Goldstaub - M.C. Winter - E-Book

Goldstaub E-Book

M.C. Winter

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Beschreibung

"Ich schloss die Augen und kämpfte mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, gegen das vertraute Bild an, das die vage Erinnerung ans Licht gezerrt hatte. Dieses Bild, das ganz fest mit diesen ganzen Gefühlen verbunden war, die ich seit Monaten, seit Jahren, in eine Kiste gesperrt hatte." Sarah lebt Jahre nach ihrer Beziehung mit Jan in New York. Vieles hat sich seitdem verändert, bis sie an einem Abend zufällig einen Geist sieht. Die Begegnung wühlt viele Erinnerungen auf und über allem schwebt die unausgesprochene Frage: Kann Sarah sich selbst und ihrem Geist vergeben? Der 4. und letzte Teile der SCHATTENSPRINGEN-Reihe, bekannt von www.pferd.de

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Ich drehe mich um dich.

Jeden Tag und jede Sekunde.

Wie der Mond sich um die Erde dreht, die Erde sich um die Sonne.

Du warst immer der Mittelpunkt.

Jeden Tag und jede Sekunde meines Lebens.

Es war nie anders herum.

Und es wird auch für immer so bleiben.

Du bist mein Mittelpunkt.

Meine Welt.

Immer.

Für immer.

Das alles war nie wichtig.

Das Gold war nie wichtig.

Du warst mein Gold.

Nine Days – Story of a girl

Tori Amos – Baker Baker

Anouk– Lost

Tom Petty – Free Falling

The Script feat. Will.I.Am – Hall of Fame

3 Doors Down – Kryptonite

Ed Sheeran - Afterglow

Matt Stell – Prayed for you

Anne-Marie - 2002

Damien Rice – Nine crimes

Miley Cyrus – Plastic Hearts

Banners - Supercollide

Kerry Ellis – Defying Gravity

Florence and the Machine – Big God

Grace Carter – Waiting Room

Ed Sheeran – I see fire

Harry Styles – Falling

Dermot Kennedy – To all my friends

Calum Scott – You are the reason

John Legend - Wild

Third eye blind – Blinded (when I see you)

The Weeknd –Blinding Lights

Inhaltsverzeichnis

Goldstaub

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Die goldene Schleife

Kapitel 5

Gänseblümchen und Kleeblätter

Kapitel 6

Die Orchidee

Kapitel 7

Das Feuerzeug

Kapitel 8

Drei Chetons aus Las Vegas

Kapitel 9

Ein Doenerladen in Muenchen

Kapitel 10

Das Fichet nach Japan

Kapitel 11

Die zweite goldene Schleife

Kapitel 12

Der Zeitungsartikel

Kapitel 13

Die Styroperkugel

Kapitel 14

Nummer siebenundneunzig

Kapitel 15

Der Briefumschlag

Kapitel 16

Kapitel 17

Die Kette

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Die Hochzeit

Liebesbrief

1

Mein Körper tat weh. Ich kam kaum die Treppen hinauf, so sehr brannten meine Oberschenkel. Meine Füße fühlten sich an wie ein Klumpen rohes Fleisch. Ich hatte Blasen an den Zehen, unter den Ballen und mit Sicherheit war mir diese Blutblase unter der Hornhaut am linken Fuß geplatzt. Das war mir vor ein paar Jahren schon ein Mal passiert und ich hatte eine Woche lang nicht laufen können.

Diese verdammten Proben.

Meine Arme waren schwer wie Blei, mein Hals von der Erkältung letzte Woche noch immer etwas kratzig und die einzige Stelle meines Körpers, die mir nicht weh tat, beschränkte sich auf mein rechtes Ohrläppchen. Das Linke hatte ich mir im Training verletzt, als Caleb mir bei einer Drehung einen Schlag verpasst hatte. Danke, Cal.

Die Stufen bis in den sechsten Stock waren unerträglich. Ich hatte Einkäufe in großen, braunen Papiertüten dabei, die hauptsächlich aus Müsli, Milch und Wein bestanden, und fluchte innerlich bei jeder Stufe auf den kaputten Aufzug, den mein Vermieter immer noch nicht hatte reparieren lassen. Aber so war das eben.

Willkommen in New York, Baby.

