Manchesterstoff, die Beinkleider. Auch die vermaledeite Kutte, die er sich noch unter Wasser vom Leib hatte reißen wollen. Die kalbsledernen Stiefel fehlten. Ihm fiel ein, dass er die vor dem Sprung ausgezogen hatte, um besser schwimmen zu können. Er nahm sich vor, einen Diener auf die Burg zu schicken, um sie zu finden.
Seine feine Wäsche lag ordentlich gefaltet im Regal. Sie schien schon gewaschen und gebügelt zu sein, die Halsbinde war elegant drapiert. Er musste sich bei der Herrin des Hauses bedanken und ihre Dienerschaft loben.
Vergeblich tastete er auf dem Nachtkasten nach einer Glocke, um sich bemerkbar zu machen. Auch ein Klingelband konnte er nicht entdecken. Er hatte rasende Kopfschmerzen. Ihm wurde schwindlig und er driftete wieder weg.
Als er erneut zu sich kam, stellte er erleichtert fest, dass ein sehr flaches Nachtgeschirr mit breitem Rand und Deckel griffbereit auf einem Hocker stand. Immerhin. Als er es nutzen wollte, merkte er, dass es nicht aus Porzellan war. Das Material wog viel leichter. Er konnte sich im Liegen darauf schieben, ohne Hilfe. So etwas wollte er sich auch anfertigen lassen.
Zu bemängeln war alles in allem nur das Nachtgewand, das er trug. Es war unschicklich kurz, von minderer Qualität und hinten von oben bis unten offen, womöglich kaputt. Erschöpft dämmerte er wieder weg.
Plötzlich schreckte er hoch. In der Türöffnung stand eine junge Dame, in Unterwäsche. Sie trug nur lange weiße Beinkleider ohne Spitzen oder Rüschen und darüber ein schlichtes Hemd. Ihr Haar war nicht frisiert. Ein langer unordentlicher Zopf aus rotblonden Locken hing über ihre Schulter. Augenscheinlich eine Angestellte des Hauses, die sich in Eile in der Etage geirrt hatte. Resolut zog er seine Bettdecke bis zum Kinn und schaute aus dem Fenster, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Schön, dass Sie wach sind. Visite in fünf Minuten!« Es klang wie ein Befehl.
»Mein Fräulein, bitte bedecken Sie sich. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Eventuell ein Morgenmantel?«, schlug er vor.
»Nix da Fräulein! Schwester Emmi, eigentlich Emilia, bitteschön.«
Ein leichter Herzschmerz durchzuckte ihn. Der Name weckte Erinnerungen. Amalia, dachte er, wird mir diese Kapriole nicht verzeihen. Er deutete im Liegen eine Verbeugung an. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, wenn auch in despektierlichem Zustand meinerseits und … äh, Verzeihung, auch Ihrerseits. Es eilt anscheinend. Aber gleichwohl, wer mich visitieren möchte, muss warten. Zuerst muss ich mich ankleiden lassen. Bitte schicken Sie mir einen Kammerdiener!«
Sie kicherte. »Unmöglich, Ihre Visite ist schon im Nachbarzimmer. Soll ich Ihnen beim Aufsetzen helfen?«
Entsetzt wedelte er mit den Händen, damit sie sich entfernte.
Doch sie blieb stehen und vermeldete den Besucher: »Professor Hühnefeldt!«
»Und hier haben wir wen?«, vernahm Goethe eine tiefe Stimme.
Schwester Emmi flüsterte so laut, dass er es hören konnte: »Heute Nacht aus der Saale gefischt, Herr Professor. Er scheint verwirrt und spricht altmodisch, sehr umständlich. Ich konnte ihn noch nicht fragen.«
Empört richtete Goethe sich auf und schaute die beiden streng an.
