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Der neue pferdestarke Roman von Teenie-Versteherin Ilona Einwohlt: Feelgood-Lektüre für Leser:innen in der ereignisreichen Phase zwischen Kind sein und Pubertät. Für die 14-jährige Lilly dreht sich alles um Pferde. Auf dem Gestüt ihres Vaters packt sie mit an, wo sie nur kann. Aber weil die Geschäfte schlecht laufen, soll Lillys geliebte Fuchsstute Zora verkauft werden - eine Katastrophe! Von ihrer älteren Schwester Eve kann Lilly keine Hilfe erwarten, denn die hält sich aus dem Hofgeschehen raus und arbeitet stattdessen an ihrer Karriere als Beauty-Influencerin. Als der rätselhafte Fran auf der Bildfläche erscheint und beide Schwestern eine besondere Verbindung zu ihm spüren, ist Lillys Gefühlchaos komplett. Sie und Eve werden immer mehr zu Rivalinnen und auch Fran scheint zwischen Lillys Pferdekosmos und Eves Glamourleben hin und her gerissen. Doch da kommt Frans Geheimnis ans Licht, und zwingt die Schwestern, ihre Vorurteile zu überdenken. Gelingt es ihnen, die Welt mit den Augen der jeweils anderen zu sehen und gemeinsam für ihre Träume zu kämpfen? In "Goldschwestern" erzählt Erfolgsautorin Ilona Einwohlt davon, dass die Liebe viele Gesichter hat - und wieviel Mut es manchmal braucht, zu sich selbst zu stehen. Mit stimmungsvollen Illustrationen von Laura Rosendorfer. Weitere Bücher von Ilona Einwohlt im Arena Verlag: Wild und wunderbar (1). Zwei Freundinnen gegen den Rest der Welt Wild und Wunderbar (2). Gegensätze halten zusammen (oder?) Wild und Wunderbar (3). Freundinnen sind die besseren Schwestern Erdbeersommer (1) Erdbeersommer (2). Unterm Sternenhimmel Erdbeersommer (3). Galopp in die Freiheit Uncovered. Dein Selfie zeigt alles Schmetterlingsflügel für dich. Das Coachingbuch für starke und selbstbewusste Mädchen (mit Christina Arras)
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Seitenzahl: 288
Weitere Bücher von Ilona Einwohlt im Arena Verlag:Wild und wunderbar. Zwei Freundinnen gegen den Rest der Welt Wild und Wunderbar. Gegensätze halten zusammen (oder?) Wild und Wunderbar. Freundinnen sind die besseren Schwestern
Erdbeersommer
Erdbeersommer. Unterm Sternenhimmel
Erdbeersommer. Galopp in die Freiheit
Uncovered. Dein Selfie zeigt alles
Schmetterlingsflügel für dich. Das Coachingbuch für starke und selbstbewusste Mädchen (mit Christina Arras)
Ilona Einwohlt
wollte eigentlich Ernährungswissenschaftlerin werden. Aber dann las sie mitten in der Chemievorlesung Simone de Beauvoir, Julio Cortázar und Thomas Mann – und widmete sich fortan der Literatur. Längst ist aus der Germanistikstudentin eine erfolgreiche Autorin insbesondere für Kinder und Jugendliche geworden. In ihren Romanen geht es immer um aktuelle Themen mitten aus dem Leben, denn mit Interesse, Kritik und Leidenschaft verfolgt sie die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit. Ilona Einwohlt, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Darmstadt.
Laura Rosendorfer
lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Töchtern und einem schwarzen Kater in einem kleinen blauen Haus bei München. Einen Garten hat sie auch, leider ohne Pferd, aber mit vielen Eichhörnchen. Wenn der Trubel zu groß und der Computerbildschirm zu hell wird, flüchtet sie nach draußen zu den Blumenbeeten. Da sitzt sie dann am liebsten mittendrin und zeichnet.
Ein Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache:Der Autorin und dem Verlag war es wichtig, im Roman diskriminierungsfrei zu formulieren und gleichzeitig den Anforderungen des literarischen Schreibens gerecht zu werden. Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, Texte geschlechtergerecht zu gestalten, haben wir uns für eine Herangehensweise entschieden. Wir bedanken uns bei allen, die uns dabei unterstützt haben. Da sich gerade im Bereich der diskriminierungsfreien Sprache in kurzer Zeit viel ändern kann, sind wir auch weiterhin für Rückmeldungen und Anregungen offen.
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2022
© 2022 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag und Innenillustrationen: Laura Rosendorfer
E-Book ISBN 978-3-401-81021-8
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Es waren einmal zwei Schwestern, die hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die eine war schön und fleißig, die andere hässlich und faul … hey, halt, stopp, so einfach wie im Märchen ist es nicht. Wer bestimmt schon, was schön und hässlich, faul und fleißig bedeutet?
Natürlich kommt es darauf an, aus welcher Perspektive wir die beiden betrachten und welche Vorurteile uns die Sicht vernebeln. Anstatt vorschnell zu urteilen, sollten wir erst die ganze Geschichte kennen – und bereit sein, unsere Meinung zu ändern.
Nur in einer Hinsicht gab es einen großen Unterschied zwischen den beiden Schwestern, die mit ihrem Vater und dessen neuer Freundin auf einem Reiterhof lebten:
Die eine liebte ihre Pferde im Stall und auf der Koppel über alles und konnte mit Schönheitsgetue wie Lipgloss und Blush nichts anfangen. Die andere streamte ihren Beautykanal auf YouTube, wusste alles über Lipgloss und Blush – und hatte eine Allergie gegen Schmutz und Pferde.