Eigentlich machte mir das Treppensteigen nichts aus, aber das Training und die Proben in den letzten Wochen waren hart gewesen. Der Regisseur des Stücks war eigentlich genial, trieb uns aber durch seinen Anspruch an die Grenzen. Die Premiere war in sechs Wochen und die Produktion war in meinen Augen noch nicht weit genug. Chuck Bakers Perfektionismus machte das Ensemble allmählich müde und wir brauchten ein richtiges Erfolgserlebnis. Der Cast war angespannt und überreizt, die Produzenten ungeduldig. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, bei diesem Stück mitzumachen?

„Sarah, Darling, das Stück ist perfect for you“, hatte Mike gesagt. „A perfect chance!“ Er war der Executive Director des Stücks und hatte mich damals ganz aufgeregt angerufen. Vermutlich nur, um meiner Mum einen Gefallen zu tun. „It could be your… wie sagt man? Durchbruch!“

Meine Mutter hatte mich wochenlang bearbeitet. Ich musste das unbedingt machen, Mike wäre so begeistert gewesen von meiner Darbietung in Wicked, ich wäre verrückt, wenn ich das nicht tun würde. Also war ich zum Casting gegangen, auch um meiner Mutter und Mike diesen Gefallen zu tun. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich diese Rolle bekommen würde. Die Hauptrolle. Stella. In einem völlig neuen Stück. Für diese verdammte Weltpremiere. A perfect World, so hieß das Stück.

Das war sie mal gewesen, perfekt, meine Welt, aber das war schon lange vorbei.

Danke, Mike. Das Einzige, was im Moment durchbrach war die Diva-Ambition von Regisseur Chuck Baker und die Blutblase unter meiner Sohle. Von einer perfekten Welt war das meilenweit entfernt.

Das Einzige, das einigermaßen rund lief, waren die Proben für den Gesang. Die Musik war fantastisch. Ich hatte mich direkt bei der ersten Probe in die Musik des Stücks verliebt. Technisch war der Gesang sehr anspruchsvoll, aber ich liebte die Melodien, die Handlung und das Libretto… und unseren verrückten Komponisten. Es war ein tolles Stück mit wundervoller Musik. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Musik auf meiner Seele malte. Allein der Gedanke an dieses malerische, opulente Schwärmen der Streicher und den tiefen surrenden Bass ließ mich meinen schmerzenden Körper vergessen.

Wenn da nur nicht diese verdammten Stimmungsschwankungen unseres Regisseurs gewesen wären und die ständigen Änderungen der Choreographie.

Mrs. Scott, die alte Dame aus 4b, kam mir auf der Treppe entgegen und grüßte mich mürrisch. Für ihre zweiundachtzig Jahre war sie erstaunlich rüstig, aber auch ein bisschen schrullig und verschroben. Ich sah ihr nach, wie sie das muffige und dunkle Treppenhaus hinunterlief, und seufzte leise. Vermutlich war sie trotz künstlicher Hüfte heute agiler als ich.

Als ich unter dem Dach angelangt war, schloss ich umständlich die Tür auf und ließ die Papiertüten direkt im Flur hinunter. Ich verriegelte die Tür sorgfältig, stieg mit schweren, tauben Beinen über die Tüten und durchquerte das Wohnzimmer, das viel kleiner war als mein altes Zimmer zu Hause. Eine Couch, die schräg stehen musste, um überhaupt hinein zu passen, und ein winziger Fernseher, der mehr rauschte, als dass Bilder auf ihm zusehen waren. Ein Regal mit ein paar Büchern darin, die allesamt ihre besten Tage hinter sich hatten. Ich hatte nur das Nötigste mitgenommen, als ich hergezogen war. Das war jetzt auch schon fast eineinhalb Jahre her. Achtzehn Monate in New York, in Big Apple, dieser Weltmetropole. Ich wusste immer noch nicht, ob ich es liebte oder hasste.