»Geheimer Rat Johann Wolfgang von Goethe«, stellte er sich vor. »Erfreut, Ihro Gnaden Bekanntschaft zu machen. Bitte meinen unpassenden Aufzug zu entschuldigen, aber Ihr gnädiges Fräulein Schwester deutete schon an, dass Eile geboten sei. Trotzdem möchte ich nicht versäumen, mich für die freundliche Aufnahme in Ihrem Haus zu bedanken. Dies sei hiermit aufs Herzlichste geschehen.«
Der Professor neigte den Kopf und massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfen. Er schien seine Worte abzuwägen. »Soso«, murmelte er. »Ebenfalls erfreut, hoch erfreut!« Er hob den Blick. »Selbstverständlich sind uns ihre Verdienste und ihre literarischen Werke bekannt und …«
Goethe unterbrach ihn: »Und nicht zu vergessen meine naturwissenschaftlichen Forschungen!«
Wieder rieb der Professor sich die Schläfen. »Ich verehre Sie, Herr von Goethe. Nichtsdestotrotz muss ich Ihnen sagen, dass Sie sich hier in keinem Privathaus befinden, sondern in einem … Hospital. Ich selbst bin Arzt. Sie waren fast zwei Tage ohne Bewusstsein, scheinen sich bei Ihrem Sturz in den Fluss eine Gehirnerschütterung zugezogen zu haben.«
Goethe erhob stoppend die Hände. »Es war kein Sturz, es war ein Sprung. Aus circa hundert Fuß Höhe. Ein Experiment sozusagen«, betonte er.
»Interessant, sehr interessant! Bitte beantworten Sie mir einige Fragen, damit wir sicher sein können, dass es keine bleibenden Schäden gibt. Haben Sie Kopfschmerzen?«
»Ein Hospital in Halle?«, unterbrach ihn Goethe. »Ich bin über die Franckeschen Stiftungen informiert, kenne den Direktor. Eine sehr lobenswerte Einrichtung für junge Menschen. Auch weiß ich, dass dort dreimal wöchentlich die Hallische Zeitung gedruckt wird. Aber ein Spital? Ein Armenhaus für Alte? Nun, deshalb die … äh, spartanische Einrichtung. Und Kleidung«, ergänzte er nach einem Seitenblick auf die Schwester. »Verstehe, da haben wir also die Schwester Oberin.
Sehr jung allerdings, scheint mir. Zu jung für solche Aufgaben.« Missbilligend verzog er das Gesicht. Dann tippte er sich auf die Brust. »Stellen Sie, in Gottes Namen, Ihre Fragen, damit ich mich manierlich kleiden und dieses unsägliche, für mich unpassende Haus verlassen kann!«
Ohne Vorwarnung fragte der Professor: »Welches Datum haben wir heute?«
»Zwei Tage bewusstlos?« Goethe lächelte herablassend, während er an den Fingern etwas abzählte. »Fünfundzwanzigster September anno 1786!«
»Wann wurden Sie geboren?«
»Im Jahre des Herrn 1749. Am achtundzwanzigsten August.«
»Wo ist Ihr Wohnsitz?«
»Am Frauenplan zu Weimar.«
»Warum sind Sie aus so großer Höhe in die Saale gestür… gesprungen?«
»Die Saale war nicht der Grund, die Fallhöhe war ausschlaggebend.«
Der Professor fixierte ihn überrascht und signalisierte ihm, dass er fortfahren möge.
»Um es kurz zu machen: Nach ausführlichen Studien in alten Schriften habe ich versucht, in eine andere Zeitebene zu gelangen. Während der Herbst- und Frühjahrsäquinoktien öffnet sich angeblich ein Zeitfenster. Aber es waren wohl doch nur Legenden unwissender Menschen.« Seine Körpersprache drückte herbe Enttäuschung aus. Müde lehnte er sich zurück.
Hühnefeldt nickte nachdenklich. »Die Äquinoktien, soso. Sie sind erschöpft, das ist verständlich. Bevor Sie aufbrechen, müssen Sie sich etwas stärken und Ihren angegriffenen Geist ausruhen.« Er gab der Schwester ein Zeichen. »Trinken Sie bitte diese … äh, Medizin. Ich muss darauf bestehen. Schließlich möchte ich nicht, dass Ihnen noch mehr passiert.«
Goethe schloss ergeben die Augen. Er trank das Fläschchen aus, das die Schwester ihm reichte.
Sie blickte ihren Chef fragend an.