Da kam es, wie es kommen musste: Beide wurden vom Schicksal geprüft und mussten sich ihren Ängsten stellen. Wie im Märchen. Nur dass der Prinz kein Prinz, sondern eine Prinzessin war und der Drache nur mit Liebe und Ehrlichkeit bezwungen werden konnte. Und wenn sie nicht miteinander diskutieren, dann streiten sie heute immer noch …
Eiskalte Winterluft knisterte in der Lunge und piekste im Gesicht, kühlte Lillys erhitzte Wangen. Was fiel Eve ein! Was fiel ihnen allen ein! Vor lauter Wut und Enttäuschung wusste Lilly überhaupt nicht, wohin sie fühlen sollte. Nur eins: weg. Raus. So schnell es ging. Tief über Zoras Hals gebeugt, galoppierte sie den schmalen Pfad entlang, die Anhöhe hinauf, die Hände in der Mähne vergraben, um wenigstens ein bisschen Wärme zu spüren an diesem Tag, der so beschissen war, wie Tage wie diese nun mal waren. Einsam. Alleine.
Egal, weiter, weiter. Endlich vergessen, an nichts mehr denken. Schneeflocken wirbelten unter Zoras Hufen, jetzt ging es wieder bergab und obwohl man kaum drei Meter weit schauen konnte, schien ihre Stute nur ein Ziel zu haben: die Ruine im Wald, seit jeher Lillys Geheimversteck. Aus unerklärlichen Gründen fühlte sie sich von dem verfallenen Gebäude angezogen. Wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, verbrachten sie hier ihre Zeit, im Sommer konnte es auch mal passieren, dass sie zwischen den verwitterten Steinen im Freien übernachteten.
Im Innenhof hielt Zora endlich an. Das Gemäuer war dick verschneit, kaum zu erkennen. Baufällig und einsturzgefährdet, war der Zutritt strengstens versperrt, aber Lilly hatte ein Schlupfloch gefunden. Sie ließ sich von Zoras Rücken rutschen, zog mit klammen Fingern ihr Handy aus der Hosentasche und rief zum wiederholten Male den Link auf, der seit heute Morgen viral ging und ihr seitdem das Leben zur Hölle machte. Lilly konnte es immer noch nicht glauben. Was dachte sich ihre Schwester nur dabei, solch ein Video zu posten! Wie konnte sie nur so fies und gemein sein?
»Wollt ihr wissen, wie es mir geht?« Eine völlig ungestylte Eve schniefte in die Kamera. Die Haare hingen strähnig herunter, die Augen sahen gerötet aus. Kein strahlender Ringlichtkranz in den Pupillen wie sonst. Alles war verwackelt, man konnte gerade mal die Umrisse ihres Kleiderschranks im Hintergrund erahnen. Keine Weichzeichner, keine stimmungsvollen Lichterketten. So aufgelöst hatte Lilly ihre Schwester noch nie erlebt, nicht einmal damals nach dem Unglück.
»Alles dreht sich nur um sie und um Pferde, Pferde, Pferde. Welches Pferd Lilly reitet. Welche Erfolge sie verbuchen kann. Wie toll sie bei der Heuernte geholfen hat. Wie selbstlos sie Stallwache bei den Pferden hält, wenn der Verband gewechselt werden muss oder sie bei der Geburt eines Fohlens hilft. Nach mir fragt keiner! Dabei schreibe ich die viel besseren Noten und bin viel, viel erfolgreicher. Ich habe hier über hunderttausend Follower! Wenn ich meine Beautytutorials hochlade, schalten alle ein und sofort habe ich Hunderte von Likes. Niemand sieht, wie viel harte Arbeit dahintersteckt. Ich drehe Videos, ich recherchiere, ich muss mich an Absprachen halten. Dann Musik aussuchen, schneiden, hochladen.«
Es ging in einer Tour. Lilly ertappte sich dabei, wie sie gebannt an Eves Lippen hing. So hatte sie ihre Schwester noch nie sprechen hören. Alles war sonst immer ein oberflächliches Plinkplink. Jetzt blickte ihr eine verweinte Eve entgegen, ohne Make-up sah man sogar Falten um die Augen, ungewöhnlich für eine Sechzehnjährige. Alles echt.
»Das Leben ist so ungerecht!«, heulte Eve weiter. Mittlerweile lag sie rücklings auf ihrem Bett, die blonden Haare umspielten ihr Gesicht wie ein Wasserfall. Man hätte sie glatt für Lilly halten können, so ähnlich sahen sich die Schwestern in diesem Moment. »Sie bekommt alles und ich nicht. Dabei ist sie echt so was von hässlich. Mit ihren wirren Korkenzieherhaaren, die sie niemals kämmt, verfilzt und ungepflegt bis in die Spitzen. Kein Wunder, sie benutzt ja auch nur ihr komisches Ökoshampoo.«
Hä, was faselte Eve da? Lilly griff sich in die Haare. Sie mochte ihre Locken.
»Sie sieht aus wie eine Walküre, die durch die Luft reitet, so wehen sie wie eine blonde Fahne hinter ihr her.«
Walla-Walla-Wallhalla, unser Mistkäfer ist ein YouTube-Star, klangen die Rufe ihrer Mitschüler:innen von heute Morgen in Lillys Ohren nach, was hatte sie sich nicht alles anhören müssen. Eigentlich war sie ja an Lästereien gewöhnt.
