Golden Heritage (Crumbling Hearts, Band 2) - Carolin Wahl - E-Book
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Golden Heritage (Crumbling Hearts, Band 2) E-Book

Carolin Wahl

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Beschreibung

Sie will ein ganz normales Leben führen. Er will in die Elite Oslos aufsteigen. Früher war Ellinor Skogen ein Geist. Falscher Name, keine Social-Media-Accounts, abgeschottetes Eliteinternat. Einzig ihr bester Freund Lucas gab ihr ein Gefühl von Normalität – und dieses Kribbeln im Bauch. Bis er herausfindet, dass sie die Erbin des führenden Osloer Keksunternehmens KOSGEN ist und den Kontakt zu ihr abbricht. Heute, fast sechs Jahre später, trifft sie an ihrem ersten Arbeitstag dort unter verdeckter Identität ausgerechnet auf Lucas. Doch statt sie zu verraten, schlägt er ihr einen Deal vor: Er hilft ihr beim Einstieg in die Firma, wenn sie ihm Zugang zu Oslos Elite verschafft. Aber kann das wirklich gutgehen, wenn es zwischen den beiden so gewaltig funkt – heftiger als je zuvor? Zwischen Late Night Baking Sessions und Galadinnern – die Geschichte des KOSGEN-Imperiums geht weiter Spice, Glamour und die ganz großen Gefühle: In Band 2 ihrer New Adult-Reihe erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Carolin Wahl die Geschichte zweier Childhood Best Friends to Lovers, die vor einzigartig atmosphärischem Setting in der High Society Oslos gezwungen sind, einen Fake Dating-Deal einzugehen.

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Seitenzahl: 469

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Inhalt

PLAYLIST

1ELLIEs gab Momente …

2LUCASWas zum Teufel …

3ELLIAls ich das …

4LUCASMein Herz pumpte …

5ELLI»Bist du sicher, …

6LUCASIch brauchte genau …

7ELLIDass du Elli …

8LUCASSelbst zwei Tage …

9ELLI»Bringst du mir …

10LUCASVerdammt, sie ging …

11ELLIHatte ich völlig …

12LUCASDas kühle Bier …

13ELLIFreiheit. …

14LUCASDer Abend war …

15ELLI»Und dann?«, klang …

16LUCAS»Onkel Luc?«, piepste …

17ELLIDie Einfahrt des …

18LUCASDie nächsten Tage …

19ELLI»Möchtest du etwas …

20LUCASIhre Nasenflügel blähten …

21ELLI»Oh. Mein. Gott.« …

22LUCASDer Fahrtwind schnitt …

23ELLIInnerhalb der nächsten …

24LUCASDie nächste Woche …

25ELLIUnter anderen Umständen …

26LUCASEine Woche war …

27ELLIDer Geburtstag meines …

28LUCASDrei Helikopter-Shuttles flogen …

29ELLIDer Schmerz war …

30LUCASMeine Versuche, Elli …

31ELLIEin paar Tage …

32LUCASEllis Pulsschlag flatterte …

DANKSAGUNG

Für alle, die zu oft Ja anstatt Nein sagen: Es tut nicht weh, auch einmal Grenzen zu setzen.

PLAYLIST

The Avener – Fade Out Lines

Musique Boutique – Smooth Operator (Deep House Version)

Gustavo Bravetti – Babel

Phoebe Bridger – Garden Song

Billie Eilish – What Was I Made For? (From The Motion Picture »Barbie«)

The Killers – Mr.Brightside

Zara Larsson – Uncover

Tove Lo – Habits (Stay High)

Fleetwood Mac – Everywhere

Måneskin – Somebody Told Me

Shawn Mendes – If I Can’t Have You

Depeche Mode – Enjoy The Silence

Riton & Nightcrawlers – Friday (feat. Mufasa & Hypeman) (Dopamine Re-Edit)

Bad Omens – THE DEATH OF PEACE OF MIND

Olivia Rodrigo – Vampire

Robyn – Dancing On My Own

Billy Talent – Surrender

Harry Styles – Golden

Taylor Swift – All Too Well (Taylor’s Version)

Taylor Swift – Is It Over Now? (Taylor’s Version) (From The Vault)

The Weeknd – Hardest To Love

Wilee – Night Drive

ZODIVK – Haters

1

ELLI

Es gab Momente im Leben, in denen man den Boden unter den Füßen verlor und in die Dunkelheit stürzte. Ein paar dieser Augenblicke hatte ich erlebt, konnte sie an einer Hand abzählen.

Einer davon stand nun direkt vor mir.

Ich spürte, wie mir kalter Schweiß ausbrach und meine Finger sich in den Stoff des senfgelben Valentino-Kleides krallten, sodass ich Angst hatte, meine langen Nägel könnten einen Riss hinterlassen. Die andere Hand umklammerte den Oberarm meines älteren Bruders Sander, den ich gerade darüber informieren wollte, dass seine Begleiterin für den Abend – Norah – hektisch vom Ball geflohen war. Ganz im Disneyprinzessinnenstil und mit einem gehetzten, beinahe todtraurigen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. Doch nun blieben mir die Worte förmlich im Hals stecken.

Die funkelnden Kronleuchter warfen ihr warmes Licht auf die elegant gekleideten Gäste, die in einem Meer aus Klängen um mich herum zu einer grauen Brühe verschwammen. Der prächtige Saal des Theaters pulsierte vor Energie und Geheimnissen. Menschen strömten an mir vorbei, das leise Summen der Gespräche und das Klirren von Gläsern kam nur noch dumpf bei mir an, wie unter Wasser.

Meine Kehle fühlte sich an, als hätte ich Feuer geschluckt, und ich starrte in Lucas Stensruds teuflisch attraktives Gesicht. Dunkelbraune Augen mit unverschämt langen Wimpern, ein gepflegter Dreitagebart, der ihm ungeheuer gut stand. Die schwarzen Haare waren raspelkurz geschnitten und das weiße Hemd hob sich von seinem warmen, goldenen Hautton ab. Es war jenes Gesicht, das ich an meinem sechzehnten Geburtstag zum letzten Mal gesehen hatte und das mich daraufhin nicht länger in meinen Träumen, sondern in meinen Albträumen heimgesucht hatte.

Sein herber, maskuliner Duft drang in meine Nase, anders und trotzdem so vertraut wie eine verloren geglaubte Kindheitserinnerung.

Er war älter geworden. Sechs Jahre waren eine verdammt lange Zeit. Alles an ihm wirkte kantiger und gereift. Wie guter Wein. Die jugendlichen Züge waren denen eines erwachsenen Mannes gewichen und die einst so gütigen Augen blickten mich jetzt überrascht, aber distanziert an. Als würde er gar nicht wissen, dass mein Herz in Fetzen hing, seit er mich im Regen hatte stehen lassen. Wortwörtlich.

Lucas Stensrud.

Mein bester Freund, in den ich vier Jahre lang heimlich verliebt gewesen war.

Ausgerechnet er. Hier. Auf dieser Veranstaltung. Dem Benefizball im alten Theater, für dessen Einladung einige ihre Niere verkaufen würden. Lucas Stensrud, von dem ich mir meinen ersten Kuss gewünscht und später viel, viel mehr erhofft hatte, der in mir jedoch nie etwas anderes gesehen hatte als seine beste Freundin.

Donnernd schlug mir das Herz gegen die Rippen. Mein Puls galoppierte so heftig, dass ich mir sicher war, jeder könnte das Pochen meiner Halsschlagader beobachten.

»Lu-Lucas«, würgte ich schließlich hervor, froh, dass ich überhaupt eine Silbe über die Lippen gepresst hatte. Dankbar, etwas gesagt zu haben. Sekunden fielen wie Dominosteine.

Innerhalb eines Augenblicks zogen tausend Bilder vor meinem geistigen Auge vorbei. Splittermomente. Berührungen. Gesten. Sein Herzlächeln.

Pokker.

Ich hatte es immer Herzlächeln genannt, weil es direkt in mich eingedrungen war. Kein anderer Mann hatte ihm das Wasser reichen können. Ich hatte sie alle mit ihm verglichen, doch niemand hatte mich innerlich je so berührt wie er.

Wo war er gewesen? All die Jahre?

Was zum Teufel machte er hier?

»Elli«, erwiderte er und der Klang seiner Stimme war wie die Sonne, die durch eine dichte Wolkendecke brach.

In mir krampfte sich alles zusammen. O Gott, ich hatte ihn so sehr vermisst. Immer. Die ganze Zeit.

»Ich dachte, du kommst heute Abend nicht.«

Volltreffer.

In mir splitterte etwas.

Dieser eine, fast schon beiläufig dahingesagte Satz reichte aus, um den letzten Rest Liebe, den ich all die Jahre in mir bewahrt hatte, einfach auszulöschen. Als hätte ich schwarze Farbe über eines meiner liebsten Bilder gekippt. Sorgfältig hatte ich meine Gefühle für ihn aufgehoben, für den unwahrscheinlichen Moment, in dem wir uns noch einmal begegnen sollten.