»Seine Konstitution ist gut, Schwester Emmi. Aber bevor der Schock kommt, muss sich sein geniales Gehirn noch mehr beruhigen.« Er zwinkerte ihr zu. »Hängen Sie ihn an einen Tropf und lassen Sie ihn vierundzwanzig Stunden durchschlafen. Morgen sehen wir weiter. Ich hoffe, bis dahin fällt meinem eigenen genialen Hirn etwas Praktikables ein. Und, Emmi, kein Wort, zu niemandem!« Er neigte mehrmals den Kopf nach rechts und links und stieß langsam die Luft aus.
***
Während Ihres Nachtdienstes recherchierte Emmi im Internet und fand einiges über Goethe heraus:
Goethe ist genervt vom provinziellen Weimar. Er besitzt hohes Ansehen bei Hofe, seit 1776 ist er Geheimrat, 1782 wurde er geadelt und bekleidet mehrere Ministerposten. Trotzdem kann er seine Liebe zur Herzogin Anna Amalia nicht öffentlich machen. Nur Frau von Stein, deren Hofdame, ist eingeweiht. Über sie läuft ein Austausch von Briefen. Außerdem kann er aus Zeitmangel seiner Dichtkunst nicht genug frönen. Die seichte Schriftstellerei für Weimarer Theateraufführungen genügt ihm nicht. Er fühlt sich zunehmend ausgenutzt. Nebenbei bemüht er sich, neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Forschung zu erlangen, um den allumfassenden Zusammenhang der Naturgesetze zu begreifen. Er glaubt nicht an eine Gottgegebenheit der Dinge. Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, reizt ihn am meisten.
Herder schreibt im Juni 1786 an Heyne: »Er ist in seiner Naturforschung der freieste, gründlichste, reinste Geist, den ich als Beobachter kennengelernt habe.«
Goethe hat davon Kenntnis erhalten und fühlt sich in seinem Vorhaben bestärkt. Unermüdlich sucht er nach Antworten. Deshalb beschäftigt er sich höchstwahrscheinlich auch mit Okkultismus, Sagen und Astrologie.
Charlotte von Stein schreibt Ende August 1786 an Knebel: »Den 23. habe ich einen Brief von Goethe, wo er mir schreibt, er werde noch acht Tage in Karlsbad bleiben, als dann dunkel und unbekannt eine Weile in Wäldern und Bergen herumziehen, so daß er unter sechs Wochen nicht hier sein wird.«
***
Als Goethe am nächsten Tag erwachte, saß eine manierlich gekleidete Emmi an seinem Bett. Sie trug ein Kleid aus geblümtem Leinen, das in der Taille gegürtet war. Mit gerunzelter Stirn schaute sie ihn an. In ihren Augen vermeinte er jedoch, einen Schalk zu entdecken. »Es ist mein Begehr …«
Bevor er weitersprechen konnte, legte sie ihm den Finger auf den Mund. »Der Professor will zuerst mit Ihnen reden. Vorher dürfen Sie nicht aufstehen!«, befahl sie streng.
Sie hielt etwas Flaches an ihr Ohr und flüsterte vor sich hin.
»Was ist das für eine kleine Schachtel?«, wollte Goethe wissen.
Ablehnend schüttelte sie den Kopf.
Wieder setzte er an, etwas zu sagen, aber sie stoppte ihn mit einer Handbewegung.
Die Tür wurde aufgerissen und der Arzt schritt stürmisch und mit ausgebreiteten Armen zum Bett. »Mein verehrter Herr von Goethe!« Am Fußende blieb er stehen, guckte verlegen und zog die Lippen zwischen die Zähne. Doch dann gab er sich einen Ruck: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie.« Er lächelte bedauernd. »Erstens: Ihr Experiment ist geglückt. Zweitens: Leider sind Sie schon tot.«
Emmi und er hielten den Atem an.
Goethes Mund stand offen, er blinzelte. Dann legte er den rechten Handrücken an die Stirn und schloss seine Augen. Bleich sank er zurück.
»Aber Sie sind wirklich in Halle«, flüsterte Emmi.