Weiter ging’s mit einer endlosen Tirade über Lillys Reitklamotten. »Im Badezimmer ist alles voller Pferdehaare und ich muss dann mit meiner Allergie wieder husten und niesen und bekomme keine Luft … das ist echt megarücksichtslos von ihr! Ich achte darauf und räume meine Klamotten weg, sie lässt immer alles herumfliegen, sogar ihre Periodenunterwäsche. Immerhin kriegt sie ihre Tage, wenn sie schon keine Brüste hat. Sonst könnte man ja meinen, sie sei gar kein Mädchen.«
Unwillkürlich tastete Lilly nach ihrer Brust. Mochte sein, dass ihr Busen noch kaum entwickelt war. Warum sollte sie deshalb kein richtiges Mädchen sein? Und warum war das überhaupt so wichtig?
»Lilly ist total krank im Kopf! Sie reitet immer zur Ruine im Wald, keine Ahnung, was sie dort macht. Mit Zora!« Eve saß mittlerweile im Gegenlicht vor ihrem Fenster, was ihr ein noch dramatischeres Aussehen verlieh. »Wenn das unser Vater erfährt, ist Schluss mit lustig. Dann bekommt sie endlich Stallverbot und kann nicht mehr mit ihren ach so tollen Reitkünsten angeben und mir auf die Nerven gehen.«
»Pah, du hast echt eine üble Fantasie! Willst du wissen, wie es mir wirklich geht?«, murmelte Lilly. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, ihre Hände waren klamm, Herz und Gefühle eingefroren. Manchmal tat es einfach nur weh, so alleine zu sein, in der Schule teilte niemand ihre Leidenschaft für Pferde. Wer Tag und Nacht im Stall schuftete, hatte keine Zeit für Freund:innen und Partys. Da hatten die anderen aufgehört, sie einzuladen, und Lilly war zur Einzelgängerin geworden. Irgendwann dann hatte Miranda mit diesen Sprüchen angefangen und seitdem war es noch schwerer geworden.
Lilly scrollte weiter und las mit angehaltenem Atem die unzähligen Kommentare unter dem Video.
Hehe, geile Braut – Trostküsse 2U – Take care – Du Arme!, wie schrecklich. – Die ist ja krank! – Wie hältst du es mit so einer Irren unter einem Dach aus? Das waren Eves Fans. Die anderen Kommentare klangen ganz anders:
Wenn hier einer spinnt, dann du! – Bist du transphob, oder was? – Geh doch zur AfD! – Vergiss es. – Ich bin raus! – Du bist voll die Haterin! – Wie siehst du überhaupt aus? – Gender rules! Eine Person nach der anderen war Eves Account entfolgt, die Anzahl von Abonnent:innen war seit heute Morgen mindestens um ein Drittel geschrumpft. In Lillys Augen war das nur mehr als gerecht.
»Was meinst du, warum hat sie dieses Video gedreht?« Lilly schaute Zora fragend an. Zur Antwort tänzelte die Stute um sie herum. »Du meinst, wir müssen sie zur Rede stellen? Na, dann los, worauf wartest du?« Mit einem Satz sprang sie in den Sattel. Lilly musste Zora gar nicht antreiben, sie preschte aus dem Stand los. So war das mit Zora, sie wusste immer, was für Lilly gut war. Diesmal fiel sie in einen lockeren Trab, nachdem sie das Waldstück hinter sich gelassen hatten. Sortiere erst mal deine Wut und Gedanken, sollte das bedeuten und in der Tat bemerkte Lilly, wie der gleichmäßige Takt sie beruhigte. Doch zu früh gefreut. Im Stall kam sie direkt vor Meryams Füßen zum Stehen. Die Stiefmutter hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Was soll das?«, fragte Meryam mit eiskalter Stimme, frostiger ging’s nicht. »Keine Ausritte mehr, ich dachte, das hätten wir geklärt! Ich bereite Zora auf das Turnier vor, wäre doch gelacht, wenn die Lady hier nicht wieder zur Bestform auflaufen würde. Nicht wahr, meine Gute?« Meryam wollte Zora den Hals tätscheln, doch die wich erschrocken zurück. In den zwei Jahren, die Meryam auf dem Waldhof als Bereiterin lebte, waren die Stute und sie keine Freundinnen geworden.
»Was fällt der ein!«, schimpfte Lilly vor sich hin, während sie Zora in ihre Box zurückbrachte und mit Stroh trocken rieb, bevor die allabendliche Fütterung begann.
»Na, wieder beruhigt?« Matayo stellte die Schubkarre ab. Dem Pferdepfleger entging nichts, die schlechte Stimmung zwischen den beiden Schwestern am allerwenigsten. Er schaute Lilly mitfühlend an.
»Sehe ich so aus?«
»Eve tut es leid … sie wollte das nicht. Es war keine Absicht. Ich glaube, sie würde auch gerne auf Zora reiten und ist eifersüchtig deswegen.«
»Eve tut es leid? Dass ich nicht lache! Und um Zora macht sie doch einen großen Bogen. Du bist echt so was von blind!« Lilly war immer noch sauer. Sauer und enttäuscht zugleich. Traurig vor Wut. Wütend vor Trauer. Alles zusammen.
