Goldmädchenmord - Heidi Amsinck - E-Book
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Goldmädchenmord E-Book

Heidi Amsinck

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Beschreibung

Scandi-Crime at its best!  Nach dem erfolgreichen Debüt Schneeflockengrabbestreitet die sympathisch schlechtgelaunte Journalistin Jensen in Goldmädchenmord ihren zweiten Fall. Eine Tote in einem Vorort von Kopenhagen führt Jensen in diesem abgründigen dänischen Thriller zu einer Spur in die 90er Jahre. In Klampenborg, einem reichen Vorort von Kopenhagen, wird die neunzigjährige Irene Valborg erschlagen in ihrer Villa aufgefunden. Zunächst deutet alles auf einen missglückten Einbruch hin, besonders da eine Diamanthalskette fehlt. Die Tochter des Opfers misstraut dem ermittelnden Kommissar Henrik Jungersen und bittet Jensen um Hilfe. Jensen stößt auf einige Ungereimtheiten, unter anderem die Frage, wie sich das Opfer in den 90ern plötzlich eine Diamanthalskette leisten konnte. Inzwischen bekommt es Henrik mit zwei weiteren Morden an älteren Menschen zu tun. An allen Tatorten findet er Fotos desselben Mädchens, die in die 90er Jahre zurückführen. Doch nach dem Ende ihrer Affäre sind weder Jensen noch Henrik sonderlich erpicht auf eine Zusammenarbeit … Heidi Amsinck schreibt unglaublich atmosphärisch-fesselnd - Leser*innen von unblutiger skandinavischer Spannung werden ihre Thriller lieben! »Schneeflockengrab ist ein brillantes Debüt. Heidi Amsinck ist hoffentlich gekommen, um zu bleiben.« Yrsa Sigurdardóttir

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Seitenzahl: 432

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Heidi Amsinck

Goldmädchenmord

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Clewing

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Widmung

März

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

April

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

Danksagung

Für meine Schwester Helene

März

1

Montag, 11:23 Uhr

Hauptkommissar Henrik Jungersen wartete unter seinem Regenschirm, während der uniformierte Polizist, der als Erster am Tatort gewesen war, sich neben dem Blumenbeet aufrichtete.

»Wo?«, fragte er, nachdem der Mann sich übergeben und anschließend den Mund am Ärmel abgewischt hatte.

»Treppenabsatz im ersten Stock.«

Henriks müder Blick wanderte hinauf zu der roten Villa, die von einem makellosen Rasen und Zierkiefern umgeben war.

Das Gebäude war zu groß und zu ruhig.

Immer mehr Fahrzeuge fuhren die Schotterauffahrt hinauf. Blaues Blinklicht flackerte zwischen den hohen Nadelbäumen, die das Grundstück von der Straße abschirmten. Die Spurensicherung hatte er angewiesen, draußen zu warten, damit er einen Moment mit der Leiche allein zubringen konnte. Seinen weißen Kapuzenoverall hatte er bereits übergestreift, aber keine Lust, hineinzugehen.

Noch nicht.

Er ging zu dem Schäferhund hinüber, der neben dem Streifenwagen kauerte. Er hatte dem Opfer gehört und war allem Anschein nach tagelang im Garten hinter dem Haus eingesperrt gewesen. Der Partner des Polizisten, der sein Frühstück gerade wiedergesehen hatte, versuchte, den Hund dazu zu bewegen, aus einer Plastikflasche zu trinken. Der Vierbeiner gab sich desinteressiert. Es hatte offenbar genügend Pfützen gegeben, an denen er seinen Durst stillen konnte, mutmaßte Henrik.

Er kraulte das Tier hinter den Ohren und strich ihm über den seidigen goldenen Fleck auf der Stirn. Der Hund winselte unruhig. Vermutlich fragte er sich, was mit der Hand passiert war, die ihn normalerweise fütterte. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Hinten im Garten«, sagte der Beamte. »Alles voller Scheiße. Die Nachbarin fühlte sich durch das Bellen gestört und hat bei der Polizei angerufen.« Die Beschwerde wurde anscheinend zunächst ignoriert.

»Wo genau nebenan?«, wollte Henrik wissen.

Der Beamte zeigte auf das Anwesen rechts neben der Villa. Henrik schaute hinauf und sah gerade noch, wie der Vorhang zurückfiel. Typisch für das noble Klampenborg, dass ein vor Neugier platzender Nachbar gleich bei der Polizei anruft, nur weil ein Hund Krawall macht. Da, wo er herkam, wäre man hingegangen, hätte mit seinem Nachbarn gesprochen und versucht, den Sachverhalt zu klären.

Jedenfalls hätte man nicht gleich die Behörden verständigt.

»Hat sie etwas gesagt?«

»Sie hörte gar nicht wieder auf«, sagte der Beamte, den Zeigefinger in Anspielung auf den mentalen Zustand der Nachbarin an die Schläfe gelegt. »Ich hatte keine Chance.«

Dumme Alte, dachte Henrik bei sich, während er Empörung in sich aufsteigen spürte. Wäre sie einfach nur rübergegangen und hätte geklingelt, als sie misstrauisch wurde, dann hätten sie das Problem jetzt nicht. Er würde ihr nachher einen Besuch abstatten und ihr die Meinung sagen.

Der Schäferhund würde sich hoffentlich bald erholen. Henrik hätte ihn gerne selbst aufgenommen, bis sich ein neuer Besitzer fand, aber er mochte Tiere und respektierte ihre Bedürfnisse, sodass ihm klar war, dass sein Leben kein Leben für einen Hund war.

In letzter Zeit jedenfalls nicht.

Nicht seit Jensen plötzlich wieder in sein Leben getreten war.

Wo war sie jetzt?

Ein gefährlicher Gedanke, den er gleich wieder zu verdrängen suchte. Von allen Frauen in Kopenhagen war Jensen die letzte, um die er sich Gedanken machen musste.

Seufzend atmete er weißen Dampf in die kalte, feuchte Luft hinaus. Verdammter Regen. Seit Wochen schon wollte es einfach nicht aufhören zu regnen. Grau in grau. Genau wie seine Laune. Sollte im März nicht eigentlich schon der Frühling anfangen?

Er schloss den Regenschirm, schleuderte ihn auf den Vordersitz seines Wagens und lief die Treppe zur Villa hinauf, wobei er die Blicke der Beamten im Rücken spürte.

Hinter der Eingangstür hatte sich ein Haufen Post angesammelt, hauptsächlich Werbung. Er streifte sich die Latexhandschuhe über, legte den Mundschutz an und beugte sich hinab, um einen der wenigen richtigen Briefe aufzuheben.

Frau Irene Valborg

Auf dem Umschlag befand sich kein Poststempel. Wann war die Ära der Poststempel zu Ende gegangen? Er öffnete den Brief und fand ein vor über zwei Wochen datiertes Schreiben. Die Mahnung des Zahnarztes. Kein gutes Zeichen, als hätte ihm der Gestank aus dem Inneren des Hauses nicht sowieso schon mehr gesagt, als er wissen musste.

In seinen Anfangstagen bei der Polizei hatten er und sein Kollege an einem heißen Tag einmal die Tür zu einer Wohnung in Valby gewaltsam aufbrechen müssen, nachdem sich Nachbarn über Gestank im Treppenhaus beschwert hatten. Er fand den Bewohner, einen Mann in den Achtzigern, mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sofa sitzend vor, das Essenstablett noch auf dem Schoß. Der Fernseher dröhnte in voller Lautstärke.

Einen Monat war er schon tot gewesen.

Übersät von Fliegen.

Seitdem fürchtete Henrik diese Einzelgänger, die wie faules Obst in der Schüssel vor sich hin verrotteten. Das war der eigentliche Grund, weshalb er unter dem Vorwand, den Tatort in Augenschein nehmen zu wollen, darum gebeten hatte, einen Moment mit der Leiche allein gelassen zu werden. Was immer er dort vorfinden würde, ihm war es lieber, keine Zuschauer zu haben.

In den vielen Jahren, die er schon bei der Polizei war, hatte er mehr als genügend Tote gesehen. Warum fand er diese Leichen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, diese ausrangierten menschlichen Hüllen, so abscheulich und abnorm? Er konnte es sich selbst nicht erklären. Eine Leiche war schließlich eine Leiche.