Goethe richtete sich auf, er hatte sich bereits wieder gefasst. »Welches Datum haben wir?«, fragte er streng.
Der Professor griff nach Goethes Handgelenk und fühlte, während er antwortete, den Puls. »Heute ist der sechsundzwanzigste September … nun ja, 2016. Sie lebten vor über zweihundert Jahren.«
Lange war es still.
»Aber ich bin nicht tot!«, blaffte Goethe plötzlich. »Sie sagten, ich sei tot.«
»Ja. Und nein«, wand sich der Arzt. »Für unsere heutige Zeit sind Sie schon lange gestorben. In Weimar, am zweiundzwanzigsten März 1832.«
Wieder Stille. »Sie kennen mein Todesdatum?«
Emmi trat vor. »Es steht in allen Biografien über sie. Jeder lernt es in der Schule. Sie sind der berühmteste Dichter Deutschlands.«
Er war sprachlos, aber nicht über seine Berühmtheit. »Ach, höchst interessant, auch mein Tod liegt in der Zeit der Äquinoktien! Die Konstellation der Gestirne scheint mein Dasein zu steuern.« Entschlossen richtete er sich auf. »Bringen Sie mir einen Krug Wasser, ich möchte Toilette machen!«
Emmi zeigte auf das Waschbecken und betätigte den Hahn.
Ungläubig schüttelte Goethe den Kopf. »Teufel noch mal! Übernatürlich, außerordentlich übernatürlich.« Doch dann nickte er. »Hinaus mit Ihnen! Ich muss mich ankleiden. Und besorgen Sie mir Stiefel! Dann will ich sofort nach Weimar. Beschaffen Sie mir eine Reisekutsche, koste es, was wolle!«
Professor Hühnefeldt und Emmi verließen das Zimmer.
Kaum im Flur, legte Emmi das Ohr an die geschlossene Tür und lauschte.
»Was treibt er?«
»Wasser plätschert. Er flucht.«
»Ich habe eine Idee.« Der Arzt rieb sich die Hände. »Wir informieren vorerst keine Behörde. Sie bekommen bezahlten Urlaub als meine wissenschaftliche Assistentin.«
»Aber …«
»Den Posten der leitenden Stationsschwester muss ich Ihnen sowieso entziehen. War ja untypisch für eine Praktikantin und nur der Situation geschuldet, dass ich so schnell wie möglich eine Krankheitsvertretung brauchte.« Er klopfte ihr jovial auf die Schulter. »Und natürlich ihrem ganz hervorragenden Abschlusszeugnis der Schwesternschule.« Er gluckste, es klang wie ein Rülpser. »Übrigens haben sie die Aufgabe besser gemeistert als Oberschwester Hildegard.«
Emmi dankte. Zum Glück hat er die entfernte Verwandtschaft zwischen seiner Frau und meiner Mutter nicht erwähnt, dachte sie.
»Also kann ich Sie ohne Bedenken für eine anspruchsvollere Tätigkeit einsetzen«, erklärte er. »Wie zum Beispiel eine Forschungsstudie zu Menschen mit gespaltener Persönlichkeit. Der da drin wird Fallbeispiel Nummer eins.«
»Sie trauen ihm nicht?«
»Alles kann inszeniert sein. Das kann er sich ja angelesen haben. Ich kenne so einige Napoleons, Kaiser Wilhelms und so weiter, das können Sie mir glauben.« Er legte den Finger an die Nase und murmelte vor sich hin. »Man könnte durchaus eine wissenschaftliche Arbeit daraus machen. Wobei der Name Goethe, den der Patient benutzt, natürlich zusätzliches Interesse wecken würde. Thema: Posttraumatische Persönlichkeitsstörungen nach Sturzverletzungen aus großen Höhen«, formulierte er mit geschlossenen Augen.