Ich zuckte zurück, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Und genau so fühlte es sich an. Meine Wangen brannten.

Niemanden hatte ich jemals so nah an mich herangelassen. Kein Kerl hatte mich jemals so gut verstanden wie er. Früher war ich davon überzeugt gewesen, dass wir zwei Hälften eines zerbrochenen Spiegels waren, jetzt kam es mir vor, als wären wir immer nur ein Scherbenhaufen gewesen.

Woher hätte er meine Pläne für heute Abend kennen sollen? Hatte er mich beobachtet oder sogar im Auge behalten? Ich hatte mich kurzfristig umentschieden, das stimmte. Aber das konnte er eigentlich nicht wissen. Eigentlich.

Dieser Arsch. Dieser Arsch-Arsch!

Ja, Lucas Stensrud hatte mir das Herz gebrochen. Aber ich war nicht länger die Elli, die er damals zurückgelassen hatte. Auch ich war erwachsen geworden. Hatte mich verändert. Ein bisschen. Nicht genug.

Aber ich würde ihm niemals, niemals mehr die Gelegenheit geben, einen Blick auf meine geschundene Seele zu erhaschen.

Niemals.

Also straffte ich die Schultern, reckte herausfordernd das Kinn und legte all die lodernde Wut in meinen Blick, ehe ich mich abrupt meinem Bruder zuwandte. Lucas musterte mich weiterhin, Überraschung funkelte in seinen Augen.

»Sander, ich wollte dir nur sagen, dass Norah gerade sehr hastig das Gebäude verlassen hat.«

Ohne seine Erwiderung abzuwarten, drehte ich mich um. Mein Gesicht loderte vor Wut und Scham, als ich auf meinen sündhaft hohen High Heels davonstakste, als hätte ich einen Laufsteg vor mir. Es kostete mich meine gesamte Willenskraft, nicht einfach hier und jetzt in Tränen auszubrechen. Krampfhaft schlossen sich meine Finger um die goldene Clutch, ich wollte unbedingt einen ausdrucksstarken Abgang hinlegen. Ich war stark. Hoffentlich.

Einen Schritt vor den anderen. Meine Knie fühlten sich wie Butter an, die ich bereits für den perfekten Teig auf Zimmertemperatur gebracht hatte.

Noch einen Schritt. Und noch einen. Immer weiter von Lucas und meinem Bruder weg. Erst jetzt dämmerte mir, dass die beiden sich kennen mussten. Sie hatten sich unterhalten, als ich neben ihnen aufgetaucht war. Irgendwann würde ich Sander zu ihrem Verhältnis fragen müssen, aber nicht heute. Das würde ich nicht verkraften.

Mein Nacken prickelte und ich war überzeugt, dass mir Lucas’ Blick folgte, jede Bewegung beobachtete. Also gab ich noch einmal alles. Schultern nach hinten gedrückt, etwas mehr Hüftschwung als nötig.

Mein Ziel war die Damentoilette am anderen Ende des Saals, der sich plötzlich ausdehnte, als würde er einmal tief Luft holen. Ich brauchte dringend einen Moment der Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren und meiner besten Freundin Tiril eine Nachricht zu schreiben. Sie war die Einzige, die mich in dieser Situation verstehen würde.

Ich hatte nicht viele Freunde. Eine Handvoll Bekannte aus dem Studium. Allerdings hatte ich mich in den elitären Kreisen der Gesellschaft immer etwas unwohl gefühlt. Nicht so wie Theo, mein Bruder. Selbst Sander schaffte es mühelos, einen Raum voller Fremder in kürzester Zeit für sich einzunehmen. Dagegen war ich zurückhaltend und schüchtern, blieb lieber für mich und mied den Kontakt zu anderen Menschen, soweit es eben ging.

Wenn ich jemanden in mein Leben ließ, dann eigentlich für immer.

Vielleicht hatte mich Lucas’ Kontaktabbruch deswegen so zerschmettert.

Im gedämpften Licht der Toilette atmete ich zweimal durch, schloss mich in eine Kabine ein und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Mein Sichtfeld verschwamm, als Tränen aus meinen Augen kullerten. Zittrig sank ich auf den zugeklappten Toilettendeckel.

Nur gedämpft drangen die Geräusche des Balls, die lebhafte Musik und das fröhliche Lachen durch die geschlossene Tür. Hier auf der Toilette war ich in meine eigene kleine Blase gesperrt. Meine Finger waren feucht, als ich mein Handy aus der Clutch zog und den Chat mit Tiril öffnete. Ich angelte nach den richtigen Worten, tippte und löschte wieder.

Dann entschied ich mich für die gnadenlose Wahrheit. Ein Dolchstoß. Präzise und sauber.

Ich habe Lucas gesehen.

Erleichterung durchströmte mich, nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte. Weil es sich anfühlte, als müsste ich diese Scheißlast nicht allein tragen. Mich nicht allein dem Kampf der Vergangenheit stellen.

Zum Glück war auf Tiril wie immer Verlass.

Lucas, welcher Lucas?

Zwei Sekunden später folgten eine Reihe von entsetzten Emojis und die Frage:

DER Lucas?

Ja.

Fuck. Wie geht’s dir? Wie sieht er aus? Bestimmt ungepflegt und unglücklich, nachdem er dich damals so behandelt hat. Du weißt schon, karma-mäßig scheiße.

Trotz der Umstände ließ mich Tirils Wortwahl schniefend lächeln.

Er sah großartig aus. Er hat sogar noch so gerochen wie damals. Nein, besser. Aber er ist ein Arsch-Arsch.

Ich zögerte, doch nur kurz.

Er dachte wohl, dass ich heute nicht komme. Das war auch ursprünglich mein Plan. Also …

Unglaublich! Woher weiß er das? Ich stehe auf dem Schlauch. Hast du vielleicht doch etwas verbrochen … damals?

Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe. Spielte im Kopf alle Möglichkeiten durch. Aber da war nichts. Kein Gespräch. Kein Streit. Nichts, das den plötzlichen Kontaktabbruch erklären würde. Wochen-, nein monatelang hatte ich deswegen gegrübelt, überlegt und seziert, in der Hoffnung herauszufinden, weshalb er verschwunden war. Weshalb meine Nachrichten ins Leere liefen, nie gelesen wurden.

Gleich mehrere Frauen betraten die Toiletten, also schrieb ich rasch:

Ich glaub nicht. Aber ich melde mich später. Danke, dass du da bist.

Für dich immer, Maus. Du forderst viel zu selten ein. Normalerweise bin ich diejenige, die dich vollheult. Also sieh es als Ministeinchen auf der Gerechtigkeitswaage.

Nachdem ich die Tränen getrocknet und frisches Puder aufgelegt hatte, trat ich wieder in die Haupthalle. Hier und da spürte ich einen Seitenblick, der mich flüchtig streifte. Aber anders als meine beiden Brüder mied ich das Rampenlicht, war selten in den Klatschzeitschriften abgelichtet und besaß auch keine öffentlichen Social-Media-Accounts. Allein der Gedanke daran, immer und überall erkannt zu werden, verwandelte meine Handflächen in wahre Wasserrutschen.

»Hier«, erklang eine angenehm tiefe Stimme zu meiner Rechten, leise genug, sodass es außer mir niemand hörte. »Du siehst aus, als könntest du ein Glas Champagner vertragen.«

Als ich den Kopf wandte, empfing mich das freche Grinsen von Mar, besser gesagt Kronprinz Marius. Sanders bester Freund war das Scheinwerferlicht dieser Welt gewöhnt und zog sämtliche Blicke auf sich.

Doch ausgerechnet jetzt kam mir das ziemlich ungelegen. Dabei liebte ich Mar wie einen dritten Bruder, was vor allem daran lag, dass er immer schon in meinem Leben gewesen war und mich niemals für meine Schüchternheit verurteilt hatte. Er hatte einfach darüber hinweggesehen. Es nicht weiter beachtet. Mein Stottern. Schweigen. Starren. Das Rotwerden.

Im Laufe der Jahre hatte ich dank unzähliger Therapiestunden gelernt, damit umzugehen. Nur weil ich hart an mir gearbeitet hatte, versetzte mich dieser Benefizball voller Menschen nicht mehr in absolute Panik. Höchstens noch mickrige dreißig Prozent.

»Nichts für ungut, aber …«, setzte ich an, bemerkte dann jedoch aus dem Augenwinkel Lucas’ drahtige Gestalt. In der Zwischenzeit hatte er das Jackett abgelegt, sodass sein muskulöser Bizeps unter dem anschmiegsamen Hemd deutlich erkennbar war. Nicht weit von uns entfernt lehnte er an einer der zahllosen Marmorsäulen, das Gesicht halb im Schatten verborgen. Aber sein Blick … Ein warmer Schauer durchrieselte mich und ich fuhr mir unbewusst mit einer Hand über den Oberarm. Mein Herz stolperte.

Schnell wandte ich mich wieder Mar zu. »Ach, was soll’s«, verkündete ich eine Spur zu enthusiastisch, schnappte mir das Glas aus seiner Hand und leerte es in einem Zug. Es roch fruchtig und sprudelte wie ein Brausebad in meinen Hals.