Er wollte sich umdrehen und weglaufen, doch er konnte es nicht.

Nicht jetzt.

Nicht, wo alle Welt draußen zusah.

Das Schloss der Eingangstür schien neu zu sein und machte einen anständigen Eindruck. Es wies keine Einbruchsspuren auf, auch wenn das nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Einbrecher wussten, wie man in die Wohnung älterer Menschen gelangte. Außerdem gab es ein ziemlich ausgeklügelt wirkendes Alarmsystem. Henrik vermutete allerdings, dass es ausgeschaltet gewesen war, als der Mörder in das Haus eindrang, sonst wäre Irene vermutlich noch am Leben.

Er machte ein Foto von dem Aufkleber mit dem Namen der Sicherheitsfirma und notierte sich das Datum, an dem die Anlage installiert worden war.

Das Haus wirkte ordentlich und aufgeräumt, nichts deutete auf eine Unregelmäßigkeit hin. Es war vollgestopft mit Antiquitäten, abgenutztem altem Zeug, als wäre die Zeit hier vor einem Jahrhundert stehen geblieben. Neben dem Telefon lag ein spiralgebundenes Adressbuch, in dem mit krakeliger blauer Tinte vor allem die Telefonnummern von Handwerkern notiert waren. Soweit er es beurteilen konnte, wies nur wenig auf Familie oder Freunde hin.

Zu fehlen schien nichts. Einbrecher hatten es in der Regel auf Bargeld oder Wertgegenstände abgesehen, die sich schnell verkaufen ließen. Irgendwo in diesem großen, stillen Haus würde sich eine Handtasche mit leerem Portemonnaie oder eine aufgebrochene, ausgeplünderte Schmuckschatulle finden.

Auf dem Weg zur Treppe verriet ihm ein leises Brummen, dass er sich den Überresten dessen näherte, was einmal ein sprechender, gehender, atmender Mensch gewesen war. Langsam und zögerlich ging er die Stufen hinauf. Bevor er den Treppenabsatz erreichte, blieb er stehen und blickte über die letzte Stufe hinweg, wobei sich sein Mund zu einer unwillkürlichen Grimasse verzog.

Irene lag auf der Seite, direkt hinter einem Absperrgitter, das die Treppe von den Schlafzimmern in der ersten Etage trennte. Es stand halb offen. Hatte die alte Damen bemerkt, dass etwas nicht stimmte, versucht, das Gitter hinter sich zu schließen, und war dabei von dem Einbrecher überrascht worden? Sie war klein und schmächtig, wie ein Vogel, mit dünnen, zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen.

Warum brachte man sie um, wenn man sie doch einfach zur Seite hätte schieben können? Die Perserbrücke auf dem Treppenabsatz hatte sich mit Blut vollgesogen und es in ihr hochkomplexes Muster aufgenommen. Wüsste man es nicht (etwa, weil man nicht über einen ausreichenden Geruchssinn verfügte), könnte man meinen, sie schliefe.

Abgesehen von ihren weit aufgerissenen Augen.

Und den Fliegen.

Und der Haut, die sich schon dunkel verfärbt hatte.

Er zwang sich, wie ein Polizist zu denken. Auch wenn sie ihn nervös machten, wusste er doch, dass die Fliegen und Larven, die sich in dem zentral beheizten Haus in großer Zahl entwickelt hatten, bei der Feststellung des Todeszeitpunktes äußerst hilfreich sein konnten.

An der bronzenen Statue eines Elefanten auf einem Marmorsockel, die neben der Leiche lag, klebten Haare und Hautpartikel. Als hätte der Einbrecher im Affekt gehandelt und sich den nächstbesten schweren Gegenstand geschnappt. Vielleicht war er in Panik geraten. Vielleicht hatte Irene geschrien, und er hatte sie zum Schweigen bringen wollen. Wäre dem Eindringling klar gewesen, dass sich die Nachbarn mehr um den bellenden Hund sorgten als um das Wohlergehen eines Menschen, hätte er sich darum nicht scheren müssen.

Vorsichtig beugte sich Henrik über die Leiche. Seine Handflächen kribbelten. Ein Teil von Irenes Schädel fehlte. Ihr Gebiss hatte sich gelöst und ragte halb aus dem Mund, als gehörte es zu einem Theaterkostüm.

Gewalt war in seiner Jugend an der Tagesordnung gewesen. Die freitagabends regelmäßig stattfindenden Straßenschlachten mit zerbrochenen Flaschen, die ständige Bedrohung durch die Motorrad-Gangs. In seiner Straße war sogar jemand bei einem Raubüberfall erstochen worden. Nicht, dass er Grund gehabt hätte, die Vergangenheit zu romantisieren, aber in seinen Augen war die Gewalt in den letzten Jahren roher und extremer geworden.

Irene Valborg schien die achtzig deutlich überschritten zu haben. Selbst wenn der Täter die Absicht gehabt haben sollte, sie zu töten (was wohl keinesfalls nötig gewesen wäre), warum dann mit solch brutaler Gewalt?

Allmählich wurde Henrik flau im Magen. Vor dem Erbrechen bekam er immer diese Art geballter Kopfschmerzen. Speichel, den er gern ausgespuckt hätte, sammelte sich in seinem Mund.

Gerade hatte er sich zum Gehen gewandt, als er auf eine kleine Bewegung um Irene Valborgs Gesicht herum aufmerksam wurde. Gebannt beobachtete er eine Fliege, die sich gemächlich auf den Weg vom Mund zur Nase machte.

Ohne nach links und nach rechts zu schauen, stürmte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, durch den düsteren Flur hinaus ins Freie, ausnahmsweise einmal dankbar für den Regen, denn es gab deswegen niemanden, der auf ein Zeichen von ihm wartete, das Haus nun zu betreten und mit den eigentlichen Ermittlungen zu beginnen.

2

Montag, 13:47 Uhr

»Ich nehme sie«, sagte Jensen.

Sie war gerade über die Wendeltreppe in den oberen Teil der Wohnung gelangt und stand auf dem regennassen Balkon. Der angekündigte Blick auf die Erlöserkirche enttäuschte sie nicht. Wie im Märchen erhob sich die braun-goldene Turmspitze spiralförmig über die roten Ziegeldächer der alten Wohnhäuser von Christianshavn. Weit unten, eingezwängt in das Gewirr der angrenzenden roten und gelben Wohnblöcke, befand sich ein winziger Hof mit Fahrrädern, Kinderwagen und einem hölzernen Picknicktisch, der von Sträuchern in Terrakottatöpfen umgeben war.

»Wirklich?« Die Maklerin klang überrascht.

Die Frau war stark parfümiert, und ihrem Keuchen nach zu urteilen, sollte sie nicht allzu häufig am Tag Treppen steigen.

»Ja. Ganz sicher«, erwiderte Jensen.

Unter der Dachschräge befanden sich eine Kommode und ein kleiner Futon. Das Mobiliar unten umfasste ein kleines Sofa, einen Esstisch und zwei Stühle.

»Ein bisschen klein vielleicht, aber für eine Person vollkommen ausreichend. Eigentlich sogar richtig gemütlich, nicht wahr?«, meinte die Maklerin, während Jensen sich umsah.

Klein war untertrieben. Die Wohnung war vertikal angeordnet. Der Raum unter den freiliegenden Eichenbalken war an den meisten Stellen zu niedrig, sodass ein Erwachsener dort nicht aufrecht stehen konnte. Aber von allen Wohnungen, die Jensen in den letzten Wochen besichtigt hatte, war sie die einzige, die sie sich vorstellen konnte. Die Miete war bezahlbar, und der Blick auf ihre Lieblingskirche in Kopenhagen hatte den Ausschlag gegeben.

Die Größe von kaum mehr als einem Handtuch und die nutzlosen Ecken und Winkel erklärten, warum die Wohnung länger als die wenigen Stunden auf dem Markt war, innerhalb derer Wohnungen in Kopenhagen üblicherweise vergeben wurden.

Als sie im Januar ihren Flug nach London abgesagt hatte, war der Container mit ihren Habseligkeiten bereits auf halbem Weg zurück nach England. Insgeheim war sie erleichtert. Alles, was sich in ihren fünfzehn Jahren als Auslandskorrespondentin angesammelt hatte, hätte sie nur an das Leben erinnert, das sie geführt hatte, bevor Margrethe beschloss, das Londoner Büro dichtzumachen. Sie konnte sich die Sachen nicht in der Kopenhagener Wohnung vorstellen, all die Bücher, die sie an glücklichen Samstagnachmittagen gekauft hatte, als sie durch das West End geschlendert war, ihre kunterbunte Sammlung von Trinkbechern.