An Emmi gerichtet fuhr er fort: »Sie werden ihn begleiten. Keine Widerrede! Bleiben Sie immer ganz dicht an ihm dran. Und denken Sie sich eine glaubhafte Erklärung aus. Schauspieler, Goethe-Double, Proben von Filmszenen oder so.« Er hob den Zeigefinger. »Und lassen Sie sich um Himmels willen nicht von ihm einlullen. Er wird auch den Frauenliebling und Verführer mimen. Na ja, keine Sorge, angeblich ist er ja erst auf der Italienreise sexuell aktiv geworden.«
Emmi errötete und lenkte ab. »Was machen wir mit den Stiefeln?«
Er gab ihr seine Autoschlüssel. »Er bekommt seine Kutsche nach Weimar. Ich hoffe, mein dreckbespritzter Land Rover wird ihn zufriedenstellen.
Geben Sie ihm meine Gummistiefel. Die liegen im Kofferraum. Wahrscheinlich sind ihm die zu groß, also kaufen Sie ihm unterwegs dicke Socken. Alle Ausgaben mit Quittung, bitte. Alle!« Dann ergänzte er süffisant: »Aber vielleicht passen ihm ja die roten Gummistiefel meiner Frau.«
»Mit Ihrem teuren Auto und einem Spinner nach Weimar!« Emmi grinste. »Ein Traum!«
In selben Moment öffnete sich die Zimmertür. Die Verwandlung ihres Patienten ließ beide verstummen. Seine Erscheinung war beeindruckend. Die Kleidung wirkte mit der Halsbinde etwas hippiemäßig, aber edel. Er trug die weiße Mönchskutte zusammengefaltet über dem Arm. Die langen braunen Haare waren geglättet und mit einem spitzenumsäumten Taschentuch nach hinten gebunden. Nur die nackten Füße störten das Gesamtbild. Trotzdem war sich dieser Mann seiner Bedeutung bewusst. Er sah gut aus, männlich und gleichzeitig klug.
»Es pressiert! Steht die Kutsche bereit? Wo sind meine Stiefel?«
Emmi war ganz aufgeregt. »Zu Diensten, Herr Geheimrat, bitte folgen Sie mir!«
Hühnefeldt begleitete sie zum Ausgang. Er übergab Emmi ein Schreiben. »Falls die Polizei ihn kontrollieren will. Eine ärztliche Bestätigung, dass er sich nicht erinnert, wer er ist. Wir versuchen, ihn an Orte zu bringen, die seine partielle Amnesie auflösen könnten beziehungsweise sein gespaltenes Wesen dokumentieren.«
Emmi nickte. Sie wusste, dass er seinem Titel der Unfallchirurgie zu gerne noch einen hinzufügen wollte.
Am Auto angekommen holte sie die beiden Stiefelpaare heraus und hielt sie fragend abwechselnd hoch. Überraschenderweise griff Goethe zu den roten, in denen noch gestrickte Wollsocken von Frau Professor stecken. Er zog sie an und schlüpfte ohne Probleme in die Stiefel.
Einladend öffnete sie ihm die Tür zum Beifahrersitz. Goethe zuckte zurück. »Das ist keine Kutsche. Wo sind die Pferde?«
Emmi rollte mit den Augen. »2016!«, erinnerte sie ihn. »Eine technische Weiterentwicklung von einem Herrn Benz. Ein Automobil. Knapp fünfzig Jahre nach Ihrem … äh, Entschuldigung, es wurde erst nach Ihrem Tod erfunden. Der Kraftantrieb steckt im Innern. Er heißt immer noch Pferdestärken.«
Goethe hob abwehrend die Hände. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Als er sie ansah, schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Wer ist der Kutscher?«, fragte er herrisch.
Emmi wies auf sich.
Goethe bewegte hoheitsvoll den Kopf. »Ich reise nie neben einem Kutscher! Nur Lakaien sitzen vorn.«
Ergeben öffnete sie ihm die hintere Tür. »Wie Sie belieben, Euer Gnaden.«
Dann setzte sie sich hinters Steuer und startete den Motor.
Goethe schrie erschrocken auf.
»Sorry, das sind die Geräusche, die die modernen Pferde machen«, beruhigte ihn Emmi.
Er versuchte panisch, die Autotür zu öffnen, während ein Motorrad sie überholte.