Ich war damals mit Mike hergekommen. Nach meiner Ausbildung in Hamburg und ein paar Monaten in Berlin, hatte Mike mir einen Job in London angeboten. Erst als Zweitbesetzung der Elphaba im Musical Wicked, dann nach ein paar Monaten in anderen Produktionen als Hauptbesetzung. Ich hatte anfangs bei ihm und seinem Lebensgefährten im Gästezimmer gewohnt, ein Freundschaftsdienst an meine Mum – und dann, als Mike zurück nach New York gegangen war, um ausführender Produzent von Wicked am Broadway zu werden, hatte er mich „mitgenommen“. Ich hatte verdammtes Glück gehabt. Das deutsche Mädchen vom Lande am Broadway in der großen Stadt. Ich war einfach gegangen, hatte mich nicht einmal umgedreht.

Ich verstaute die Einkäufe in der winzigen Küche und ließ mich auf die Couch fallen. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und legte die Beine hoch. Mir tat wirklich alles weh. Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf die Klamotten, die auf der Couch verstreut herumlagen und auf den kleinen Kaktus am Fenster. Er war die einzige Pflanze, die ich noch nicht umgebracht hatte. Ich löste den Blick von dem stacheligen Ding, schob das Rollo hoch und öffnete das Fenster. Sofort flutete die Hitze des Septembertages hinein und der Lärm New Yorks dröhnte das Backsteingebäude hinauf. Sirenen, Autohupen, Gezeter und Geschrei und der Geruch von Abgasen und der Mülltonnen, die sechs Stockwerke unter mir unter der Feuerleiter standen. Staub und Smog sorgten dafür, dass die paar Wolken am Himmel von der untergehenden Sonne fast pink glühten. So gesehen war New York schrecklich. Es war groß, dreckig und stank und lärmte und gab nie Ruhe. Man konnte es hassen.

Ich atmete tief ein und wünschte mir - für einen winzigen Moment nur - die klare Luft meiner Heimat zu riechen. Nur einmal. Die Glyzinie, die weißen und roten Rosen im Garten meiner Großmutter, den Geruch der Lasagne meiner Mutter, den Geruch der Bäume im Wald und das goldene Korn der Felder.

Aber ich liebte New York auch. Anfangs hätte ich nie gedacht, dass ich mich mit dieser Großstadthölle würde anfreunden können – meine Mutter hatte gemeint, das sei nach London ganz leicht. Ich hatte daran gezweifelt und mich dann doch über Nacht unsterblich in diese Stadt verliebt. New York war, bei Nacht vor allem, fantastisch. New York war ehrlich. Straight und direkt. Es versteckte sein wahres Gesicht nicht. Es zeigte jedem, wie dreckig es war, wie schön und wie falsch, wie korrupt, gnadenlos und heruntergekommen es sein konnte und gleichzeitig wie neu, atemberaubend, lebendig, hell, dunkel und warm es war. Man konnte sich in der Stadt finden - oder verlieren. Man konnte sich suchen und dabei Erfolg haben oder gnadenlos scheitern. Auf welchem Weg ich dabei war, wusste ich nicht. Vielleicht hatte ich mich in New York verloren und dann neu wieder gefunden. Ich hatte alles hinter mir gelassen, als ich mit einem Koffer und einem Schuhkarton hierher gekommen war.

Ich spürte, wie dieses kalte Gefühl in mir hochstieg. Ein Gefühl, dass ich mir schon lange nicht mehr erlaubt hatte. Ein Gefühl, dass ich sicher verwahrte und weggeschlossen hatte, mit einer ganzen Schachtel voller Erinnerungen.

Schnell schüttelte ich den Kopf, schaltete das Radio ein und streifte mir endlich die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Vorsichtig begutachtete ich das, was von meinen Füßen übrig geblieben war. Blasen am, auf und unter den großen Zehen, Hornhaut an den kleinen Zehen und an beiden Knöcheln blaue Flecken. Außerdem war der Nagel des rechten großen Zehs noch immer schwarz verfärbt, weil dieser Idiot Caleb mir so darauf gesprungen war, dass… Ich verdrängte den Gedanken an den Schmerz, der so endgültig gewesen war, dass ich geglaubt hatte, dass ich einen Zeh weniger gehabt hatte.

So schlimm aber alles aussah, ich wusste, dass der Schmerz vorbeigehen würde. Bislang war jede Wunde zugeheilt.

Ich schloss die Augen. Zugeheilt, ja. Aber Narben blieben eben bei schlimmen Wunden einfach zurück. Manche nur eben nicht so sichtbar wie ein schwarzer Zeh. Manche bleiben im Kopf zurück wie ein Sandkorn, wie ein Aneurysma. Wie ein Sandkorn.