»Auf … dich?« In Mars whiskeyfarbenen Augen stand ein fettes Fragezeichen. »Ist alles in Ordnung?«

»Jupp. Ging mir nie besser. Fühle mich ausgezeichnet. Regelrecht wie ausgewechselt.«

»Scheint ganz so.«

Unauffällig schielte ich an Mar vorbei und bemerkte, dass Lucas uns noch immer mit Adleraugen beobachtete. Das, was ich von seinem Gesicht sehen konnte, zeugte von kühler Beherrschtheit, dennoch hatte ich das Gefühl, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das seltsame Dinge mit meinem Bauch anstellte.

Wie ferngesteuert ließ ich meine Mundwinkel nach oben springen. Keine Sekunde würde ich mir vor Lucas die Blöße geben. Sollte er doch denken, ich hätte den Spaß meines Lebens.

Mar zuckte unmerklich zusammen. »Das sieht ehrlich gesagt ein bisschen gruselig aus.«

»Was genau meinst du?«, fragte ich mit schief gelegtem Kopf und drückte den Rücken durch, sodass meine Brüste etwas besser zur Geltung kamen. Krampfhaft lächelte ich weiter.

»Du siehst aus, als würdest du jemanden ermorden wollen.«

»Hihi«, kicherte ich und schlug Mar spielerisch auf den Arm. Mit einem koketten Wimpernaufschlag sah ich zu ihm hoch, wobei ich mir die Gelegenheit nicht entgehen ließ, verstohlen zu meinem ehemals besten Freund hinüberzuschauen. Obwohl sich Lucas redlich Mühe gab, verfinsterte sich seine Miene schlagartig. Yes! Genau das brauchte ich, um mein kümmerliches Ego zu streicheln.

»Du machst mir Angst.« Misstrauisch beäugte Mar erst mich, dann meine Hand, die jetzt auf seinem Unterarm lag und kleine Kreise darauf malte.

»Und du sagst immer so kluge, ausgesprochen zutreffende Dinge«, flötete ich und verlagerte ein wenig das Gewicht, um den Anschein zu erwecken, ihm einen besseren Blick auf mein Dekolleté zu gestatten.

»Im Moment habe ich keine Ahnung, was für eine Art von Unterhaltung wir gerade führen. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich lieber ein paar Schritte Abstand von dir halten sollte.«

Keine Ahnung, ob ich ihn jemals so nervös erlebt hatte, aber tatsächlich schien es, als würde ich den Kronprinzen leicht aus der Fassung bringen.

»Wer bist du und was hast du mit Elli gemacht?« Vorsichtig nahm er einen Schluck aus seinem Champagnerglas.

Verschwörerisch lehnte ich mich ihm entgegen und senkte die Stimme. »Und ich würde dir überallhin folgen.«

»Okay.« Mit einer Hand fuhr er sich durch das dunkelbraune Haar. »Das kann kein ernsthafter Flirtversuch sein, weil ich dich schon flirten gesehen habe. Das ist subtiler. Süßer. Was du da gerade veranstaltest, ist ein Chainsawmassaker, und ich bin mir nicht sicher, ob ich deiner Kettensäge im Weg stehen möchte.«

Dieses Mal musste ich mein Lachen nicht spielen. Ich drehte es nur ein paar Lautstärken nach oben. Mar sah aus, als würde er ernsthaft in Erwägung ziehen, einfach zu gehen.

Wieder schielte ich unauffällig an ihm vorbei. Mein Herz sank. Lucas war verschwunden. Keine Ahnung, weshalb mich das so enttäuschte, aber nach allem, was ich wegen ihm durchgemacht hatte, wollte ich es ihm irgendwie beweisen. Dass ich weitergelebt hatte. Dass es mir gut ging. Fantastisch.

Mit einem Seufzen wandte ich mich wieder Mar zu, als ich eine einnehmende Präsenz unmittelbar neben mir spürte.

»Hi«, erklang da auch schon Lucas’ Stimme und es durchfuhr mich siedend heiß. »Würdest du uns für einen Moment entschuldigen?«

Langsam wandte ich den Kopf, sah zu ihm auf, während er den Kronprinzen mit einem so kalten Blick maß, dass ich für eine Sekunde das Atmen vergaß. Ich war mir sicher, dass die Frage an mich gerichtet war, denn selbst Lucas Stensrud war nicht so unverfroren, in aller Öffentlichkeit das royale Protokoll komplett außer Acht zu lassen. Und auch der nächste Satz richtete sich wie ein Schwert an mich, obwohl er mich nur flüchtig dabei ansah.

»Ich muss mit dir sprechen. Jetzt.«

Pokker!

2

LUCAS

Was zum Teufel machst du da?

Ich spürte, wie mein Kiefer malmte, während ich verzweifelt versuchte, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Allerdings war es dafür zu spät. Ich hatte meine eigene, eiserne Regel gebrochen, mich nicht in ihre Nähe zu begeben.

Nachdem wir uns unverhofft über den Weg gelaufen waren, hatte es eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis ich wieder klar denken konnte. Ich hatte ihr hinterhergestarrt wie ein Schuljunge und den Blick nicht von dem verführerischen Hüftschwung, geschweige denn den Konturen ihrer Figur in diesem atemberaubenden gelben Kleid abwenden können, das ihren zarten rosafarbenen Hautton unterstrich.

Während der nächsten fünfzehn Minuten hatte ich mir eingeredet, dass die Begegnung kein Problem gewesen sei. Dass ich nicht wieder Monate – oder Jahre – daran zu knabbern hätte.

Aber jetzt hatte ich endgültig die Kontrolle verloren.

Ich hatte nicht mit ihr gerechnet, mich extra vorher umgehört. Damit genau diese Begegnung ausblieb. Damit ich ihren Anblick nicht ertragen musste.

Weil es all die verlorenen Möglichkeiten wieder ans Tageslicht zerrte, all die Momente, die ich gemeinsam mit ihr verpasst hatte.

Es ist besser so.

Mein Brustkorb schmerzte, als würde sich mein Herz darin regen. Doch das konnte nicht sein. Es war schon lange unter völliger Emotionslosigkeit begraben, unter bergeweise Arbeit. Vielleicht war es längst zu Staub zerfallen.

Obwohl ich Elli nicht anschaute, spürte ich sie in jeder Zelle meines Körpers. Spürte ihre Aufmerksamkeit. Ihren wachsamen Blick. Wie sie alles mit ihrer ruhigen, kühlen Art analysierte und aufnahm. Ihr verdammter Duft drang in meine Nase, eine Blumenwiese, in der ich mich am liebsten gewälzt hätte. Wie ein Straßenköter, der auf eine läufige Hündin aus der Nachbarschaft reagierte. Die Erinnerung an ihre zarte Gestalt, die sich an mich schmiegte, als wir bei einem Unwetter in meine Wohnung geschlichen und Susi & Strolch angesehen hatten, jagte in Sekundenschnelle durch meinen Geist. Was für eine Ironie.

Kronprinz Marius Olav von Norwegen betrachtete mich mit einem scheinbar gelangweilten Blick, doch ich beherrschte die Spielchen der High Society inzwischen zu gut. Auch wenn ich immer noch kein Teil davon war. Als wäre ich mit einem deutlich sichtbaren X markiert worden.

Marius wirkte irritiert. Eindeutig. Meine protokollarisch notwendige Verbeugung fiel kürzer aus, als angebracht wäre, aber das war mir egal. Die Art, wie Elli mit ihm geflirtet hatte, war kaum zu ertragen gewesen. Meine Beine hatten sich wie von selbst in Bewegung gesetzt, begleitet von einem rauschenden Herzschlag und einer unsäglichen Wut im Bauch. Da war einfach eine Sicherung durchgebrannt.

Alles, was mich interessierte – ich korrigierte mich im Stillen –, wer mich interessierte, stand einen Meter von mir entfernt. Schöner als je zuvor. Beeindruckender. Elli war ein hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt, als erwachsene Frau, könnte sie mich ohne jeden Zweifel mit einem ihrer Blicke in die Knie zwingen. Und heilige Scheiße, was hätte ich dafür gegeben, vor ihr in die Knie gehen zu dürfen. Damit sie mich ansah. Anlächelte. Verzückt meinen Namen stöhnte.

Augenblicklich schüttelte ich alle unangebrachten Bilder ab. Das hatte hier nichts verloren.

Es reichte, wenn ich mich in den nächsten Tagen im Halbschlaf ein bisschen damit quälte.

»Hi«, sagte ich und war erstaunt, wie normal ich mich anhörte, obwohl in mir ein Orkan wütete und ich den Kronprinzen am liebsten an seinem maßgeschneiderten Anzug gepackt und ein paar Meter nach hinten befördert hätte.

Auch das war völlig unangebracht. Genauso wie die Tatsache, dass sich meine Hand zu einer Faust ballte. Zuckte. Am liebsten Bekanntschaft mit seinem ausgeprägten Kiefer gemacht und einmal königliches Blut gekostet hätte. Es stand mir nicht zu, so zu denken. Nicht mehr.