»Komm schon! So schlimm ist das doch alles gar nicht. Die Leidtragende ist Eve. Jetzt lästern alle über sie. Weil sie in diesem Jumpsuit aussieht wie eine Tonne und auch noch ungeschminkt war. Sie schämt sich zu Tode und heult nur noch, weil sie sich so hässlich findet.«
»Was stimmt nicht mit dir?! Ich dachte, du wärst mein bester Kumpel! Und jetzt hast du Mitleid mit der Armen! Ungeschminkt und ohne Slimfilter! Geht natürlich gar nicht.« Lilly atmete tief aus. »Und was heißt hier ›nicht so schlimm‹? Sie findet, ich sei keine richtige Frau! Ich wäre krank. Wie kann sie nur so etwas behaupten! Ist doch wohl völlig egal, wer oder was ich bin! Erklär mir mal, warum sie das macht. Das ist absolut verletzend. Kein Wunder, dass sich ihre Follower abmelden …«
»Na ja, du musst schon zugeben, dass du eher wie ein Typ durch die Gegend stiefelst. Mal abgesehen von deinen langen blonden Haaren.«
»Bitte was?! Fängst du jetzt auch damit an?«
Eigentlich wollte Lilly nur noch weg und ihren Kumpelfreund mit seinen blöden Sprüchen allein lassen. Stattdessen blieb sie wie festgenagelt stehen.
»Sag das noch mal: Du hältst mich auch für einen Typen?«
»Ich weiß nicht … manchmal verhältst du dich wie einer.« Matayo kratzte sich am Hinterkopf, er fühlte sich sichtlich unwohl.
»Und wie verhält sich einer? So?« Lilly tat so, als fasste sie sich in den Schritt, und versuchte, grimmig zu gucken.
»Du weißt, was ich meine.« Matayo zuckte die Schultern. »Du schminkst dich nie. Du trägst weder Rosa noch Kleider … hast keine Freundinnen … du bist stark wie ein Kerl – wenn’s drauf ankommt, trägst du vier Futtereimer auf einmal. Du bist mutig wie ein Löwe, hast keine Angst vor Ratten, schläfst im Stall und nachts reitest du zur Ruine …«
»Nicht dein Ernst jetzt, oder?« Lilly war ganz dicht an Matayo herangetreten und schaute ihm direkt in die Augen. Als ob sie eine Antwort darin lesen könnte. Matayo erwiderte ihren Blick. Mehr noch. Er fasste sie an der Hand.
»Lilly … es ist doch nur … manchmal weiß ich nicht, was ich von dir halten soll. Du bist so … anders. Und wenn einer weiß, wie einsam es mit diesem Anderssein ist, dann ja wohl ich!«
»Es tut mir leid …« Für einen Moment lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und merkte, wie ihre Wut verrauchte. Schön fühlte sich das an. Warm. Vertraut. Natürlich war Matayo auf ihrer Seite. Seit er vor drei Jahren auf dem Waldhof als Stallbursche angeheuert hatte, waren sie beste Freunde. Als Teenie war er mit seiner Familie aus dem Sudan nach Deutschland geflüchtet und nach etlichen Behördengängen durften dank Pauls und Iris’ Unterstützung alle bleiben, die Eltern hatten Arbeit beim hiesigen Busfahrtunternehmen gefunden. Lilly hatte Matayo Deutsch beigebracht und er ihr das Reparieren von Zäunen und Schubkarren, überhaupt war er handwerklich überaus geschickt. Matayo war beinahe achtzehn und der Schwarm aller Menschen im Stall. Im letzten Jahr hatte er die Schule geschmissen und machte nun eine Ausbildung als Pferdewirt. Sehr zur Freude von Lillys Vater Paul, denn Matayo besaß ein unglaubliches Einfühlungsvermögen und kam mit jedem Pferd zurecht – außer mit Zora. Mit der hatte er es sich vom ersten Tag an verscherzt, weil er ihr mit dem Pferdestaubsauger zu Leibe rücken wollte. Das hatte sie ihm bis heute nicht verziehen.
»Ich bin von dir megaenttäuscht! Ich hätte nicht erwartet, dass du Eve in Schutz nimmst«, flüsterte Lilly in seine Jacke.
»Schon gut, es tut mir leid, du weißt doch, was sie mir bedeutet …« Matayo war einen Schritt zur Seite getreten. »Manchmal frag ich mich, ob du überhaupt merkst, wie es den anderen geht.«
»Wie meinst du denn das schon wieder?«
»Deine Schwester ist nicht die Strahlequeen, wie sie immer tut. In Wirklichkeit ist sie so einsam wie du. Schau doch mal genauer hin!«
»Du meinst es wirklich ernst …« Lilly kniff die Augen zusammen und musterte Matayo. Der war unübersehbar knallrot angelaufen. »Du täuschst dich! Eve kann sich perfekt inszenieren. Ich glaube ihr kein Wort. Von wegen, das ist nicht mit Absicht geschehen! Das ist sicher so ein Real-Life-Challenge-Ding, von denen das Netz nur so wimmelt. Warte mal ab, am Ende hat sie noch viel mehr Follower als zuvor, weil alle sie so cool und echt finden, Hashtag Bodypositivity, yay.« Lilly zog ihr Handy aus der Tasche. Ein Kommentar nach dem nächsten ploppte auf. In der Klassengruppe, auf Insta, Snapchat. Mittlerweile hatte sich ein Team Lilly und ein Team Eve gebildet.
»Siehst du! Da hatten wir wochenlang Medienkompetenztraining und jetzt das.« Dann fügte sie seufzend hinzu: »Mein Vater darf dieses Video nie im Leben sehen!«
»Es tut mir so leid!« Eine zerknirschte Eve stand am Abend ohne Anklopfen bei Lilly im Zimmer und stammelte eine Entschuldigung nach der anderen. »Echt, ich wollte das nicht! Ich hatte überhaupt nicht vor, dieses Video zu veröffentlichen. Ich war an dem Abend echt fertig von dieser ständigen Husterei.«
Doch Lilly wollte kein Wort hören. Sie war müde vom Tag und der Stallarbeit. Demonstrativ beugte sie sich über ihr Schulheft, Mathe. »Lass mich einfach in Ruhe!«
»Warum hasst du mich so?« Eve klang, als sei sie den Tränen nahe.