Die Maklerin beäugte sie neugierig und fragte sich offensichtlich, was eine Frau in den Dreißigern ohne viel Hab und Gut dazu brachte, eine Wohnung anzumieten, ohne sie richtig in Augenschein zu nehmen.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

Eine ausgezeichnete Frage, und noch dazu eine, auf die Jensen keine Antwort hatte. Sie arbeitete nicht mehr beim Dagbladet, obwohl die Verlegerin Margrethe Skov immer wieder beteuerte, dass sie die Vergangenheit gerne ruhen lassen würde.

»Wenn ich zurückkomme, dann als investigative Journalistin. Ich suche mir die Geschichten aus, und du stellst mich von der Alltagsroutine frei.« Jensen hatte alles auf eine Karte gesetzt.

»Sehr witzig, Jensen, aber dir sollte klar sein, dass das ein Luxus ist, den sich das Dagbladet nicht mehr leisten kann«, hatte Margrethe mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme geantwortet.

Sie hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt: Wenn Jensen eine gute Geschichte hatte, würde Margrethe sie ihr zu den Konditionen freier Mitarbeit abkaufen.

Nachdem Jensens Artikel über den Magstræde-Mord auf der Titelseite des Dagbladet erschienen war, hatten ihr natürlich auch andere, darunter die Fernsehnachrichten des dänischen Rundfunks, Angebote gemacht.

»Sie sind genau das, was wir suchen«, hatte die Redakteurin gesagt.

Jensen hatte ihr gesagt, dass sie es sich durch den Kopf gehen lassen wolle.

Bei Margrethe wäre sie vermutlich untendurch gewesen, wenn sie zugestimmt hätte, zumal Jensen die letzten zwei Monate in ihrem Gästezimmer verbracht hatte, während Margrethe jeden Tag zur Arbeit gegangen war, um das Dagbladet über Wasser zu halten. Jensen hatte sich relativ schnell von den körperlichen Blessuren erholt, die sie in der Magstræde davongetragen hatte, aber es dauerte noch eine Weile, bis sie nachts wieder durchschlafen konnte. Sie war immer noch nervöser, als sie zugeben wollte, wenn sie die sichere Wohnung in Østerbro verließ. Schließlich aber war sie unruhig geworden. Die wenigen Sachen, die sie bei Margrethe hatte, passten in ein Taxi; in weniger als einer halben Stunde wäre sie umgezogen und hätte alles wieder ausgepackt. Gustav könnte ihr dabei helfen.

»Ich bin Journalistin«, eröffnete sie der Maklerin, während sie mit einem Finger einem Regentropfen an der Scheibe des Velux-Fensters folgte.

Was auch immer sich ergeben würde, das jedenfalls stimmte. Sie sprach nie einfach nur mit anderen Menschen, sie interviewte sie.

Stets in der Hoffnung, etwas aufzudecken, immer auf der Suche nach einem anderen Blickwinkel, während sie im Kopf schon die Schlagzeilen formulierte.

»Wem gehört die Wohnung?«, wollte sie wissen.

»Kristoffer Bro«, sagte die Maklerin, und als Jensens Gesicht keine Regung zeigte, fügte sie hinzu: »Er ist Unternehmer. IT. Sehr erfolgreich, sehr bekannt.«

»Nie von ihm gehört«, sagte Jensen. »Aber ich war ja auch ein paar Jahre weg.«

Die Maklerin nickte, als wäre das eine plausible Begründung. »Seine Freundin ist Schauspielerin. Man sieht sie oft im Fernsehen«, bemerkte sie und nannte irgendeinen Namen. »Wirklich umwerfend. Kristoffer lebt mit ihr in einem riesigen Haus in Nordhavn.«

Natürlich. Wer würde freiwillig in einem Besenschrank leben, wenn er es geschafft hatte? Eine Wohnung wie diese war etwas für Träumer.

Versager.

»Für wen arbeiten Sie?«, erkundigte sich die Maklerin.

»Ich bin selbstständig, vorerst jedenfalls«, sagte Jensen und klatschte sich den Staub von der Fensterbank von den Händen, bevor die Maklerin die nächste Frage, die sich bereits auf ihren kirschroten Lippen bildete, stellen konnte.

»Wann kann ich einziehen?«

»Lassen Sie mich nachsehen.« Die Maklerin lächelte, während sie einen Inhalator aus ihrer Handtasche fischte und einen Zug nahm. Ihr Lippenstift hinterließ einen knallroten Rand auf dem Mundstück. »Es gibt noch ein bisschen Papierkram zu erledigen. Ich brauche zwei Monatsmieten im Voraus. Und Kristoffer muss zustimmen.«

Jensen nickte und ging in den Hauptwohnbereich hinunter. Die Maklerin, deren schwere Schritte die Stufen bedrohlich knarren ließen, folgte ihr.

Jensen ging zu der kurzen Küchenzeile auf der einen Seite des Wohnzimmers und sah hinaus. In einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs erblickte sie einen jungen Mann, der mit konzentrierter Miene Kontrabass spielte.

»Und einen Einkommensnachweis muss ich noch sehen«, sagte die Maklerin.

»Na ja«, sagte Jensen, drehte sich um und lehnte sich ans Spülbecken. »Das könnte schwierig werden.«

»Ach so.«

»Aber ich verspreche Ihnen, dass ich die Miete zahlen kann.«

Jensen lächelte. Aber ihr Gegenüber hörte das offensichtlich nicht gern. Wie die Sonne hinter den Wolken war die Freundlichkeit augenblicklich aus ihrem Gesicht gewichen. »In diesem Fall muss ich Sie um eine Vorauszahlung von sechs Monatsmieten bitten.«

Jensen sagte nichts. Es war still im Raum. Sie vernahm das Prasseln des Regens an der Fensterscheibe, das Rauschen des Straßenverkehrs und das Knarren alter Balken. Sie konnte sich selbst in der Wohnung sehen. Sie gefiel ihr, und sie fühlte sich richtig an wie kein anderer Ort. Auch die Lebendigkeit von Christianshavn fühlte sich gut an.

Im Übrigen verriet ihr die Kieferspannung der Maklerin, dass die Frau nicht gern mit sich handeln ließ.

»Kein Problem«, sagte sie schließlich. »Aber dann würde ich am liebsten gleich heute Abend einziehen.«

Die Gesichtszüge der Frau entspannten sich. »Ich werde mal sehen, was ich tun kann. Sie scheinen es ja sehr eilig zu haben«, lachte sie.

Jensen dachte darüber nach. War das wirklich so? Bedeutete ›es eilig haben‹ nicht, dass sie eine Art Plan hatte? Sie hatte nämlich keinen.

Dennoch spürte sie Ungeduld in sich aufsteigen, als sie zur Tür ging. Sie hatte lange genug gezaudert. »Wenn ich mal eine Entscheidung getroffen habe, setze ich sie auch gern sofort um.«

3

Montag, 23:14 Uhr

»Um Himmels willen, wer tut einer unschuldigen alten Dame so etwas an?«

Die dröhnende Stimme von Mogens Hansen, allen kurz als ›Monsen‹ bekannt, schreckte Henrik auf. Er hatte so lange über den Tatortfotos aus Irene Valborgs Villa in Klampenborg gebrütet, sie immer wieder angeschaut, dass seine Gedanken zu ganz anderen Dingen abgeschweift waren. Sein Team war auf seine Anweisung hin nach Hause gegangen. Mark Søndergreen und Lisbeth Quist, seine engsten Mitarbeiter im Team, waren noch geblieben, bis er auch sie schließlich überredet hatte, Feierabend zu machen. Über Nacht würde sowieso niemand Fortschritte erzielen.

»Kleine alte Damen sind nicht zwangsläufig unschuldig«, bemerkte er, kaum dass es ihm gelungen war, seine Überraschung darüber zu verbergen, den bekanntermaßen arbeitsscheuen Polizeioberrat kurz vor Mitternacht im Büro anzutreffen.