Niemals.

»Also, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?«

Selbstverständlich galt Marius’ fragender Blick Elli, die ihn aus ihrer Audienz entließ.

»Sicher?«, fragte er.

»Schon in Ordnung, Mar.« Bei dieser vertrauten Anrede krampfte sich meine Faust etwas fester zusammen, aber wenigstens spielten meine Gesichtsmuskeln mit. Blieben standhaft. Neutral. Zumindest hoffte ich das. Mit einem knappen Nicken verabschiedete sich der Kronprinz, allerdings nicht, ohne mir einen eindringlichen Blick zuzuwerfen. Pass auf, was du abziehst, ich habe dich im Auge.

Den Mittelfinger in seine Richtung hielt ich zurück.

Erst dann sah ich Elli an. Und bereute es in derselben Sekunde.

Fuck.

Es war die wache Intelligenz in ihren großen nebelgrauen Augen, die noch immer diese Faszination auf mich ausübten, genau wie vor sechs Jahren. Alles an ihr wirkte anmutig. Die Art, wie sie sich durch den Raum bewegte, den Rücken gerade hielt, den Kopf schief legte oder die Lippen kräuselte. Ich war ihrer nicht würdig. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich würde es niemals sein.

Elli verdiente alles. Sie verdiente die Welt und ich konnte ihr nicht einmal die Wahrheit zu Füßen legen.

»Was willst du?«, fragte sie mich nun. Selbst ihre Stimme hätte einer Königin Konkurrenz gemacht und im Grunde war ihre Verachtung absolut gerechtfertigt.

»Wie geht’s dir?«

Wie geht’s dir? Heilige Scheiße, ich war in Ellis Nähe absolut nicht zurechnungsfähig. Das verlief nicht nach Plan.

Eine ihrer perfekten Augenbrauen wanderte in die Höhe. »Du bist extra rübergekommen, um mich das zu fragen?«

»Ja.«

Nein. Ich will einfach nur deinen verdammten Duft inhalieren, damit ich die nächsten sechs Jahre überleben kann.

»Ganz ehrlich, Lucas? Du hast das Recht auf eine Antwort in dem Moment verloren, in dem …« Jäh unterbrach sie sich, als hätte sie bereits zu viel offenbart. Sie schüttelte den Kopf, sodass ihre Brillantohrringe im Licht der Kronleuchter wie eingefangene Sterne funkelten. Dann lächelte sie. Und das schmerzte mehr, als ich wahrhaben wollte. Denn es war nicht mein Elli-Lächeln, dieses leise, verbotene, das mein Herz schneller schlagen ließ. Es war dasselbe Lächeln, das sie für jeden bereithielt, mit dem sie ungezwungenen Small Talk führen musste.

»Mir geht es wunderbar. Fantastisch. Und dir?«

»Mir geht es … auch gut.«

Fuck, fuck, fuck! Was machte ich? Warum war ich zu ihr gegangen? Weshalb hatte ich mich dazu verleiten lassen, in ihr Gespräch einzugreifen?

Ganz einfach, weil du es nicht ertragen konntest, dass sie mit dem Kronprinzen flirtet.

»Woher wusstest du, dass ich nicht geplant hatte, heute hier zu sein?«, hörte ich sie scheinbar arglos fragen, aber ich ahnte, dass es hinter ihrem aufmerksamen Blick gewaltig schwelte.

Weil ich in der Firma deiner Familie arbeite. Weil ich mehrfach dafür gesorgt habe, dass wir uns nicht zufällig begegnen. Weil ich mehr über dich weiß, als ich sollte.

Natürlich sagte ich nichts davon. Stattdessen zögerte ich, aber nur kurz. Ich musste dafür sorgen, dass sie mich weiter für ein Arschloch hielt. Musste mein kümmerliches Selbst schützen, andernfalls würde es mich wieder zerfleischen. Es war besser so. Immer gewesen.

Auf Abstand gehen. Wieder abtauchen. Sie weiterfliegen lassen, damit ich sie nicht zum Absturz brachte.

»Ich wollte mich nur kurz vergewissern, dass alles gut ist. Und ich möchte sicherstellen, dass wir uns in Zukunft nicht mehr über den Weg laufen.« Bei meinen Worten zuckte sie unmerklich zusammen. Am liebsten hätte ich alles zurückgenommen, aber es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr. »Dafür habe ich bereits ein paar Mal gesorgt.«

Herregud, ich war ein Wichser.

»Du hast … Du …« Elli verengte ihre Augen. »O-kay. Und weshalb?«

»Weil ich glaube, dass es besser ist, wenn wir uns nicht sehen. Gar nicht.«

»Habe ich dir irgendetwas getan? Etwas, woran ich mich nicht erinnern kann?«

»Ich möchte einfach nichts mit dir zu tun haben.« Die Worte krochen aus meinem Mund, als wollten sie sich an meiner Zunge festklammern, und ich absorbierte Ellis Schmerz, der plötzlich in ihren Augen aufglomm, nährte meinen Zorn damit. In meinem Inneren zog sich etwas qualvoll zusammen und mein Herz zuckte wie unter einem Defibrillator.

»Wie du wünschst«, sagte sie beherrscht, doch ihre Stimme zitterte ein wenig. Nicht auffällig, aber ich registrierte es dennoch. »Dann wünsche ich dir noch ein schönes Leben, Lucas Stensrud.«

Elli war kein Mensch, der wütend wurde. Sie war die Sanftmut in Person, herzlich und liebevoll, hatte für jeden ein freundliches Wort übrig und kümmerte sich um alle gleich. Egal, welchen Status oder welche Position jemand besaß. Ich wusste das, denn ich hatte es selbst erlebt.

Und genau aus diesem Grund musste ich mich tunlichst von ihr fernhalten.

Weil sie für all das stand, was ich verloren hatte.

Weil ich ihr nur das Herz brechen würde.

Weil sie mein Herz immer noch in der Hand hielt.

Ich atmete ein letztes Mal ihren unverwechselbaren Geruch ein, der sich mit ihrem frühlingshaften Parfüm mischte, gestattete mir einen Blick auf ihr puppenhaftes Gesicht, ihre zarte Gestalt. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und ging mit langen Schritten davon. Meine Beine fühlten sich an, als hätte ich es mit dem Kickboxtraining übertrieben. Aber ich ging weiter. Scheinbar gelassen. Beherrscht. Richtung Balkon. Ich brauchte frische Luft für meine benebelten Gehirnzellen.

Draußen war es stockfinster, als wollte sich der Himmel meiner Seele anpassen. Er hätte es nicht geschafft.

»Hey, Arschloch«, tönte es von rechts und als ich den Kopf wandte, stand plötzlich Marius Olav von Norwegen neben mir. Keine zwei Schritte entfernt. Bis auf uns beide war niemand hier. Entrüstung flackerte über sein attraktives Gesicht. »Wenn du ihr gerade wehgetan hast, sorge ich dafür, dass du in dieser Stadt garantiert nichts mehr zu melden hast.«

Erleichterung und Abscheu durchströmten mich. Erleichterung deswegen, weil jemand auf Elli aufpasste. Abscheu, weil ich derjenige war, der sie verletzt hatte. Sprudelnde Eifersucht durchzuckte mich, aber ich unterdrückte meine Gefühle, erstickte sie unter einer Maske aus Gleichgültigkeit.

»Nicht nötig«, erwiderte ich gelassen, obwohl ich am liebsten gebrüllt hätte. »Ich bin sowieso unbedeutend.« Obwohl ich Tag für Tag dafür kämpfte, dass sich das änderte. Obwohl ich so gern endlich den Weg in die Welt gefunden hätte, die mir in all den Jahren versperrt geblieben war. Um es mir selbst zu beweisen. Um nicht mehr der Junge mit der anstrengenden Kindheit zu sein, sondern einer von ihnen.

Bevor ich Marius den Rücken zukehrte, fixierte ich einen Punkt hinter ihm. »Danke.«

»Wofür?«, fragte er misstrauisch.

»Dass sie jemanden hat, der auf sie aufpasst«, antwortete ich und drehte mich weg, um mich in den Strudel meiner Dunkelheit zu stürzen.

3

ELLI

Als ich das Fenster in der Penthouse-Wohnung im Tjuvholmen-Stadtviertel aufriss und das glühend heiße Blech fluchend hinaushielt, strömte salziger Meeresduft herein. Dampf stieg in die kühle Abendluft, leise drangen das Rauschen des Oslofjords und dumpfe Bassklänge aus einer der beliebten Bars in Aker Brygge zu mir nach oben. Ich war zwar erst vor einer Woche eingezogen, aber das Apartment gehörte schon seit Jahren Großvater, weswegen wir es manchmal am Wochenende nach dem Feiern zum Übernachten genutzt hatten. Wenn wir nicht gerade in einem Hotelzimmer untergekommen waren.