»Wie bitte? Du bist doch diejenige, die seit damals keine Gelegenheit auslässt, um mir eins auszuwischen.« Wo bitte war die versteckte Kamera? Lilly blickte sich suchend um. Das hier war eine filmreife Aufführung in dem Drama »Die unverstandene Schwester«. Sie war aufgesprungen und stand jetzt direkt vor Eve. Sie roch nach Veilchen und Vanille und mal wieder hatte Lilly das Gefühl, sie blicke in ihr zwei Jahre älteres Spiegelbild, so ähnlich sahen sich die beiden Schwestern. Blonde Haare, die gleichen blauen Augen, die leicht schief sitzende Nase, der Mund mit den vollen Lippen, selbst die Grübchen waren an den gleichen Stellen. Man hätte sie glatt für Zwillinge halten können. Wenn sie nicht so grundverschiedene Interessen gehabt hätten – und die eine nicht diese akkurat gezupften Augenbrauen.
»Jetzt glaub mir doch!«, heulte Eve weiter. »Dieses Video hat für mich alles nur noch schlimmer gemacht.«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen! Spar dir deine Tränen, das Drama zieht bei mir nicht.« Mit diesen Worten schob Lilly sie vor die Tür.
So einfach war es nicht. Die Sache machte ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte. Die nächsten Tage waren für Lilly die Hölle, durchwachte Nächte bei kranken Pferden mit Kolik ein Spaziergang dagegen. In der Schule versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen und die befremdeten Blicke ihrer Mitschüler:innen zu ignorieren. Lilly war ja Kommentare gewöhnt, sie schaltete auf Durchzug. Wenn es gut lief, nannten sie sie nur Gummistiefel oder Mistkäfer, an schlechten Tagen kam Trensengesicht, Stallschlampe oder Pferdearsch dazu, aber meistens behandelte man sie wie Luft. Und jetzt redeten sie über sie. Ständig. Immer. Und überall. Dieses Getuschel, dieses plötzliche Auseinandergehen, wenn die anderen sie erblickten, diese eiskalte Abneigung fühlten sich schlimm an. Plötzlich stand sie im Mittelpunkt des Interesses und nicht Eve, um die sich sonst immer alles drehte. Die hütete unter Vortäuschung einer Magen-Darm-Grippe seit einer Woche das Bett und hatte sämtliche Accounts offline gestellt. So was von feige war das! Abgetaucht in einer Wolke aus Selbstmitleid, bekam sie weder Likes noch Häme ab, während sich Lilly tapfer dem Kommentargewitter stellte und versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen. Es tat weh, immer wieder die Außenseiterin in der Klasse zu sein, obwohl sogar viele Mitschüler:innen zum Reiten und Voltigieren auf den Waldhof kamen. Eve hatte es in den letzten Monaten geschafft, die anderen gegen sie aufzubringen, und Lilly verstand nicht, warum. Die Gemeinheiten schmerzten wie die Kälte, die ihr derzeit wie lauter kleine Eispickel entgegenschlug und Nadelstiche in die Haut trieb, sobald sie vor die Tür trat. Sie brauchte dicke Wollpullis, ein dickes Fell. Stattdessen wurde Lilly immer dünnhäutiger und fühlte sich einsam.
In der letzten Sportstunde vor den Ferien spielten sie Fußball. Demonstrativ stellten sich die Mädchen der Klasse an den Seitenrand und überließen den Jungs das Feld – und Lilly.
»Hoffentlich verrutscht ihre Periodenunterwäsche nicht, wenn sie grätscht«, lästerte Miranda unüberhörbar mit den anderen.
»Geht’s noch? Könnt ihr dieses Video nicht endlich mal vergessen?« Mehr fiel Lilly dazu nicht ein. Das machten die mit purer Absicht, neulich noch hatten alle mitgespielt. Sie selbst hatte Spaß mit dem Ball und dribbelte spielerisch zum gegnerischen Tor.
»Hey, cool, machst du das öfters?«, fragte Rico und passte ihr den Ball zu.
»Ich spiele immer mit meinem Pferd!« Lilly passte zurück.
»Echt jetzt?«
»Klar. Zora ist die geborene Torschützenkönigin!«
»Pferde, Pferde, Pferdearsch …«, wieherte Leon von der Seite. »Der Hintern von einem Friesengaul ist der reinste Babypopo gegen deinen!«
»Sehr originell!«, meinte Lilly und streckte ihm die Zunge raus.
»Cricket, meinst du?« Rico schaut sie fragend an.
»Nein. Zora bekommt einen großen, weichen Ball … damit spielt sie dann total ausgiebig.« Lilly geriet plötzlich ins Schwärmen. Sie selbst konnte stundenlang dabei zusehen, wie Zora mit dem Ball vor den Hufen durch die Halle tobte und übermütig buckelte und ausschlug. Zwischendurch wälzte sie sich vor lauter Wohlbefinden. Meryam waren diese Spielereien wie so vieles, was Lilly mit Zora veranstaltete, ein Dorn im Auge. Pferdebeine seien sensibel und verletzungsanfällig, da müsse man nicht auch noch mit Fußball das Risiko steigern. Dass Zora hinterher sichtlich zufrieden in ihrer Box stand, zählte für Meryam nicht. Aktuell hatte die Stute jedoch keinen Spaß. Statt Fangen spielen musste sie Passage üben, wieder und immer wieder, und wenn sie die Beine nicht hoch genug hob, half Meryam mit der Gerte nach.