Monsen dünstete den säuerlichen Geruch von Rotwein und Zigarren aus, was ihm verriet, dass er von einem dieser Abendessen mit Kopenhagens Machern und Wichtigtuern kam. Er zeigte mit dem Finger auf Henrik. In seiner donnernden Stimme lag ein Lallen. »Wollen Sie damit sagen, dass sie es verdient hat, den Schädel eingeschlagen zu bekommen?«

»Natürlich nicht, aber wir sollten auch nicht unbedingt davon ausgehen, dass alte Leute immer nur nett und unschuldig sind. Ich empfinde es sogar als herablassend«, sagte Henrik, der sich unvermutet in der Rolle des Oberrats wiederfand, als hielte dieser einen Vortrag darüber, dass die Gesellschaft vor die Hunde ging.

Glücklicherweise wurde Monsen durch sein eigenes episches Gähnen abgelenkt. »Sie sprechen in Rätseln, Jungersen. Was machen Sie so spät noch hier?«

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.«

Monsen starrte ihn mit geröteten Augen an. »Bei Frau Jungersen mal wieder in Ungnade gefallen?« Monsen stupste Henrik mit dem Ellbogen in die Seite.

»Ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken. Manchmal muss man warten, bis man hier seine Ruhe hat«, sagte Henrik.

Monsen gluckste. »Da will das Ei wohl klüger sein als die Henne.«

Leugnen war zwecklos. Monsen kannte ihn inzwischen lange genug, um zu erkennen, wann der Segen im Hause Jungersen schiefhing. Ein sicheres Indiz dafür war, wenn Henrik das Büro nur widerwillig verließ. Das war im Lauf der Jahre öfter vorgekommen, nur ließ ihn seine Frau diesmal nicht nach ein paar Tagen wieder zurück ins Haus.

»Ich habe es Ihnen schon tausendmal gesagt: Die Arbeit darf nicht zwischen uns und unseren Ehepartnern stehen«, sagte Monsen.

Bei Ihnen besteht da ja auch keine Gefahr, dachte Henrik.

Tatsächlich war die Arbeit für Henrik im Lauf der Jahre ein Mittel geworden, sich der unterkühlten Atmosphäre zu Hause zu entziehen, die in der Regel auf seine Kappe ging. Aber wie sollte er Monsen erklären, dass es Jensen war, eine Frau mit dunkelblauen Augen und der äußerst unangenehmen Angewohnheit, ihre Nase immer wieder in seine Angelegenheiten zu stecken, die seine Ehe belastete?

Monsen nahm Henriks Schweigen als Bestätigung dafür, dass er ins Schwarze getroffen hatte, und klopfte ihm auf die Schulter. Henrik wusste, dass der Polizeioberrat auf seine Rolle im Magstræde-Fall anspielte, als er einen einzigen Schuss mit seiner Heckler & Koch abgegeben hatte, weil Jensens Leben auf dem Spiel stand.

Seit er vor mehr als zwei Jahrzehnten zum ersten Mal eine Uniform angezogen hatte, trug Henrik eine Waffe. Zweimal im Jahr musste er auf einem Armee-Schießstand seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Er hatte seine Waffe also schon oft gezogen, aber bis zu jener Nacht hatte er sie im Dienst noch nie abgefeuert.

Natürlich hatte das ein Nachspiel. Es folgte ein langwieriges bürokratisches Verfahren, in dem er sich immer wieder rechtfertigen musste. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Polizeirat Jens Wiese, der die Sonderermittlungen leitete, hatte außerdem darauf bestanden, dass er einen Psychologen aufsuchte, was Henrik für unnötig hielt.

(»Ha, in dir steckt wirklich genügend Stoff für ein ganzes Lehrbuch«, hörte er seine Frau sagen.)

Monsen und Henrik standen eine Weile nebeneinander und betrachteten die Fotos von Irene Valborg, die aus verschiedenen Blickwinkeln gemacht worden waren. Henrik wusste, dass Wiese diese kleinen Vieraugengespräche mit Monsen nicht schätzte. Er neidete ihnen ihre unkomplizierte Beziehung und fühlte sich übergangen. Monsen aber tat, was er für richtig hielt, und genau das schätzte Henrik an ihm.

»Also, was geht Ihnen durch den Kopf?« Der große Mann lockerte seine Krawatte, öffnete die beiden obersten Knöpfe seines weißen Hemdes und rülpste verhalten, wobei er einen schwachen Knoblauchgeruch verströmte.

»So einiges.« Henrik trat einen Schritt zurück. »Erstens: Was bringt eine alte Dame dazu, plötzlich einen Schäferhund zu kaufen und ihre Villa in das Fort Knox von Klampenborg zu verwandeln?«

Monsen sah ihn erstaunt an. »Das fragen Sie? Alte Menschen haben Angst vor Verbrechen. Ich bin froh, dass meine eigene Mutter nicht mehr lebt und den Zustand der heutigen Gesellschaft nicht mehr erleben muss. Gott sei ihrer Seele gnädig.«

»Aber warum jetzt? Warum nicht schon vor drei oder zehn Jahren?«

»Wahrscheinlich hatte die alte Dame in der Zeitung etwas gelesen, das ihr Angst machte. Hat sich vielleicht die Anzeigen in den Sonntagsbeilagen angesehen und eine Sicherheitsfirma mit einem übereifrigen Verkäufer eingeschaltet. Und weiter?«

»Warum wurde mit so brutaler Gewalt vorgegangen?«

»Aus Furcht, entdeckt zu werden? Um sicherzugehen, dass sie wirklich tot ist, damit sie nicht mehr reden kann? Oder infolge sozialer Verrohung, abhandengekommenen Anstands und fehlender Selbstbeherrschung? Suchen Sie sich was aus.«

Henrik schüttelte den Kopf. »Es war doch gar nicht notwendig, sie umzubringen.«

»Notwendig? Ist es jemals notwendig? Sehen Sie sich den Kerl an, der vor einem Monat in der Kleingartenanlage in Amager umgebracht wurde.«

Henrik erinnerte sich an den Fall. »Vagn Holved.«

»Genau der. Dem wurde der Kopf halb abgerissen, verdammt noch mal. Und wofür? Für ein paar Scheine in der Brieftasche und verschreibungspflichtige Medikamente?«

»Noch keine Hinweise?«

»Nichts.«

»Warum nicht?«

»Fragen Sie Lotte. Das ist ihr Fall.«

Warum nicht?, dachte Henrik, das Bild von dem peitschengeraden blonden Pferdeschwanz und der athletischen Figur seiner Kollegin vor Augen.

(»Jetzt?«, hörte er seine Frau sagen. »Ausgerechnet jetzt denkst du an Sex?«)

Seine Frau reagierte immer noch nicht auf seine Anrufe. Was musste er noch tun, damit sie ihm endlich zuhörte? Sich nackt vor der Tür ihres Hauses in den Staub werfen und sich »Entschuldigung« auf die Stirn tätowieren lassen?

»Sie sehen schlecht aus, Henrik, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Kaufen Sie Ihrer Frau ein paar Blumen und gehen Sie nach Hause«, sagte Monsen und zog mit einer zum Abschied träge erhobenen Hand davon.

Henrik unterdrückte ein zynisches Lachen. Es musste schön sein, in Monsens Kopf zu leben. In einer Welt, in der ein Rosenstrauß ausreichte, um die Wut einer Frau zu zügeln. Monsen kannte Henriks Frau nicht. Und das war auch gut so. Die Chancen des Polizeioberrats in einer direkten Auseinandersetzung mit ihr schätzte er eher gering ein.

»Fünf Minuten noch, dann bin ich hier weg«, belog er sich selbst.

Nachdem Monsen gegangen war und Henrik sicher war, allein zu sein, ging er in sein Büro, schloss die Tür hinter sich, ließ die Jalousien herunter und löschte das Licht.

Er war zu müde, um noch den Schlafsack auszurollen, den er in seinem Spind aufbewahrte. Er wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, aber er musste seine Hotelkosten geringhalten, und bei seinem Vater zu wohnen, konnte er jetzt, da die Alzheimer-Erkrankung seiner Stiefmutter schlimmer geworden war, nicht ertragen.