Ich riss die Augen auf. Ich war zu spät. Ich war zum Essen verabredet und viel zu spät dran. Ein Date. Ich hätte mich darauf freuen sollen, aber irgendwie war ich nicht in der Stimmung dafür. Ich war zu fertig und nach der schlaflosen letzten Nacht hätte ich alles gegeben, um direkt in mein Bett zu fallen.

Ich sprang unter die Dusche und suchte danach im Wandschrank ein luftiges Sommerkleid heraus. Royalblau aus einem leichten, fließenden Stoff. Mit zusammengebissenen Zähnen schlüpfte ich in braune Ballerinas und steckte meine Haare hoch. Ich trug sie noch immer lang, aber deutlich kürzer als früher. Sie waren nur noch etwa Schulterblatt lang und reichten mir nicht mehr bis zu meiner Hüfte wie früher. Geglättet mit dem Glätteisen, was mich selbst mit einiger Übung immer noch mindestens zwei Stunden kostete, reichten sie etwa bis zur Mitte meines Rückens. Früher, als ich Abi gemacht hatte, waren sie zwanzig Zentimeter länger gewesen. Lang, dick, leicht gelockt, dunkelbraun. Schwer, aber seidig. Schon immer das Auffälligste an mir, abgesehen vielleicht von meinem rechten Auge mit dem grünen Fleck in der Iris.

Ich stand vorm Spiegel. Mein Blick auf die kleine Silberkette um meinen Hals, den Anhänger, eine kleine Kugel.

Ein Gedanke.

Ein Sandkorn.

Eine Wunde.

Wieder spürte ich, dass ich die Kette berührte. Ich schloss die Augen und kämpfte mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, gegen das vertraute Bild an, das die vage Erinnerung ans Licht gezerrt hatte. Dieses Bild, das ganz fest mit diesen ganzen Gefühlen verbunden war, die ich seit Monaten, seit Jahren, in eine Kiste gesperrt hatte.

Ich holte tief Luft. Atmete.

Atme, Sarah…Aber es half nichts. Ich sah sie. Immer, wenn ich es zuließ, dass die Erinnerung zurückkam, immer dann sah ich sie. Immer nur kurz, aber lange genug, um mich an ein Leben zu erinnern, dass ich damals hinter mir gelassen hatte, als ich meine Heimat hinter mir gelassen hatte. Die Erinnerung an ein Paar Augen, in denen ich jahrelang versunken war.

Blau. So blau, so dunkel, so einmalig, dass ich sie immer, immer wieder gefunden hätte, wenn man mir ein Bild von allen Augenpaaren dieser Welt gezeigt hätte. Die Augen, die mir so viel ermöglicht hatten. Die ich so sehr geliebt hatte.

Blaue Augen.

Ozeanblau.

Seine Augen.

Ich fühlte mich noch immer dreckig, fertig und viel zu müde, um dieses Date wach zu überstehen, aber ich schuldete es ihm. Nicht aus Pflichtgefühl heraus, sondern, weil er mein Freund war. Nicht nur ein Freund, sondern meiner. Einer von den Guten. Den Netten. Einer von den Treuen und einer von denen, die mir und meiner Seele guttaten.

Wir hatten uns fast eine Woche lang nicht gesehen. Er war auf Geschäftsreise gewesen und irgendwie hätte es sich falsch angefühlt, wenn ich ihm abgesagt hätte, nur weil ich übernächtigt und fertig war.

Das Restaurant war sehr schick und er hatte extra einen Tisch reserviert. Es war ein kleiner Italiener mit dunklen Holzmöbeln, ganz ähnlich solcher New Yorker Restaurants, wie man sie aus Filmen kannte.

Es war voll. Viele Pärchen saßen bereits; die meisten vermutlich bei ihrem ersten Date – oder bei einem der ersten Dates.

Dean und ich gingen seit sechs Monaten aus. Sue, eine Kollegin von meiner Zeit bei Wicked, meinte, das wäre für New Yorker Verhältnisse ein halbes Leben. Ich schob mich an den Pärchen vorbei zu dem Tisch am Fenster, an dem Dean saß und mir winkte. „Tut mir leid, ich bin zu spät“, sagte ich und klang gehetzt.