»Verstehe!« Rico grinste. Die restliche Sportstunde verlief ohne weitere Zwischenfälle. Alle Jungs kassierten eine Eins, die Mädchen eine Zwei. Auch Lilly. Obwohl sie ein Tor geschossen hatte. Sie hatte längst aufgehört, sich über Ungerechtigkeiten aufzuregen, und stellte auf Durchzug. Die einzige Möglichkeit, den Schultag zu überstehen. Auch das würde vorbeigehen. Noch zwei Jahre, dann hätte sie die Mittlere Reife, würde eine Ausbildung zur Pferdwirtin machen und mit Menschen nichts mehr zu tun haben, nur noch mit Pferden. Die waren wenigstens ehrlich und redeten nicht so viel. Und in drei Tagen waren endlich Ferien. Danach würde die Meute vergessen haben, was vorgefallen war.
Vor Weihnachten
Liebe Ana,
so traurig, hier zu sein. Dieser Umzug war echt das Schlimmste, was unsere Mutter mir jemals antun konnte. Warum, warum, warum?! Genau 555 Kilometer sind wir gefahren, ich hab’s noch mal nachgerechnet, noch weiter weg von dir, die auf der anderen Seite der Welt lebt. Mit jedem einzelnen Kilometer, den wir vor ein paar Wochen im Umzugslaster auf der Autobahn zurückgelegt haben, wurde sie immer fröhlicher – und ich immer trauriger. Sie sagt, wir lassen all den Ärger und Streit hinter uns und fangen ganz von vorne an. Diesmal machen wir alles anders, alles besser, machen die gleichen Fehler nicht noch einmal.
Wir?!
Deswegen gibt es immer noch kein neues Handy für mich. Hey, wie soll ich das überleben? Ich bin hier irgendwo im Nirgendwo und völlig von der Welt abgeschnitten. Total alleine. Wie soll ich das aushalten? Ich hab das Gefühl, ich explodiere, so durcheinander ist alles in mir drin. Weiß gar nicht, wohin ich denken soll. Das muss alles raus! Also schreibe ich in mein Tagebuch und Briefe an dich, wie damals zu Goethes Zeiten.
Schreiben tut der Seele gut, hat Papa gesagt. Ich erzähl dir alles, denn ich will auch nicht die gleichen Fehler noch einmal machen. Den Shitstorm über mich ergehen lassen. Mich nicht wehren. Alles in mich hineinfressen. Mit niemandem reden, mich niemandem anvertrauen. Das habe ich einmal gemacht und das war nicht gut. Du bist die Einzige, die wissen soll, wie es mir geht, die Einzige, die sich überhaupt noch für mich interessiert, nach all dem, was geschehen ist.
Sicher langweile ich dich, weil ich immer das Gleiche schreibe, sicher willst du wissen, wie mein neues Zimmer aussieht (okay), wie die Stadt ist (okay), die neue Schule (weiß ich nach den Ferien). Und sicher hast du Sorge um mich, weil ich so fragil bin, weil du fürchtest, es könnte jederzeit wieder losgehen.
Ich habe das unter Kontrolle. Versprochen. Und ich schreibe dir wieder, auch versprochen.
Okay, Fran
Goldene Flocken tanzten um Lilly herum, legten sich wie ein Kleid über sie und brachten die Welt zum Leuchten. Mit weit ausgebreiteten Armen galoppierte sie auf Zoras Rücken über die Wiese, die Freiheit prickelte am ganzen Körper und Lilly strahlte mit der Sonne um die Wette. Alles funkelte, glühte, regenbogenbunte Blätter an den Bäumen und pinke Blumen bis zum Himmel. Wie im Märchen.
So viel Glück! Sie hatte gewonnen! Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren. Sie war frei! Keine doofen Sprüche, kein Stress, kein Ärger. Niemand, der ihr Zora wegnehmen wollte …
»Hey, Lilly, aufstehen – willst du den ganzen Tag vertrödeln? Die Pferde füttern sich nicht von alleine …« Ihr Vater klopfte an die Tür und riss Lilly aus ihren Träumen. Wie immer war Paul schon vor allen anderen wach.
Sie hatte verschlafen! Noch einmal strecken, dann hieß es: Raus aus den Federn! Wie jeden Morgen füttern, misten, Pferde bereit zum Training machen. Egal, ob draußen schon die Sonne schien und die ersten Vögel zwitscherten oder so wie heute alles winterdunkel und bitterkalt war. Jede andere würde nach den Feiertagen ausschlafen, gammeln, dösen, Serien gucken. Nicht so Lilly. Sie wollte lieber jede freie Minute bei ihren geliebten Pferden im Stall verbringen. Und mit Zora. Bei dem Gedanken an ihre Lieblingsstute huschte ein Lächeln über Lillys Gesicht. Sofort war sie glockenhellwach. Mit einem Satz sprang Lilly aus dem Bett, direkt in Reithosen und Stiefel.
Sanftes Malmen und wohlige Wärme schlugen ihr entgegen, als sie an diesem Wintermorgen die Stallgasse betrat. Zora wieherte zur Begrüßung und Lilly lief schnell hin, um ihr einen Kuss auf die Nüstern zu hauchen.
»Guten Morgen, meine Liebe, auch schon wach?«
»Klar, was denkst denn du!« Matayo stellte die Schubkarre ab. Er deutete grinsend eine Verbeugung an. »Ja, deine Edelstute ist die Schönste im ganzen Stall. Sie war es gestern, sie ist es heute, sie wird es immer sein.«
»Blödmann!« Lilly knuffte ihn liebevoll in die Seite, sie hatte ihm längst verziehen. Er wäre ein schlechter Freund, würde er ihr nicht ab und zu einmal die Meinung geigen. Und dazu gehörte der Vorwurf, dass sie in den vergangenen Monaten nur noch für Zora und die Pferde lebte und sich ansonsten für niemanden mehr interessierte.