Er setzte sich auf das Sofa, öffnete die Schnürsenkel seiner alten Springerstiefel und dachte an Jensen. Er hatte keine Ahnung, wo sie im Moment war. Von ein paar kleinen Artikeln im Dagbladet abgesehen, die darauf hindeuteten, dass sie sich noch immer in Dänemark aufhielt, war schon seit geraumer Zeit nichts mehr von ihr zu lesen gewesen. Nicht seit dem Magstræde-Fall, bei dem, das musste er sich eingestehen, Jensen ihn ausgetrickst hatte.

Er konnte ihr keine SMS schreiben. Wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, seine Frau wiederzugewinnen, musste er sich jetzt von seiner besten Seite zeigen.

Ohne den kleinsten Ausrutscher.

Ein Patzer, und du bist raus.

Trotzdem wäre es schön gewesen, wenn Jensen ein Lebenszeichen von sich gegeben hätte. Wahrscheinlich war sie immer noch sauer auf ihn.

Seine Frau und Jensen.

Frauen, die über ein längeres Gedächtnis verfügten oder einen ausgeprägteren Hang hatten, Groll gegen jemanden zu hegen, würde man lange suchen müssen. Wie hatte er es geschafft, sich ausgerechnet mit diesen beiden zu entzweien? Selbst für seine Verhältnisse grenzte das an eine Heldentat.

Er seufzte tief, legte sich auf die Couch, deckte sich mit seiner Lederjacke zu und betete um Schlaf, der, das wusste er, wenn überhaupt erst in einigen Stunden käme.

4

Dienstag, 11:47 Uhr

Mit ihrem platinblonden Haar, dem pinkfarbenen Mantel und ihrem orangefarbenen Teint erhellte Christina Vangede den nassen Parkplatz gegenüber der Kirche von Gentofte wie eine menschliche Leuchtreklame. Ihr Make-up löste sich in Tränen auf, was seltsam war, denn von den anderen Trauernden, die sich jetzt eilig in ihre Autos flüchteten, schien niemand von dem Ereignis so schwer gezeichnet zu sein. Jensen vermutete, dass es sich hauptsächlich um Geschäftsfreunde handelte. Carsten Vangede wurde respektiert, vielleicht sogar gemocht, von niemandem aber geliebt, beschloss sie. Außer von seiner Schwester.

Der Gerichtsmediziner war zu dem Schluss gekommen, dass Carsten sich erhängt hatte, nachdem er bankrottgegangen war, aber Deep Throat, die anonyme Quelle, die Jensen berichtet hatte, wie er selbst und Carsten von ihren eigenen Buchhaltern betrogen worden waren, hatte etwas anderes behauptet. Stunden vor seinem Tod hatte Carsten einen Flug nach Thailand gebucht. Welcher Selbstmörder tut so etwas? Jensen hatte beschlossen, in Dänemark zu bleiben, um das herauszufinden, aber die Geschichte hatte sich als kompliziert erwiesen.

Zu ihrer Erleichterung hatte sich Deep Throat nicht unter die Trauergäste bei Carstens Beerdigung gemischt. Er wäre entsetzt über das dürftige Ergebnis ihrer Untersuchung, und sie wollte ihn nicht enttäuschen.

Dafür war noch viel Zeit.

 

Das Problem war, dass sich niemand für Selbstmorde bankrotter, alkoholkranker, unverheirateter dänischer Männer in ihren Fünfzigern interessierte, schon gar nicht die Polizei. »Er hat also ein Flugticket gekauft, bevor er sich umgebracht hat. Wen interessiert das?«, hatte sie der Polizist gereizt gefragt, bevor er auflegte.

Was würde Henrik davon halten? Er hielt sich bedeckt. Sie nahm an, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er nicht, wie versprochen, aufgetaucht war, um sie zum Flughafen zu fahren.

Zu Recht.

Sie tastete in ihrer Tasche nach dem Brillenetui, das Vangedes betrügerischem Buchhalter gehört hatte. Sie schloss die Hand um die kalte, glatte, längliche Form. Es war jetzt die einzige Verbindung zu dem Mann, der den Namen Bjarne Petersen benutzt hatte, um das Geld aus Carstens Firma zu ziehen.

Carsten hatte ihr das Etui gegeben.

Es musste eine Bedeutung haben.

Auf der Innenseite des Deckels standen in goldenen Lettern Name und Anschrift eines Optikers in Randers. Eine Spur, die laut Vangede ins Leere geführt hatte. Trotzdem wollte Jensen selbst mit dem Optiker sprechen. Die Nachrichten, die Gustav und sie ihm hinterlassen hatten, waren bisher unbeantwortet geblieben.

Der Pfarrer hatte den Beerdigungsgottesdienst mit einem einzigen engagierten Kirchensänger abgehalten, der die murmelnde Gemeinde durch dänische Gesänge schleppte, die Jensen noch aus der Schule gut kannte.

Gustav hätte sich der Totenwache in einem nahe gelegenen Bistro gern angeschlossen, aber Jensen zog es vor, mit Christina zu sprechen, bevor sie die Gelegenheit bekam, sich zu betrinken oder sentimental zu werden, je nachdem, was zuerst eintrat.

Die Frau sah ihrem toten Bruder nicht im Geringsten ähnlich und war zum Glück viel gesprächiger. Ihr verbrauchtes Gesicht und die raue Stimme ließen darauf schließen, dass die Geschwister die Vorliebe für Partys geteilt hatten. »Ich fühle mich so schlecht«, sagte sie, zündete sich unter ihrem leopardengefleckten Schirm eine Zigarette an und stieß den Rauch zu einem Mundwinkel hinaus. Ich hätte für ihn da sein sollen, aber ich hatte keine Ahnung, wie schlimm es um ihn stand.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Christina zuckte mit den Schultern. »Letztes Jahr vor Weihnachten, glaube ich.«

»Welchen Eindruck machte er auf Sie?«

»Es ging ihm nicht gut. Er war deprimiert. Irgendwie in sich gekehrt. Aber wir haben nicht lange geredet. Er kam vorbei, als wir Mamas Haus ausgeräumt haben. Sie ist letztes Jahr gestorben, und Carsten war gekommen, um sich ein paar Erinnerungsstücke abzuholen. Natürlich hat er nicht einen Finger krumm gemacht, um zu helfen. Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe meinen großen Bruder geliebt, aber er konnte manchmal ein richtiges Arschloch sein.«

Sie schloss die Augen, zog tief an der Zigarette und schüttelte den Kopf, als wolle sie schlechte Erinnerungen abschütteln.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Jensen.

»Einfach verdammt unzuverlässig. Egoistisch. Früher hat er mir ab und zu geholfen, mit den Kindern und so, und mit einem Mal war Schluss.«

»Sie meinen, er hat Ihnen immer wieder Geld gegeben?«

»Ja, dann plötzlich nicht mehr. Er hat eine Menge Geld mit den Bars verdient, die er betrieb, während ich kaum über die Runden gekommen bin.«

»Eigentlich war er aber pleite«, wendete Jensen ein.

»Wirklich?« Ihre raupenartigen Augenbrauen trafen sich in der Mitte, als sie die Stirn krauszog. »Woher wissen Sie das?«

Jensen zog es vor, nicht zu antworten. Christina würde früh genug erfahren, dass ihr Bruder mittellos war. Sollte sie auf ein Erbe hoffen, würde sie eine bittere Enttäuschung erleben.

»Ich habe ihn immer wieder gefragt, aber er hat mich dauernd nur angebrüllt. Deshalb habe ich mich nicht mehr mit ihm getroffen. Die Kinder habe ich auch nicht mehr zu ihm gebracht. Wenn ich ehrlich bin, hatte er einen schlechten Einfluss auf sie.«

Gustav und Jensen warfen sich gegenseitig einen Blick zu. Den drei halbwüchsigen Rabauken nach zu urteilen, die sich auf dem Rücksitz von Christinas Kia zankten, war das Kind längst in den Brunnen gefallen.