Hustend kämpfte ich gegen die Tränen, denn der beißende Gestank von verkokelten Keksen juckte wie Schnupftabak in meinen Nebenhöhlen.

Es war klischeehaft, aber das Einzige, was meinem introvertierten Selbst half, sich wieder menschlich zu fühlen, waren Kekse. Egal in welcher Form. Für mich waren sie Therapiestunde und Beruhigungsmittel in einem.

Auch nachts, wenn die letzten Restaurants schlossen. Gerade dann. Das Fitnesscenter war eine gute Alternative. Aber dort waren meistens Menschen. Obwohl zu dem Gebäudekomplex, in dem ich wohnte, ein Sportstudio gehörte, zog ich es vor, bei meinen Eltern im großen Fitnessraum oder Indoorpool zu trainieren, denn da sah niemand zu.

Eigentlich hätte mich das Ausprobieren eines neuen Backrezepts entspannen und auf andere Gedanken bringen sollen – weg vom Grübeln wegen des Einstiegs bei KOSGEN, der unmittelbar bevorstand, außerdem weit weg von Lucas. Stattdessen fühlte es sich so an, als hätte ich meine Gedankenwelt in ein wahres Pulverfass verwandelt und ein brennendes Streichholz hineingeschmissen.

Frustriert stellte ich das Blech auf die wärmeresistente Ablage in der Küche, zog mir die Topfhandschuhe aus und pfefferte sie auf die penibel geputzte Arbeitsfläche. Keine Sekunde später bereute ich meinen untypischen Ausbruch, sammelte sie wieder ein und hängte sie an die vorgesehenen Haken neben dem Hochregal, in dem ich sämtliche Vorratsgläser mit passender Beschriftung einsortiert hatte.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Als ich durch den Spion schaute, entdeckte ich meine beste Freundin Tiril, die eine Papiertüte von The Salmon – einem meiner Lieblingsrestaurants – vor das Guckloch hielt.

Als ich ihr öffnete, stieß sie einen theatralischen Seufzer aus und schob sich an mir vorbei in den weitläufigen Wohn-Ess-Küchenbereich, der sich durch die komplette Glasfront an der gegenüberliegenden Seite noch größer anfühlte. Selbst bei Nacht war der Blick auf den Oslofjord atemberaubend.

»Du glaubst gar nicht, wie schwer es war, einen Liegeplatz zu bekommen. Um diese Uhrzeit! Alles belegt. Keine Ahnung, was die alle mit ihren Booten am Hafen machen.«

»Wetten, du hast dich viel zu kurzfristig darum gekümmert?«

Tiril strich sich ein paar obsidianschwarze Ponysträhnen aus der Stirn und schob ihren in Lipgloss getauchten Schmollmund vor. »Kann sein. Aber Aker Brygge und ich sind eigentlich so«, sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger und stellte die Papiertüte mit dem schicken Logo auf den Eichenholztresen, an dem vier passende Eichenholz-Designerbarhocker mit lachsfarbenen Ledersitzpolstern standen. Ein Stuhl allein kostete eine horrende Monatsmiete.

Wie ein Spürhund, der eine Fährte aufgenommen hatte, reckte Tiril ihren Hals und schnüffelte. »Was hattest du vor? Das Apartment abfackeln?«

Ich zuckte mit den Achseln. »So in etwa.«

»Scheint dir nicht gelungen zu sein«, sagte sie mit einem vielsagenden Blick in Richtung des Blechs, auf dem die verkohlten Kekse trostlos vor sich hin starrten. »Immer noch wegen der Begegnung mit Lucas?«

»Keine Ahnung«, murmelte ich. »Aber wahrscheinlich nicht.« Was gelogen war. Selbstverständlich hatte ich die halbe Nacht wach gelegen und war sämtliche Sekunden unserer Unterhaltung in feinster Sezierung durchgegangen. Hatte Blicke, Gesten und Wörter analysiert und aus den verschiedensten Winkeln beleuchtet, nur um dann zu dem Schluss zu kommen, dass ich so nicht weiterkam. Ich wusste nicht, was ich von unserer Begegnung halten sollte.

»Dann, weil du doch nicht sicher bist, ob du in die Firma einsteigen sollst?«, fragte sie und traf damit den Nagel auf den Kopf, während sie mich aufmerksam betrachtete. Das liebte ich so sehr an Tiril. Ihren sechsten Sinn, wenn es darum ging, für mich da zu sein. Denn eigentlich war ich immer diejenige, die sich für andere einsetzte, sich Sorgen und Nöte anhörte. Es lag in meiner Natur. Ich forderte es nur andersherum kaum ein. Es gab auch nicht viele Menschen, die meine ruhige Art nicht irritierte. Die meisten machten sich deswegen gar nicht erst die Mühe, Zwiebelschicht um Zwiebelschicht zu meinem Kern vorzudringen. Tiril hatte immer um unsere Freundschaft gekämpft, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Nur dass ich die Erfahrung gemacht hatte, nicht immer dasselbe zurückzubekommen, was ich gab.

»Warum kennst du mich so gut?«

»Weil wir uns mehrere Jahre ein Zimmer geteilt haben?«

Schweizer Internatsleben sei Dank.

Um von mir abzulenken, deutete ich auf die Tüte. »Und was ist mit dir, wieso bist du aufgetaucht? Als moralische Unterstützung? Oder wolltest du nur die Nummer des Chefkochs aus dem Salmon, das rein zufällig direkt bei mir um die Ecke liegt?«

Tirils Lächeln hatte etwas Raubtierhaftes, als sie mir die Zähne zeigte. »Wer sagt denn, dass nicht beides möglich ist? Ein bisschen Seelenfutter und anschließend Spaß haben.« Aus einer der oberen Schubladen holte sie das elfenbeinfarbene Stäbchenset, das sie mir zum Einzug geschenkt hatte. Die passenden Schälchen nahm sie aus dem schwarzen Hängeschrank. Anschließend zauberte sie zwei kleinere Sushiportionen aus der Papiertüte. »Also. Sushi. Lillet. Und danach ein Törtchen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass deine Kekse dieses Mal nicht als Nachtisch dienen können.«

»Es sei denn, du willst deine Arztrechnung in die Höhe treiben. Hast du die Nummer vom Chefkoch bekommen?«

Augenrollend wandte sich meine beste Freundin ab, griff nach zwei Gläsern und machte den Lillet fertig, inklusive Eiswürfeln, die sie aus meinem Kühlfach klaute. »Was denkst du denn? Ich habe eindeutig zu viel The Bear geschaut, sonst würde mich dieser verschwitzte, mürrische Koch nicht so anturnen. Und selbstverständlich habe ich die Nummer. Er konnte unmöglich Nein sagen. Auf eine unaufdringliche Er-fand-mich-insgeheim-süß-konnte-es-aber-nicht-zeigen-Weise.« Sie reichte mir ein Glas, um mit mir anzustoßen. »Auf dich und deinen Plan, ganz Succession-like die Macht des Keksimperiums an dich zu reißen.«

»Haha.« Ich trank einen Schluck des erfrischend fruchtigen Alkohols. »Auf dich und deinen Plan, den Chefkoch zu verführen.«

Sie lächelte katzenhaft. »Nur du würdest verführen sagen. Und nein. Nicht heute. Außerdem werde ich dich nicht so leicht vom Haken lassen, Els.«

Tiril war die einzige Person auf dem Planeten, die mich so nannte. Das erste Mal im Kunstraum, meinem Rückzugsort, wo ich mit Kopfhörern, viel zu lauten Fleetwood-Mac-Songs und meinen Gedanken auf einem leeren Blatt Papier eine Geschichte erschaffen hatte. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen war, aber sie hatte Ellinor nie mit Elli abgekürzt.

Seufzend stellte ich mein Glas ab, nahm die Stäbchen zur Hand und füllte die kleinen schwarzen Keramikschälchen mit Sojasoße, die Tiril bereits mit ihrer unschlagbaren Schnelligkeit bereitgestellt hatte. Niemand konnte mich so sehr aus meiner Komfortzone locken wie sie.

»Okay. Was willst du wissen?«, fragte ich und ließ den Lachs auf der Zunge schmelzen. Genüsslich schloss ich die Augen. »Boah, ich vergesse immer wieder, wie verdammt gut das ist.«

»Bist du sicher, dass du es durchziehen willst?«

Allein bei dem Gedanken stieg kribbelnde Nervosität in mir auf. »Ich habe schon mit Sander darüber gesprochen.«

»Du könntest trotzdem einen Rückzieher machen.«

»Ja, es sind aber nur zwei Jahre. Das Traineeprogramm umfasst verschiedene Stationen im Unternehmen und danach könnte ich einen NBA dranhängen.«

»Niemand wüsste, wer du bist, oder?«

Plötzlich war da ein Klumpen Blei in meinem Bauch und ich schüttelte den Kopf, umklammerte die Stäbchen wie ein Rettungsseil. »Nein. Ich wäre Elli Hanssen. Wie im Internat.«

»Hey«, sagte Tiril und ihre sonst so fröhliche Miene wurde ganz ernst. Trotzdem sah sie mich zuversichtlich an. »Els, ob du es glaubst oder nicht, du hast das Zeug dazu. Du bist wie so eine verdammte Muräne, die ihren Kopf aus einer Korallenhöhle steckt und nicht mehr loslässt, wenn sie sich einmal festgebissen hat. Man müsste deine Kaumuskeln mit einem Messer durchtrennen.«

»Äh …« Mir fehlten die Worte. Manchmal fragte ich mich, wie Tiril auf solche Vergleiche kam.