Es war leichter. Pferde enttäuschten einen nicht. Und Zora war Lillys beste Freundin.
Zora war eine feingliedrige, hochgewachsene Fuchsstute mit rot gold schimmerndem Fell und einer Mähne fast bis zum Boden. Jeder und jede war von ihrer Schönheit fasziniert, niemand konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen und wo sie auftauchte, wichen augenblicklich alle zur Seite. Alle, von den Jährlingen bis hin zu den Hofkatzen und umherstreunenden Hühnern auf dem Waldhof, hatten Respekt vor ihr.
»Komm, trenn dich von deinem Liebling, hier gibt es jede Menge zu tun. Die Meute ist hungrig! Und Wotan will nichts fressen.« Matayo griff nach den Futtereimern.
»Och nö. Nicht schon wieder!«, stöhnte Lilly. Der gekörte Hengst war sensibel und reagierte auf Stress mit allen möglichen Symptomen. Müde und desinteressiert döste er vor sich hin und zuckte noch nicht einmal mit den Ohren, als Lilly nun seine geräumige Box betrat. Hengste führten traditionellerweise auf dem Waldhof ein gutes Leben. Im Sommer hatten sie sogar einen eigenen Paddock mit angrenzender Weidefläche – ganz für sich alleine!
»Na, mein Guter, null Bock, oder was? Ich habe extra ein paar Rübenschnitzli für dich, die bringen dich wieder auf Trab …«, lockte Lilly mit zärtlicher Stimme.
»Gib dir keine Mühe! Unser Loverboy befindet sich im Hungerstreik!« Matayo schüttelte besorgt den Kopf. »Meryam macht sich große Sorgen. Sie hat schon nach dem Tierarzt gerufen, aber an den Feiertagen macht selbst Doktor Grabowski Pause und zum Notdienst will sie nicht, weil sie keinem anderen vertraut …«
»Wundert dich das?« Lilly seufzte. »Ich meine, dass der Grabowski mal nicht stand by ist?«
»Ich wundere mich über überhaupt nichts mehr.« Matayo grinste schief. »Wotan fehlt nichts, ich habe ihn gestern im Paddock lange genug beobachtet. Herumgetobt ist er wie ein Zweijähriger! Wenn du mich fragst, will er ein paar Pfunde verlieren, damit er in der kommenden Saison in Topform ist. Da stehen ein paar angesagte Ladys auf der Liste, die Top Five der Zuchtstuten haben sich fürs Frühjahr angekündigt, hat dein Vater erzählt. Da wird der coolste Kerl nervös, nicht wahr?« Der Pferdepfleger kraulte Wotan zwischen den Ohren, eine Geste, die der Hengst sichtlich genoss.
»Verstehe, Männersache.« Lilly versuchte ein Lächeln, dabei verstand sie überhaupt nichts. Dass Wotan eine Essstörung hatte, war ein bekanntes Problem, das selbst Doktor Grabowski nicht in den Griff bekommen hatte. Papas Freundin sowieso nicht, die zählte selbst peinlich genau jede Kalorie. Meryam war eine erfolgreiche Dressurreiterin mit ehrgeizigen Plänen bis unter die Reitkappe, was seit ihrem Einzug immer wieder für Unruhe auf dem Hof sorgte.
»Vielleicht hat Wotan auch Liebeskummer«, schob Matayo hinterher und schaute Lilly bedeutungsvoll an. »Soll ja vorkommen!«
»Wie meinst du das jetzt wieder?« Dabei ahnte Lilly, dass er nur wieder über Eve reden wollte. Sie griff nach der Mistgabel und schob Dumbledore vorsichtig aus dem Weg. Der alte Hovawart-Rüde lag gerne bei Wotan in der Box, hier war es am ruhigsten. Niemand störte ihn bei seinem Schläfchen, weder irgendwelche pferdeverrückten Mädchen und Jungen noch die Hühner.
»Jetzt sag schon!«
»Vergiss es.« Matayo winkte ab und Lilly warf ihm eine Kusshand zu.
»So wird das nie was mit euch!«, rief Lilly ihm hinterher, doch Matayo tat so, als hörte er nichts. Mit geübten Griffen hatte er begonnen, Frodos Box auszumisten. Pferde kannten keine Feiertage und schon gar nicht das, was die Menschen »zwischen den Jahren« nannten. Während alle Welt Pause machte, vor Netflix abhing oder Geschenke umtauschte, ging der Reitbetrieb auf dem Hof weiter.
Frodo stand gelassen vor seinem Futtertrog, den Dunkelfuchs konnte so schnell nichts aus der Ruhe bringen – nicht einmal die Kinder, die nachmittags den Stall bevölkerten und mit ihren Putzkästen anrückten. Im Gegenteil, er liebte es, wenn sie ihm stundenlang den Schmutz aus dem Fell striegelten und die Hufe polierten, in die Mähne Zöpfchen flochten und den Schweif frisierten.
»Komm, mein Guter, beweg deinen wohlgeformten Pferdearsch ein Stück zur Seite, damit ich dich vom Unrat befreien kann … boah, was ist das denn?« Matayo schnupperte. »Riechst du das auch? Zimt und Bratapfel? Kneif mich mal, ich fasse es nicht!«
Lilly trat neben ihn und sog die Stallluft in die Nase. Sie roch nicht wie sonst würzig nach Heu und warmem Pferdedunst, sondern … tatsächlich nach Zimt und Bratapfel.