Christina hatte ihre Zigarette fast bis zum Filter aufgeraucht, und Jensen war klar, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. »Hat Sie der Selbstmord Ihres Bruders überrascht?«

»Überrascht? Ich war zu Tode erschrocken, als die Polizei bei mir auftauchte. Zuerst dachte ich, es ging um einen meiner Jungs. Ich hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt.«

»Ich meine, war das untypisch für Carsten?«

Christina nahm einen letzten kräftigen Zug, ließ den Zigarettenstummel auf den Asphalt fallen und trat ihn mit ihrem braunen Wildlederstiefel aus. »Ist es nicht immer untypisch? Bis jemand es dann doch tut. Der Scheißkerl.«

»Schauen Sie!« Jensen kritzelte ihre Handynummer auf eine zerknitterte Visitenkarte des Dagbladet. »Ich gehe nicht davon aus, dass wir uns Carstens Haus mal ansehen können? Nicht jetzt sofort, meine ich, aber vielleicht überlegen Sie es sich und rufen mich an?«

Christina beäugte die Karte. »Sie wollen über meinen Bruder schreiben?« Ihr Kummer schien für einen Moment vergessen.

»Ja«, sagte Gustav. »Wir versuchen herauszubekommen, ob …«

Jensen unterbrach ihn. »Wir recherchieren. Gustav wollte sagen, dass wir für einen Beitrag über Selbstmorde von Männern recherchieren. Ich habe Ihren Bruder vorher einmal getroffen, und als … na ja, das hat mein Interesse geweckt.«

»Ach ja? Wann war das?«

»Im Januar ungefähr.«

»Und?«

»Er war ziemlich betrunken, ehrlich gesagt.«

»Klar«, sagte Christina, während sie Jensens Visitenkarte einsteckte und in ihren Kia stieg. »Klingt ganz nach meinem Bruder.«

5

Dienstag, 13:26 Uhr

Regitse Lindegaard war fast eine halbe Stunde zu spät, als sie mit ihrem panzerartigen grauen Volvo die Auffahrt zur Villa ihrer Mutter heraufgerollt kam. Nicht, dass sie es für nötig hielt, sich dafür zu entschuldigen. Nachdem sie in strömendem Regen mit über den Kopf gezogenem Trenchcoat vom Auto zur Haustür gelaufen war, reagierte sie eher irritiert denn verlegen, als sie Henrik und Mark im Eingangsbereich warten sah. Sie war Ende fünfzig und sah aus, als wäre sie in einen Schminktopf gefallen, sah jedoch nicht schlecht aus, wenn man denn eine Frau mochte, die keine Möglichkeit ausließ, sich ein jüngeres Äußeres zu verschaffen. Henrik selbst war wenig angetan, und die Verspätung von Regitse trug kaum dazu bei, ihn für sie einzunehmen. Demonstrativ sah er auf die Uhr und wartete nahezu respektlos schweigend, bis sie die Nässe von den Mantelärmeln gewischt und sich ausgiebig über den Zustand des Kopenhagener Verkehrs ausgelassen hatte. Ihr Parfüm verweilte in der abgestandenen Luft wie ein ungebetener Gast.

»Hauptkommissar Jungersen«, stellte er sich vor. »Und das ist mein Kollege Mark Søndergreen.«

Ihre Hand war knochig und kalt, und als er sie ergriff, grub sich die Form eines respektablen Diamanten in die Spitze seines Zeigefingers. »Regitse«, stellte sie sich vor.

Anders als die meisten Hinterbliebenen hatte sie nicht zuerst die Leiche ihrer Mutter sehen wollen, sondern lediglich um ein Treffen in der Villa gebeten. Keine Tränen, keine besorgten Fragen danach, wie ihre Mutter zu Tode gekommen war. Auf den ersten Blick war das natürlich verdächtig, aber Henrik hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Täter zumindest versucht hätte, die eigene Gleichgültigkeit irgendwie zu überspielen.

»Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust.« Henrik beobachtete ihr Gesicht genau. Zeigte sie eine Reaktion?

Keine Reaktion.

Außer einem Zucken an ihrem linken Auge, als sie an ihnen vorbei ins Haus ging, war da nichts zu erkennen. Henrik hatte den Eindruck, dass Regitse, selbst wenn sie trauern sollte, was er bezweifelte, in ihrer Gegenwart niemals weinen würde.

»Wir haben immer noch kein Motiv für den Mord an Ihrer Mutter. Jeder Hinweis von Ihnen wäre hilfreich«, sagte er, während Mark und er ihr ins Wohnzimmer folgten.

»Ich dachte, es war ein Einbruch?«

Ihre abgehackte Sprechweise, die trotz vieler Jahre in einem Vorort von Aarhus kaum schwächer geworden war, verriet ihre vornehme Herkunft aus dem Norden Kopenhagens.

»Ein Einbruch ist durchaus eine Möglichkeit. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns sagen, ob etwas fehlt«, erwiderte Henrik.

Regitse war bereits dabei, sich einen Überblick über den Schmuck zu verschaffen. Stirnrunzelnd betrachtete sie jedes Bild, öffnete Schatullen und nahm Porzellanfiguren heraus. Zu Henriks Überraschung war die Handtasche von Irene Valborg neben ihrem Bett gefunden worden. In ihrer Brieftasche befanden sich dreitausend Kronen. Bis auf die Ringe an den Fingern der alten Frau war jedoch kein Schmuck zu sehen gewesen. Damit hatte sich der Mörder nicht weiter aufgehalten.

»Und?«

»Es scheint nichts zu fehlen.«

»Wann haben Sie Ihre Mutter das letzte Mal besucht?«, hakte Henrik nach, während er sich fragte, woher sie diese Gewissheit nahm. Regitse ignorierte die Frage.

»Haben Sie den Safe überprüft?«, wollte sie wissen.

»Welchen Safe?«

Etwas vor sich hin murmelnd ging Regitse zur Treppe. »Anfänger.«

»Moment. Der Anblick könnte wenig erfreulich sein«, warnte Mark.

Zu spät.

Regitse starrte bereits auf den dunklen Fleck auf dem Treppenabsatz. Den Orientteppich, auf dem ihre Mutter gestorben war, hatte die Spurensicherung bereits entfernt.

»Hier ist sie also gestorben.« Ihre harte äußere Schale schien für einen kurzen Moment Risse zu bekommen.

»Ja, sie könnte versucht haben, sich in Sicherheit zu bringen, indem sie das Gitter hinter sich schloss, als der Mörder sie von hinten angriff«, erläuterte Mark.

Langsam gewann Regitse ihre Fassung wieder und sah sich nun etwas würdevoller um. An den Wänden hafteten Reste von rotem Pulver, mit dem Möbel und Dekorationsstücke auf Fingerabdrücke hin untersucht worden waren. »Hier stand die Statue eines Elefanten, eine Bronzestatue.« Sie deutete auf das niedrige Bücherregal auf dem Treppenabsatz, auf dem ein helleres Rechteck die Form des Sockels markierte.

»Er wurde als Beweisstück mitgenommen. Wir gehen davon aus, dass diese Statue die Mordwaffe war«, erklärte Mark.

Regitse nickte und ging auf Zehenspitzen um den Fleck herum ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Das Bett war gemacht, das Zimmer aufgeräumt, es lagen weder Kleider noch andere Gegenstände herum. Nichts deutete darauf hin, dass Irene Valborg vielleicht im Begriff gewesen war, sich schlafen zu legen. Und Hinweise darauf, dass sie gerade aufgestanden war, gab es auch nicht. Nicht selten gehen Einbrecher ihrer Arbeit am helllichten Tage nach, besonders in einer ruhigen Gegend wie dieser. Die Regel war es aber nicht. Bedeutete das, dass der Täter doch kein Einbrecher war?

Regitse steuerte geradewegs auf ein Ölgemälde an der gegenüberliegenden Wand zu. Eines von etlichen goldgerahmten dänischen Landschaften, die die Wände des Schlafzimmers zierten. Sie nahm das Bild von der Wand.

Zu seiner Überraschung sah Henrik die Metalltür eines in die Wand einbetonierten Tresors. Keinem aus seinem Team war sie aufgefallen. Die Tür war nicht verschlossen.

»Er ist leer«, sagte Regitse, während sie den Innenraum abtastete. »Das habe ich mir schon gedacht. Darin befand sich ein Diamantencollier im Wert von einigen Millionen Kronen. Da haben Sie Ihr Motiv, Herr Kommissar.«

»Hauptkommissar«, korrigierte Henrik sie. »Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wer sagt, dass Ihre Mutter das Collier nicht verkauft hat?«

»Verkauft? Ha! Sie kennen meine Mutter nicht.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sie beide sich nicht sehr nahestanden.«

»Was hat das damit zu tun?«, giftete Regitse zurück.