»Stopp!« Nun schrie auch sie. »Das ist lebensgefährlich. Sie könnten überfahren werden.«
Goethe war völlig perplex. »Wieso reiten Ritter auf rollenden Pferden?« Nachdem er mehrmals tief ein- und ausgeatmet hatte, meinte er: »Ich muss mich sammeln.«
Vorsichtig stieg er aus und schritt langsam durch die Grünanlagen vor dem Krankenhaus.
»Ich warte hier, lassen Sie sich Zeit«, sagte Emmi beschwichtigend. In ihrem Kopf war ein erschreckender Gedanke aufgeblitzt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihre Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer These erzählt, um die es in einem Goethe-Roman ging, an dem sie mit ihrer Freundin Gemma schrieb: »Ich überlasse meiner Freundin das Fantasieren und Schreiben und unterstütze sie mit den nötigen Nachforschungen in Büchern oder Bibliotheken. Nebenbei muss ich ja unsere Detektei am Laufen halten. Meine kriminalistischen Ambitionen werden beidem guttun«, hatte sie ihr erklärt und sie gebeten, sich bei Gelegenheit das Rohmaterial einmal anzusehen. Sie hatte es ihr per E-Mail geschickt.
Emmi suchte auf ihrem Handy die Mail heraus. Sie war bisher noch nicht dazu gekommen, sich damit zu befassen. Was sie nun in dem doch schon überraschend weit ausgearbeiteten Manuskript fand, machte sie sprachlos. Die These lautete: Goethe hat einen Zeitsprung versucht. Emmi glaubte nicht an übernatürliche Phänomene, aber das Zusammentreffen der Ereignisse – die ausgefallene Buch-Idee und das gleichzeitige Auftauchen des Mannes, der behauptete Goethe zu sein, machte sie nachdenklich.
Aufgeregt las sie, wie ihre Mutter und deren Freundin Goethes Sprung praktisch darstellen wollten:
Angeregt von der Sage über Ludwig den Springer hatte Goethe sich die Ruine der Burg Giebichenstein über der Saale als Versuchsort ausgesucht. Ludwig konnte sich der Sage nach aus dem Burggefängnis befreien, indem er sich mit einem kühnen Sprung von einem Felsvorsprung in die Saale fallen ließ. Dabei trug er einen langen weiten Mantel, den er ausbreitete, sodass sich die Luft darin fing und den Aufprall milderte. Diese Methode schien Goethe am sichersten, schließlich wollte er überleben, wenn sein Versuch misslingen sollte. Er war ein guter Schwimmer, hatte sich schon von hohen Bäumen in die Ilm fallen lassen. Er liebte von Kindheit an Sagen und Legenden. Summa summarum glaubte er das Körnchen Wahrheit, das sie enthielten, für seinen Versuch nutzen zu können.
Es gab dazu einen Querverweis; Goethes Mutter schrieb an Friedrich von Stein: »Frankfurt, 17. Dezember 1786. Wissen Sie denn noch immer nicht, wo mein Sohn ist? Das ist ein irrender Ritter. Nun, er wird schon einmal erscheinen und von seinen Heldentaten Rechenschaft ablegen, – wer weiß, wie viele Riesen und Drachen er bekämpft, wie viele gefangene Prinzessinnen er befreit hat. Wollen uns im Voraus auf die Erzählung der Abenteuer freuen und in Geduld die Entwicklung abwarten.«
Berühmte Astrologen hatten seit Jahrhunderten über Zeitsprünge fabuliert, aber stets auch beschrieben, dass es nur mit Hilfe der Macht der Gestirne gelingen konnte. Goethe nannte es allerdings den Einfluss der Stellung der Sterne und Planeten, zum Beispiel des Mondes. Schon 1778 hatte er versucht, einiges davon in poetische Verse zu fassen:
»Was, von Menschen nicht gewußt
oder nicht bedacht,
durch das Labyrinth der Brust
wandelt in der Nacht.«
Die Worte fand er fast zehn Jahre später diffus. »Die Menschen wissen zu wenig von der Komplexität der Welt und können deshalb viele Zusammenhänge nicht deuten«, erkannte er in dem Roman-Manuskript. Deshalb wollte er versuchen, einen Teil des Durcheinanders von dunklen Gefühlen und Spekulationen zu klären. Er wollte die Menschen seiner Zeit mit Ideen und Überlegungen erleuchten, sie in eine aufgeklärte Zukunft führen. Dafür war er zu allem bereit, sogar zu einem gefährlichen Selbstversuch. Dafür würde er sogar mit dem Teufel paktieren, nicht nur mit Nebel, Mond und Mitternacht. Wenn er den Zeitsprung schaffte, wollte er es in einem großen dramatischen Werk beschreiben. »Am Anfang war die Tat.«
Als ihr Goethe auf die Schulter tippte, schrak Emmi auf. »Na, haben Sie sich gefasst?«, fragte sie und steckte eilig das Handy weg. Sie wollte ihn nicht überfordern und langsam mit den modernen Zeiten bekannt machten. Als Erstes mussten sie aber bei ihrer Wohngemeinschaft vorbeifahren, schließlich brauchte sie ein paar Sachen für den kleinen Trip. Er war in Gedanken und nahm es hin.