»Ich meine damit, dass du unschuldig und lieb aussiehst mit deinen großen Augen, und dann ZACK«, meine Freundin klatschte zur Unterstreichung ihrer Worte in die Hände, »schlägst du zu und bist nicht zu stoppen.«

Angeekelt verzog ich das Gesicht, doch Tiril winkte mit einem Grinsen ab. »Du weißt, was ich meine. Du bist unfassbar talentiert und leidenschaftlich, in allem, was du tust. Während des ganzen Studiums warst du eine absolute Streberin. Ich wäre spätestens bei Molekularküche ausgestiegen, aber du hast den ganzen Chemiekram durchgezogen, als wäre es der Witz des Jahrhunderts. Wenn du ab und zu scheiterst, ist das nur deinem absoluten Perfektionismus geschuldet«, fuhr sie mit einem vielsagenden Blick in Richtung des Blechs fort. »Vertrau dir selbst und lass dich von deiner Schüchternheit nicht zurückhalten. Tritt einfach allen in den Arsch. Vor allem dem Knackarsch deines Bruders, wenn er dir blöd von der Seite kommt.«

Es bedurfte keiner Erklärung, mir war auch so klar, dass sie von Sander sprach, für den sie in der Vergangenheit geschwärmt hatte.

Das brachte mich unwillkürlich zum Kichern. »Du bist immer noch nicht darüber hinweg, dass er dir einen Korb gegeben hat, oder?« Wahrscheinlich war er einer der wenigen Menschen, auf die das zutraf. Tiril liebte nicht oft, dafür aber umso intensiver.

Sie machte wieder einen Schmollmund und bekam einen sehr verträumten Ausdruck. »Es hätte so gut werden können. Egal. Sein Verlust.«

»Falls es dich interessiert: Ich denke nicht, dass er noch lange bei KOSGEN arbeiten wird. Zumindest nicht in der Funktion des angehenden Thronfolgers.«

»Oh, weshalb?«, fragte Tiril neugierig und schlürfte an ihrem Lillet. »Macht er dir wirklich den Weg frei? Ich wäre voll dafür, dass du eines Tages den Laden schmeißt.«

»Er hat es angedeutet«, antwortete ich ausweichend, weil ich nicht wusste, wie fortgeschritten die Pläne meines Bruders waren und wie sehr es ihn stören würde, dass ich mit Tiril darüber sprach. »Außerdem hat er jemanden kennengelernt. Norah. Bodenständig. Mit Köpfchen und ihrem eigenen Weg. Lässt sich von seinem Background nicht beeindrucken. Er muss sich für sie ganz schön ins Zeug legen, aber das macht er echt gut.« Als ich an die sprühenden Funken zwischen den beiden auf dem Benefizball dachte, stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

»Trotz der ganzen Skandalsache?«, wollte Tiril wissen.

»Anscheinend«, erwiderte ich achselzuckend und versenkte ein Nigiri in der Sojasoße, ohne den Reis hineinzutunken, weil Tirils Großeltern sonst einen stillen Anfall bekommen hätten. Als wir sie anlässlich ihrer Vernissage im Metropolitan Museum of Art in New York getroffen hatten, war es der massive stumme Seitenblick von Ojichan gewesen, der mich an meiner Stäbchentechnik hatte zweifeln lassen. Bis mich Tiril darüber aufgeklärt hatte, dass es nicht an meiner fehlenden Fingerfertigkeit lag, sondern am Reis in der Sojasoße. Anscheinend war das in der japanischen Kultur ein absolutes No-Go.

»Was wäre denn deine erste Station?«, vertiefte sie das Thema meines möglichen Einstiegs.

»Corporate Development. Mindestens sechs Monate. Anschließend noch Marketing und zum Schluss Produktentwicklung.« Woran eigentlich mein ganzes Herz hing. Aber wenn ich meinen Plan ernsthaft verfolgen wollte, musste ich es Schritt für Schritt durchziehen. Egal, wie sehr sich meine Zehennägel aufrollten, wenn ich mir vorstellte, bei KOSGEN zu arbeiten, die wichtigen Abteilungen zu durchlaufen und – Gott bewahre – Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen.

»Uuuuh, die Quelle der Macht«, sinnierte Tiril und musterte mich eingehend, als würde sie einen Barcode scannen. »Wovor hast du Angst?«

Ich verengte die Augen. »Du bist gruselig gut darin, mich zu durchschauen.«

Tiril zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern.

»Ich habe Angst, es nicht zu schaffen. Aber ich will es schaffen. Mir selbst und allen anderen beweisen, dass ich mit meinen Ideen und Innovationen etwas wirklich Großes bewegen kann. Bisher habe ich mich nie getraut, wirklich dafür zu kämpfen.«

»Dass du Lebensmitteltechnik studiert hast, spricht eigentlich total dafür«, widersprach Tiril sanft, steckte sich das letzte Nigiri in den Mund und kaute mit einem seligen Ausdruck darauf herum.

»Das stimmt schon.«

»Also, worauf wartest du dann noch?« Sie ließ einfach nicht locker, doch darauf hatte ich ehrlicherweise keine Antwort.

Ich straffte die Schultern, denn Tiril hatte schon wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Es gab keinen Grund, meinen Einstieg auf die lange Bank zu schieben. Weiter an mir zu zweifeln. Wenn ich etwas erreichen wollte, musste ich mich meinen Ängsten und inneren Dämonen stellen, selbst wenn sie mich bis in meine Träume verfolgten und damit Lucas Stensrud große Konkurrenz machten. Ich wollte mich weiterentwickeln, aus meinem Schneckenhaus ausbrechen.

»Du hast recht.«

»Das habe ich in den meisten Fällen, aber was genau meinst du jetzt?«

Mein Herz schlug plötzlich unkontrolliert schneller. »Es wird Zeit, dass ich mich endlich traue.«

Stolz huschte über Tirils hübsches Gesicht. Sie hob ihr Glas und prostete mir zu. »Das ist mein Mädchen. Auf in die Schlacht!«

4

LUCAS

Mein Herz pumpte frisches Blut durch die Venen, während ich meine Atmung regulierte und mich auf Eriks Bewegungen fokussierte. Geschickt versuchte er, mich mit einem Low-Kick-High-Kick aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein gezielter Tieftritt in Richtung meines Beins, dann schwang er nach oben und zielte auf meinen Kopf, sodass ich Mühe hatte auszuweichen. Der Mundschutz gab unter dem Druck nach, als ich vor Frustration mit den Zähnen knirschte. Ich spürte den Schweiß im Nacken und auf der Stirn, das Dehnen der Muskeln, wie sie arbeiteten.

Jede Zelle meines Körpers war bereit für den Kampf.

Ich brauchte ihn.

Aber ich war nicht bei der Sache.

Normalerweise konnte ich Erik lesen wie ein offenes Buch, ahnte seine Bewegungsabläufe voraus, wusste, wann er versuchte, mich zu kontrollieren und aus der Reserve zu locken. Oder wann er seine Kraft einteilte, um ausnahmsweise einen Angriff zu starten.

Und eigentlich führte ich den Kampf. Allerdings nicht heute.

Erik machte einen schnellen Jab-Cross, gefolgt von einem Jab-Cross-Hook, was mich wahrscheinlich verwirren sollte. Es klappte. Er attackierte mich mit einem geraden Schlag seiner behandschuhten Führhand, dann folgte ein weiterer gerader Schlag mit der Schlaghand, dicht gefolgt von einem Haken. Nur mit Mühe wich ich ihm aus. Ein Luftzug streifte mein erhitztes Gesicht, als er mich um Zentimeter verfehlte und ich schwerfällig tänzelnd zur Seite sprang.

»Herregud, heute ist deine Beinarbeit wirklich beschissen«, presste er undeutlich hervor und am liebsten hätte ich ihm den selbstgefälligen Ausdruck aus seiner Visage geboxt.

Zum Glück wusste Erik nicht, wann es Zeit war, die Klappe zu halten. Es wäre so einfach gewesen, meine Schwäche für sich zu nutzen. Aber dafür hörte er sich viel zu gern reden.

Also versuchte ich, ihn mit einem Kick in Richtung Knie auf Distanz zu halten, und ging dann blitzschnell in den Nahkampf über. Ihm blieb weder die Zeit, mir richtig auszuweichen, noch, einen Konterangriff zu starten. Der Nahkampf war Eriks Achillesferse und meine Stärke. Mein Fuß traf auf seinen Schienbeinschoner, als er einen Ausfallschritt nach links machte, um meinem Tritt zu entkommen.