»Wenn sie mit der Kette etwas gemacht hat, dann haben Sie es vielleicht nur nicht als Erste erfahren«, entgegnete Henrik.

»Glauben Sie mir, das Collier war ihr ganzer Stolz. Ihr einziger Stolz und ihre einzige Freude. Es war ihr wichtiger als ihre Nächsten und Liebsten.«

»Ein Erbstück?« Mark machte eifrig Notizen.

»Nein.«

»Was dann?«

»Sie hat es gekauft, kurz nachdem ich zu Hause ausgezogen war. Sie hatte eine Erbschaft gemacht.«

»Von wem?«, erkundigte sich Mark.

»Von irgendeinem Verwandten, was weiß ich. Aus der Familie meiner Mutter kennen wir niemanden.«

»Hat sie das Collier jemals getragen?«

»Natürlich nicht. Dazu war es viel zu teuer«, spottete Regitse.

Sie war zum Nachttisch ihrer Mutter gegangen und kramte in den Sachen in der Schublade herum. Henrik spürte, wie seine Geduld schwand. »Woher wussten Sie so genau, wo der Safe war?«

»Weil sie ihn mir gezeigt hat. Sie war sehr stolz darauf, dass sie so klug gewesen war, sich einen zu besorgen.«

Sie war also immer schon auf ihre Sicherheit bedacht gewesen, war kein Risiko eingegangen. Trotzdem hatte sie vor Kurzem die Sicherheitsmaßnahmen rund um ihr Haus verstärkt und sich gewissermaßen darin verbarrikadiert.

»Die goldene Uhr meines Vaters fehlt«, merkte Regitse an.

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher. Meine Mutter hat sie seit dem Tod meines Vaters in dieser Schublade aufbewahrt.«

»War sie wertvoll?«

»Ich glaube nicht. Mein Vater legte keinen Wert auf materielle Dinge.«

Im Gegensatz zu dir und deiner Mutter, dachte Henrik. »Sonst noch etwas?«

Regitse sah sich um. »Ich glaube nicht.«

Henrik war kein Experte, aber im Raum befanden sich einige andere, durchaus wertvoll aussehende Gegenstände, darunter Gemälde und Silber. Es könnte sich um einen Auftragsdiebstahl handeln, aber warum lässt man eine alte Uhr mitgehen, wenn es Wertvolleres zu stehlen gibt?

»Wissen Sie, warum sie neue Schlösser hat einbauen lassen? Oder die Alarmanlage?«, fragte Henrik.

Regitse zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber es überrascht mich auch nicht. Sie war immer von der Paranoia besessen, dass ihr jemand die Halskette wegnehmen wollte. Ich durfte sie nicht einmal anfassen.«

»Und der Hund?«

Regitse Lindegaard runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«

Während Mark ihr von dem Schäferhund berichtete, führte Henrik die Fingerspitzen an die Schläfen und schloss die Augen. Nichts ergab einen Sinn. Wenn das Schmuckstück trotz Irenes Paranoia wirklich gestohlen worden war, woher wusste der Mörder, dass es an diesem Ort war? Wichtiger noch: Wie war es ihm gelungen, ohne Winkelschleifer in den Safe zu gelangen? Hatte sie ihn geöffnet? Oder war er schon offen gewesen?

David Goldschmidt vom Gerichtsmedizinischen Institut würde ihm das sagen können. Henrik aber war sich ziemlich sicher, dass die alte Frau nicht gefoltert worden war, um ihr den Code zu entlocken.

»Fällt Ihnen jemand aus ihrem Umfeld ein, der das getan haben könnte?«

»Umfeld? Meine Mutter war sechsundachtzig. Es gab eine Putzfrau, aber die hat siekurz vor Weihnachten entlassen.«

»Ach ja?« Henrik wurde hellhörig. »Woher wissen Sie das?« »Weil Minna mich angerufen hat, um sich zu beschweren. Jahrelang hat sie für meine Mutter gearbeitet, und dann heißt es plötzlich ›Vielen Dank, nimm dein restliches Geld und geh.‹«

Mark kam mit seinem Notizblock herein. »Können Sie mir Minnas vollständigen Namen und eine Telefonnummer nennen?«

Regitse kam seinem Wunsch nur widerwillig nach. »Aber eines sage ich Ihnen, Minna hat es nicht getan. Es ist nicht ihre Art, so etwas tut sie nicht, und ihr Mann ist praktisch invalide.«

»Wer war es dann?« Henrik war plötzlich etwas in den Sinn gekommen. »Gibt es hier einen Gärtner?«

»Troels, ja. Dem Zustand des Rasens und der Einfahrt nach zu urteilen, hat sie ihm nicht gekündigt. Andererseits aber war meine Mutter stets sehr darauf bedacht, den Schein zu wahren. Mochte der Apfel im Kern noch so faul sein, Hauptsache war, dass er von außen glänzte und hübsch rot aussah.«

Auf Sie trifft das wohl nicht zu, oder?, sinnierte Henrik, während Mark die Kontaktdaten des Gärtners sorgfältig notierte, der zusammen mit der Reinigungskraft befragt werden sollte.

»Ich bezweifle, dass Minna oder er von dem Safe überhaupt etwas wussten. Vielleicht hat meine Mutter versehentlich einem Fremden gegenüber eine Bemerkung gemacht. Vielleicht haben ihr irgendwelche gerissenen Typen das Sicherheitssystem angedreht.«

Nicht ausgeschlossen, überlegte Henrik, aber den offenen Safe erklärte das nicht. Auch nicht, warum Irene Valborg sterben musste. Das war aber nicht das Einzige, was in diesem Fall unerklärlich war. »Wer sagt uns, dass nicht Sie die Kette gestohlen haben? An den Code zu kommen, wäre für Sie ein Kinderspiel gewesen. Sie könnten den Einbruch vorgetäuscht haben«, spekulierte er. »Vielleicht haben Sie sie umgebracht.«

»Warum sollte ich meine eigene Mutter töten?«

Henrik blickte um sich. »So ein Klotz von Haus ist doch sicher nicht billig. Darf ich annehmen, dass Sie laut Testament Ihrer Mutter die einzige Erbin sind?«

»Wenn ich sie hätte umbringen wollen, um an das Erbe zu kommen, warum hätte ich dann das Collier stehlen sollen?«

»Vielleicht wollten Sie es nicht, aber Ihre Mutter kam Ihnen in die Quere. Oder Sie haben sich das Collier ausgedacht, um uns in die Irre zu führen. Oder Sie haben sie umgebracht, nicht an den Schmuck gedacht und erst jetzt zu Ihrer offensichtlichen Verärgerung entdeckt, dass es fehlt.«

Er spürte Marks auf ihn gerichteten Blick. Er ging zu weit.

Regitse reagierte bemerkenswert gelassen. »Stimmt, ich bin verärgert, aber umgebracht habe ich sie nicht. Sie vergeuden Ihre Zeit, während der wahre Mörder da draußen frei herumläuft.«

Sagte sie die Wahrheit? Wäre es ihr um Geld gegangen, hätte sie nicht lange warten müssen, und ihre Mutter wäre eines natürlichen Todes gestorben. Es sei denn, sie war verzweifelt?

»Was ich nicht verstehe,« fing Henrik an. »Warum haben Sie Ihre Mutter nicht öfter besucht?«

»Ich habe sehr viel zu tun. Und mein Mann hat einen sehr anspruchsvollen Job«, erklärte Regitse, während sie in einem weiteren Schmuckkästchen kramte.

»Trotzdem, dann und wann ein Anruf, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut geht? Mehr als ein paar Minuten hätte Sie das doch nicht gekostet.«

Regitse klappte den Deckel der Schatulle zu und trat auf Henrik zu. Unmittelbar vor ihm blieb sie stehen, sodass er das Puder sehen konnte, das sich in den feinen Härchen auf ihrer Oberlippe verfangen hatte, und die Wimperntusche, die im Regen verlaufen war und sich wie schwarze Tränen in den Augenwinkeln festgesetzt hatte. Sie sah ihn entschlossen an. »Ihr Job ist es, den Täter zu fassen und die Halskette zurückzubringen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«, sagte sie mit vorgerecktem Kinn.

Henrik verschränkte die Arme vor der Brust, baute sich breitbeinig vor ihr auf und begegnete ihrem Blick.