Statt die Autobahn zu nehmen, fuhr sie dann gemütlich über die Landstraße von Halle nach Weimar. Im Rückspiegel konnte sie beobachten, wie Goethe oft die Hände an die Schläfen drückte, als hätte er Schmerzen.
Auf einem Waldparkplatz machten sie eine Pause. Sie telefonierte, um Zimmer zu buchen.
Goethe stieg aus, verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging langsam auf und ab. Er ist es, dachte Emmi. Was für ein anziehender stolzer Mann! Selbst die albernen Stiefel konnten den Eindruck von Würde nicht schmälern. Als er stehen blieb, verharrte er in derselben Pose, legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel. Sie spürte, dass er um Beherrschung rang. Doch dann ließ er das Kinn auf die Brust sinken und schloss die Augen. Seine Schultern bebten.
Dieser Anblick rührte Emmi so sehr, dass sie ihm beruhigend über den Rücken strich. Sie konnte seine Qualen nachempfinden. Ohne sich strecken zu müssen, ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Überrascht bemerkte sie, dass seine körperliche Nähe sie erregte.
»Gibt es mein Weimar noch?«, flüsterte er unter Tränen.
»Sie werden alles wiederfinden, zumindest im historischen Stadtkern«, tröstete sie. »Vieles sogar schöner als früher, zu Ihrer Zeit. Es gibt sogar ein Denkmal von Ihnen.«
Ungläubig schaute er sie an. »Ein Denkmal?«
»Wirklich! In Lebensgröße!«
Er schwankte ein wenig und seine Hände zitterten, als er sich auf ihren Arm stützte.
Sie führte ihn zum Auto und gab ihm Beruhigungstabletten zum Lutschen. »Nicht schlucken! Unter die Zunge legen!«
Als sie weiterfuhren, sagte sie: »Wenn wir ankommen, werden Sie sich als Erstes hinlegen und ein Schläfchen machen.«
Er widersprach nicht. »In … äh, ich meine, kann ich in meinem Haus logieren?«
»Leider nicht, das ist inzwischen ein Museum.«
Er stöhnte auf.
»Nicht irgendein Museum, sondern Ihr eigenes. Oh, ich meine … eines zu Ihren Ehren.« Schnell ergänzte sie, dass Menschen aus aller Welt kämen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie der berühmteste deutsche Dichter gelebt hatte. »Ab drei Uhr nachmittags können Sie einchecken, ich meine, das Zimmer beziehen. Ich habe Ihnen eine kleine Ferienwohnung an der Ackerwand reservieren lassen. Dort können Sie es sich gemütlich machen, ohne dass Sie von Hotelpersonal gestört werden.«
»Unsinn, ich benötige natürlich Personal!«, schnauzte er. »Zumindest einen Kammerdiener!« Missbilligend verzog er den Mund und schüttelte den Kopf. Dann reckte er das Kinn vor und tippte sich mehrfach mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Selbst im Junggesellenhaushalt … am Frauenplan ab 1782 waren fünf Bedienstete beschäftigt.«
»Ich kann Ihnen behilflich sein und alles für Sie erledi…«