Ich war schnell. Gnadenlos. Ich kämpfte mit allem, was ich besaß. Körper, Seele, Geist. Weil ich nichts zu verlieren hatte. Immer mit einem Bein am Abgrund.

In diesem Augenblick kündigte der Timer das Ende unserer Rundenzeit an. Erik richtete sich aus seiner leicht gebückten Haltung auf und hielt mir beide Boxhandschuhe entgegen. Mit ausdruckslosem Gesicht stieß ich kurz dagegen. Uns war beiden klar, wie miserabel meine Leistung gewesen war. Während unseres kompletten Sparrings hatte ich in jeder Runde viel zu viele Treffer kassiert, was sein großspuriges Grinsen erklärte, sobald er den Mundschutz herausnahm. Wäre das ein echter Kampf gewesen, hätte Erik vermutlich sogar gewonnen. Aber dann wären wir auch nicht so rücksichtsvoll miteinander gewesen.

»Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn«, kommentierte ich trocken, um mir keine Blöße zu geben, und zog mir die Schienbeinschützer aus.

»Du weißt, dass ich dir das ewig unter die Nase reiben werde, oder?« Erik sah aus, als hätte er gerade einen Sechser im Lotto abgeräumt und könnte mit einem Schlag all seine angehäuften Schulden abbezahlen.

Im Gegensatz zu mir hatte er sich ein Leben aufgebaut, eine Familie gegründet. Seine Tochter Michelle war jetzt fast vier Jahre alt. Mit ihren schwarzen Locken, den kugelrunden dunkelbraunen Augen und dem frechen Mundwerk war sie vermutlich das einzige Wesen auf der Welt, das mich mit so etwas wie Wärme erfüllte.

Und Ellinor Skogen, aber an sie verbat ich mir jeden Gedanken. Wenn ich ehrlich zu mir war, kannte ich den Grund für meine schlechte Performance nämlich ziemlich genau.

»Bitte verschone mich damit«, stöhnte ich und verdrehte die Augen. »Es war ein einziger, verschissener Sieg. Kein Grund, mich bis an mein Lebensende damit aufzuziehen.«

»Danke, dass du dir heute die Zeit genommen hast. Das habe ich echt gebraucht.«

Ich zuckte mit den Achseln, spürte das Sportshirt, das wie eine zweite Haut an mir klebte. »Kein Thema. Gerne. Meine Abendplanung hat sich sowieso geändert.«

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, auf einer dieser exklusiven Partys aufzukreuzen, zu denen man nur mit Einladung Zutritt erhielt, für die andere töten würden. Für mich war es eher eine Notwendigkeit, wenn ich noch höher steigen wollte. Höher, weiter, mehr. Als würde man plötzlich in den Tiefen der Schokoladenfabrik von Willy Wonka landen. Oder durch einen Kleiderschrank nach Narnia stolpern. Geschichten, die meine Mutter mir als Kind immer abends vorgelesen hatte, als ich noch Probleme gehabt hatte, selbst zu lesen.

Sofort schüttelte ich die Erinnerung ab.

»Willst du noch was trinken gehen? Ich gebe einen aus.« Erik wischte sich mit einem kleinen Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht und von seiner Glatze.

»Wartet Freya nicht auf dich?«, wollte ich wissen und spürte bei dem Gedanken einen seltsamen Stich in der Brust. Die Vorstellung, jemand würde zu Hause auf mich warten und sich über meine Rückkehr freuen, war mir so fremd wie die Welt, in die ich einzudringen versuchte, seit ich in der Schule erfahren hatte, was Macht und Einfluss bedeuteten.

»Freya ist froh, wenn ich meinen Sport mache. Abwechslung. Dann bin ich nicht ganz so unausstehlich. Und wesentlich fitter.«

Ich hob die Brauen. »Dein unausstehlich möchte ich mal sehen.«

Erik feixte. »Und sie möchte, dass ich neben der Arbeit und der Kleinen und uns ein bisschen Freizeit habe. Dafür verbringe ich den Samstagvormittag mit Mimi, dann kann sie eine Spa-Runde mit ihren Freundinnen einlegen.« Eriks helle Augen funkelten voller Vorfreude, was nicht verwunderlich war, denn aus der Sicht einer Dreijährigen war Papa der absolute Held.

Wir räumten unsere Ausrüstung weg, machten unseren üblichen Cool-down und gingen anschließend zum Duschen in die Umkleiden.

Während das warme Wasser über meinen Nacken und Rücken rann und gegen die Anspannung in meinen Muskeln arbeitete, flogen meine Gedanken davon. Wieder zu Elli. Wieder zu jenem Abend vor über einer Woche. Meine Hand ballte sich automatisch zur Faust, als ich mich gegen die Fliesen stützte und den Kopf unter den harten Strahl hielt. Es dröhnte und rauschte in meinen Ohren, aber meine Gedanken blieben. Genauso wie die Erinnerungen. An damals. An die Zeit, in der ich noch mit Elli befreundet gewesen war.

Als ich nach dem Abtrocknen in meine schwarze Jeans schlüpfte, fühlte ich mich kein bisschen ausgeglichen oder erholt. Dabei sorgte das Training immer für einen Ausgleich. Genervt schob ich die Arme in meine Motorradjacke, holte meinen Helm aus dem Spind und knallte die Tür zu. Fy faen. Seit unserer Begegnung auf dem Ball bekam ich Elli nicht aus dem Kopf. Als hätte sie sich darin eingenistet.

»Was ist los?«, fragte Erik, sobald wir aus der Boxhalle in die kühle Nachtluft traten. Es musste geregnet haben, denn überall hatten sich kleine Pfützen gebildet. Es roch nach Salz und Meerwasser, die Atmosphäre wirkte aufgeladen, als stünde etwas Bedeutungsvolles bevor.

»Was soll sein?«, fragte ich und folgte Erik in Richtung des gut ausgeleuchteten Parkplatzes, wo unsere Motorräder standen. Seit Erik Vater war, fuhr er verantwortungsbewusster. Jetzt hatte er auch etwas zu verlieren. Als wir den Führerschein gemacht hatten, war uns alles egal gewesen, ganz besonders unser Leben. Aber wahrscheinlich wollten wir eigentlich genau das: uns lebendig fühlen, an die Grenzen gehen, es spüren.

»Du bist noch schlechter drauf als sonst, Grumpy Boy. Normalerweise gibt es dafür eine einfache Erklärung. Entweder du hast diese Woche eine Scheißarbeit abgeliefert und bist deinem Ziel, die Weltherrschaft an dich zu reißen, nicht näher gekommen. Oder du hattest ein echt miserables Date.«

Eine steile Falte bildete sich zwischen meinen Augenbrauen. »Nenn mich nicht Grumpy Boy«, murmelte ich, ohne auf seine Vermutungen einzugehen, und erfüllte damit die Bedeutung des Namens. Insgeheim fragte ich mich, was als Ventil geeigneter wäre, wenn das Auspowern beim Training nicht reichte. Die atemberaubende Geschwindigkeit des Fahrens? Bedeutungsloser Sex? Alkohol?

Ein anderer Gedanke keimte in mir auf. Der Gedanke an etwas, das ich in den letzten Jahren weit weggeschoben, in eine Kiste gepackt und auf den Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer verbannt hatte.

Erik gluckste belustigt. »Ich finde, Freya hat dir da einen ziemlich zutreffenden Spitznamen verpasst. Die anderen Varianten waren auch ganz lustig. Aber der trifft es perfekt, Grumpy Boy.« Erik betonte das Wort, als hätte er einen Schnellkurs in texanischem Südstaatenakzent belegt.

Meine Mundwinkel bewegten sich trotz innerlichem Widerstand amüsiert nach oben. »Laut Freya wäre ich auch die perfekte Romanfigur. Es fehlen nur noch die Tattoos, dann wäre ich ein klischeehafter, gebrochener Bad Boy mit einer harten Schale und einem eigentlich weichen Kern«, rezitierte ich ihre Worte. Woher der weiche Kern kommen sollte, blieb mir jedoch ein Rätsel.

»Mit dem feinen, aber kleinen Unterschied, dass bei dir keine Herzensdame auf der Matte steht, die alle imaginären Wunden auf deiner Seele mit ihrer bedingungslosen Liebe heilt. Immerhin kriegst du deinen Arsch hoch und kämpfst für das, was dir etwas bedeutet. Und du bist der beste Patenonkel, den ich mir für Mimi vorstellen kann, auch wenn du selbst immer so tust, als wärst du eine einzige, dunkle Gewitterwolke. Du hast ein gutes Herz, Luc.«

Mit zwei Fingern massierte ich mir die Nasenwurzel und kniff die Augen zusammen. »Ich werde nie wieder verlieren, wenn du dermaßen rührselig wirst vor lauter Mitleid.«

»Na, na, wer spricht denn hier von Mitleid?« Zu allem Übel klopfte Erik mir auch noch auf die Schulter. Nein, er tätschelte sie fast schon behutsam. Das war eindeutig zu viel für mein Ego.