»Ist das etwa Glitzer?! Die Mädels haben dich mit Mähnenspray verschönert, ich glaub es nicht.« Amüsiert strich sie Frodo durch das Fell und rieb sich die Finger, Glitzerpartikel tanzten durch die Luft.
»Wie schade, dass du für die Stuten aus dem Rennen bist … sonst könnte Wotan glatt neidisch werden.« Matayo prustete los.
»Mal gucken, was sich Leyla und Jo als Nächstes ausdenken.« Lilly tätschelte Frodo grinsend den Hals. »Es soll Glitzerhufglocken mit Plüschrand geben …«
»Ich glaube ja immer noch, Wotan ist unglücklich in Zora verliebt, er wiehert ihr immer so sehnsüchtig hinterher …« Matayo grinste und füllte schwungvoll die Schubkarre mit einer Ladung Pferdemist. »Sein Job besteht nun mal darin, viele Nachkommen in die Welt zu setzen. Gleich im neuen Jahr muss er auf die Phantomstute. Die Aussicht würde mir auch auf den Magen schlagen …« Matayo verzog mitfühlend sein Gesicht.
Lilly grinste. Pferdesex kam gleich nach Elternsex, peinlich. »Komm, lassen wir Frodo in Ruhe frühstücken … Gleich ist Schluss mit lustig. Du bist mit Meryam zum Cavaletti-Training verbredet.« Sie verteilte eine Ladung Einstreu in der Box.
»Sie gibt nie auf, oder?« Matayo schüttelte den Kopf. »Armer Frodo! Das war’s dann mit Feiertagsspeck, da musst du wohl ran und deine hübschen Beinchen heben …«
»Er hat doch Spaß dran! Frodo ist das geborene Springpferd.« Lilly verteidigte Meryam nicht gerne, im Umgang mit Menschen war ihre Stiefmutter furchtbar ruppig und ungeschickt. Für die Vierbeiner hatte sie jedoch ein Händchen, ohne Frage, sie holte aus jedem das Beste heraus. Egal, mit welchem Pferd sie bei Turnieren startete, Meryam brachte immer einen Pokal mit nach Hause.
Nur mit Zora hatte sie ihre Schwierigkeiten und Lilly fand das gut so. Zora war die Lieblingsstute ihrer Mutter gewesen und Meryam gelang es nur unter Aufbietung all ihres reiterischen Könnens, die eigensinnige Stute zu bändigen. Selbst dann waren die beiden alles andere als ein erfolgreiches Gespann, es fehlten Grazie und Anmut, jede Figur, jede Bewegung im Dressurviereck wirkte gequält. Keine Spur von Leichtigkeit und Eleganz, wie man sie sonst von Meryams Darbietungen gewöhnt war. Es wirkte, als reite sie einen Ackergaul, so energisch musste sie auf die Stute einwirken.
Dabei hatte Zora früher eine goldene Schleife nach der nächsten mit in den Stall gebracht. Früher. Damals, als Lillys Mutter ihrem besonderen Reitstil zum Trotz Erfolge feierte. Meryam hielt nichts von Freiheitsdressur, Halsring und all diesen Dingen, sie bevorzugte die klassische Reitweise.
Lilly hatte keine Schwierigkeiten, Zora und sie waren ein Herz und eine Seele. Matayo machte sich regelmäßig lustig über das Gespann, das ohne einander nicht sein konnte. Wo immer Lilly auf dem weitreichenden Gelände des Waldhofs unterwegs war, eins war so sicher wie der Hufnagel im Hufeisen: Kurz darauf tauchte Zoras roter Schopf hinter ihr auf, denn die Stute besaß unglaubliche Talente. Gattertür öffnen, hohe Zäune überwinden, Führseil lösen oder aus der Box befreien. Egal, wie fest man den Riegel vorschob, Zora gelang jedes Mal der Weg ins Freie. Längst hatte man es aufgegeben und ließ Zora ihren Willen. Deswegen wunderte sich Lilly auch nicht, als Zora ihr jetzt beim Ausmisten in den Rücken stupste.
»Ich habe leider keine Zeit …« Lilly pustete ihr zärtlich in die Nüstern und Zora schnaubte zurück. »Frieda feiert Hochzeitstag und Matayo schafft das ohne unsere Stallmeisterin nicht alles allein. Er braucht mich! Heute Nachmittag, versprochen! Da reiten wir aus, im Schnee, okay?«
Doch aus dem versprochenen Ausritt wurde nichts. Meyram kam mit der denkbar schlechtesten Laune in den Stall und trainierte dann hintereinander Frodo, Merry, Pippin, Shakira, Bella und Bilbo. Das bedeutete Pferde putzen, satteln, trocken reiten, putzen, satteln, trocken reiten. Dazwischen Ausmisten, Pferde auf die Koppel bringen und Leyla und Jo dabei helfen, die Sattelkammer aufzuräumen. Und nach Gigi schauen, die ihr erstes Fohlen erwartete und daher unter besonderer Beobachtung stand.
Am Nachmittag interessierte sich ein Vater für die Gepflogenheiten des Hofes, er suchte einen Stall für das Pferd seiner Tochter. Lilly führte ihn überall herum, beantwortete geduldig sämtliche Fragen bezüglich Fütterung und Einstreu, bevor er dann zu Paul ins Büro verschwand, um die Formalitäten zu regeln. Danach standen die Vorbereitungen der Abendfütterung an.
Als Lilly dann endlich Zeit hatte, war es längst dunkel und Stallruhe angesagt. Zora hatte sich in ihre Box verzogen und blinzelte Lilly unternehmungslustig an, als diese zu ihr trat.