Zwischen ihnen Mark. Sein Blick huschte nervös hin und her.

»Na los«, sagte Regitse. »Worauf warten Sie noch?«

Henrik spürte Wut in sich aufsteigen. Er hatte es satt, ständig der Prügelknabe zu sein.

Der seiner Frau.

Der von Jensen.

Sich nach gerade mal zwei Stunden Schlaf auf den Beinen zu halten, um sich von Leuten wie Regitse Lindegaard beschimpfen zu lassen. Dafür hatte sie sich den falschen Tag ausgesucht. »Wer Sie sind oder was Ihr Mann macht, interessiert mich nicht. Aber zu sagen haben Sie hier nichts«, verkündete er und zeigte mit dem Finger direkt auf sie. »Das hier sind meine Ermittlungen.«

Regitse lachte, als Mark vergeblich versuchte, Henriks Arm herunterzudrücken. »Sie armseliges Würstchen. Ich bleibe über Nacht in Kopenhagen. Informieren Sie mich, wenn es Neuigkeiten gibt.«

Sie ging zur Tür.

»Es gibt in diesem Moment Neuigkeiten«, sagte Henrik mit fester Stimme. Sie blieb stehen. »Sie werden uns begleiten.«

»Warum?« Das Lachen war Regitse aus dem Gesicht gewichen.

»Wir müssen das, was Sie uns gerade erzählt haben, schriftlich festhalten. Ich bin sicher, dass Sie unsere Ermittlungen bestmöglich unterstützen möchten, auch wenn es einige Zeit dauern wird. Mark hier ist mit seinen zwei Wurstfingern nicht der schnellste Tipper. An Ihrer Stelle würde ich meine Nachmittagstermine absagen.«

6

Dienstag, 17:14 Uhr

Gustav kam über die Schwelle von Jensens neuer Wohnung gestolpert, ließ die Kiste, mit der er sich abschleppte, auf den Stapel im Wohnzimmer fallen, warf sich zu Boden und rollte sich auf den Rücken. »Nie wieder!«, schrie er.

Jensen wäre seinem Beispiel gefolgt, könnte sie sich nur darauf verlassen, dass sie wieder hochkam. Sie ging zum Wasserhahn in der Küche, ließ sich das kalte Wasser direkt in den Mund laufen und trank in gierigen Schlucken.

Nach der Beerdigung waren sie zu IKEA in Gentofte gefahren. Es war die Hölle. Fiel diesen Massen an Menschen an einem regnerischen Dienstag im März nichts anderes ein, als flach zusammengelegte Möbel zusammenzuraffen? Gustavs Belohnung für das Holen und Schleppen war ein Teller Köttbullar in der Cafeteria gewesen. Darauf hatte er bestanden, bevor sie losfuhren. Während sie an einer Wasserflasche nuckelte, sah sie mit Abscheu zu, wie er die Frikadellen mit Kartoffelbrei und Soße in sich hineinschlang.

»Was guckst du mich so an?«, fragte er mit vollem Mund. »Das ist Tradition. Bei dir geht ein Heiligabend ohne Mandelreis mit Kirschsauce doch auch nicht, oder?«

»Eigentlich doch.« Sie erschauderte bei dem Gedanken an den kalten Mandelreis, der in ganz Dänemark nach dem gebratenen Vogel auf den Tisch kommt. »Ich hasse Mandelreis.«

»Weißt du, was dein Problem ist?« Gustav zeigte mit einer aufgespießten Frikadelle auf sie. »Du warst zu lange weg von Dänemark. Sogar dein Akzent ist komisch geworden.«

»Mein Akzent?«

»Ja.« Gustav fing an, Dänisch mit britischem Akzent nachzuäffen.

Sie ließ die Wasserflasche auf seinen Arm niedersausen, und er lachte, den Mund voll halb zerkautem Fleisch. Dabei hatte er selbst in den von kreischenden Kindern und streitenden Paaren nur so wimmelnden verschlungenen Gängen die Segel gestrichen.

»Was brauchst du denn noch alles?«, hatte er gestöhnt, während sich Bettzeug, Handtücher, eine Kleiderstange und Lampenschirme im Einkaufswagen stapelten. Hinzu kamen noch Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen, Gläser, Kissen, ein Teppich, eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher, Geschirrtücher und eine Uhr.

Mit Dutzenden anderer ermatteter Kunden hatten sie vor der Kasse in der Schlange gestanden, als plötzlich Jensens Telefon ertönte. Sie erkannte Randers’ Telefonnummer: der Optiker, der einst dem betrügerischen Buchhalter von Vangede eine Brille mit Metallrahmen verkauft hatte.

Endlich.

Er klang aufgebracht. »Jensen?«

»Am Apparat.«

»Fünfundzwanzig Nachrichten haben Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, aber ich will, dass das aufhört. Sofort.«

»Ich bin Journalistin. Ich schreibe über den Tod von Carsten Vangede. Sind Sie …«

»Nein«, fiel ihr der Optiker ins Wort. »Ich weiß nichts über diese Brille. Ich verkaufe Hunderte davon.«

»Vangede war also schon bei Ihnen?«

»Ich möchte nicht mit Ihnen reden.«

»Aber Sie müssen die Verschreibung für die Brille doch noch haben. Der Mann, den ich suche, hieß Bjarne Petersen. Er könnte …«

»Schluss, ich will kein Wort mehr hören.« Der Optiker war kurz davor zu schreien.

Dann legte er auf.

Gustav starrte sie fragend an. »Und?«

»Das war der Optiker. Er klang seltsam«, sagte Jensen.

»Wie seltsam?«

»Als hätte er vor etwas Angst.«

Schließlich waren sie durch die Kasse hindurch und damit beschäftigt, die sperrigen Kartons und Haushaltsgegenstände zum Parkplatz zu schaffen.

Jensen ging das Gespräch nicht aus dem Kopf. War der Optiker unter Druck gesetzt worden? Und wenn ja, von wem?

»Wäre es nicht viel einfacher gewesen, den Container mit deinen Sachen einfach nach Kopenhagen zurückzuholen?«, rief ihr Gustav, auf dem Boden liegend, von unten zu.

»Schon möglich. Aber so ist es mir lieber: neue Sachen, neuer Anfang. Außerdem weiß ich noch gar nicht, ob ich für immer bleibe.«

Gustav deutete auf die Packstücke. »Sieht mir aber schwer so aus.«

Jensen stand nicht der Sinn danach, sich in Erklärungen zu ergehen. Er würde nicht verstehen, dass es klüger war, das Leben in Kopenhagen erst einmal anzutesten. Käme sie im Herbst zu dem Schluss, dass es nicht das Richtige für sie war, konnte sie die Wohnung einfach dem nächsten Mieter überlassen und nach London zurückgehen.

Die Wohnung war perfekt. Fast. Die Waschmaschine funktionierte nicht, und so langsam gingen ihr die sauberen Klamotten aus. Sie schrieb schnell eine Nachricht an die asthmatische Maklerin (höchste Zeit, dass sie etwas für ihr Geld tat), dann schleuderte sie Gustav ein Kissen zu. »Na los, beweg dich. Du hast zu tun.«

»Was?«, jammerte Gustav. »Davon hast du nichts gesagt.«

»Du hattest doch nicht im Ernst vor, mich mit dem Auspacken allein zu lassen, oder? Ich dachte, du wolltest mein Praktikant sein?«

»Ja, dein Journalismus-Praktikant, nicht dein persönlicher Lakai. Aber wo wir gerade dabei sind: Gehst du wieder zum Dagbladet zurück?«

»Tut mir leid, Gustav, aber die Antwort ist immer noch nein. Ich habe mir überlegt, es eine Zeit lang freischaffend zu versuchen.«

»Bisher allerdings nicht mit großem Erfolg.«

»Sagt wer?«

»Margrethe, zum Beispiel.«

»Na ja, es braucht eben Zeit, alles zu organisieren.«

»Was gibt’s denn da zu organisieren?«

»Vor allem erst mal mein Büro.«

Auf die Ellbogen gestützt, sah Gustav sie plötzlich neugierig an. »Und wo soll das sein?«

»Du bist mittendrin. Und jetzt steh auf. Danach wartet ein Take-away auf uns. Ich kenne einen wirklich netten Koreaner nicht weit von hier. Die machen Bubble Tea. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«