»Ich hab Elli getroffen, das hat mich in der letzten Woche ein bisschen aus der Spur gebracht«, platzte es förmlich aus mir heraus. Der Satz glitt mir wie ein Schwall Wortkotze über die Lippen.

»Moment, deine Elli?« Eriks Augen wurden groß und er fuhr sich über den kahl rasierten Kopf. Dank seines Bartes wirkten seine scharf geschnittenen Gesichtszüge trotzdem nicht hart, sondern als hätte er einen Weichzeichner benutzt. »Von damals? Diese Elli?«

Ich nickte nur abgehackt.

»Okay. Jetzt ist es amtlich. Kein Wunder, dass du so durch den Wind bist.« Erik hob seinen Motorradhelm. »Lass uns fahren. Dann musst du mir alles erzählen.«

Also schwang ich mich auf meine V2 und zog mir den Helm über. Sofort spürte ich die Vorfreude und den leichten Adrenalinstoß, wie jedes Mal, wenn ich den Zündschlüssel in das Schloss schob und drehte. Der Motor erwachte zum Leben und ein tiefes Brummen erfüllte die klare Luft. Eriks Maschine stimmte in das Wolfsgeheul ein. Meine Atmung hörte sich in meiner eigenen kleinen Kugel besonders laut an, aber ich mochte das. Dieses Eingesperrtsein.

Im Gegensatz zu den zwei Maschinen, die ich vorher besessen hatte, musste ich mich weit nach vorn lehnen, weil die Fußrasten höher montiert waren.

Erik rollte vor mich und deutete mit zwei Fingern an seine Seite. Ich griff nach der Kupplung, schob den Ganghebel nach unten und ließ ihn sanft los, wobei ich gleichzeitig Gas gab. Geschmeidig setzte sich die Maschine in Bewegung, ich fühlte die Kraft und Mühelosigkeit, die unter mir pulsierte. Meine behandschuhten Hände umfassten fest den Lenker, als ich Eriks GS folgte – oder seinem Altherrenrad, wie ich es liebevoll bezeichnete. Dabei war er mit seinen sechsundzwanzig Jahren nur knapp zwei Jahre älter als ich.

Wir flogen am königlichen Schloss vorbei, an geschlossenen Cafés und ein paar geöffneten Bars. Inzwischen bewegte sich das Jahr spürbar in Richtung Herbst. Der Tourismus nahm im Laufe des Septembers etwas ab, was mich nicht wirklich störte. Ich mochte Oslo, wenn es nicht zu voll war. Die schlimmste Zeit war das Sommerloch, wenn es von Touristen wimmelte, während die halbe Stadt in ihre hytter oder in den Urlaub aufbrach. In einem öffentlichen Parkhaus, nicht weit vom Oslofjord und einem der Fährenterminals entfernt, stellten wir unsere Motorräder ab und machten uns auf den Weg einmal quer durch die Fußgängerzone. Dank meiner Lederjacke spürte ich die Kühle der Nacht nicht. Aus allen Ecken drangen unterschiedliche Musikrichtungen, als hätte jemand verschiedene Playlists auf Shuffle gestellt.

»Hey«, tönte es von der Seite. Meine Rechte zuckte automatisch, doch als ich den Kopf in die Richtung wandte, aus der das Grölen gekommen war, entspannte ich die Faust wieder. Keine zwei Sekunden später boxte mir Eriks Bruder Per gegen die Schulter.

»Na, Grumpy Boy?«

Im Vergleich zu Erik war er doppelt so groß und doppelt so breit und rein objektiv betrachtet vermutlich der attraktivste Mann, der mir jemals begegnet war. Am liebsten hätte ich der jungen Frau, die ihm sehnsuchtsvoll hinterherstarrte, gesagt, dass er fürs andere Team spielte. Und das mindestens genauso erfolgreich.

»Du hast mich mit dem Spitznamen ans Messer geliefert?«, wandte ich mich an Erik, der nur unschuldig mit den Schultern zuckte und gegen das Grinsen ankämpfte, das sich auf seinen Lippen ausbreiten wollte. Er scheiterte kläglich.

»Selbstverständlich hat er das. Und nicht nur ihm, sondern genau genommen unserer ganzen Familie. Am vergangenen Wochenende«, kam es von Kristian – kurz Kris –, dem dritten Jensen-Bruder, der meinen persönlichen Charakterzügen vermutlich am nächsten kam. Er war ein mürrischer Typ, redete nicht mehr als nötig und war absolut auf seinen Job fokussiert. Seit ein paar Jahren führte er seinen eigenen Blumenladen in einem touristisch gelegenen Stadtteil am Fluss, direkt neben zwei Cafés und einem Kindergarten. Vermutlich erklärte das seine Verdrießlichkeit, da er absolut nichts mit Kindern anfangen konnte, die nicht auf irgendeine Weise mit ihm verwandt waren. Ein Grund, weshalb sich Erik für mich als Patenonkel entschieden hatte. Warum Per abgelehnt hatte, wusste ich nicht.

»Ihr müsst nachsichtig sein, Luc hat heute einen miserablen Abend.«

»Ach, echt? Hat er das nicht immer?« Per fuhr sich grinsend mit einer Hand durch sein dunkelbraunes Haupthaar, sodass es aussah, als hätte er es für ein Fotoshooting frisiert.

»Du mich auch, Jensen«, murmelte ich und zeigte ihm den Mittelfinger, was er mit einem herzlichen Lachen quittierte.

Erik wirkte hochzufrieden. Es sah fast aus, als würde er im nächsten Moment vor Aufregung platzen. »Seine Beinarbeit war wirklich beschissen.«

»Sag bloß, du hast heute etwas Licht gesehen«, schlussfolgerte Per sofort und runzelte die Stirn. »Oder hat er dich absichtlich gewinnen lassen, damit du auch mal wieder ein kleines Erfolgserlebnis hast?«

»Nein, das würde sein Ego nicht mitmachen.«

»Er läuft übrigens genau neben euch und kann eurer geistreichen Unterhaltung durchaus folgen«, grätschte ich verbal dazwischen. Meine Miene verfinsterte sich. Für andere hätte es eine deutliche Warnung sein müssen, für Erik war es wie ein Startschuss und er fuhr fröhlich fort: »Luc hat einfach zu viele Treffer kassiert. Sich bewegt, als hätte er den Kopf in den Wolken. Und ausgeteilt hat er wie bei seiner ersten Sparring-Übung.«

Mein Blick schwenkte nach links, während ich abzuschätzen versuchte, was das kleinere Übel war: mich in die eiskalten Fluten des Oslofjords zu stürzen oder den Weg zur Bar in dieser Konstellation fortzusetzen.

»Wie habt ihr uns eigentlich gefunden?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

»Erik hat uns seinen Live-Standort geschickt«, antwortete Kris.

Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich aus dem Augenwinkel einen schlanken Mann mit Dreitagebart registrierte, der etwa in unserem Alter war. Er ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war komplett in Schwarz gekleidet. Schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Sneaker. Auch ohne den Markenwert zu kennen, war dem Outfit deutlich anzusehen, dass es unbezahlbar sein musste.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. In meiner Brust breitete sich eine eisige Kälte aus, als hätte ich ganze Eiswürfel geschluckt. Meine Gedanken fuhren immer schneller im Kreis, sodass ich sie nicht zu fassen bekam.

»Was ist los?«, fragte Erik mit ernstem Tonfall. Selbst sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. War lauernd und misstrauisch geworden, während er meinem Blick folgte. Sosehr mir mein Freund manchmal auf die Eier ging, wenn es darauf ankam, konnte ich mich auf ihn verlassen. Ohne zu zögern, würde er für mich in die Schlacht ziehen.

»Da geht die Abendplanung, die sich heute verworfen hat«, sagte ich und beobachtete, wie Marcus Andersen, den ich von einigen Treffen mit anderen Leuten aus verschiedenen Clubs kannte, in einem Hinterhof verschwand, nachdem er seine Einladung einem auffällig-unauffällig wirkenden Securitytypen mit Headset am Ohr vorgezeigt hatte. Es war zwar nicht das TEAROOM Oslo, in dem sich die europäische High Society tummelte, aber wenn man die richtigen Leute kannte, war die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher, für den exklusiven Socialite-Club eine Einladung zu erhalten als für diesen Hinterhof. »Die Veranstaltung hätte ich auch gern besucht – zu der er angeblich nicht gehen wollte. Wahrscheinlich nur nicht mit mir im Schlepptau.« Keine Ahnung, was der Anlass war. Vernissage. Ausstellung. Open House. Firmenfeier. Irgendetwas gab es immer. Für mich bedeutete es Networking, das ich dringend betreiben musste, wenn ich irgendwann einmal ernst genommen werden wollte.

Wieder eine verpasste Chance. Wieder ein Stein in meinem Weg.

»Scheiß auf ihn«, kommentierte Erik. »Wir machen uns trotzdem einen guten Abend.«

Am liebsten hätte ich zugestimmt, aber ich brachte die Worte nicht über meine Lippen. Als ob sie sich weigerten, laut ausgesprochen zu werden.