Dean stand auf und küsste mich sanft auf die Wange. „Kein Problem…“ Wenn er lächelte, lächelten immer seine Augen mit. Sie waren grün.

Heute trug er keine Brille, er brauchte sie nur zum Lesen, was ich irgendwie süß fand. Seine Haare waren braun, wenn die Sonne schien fast bronzefarben. Er war ein Stück größer als ich, aber kein muskulöser Schrank. Er war mir auf der Party damals aufgefallen, aber ich hätte ihn niemals angesprochen. Ich war nicht auf ein Date aus gewesen. „Wie war dein Tag, Babe?“

Ich spürte, dass ich ihm ganz automatisch auf seine Frage antwortete und mich setzte, aber ich war weit weg mit meinen Gedanken. Mein Körper schmerzte, meine Konzentration war weit weg. Zu sehr hatte mich dieses Bild, das vor meinen Augen aufgeblitzt war, irritiert.

Diese ozeanblauen Augen.

Dean bestellte einen Aperitif, für mich einen Prosecco, für sich einen Martini, aber davon bekam ich nicht viel mit. Ich sah immer wieder diese Augen vor mir. Normalerweise war es okay. Aber seit ein paar Tagen… seit ein paar Tagen kehrten meine Gedanken immer wieder zurück zu ihm.

Ich konnte nicht sagen, warum.

„Sarah?“ Ich schrak auf und sah ihn an. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja… ja, ich… ich denk schon. Tut mir leid. Ich bin nur - alles okay“, versicherte ich ihm und befürchtete, dass es zu schnell gesagt war. „Ich bin erschöpft, das ist alles.“

Er strahlte mich an und erzählte weiter, während er sich in die Karte versenkte. Normalerweise genoss ich seine Anwesenheit und seine Erzählungen. Er war lustig, hatte genau den richtigen Sinn für Humor und war charmant. Vielleicht lag es an der Müdigkeit oder am Muskelkater, der in mir anschwoll. Ich konnte ihm nicht zu hören. Meine Gedanken waren ganz woanders, obwohl ich sehr angestrengt an gar nichts dachte.

„Du siehst blass aus“, sagte Dean irgendwann leise.

Ich rang mir ein Lächeln ab und versuchte, es ehrlich zu meinen. „Es war ein langer Tag.“

„Bist du immer noch krank?“

Ich schüttelte langsam den Kopf und nippte an meinem Sektglas. Er schmeckte nicht. Er war viel zu trocken. Ich schob ihn von mir und atmete tief durch. Dann erzählte ich ihm von Chuck Baker und den neusten Proben und wie viele meiner Kollegen heute geweint hatten, weil seine Methoden die Darsteller an und über die emotionale Grenze brachten.

Allmählich entspannte ich mich. Ich konnte mich immer besser auf Dean konzentrieren und schließlich, fühlte es sich wieder an wie immer zwischen uns.

Sue hatte uns damals auf einer Party vorgestellt. Ich glaube, Dean war sofort Feuer und Flamme gewesen für die Idee, mit mir auszugehen. Ich hatte Zeit gebraucht, um mich auf ihn einzulassen, aber er war toll. Ich konnte mich auf ihn verlassen. Er stand zu seinem Wort. Er sorgte sich um mich und stellte mein Wohl immer vor das seine. Ich schluckte. Meine Gedanken drohten abzudriften und ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, bis es wehtat. Nein, Sarah. Nein.

Dean griff nach meiner Hand auf dem Tisch und umschloss sie mit seinen warmen Fingern. „Ich hab mir überlegt“, begann er und lächelte mich warm an, „dass wir nach diesem ganzen Premieren-Wahnsinn vielleicht für ein paar Tage wegfahren könnten… Nach Vermont zu Beispiel…“

Wie sollte das denn gehen?, schoss es in meinen Kopf. Ich konnte mir doch nicht einfach so freinehmen. Dieses Stück wurde so gehypt. Die Tickets waren auf ein Jahr im Voraus ausverkauft. Die Musik hatte ein Oscargewinner geschrieben. Wenn es wirklich so einschlug, wie man prognostizierte, würde ich mir ganz sicher nicht ein paar Tage freinehmen können, um mit Dean nach Vermont zu fahren. „Ja…“, hörte ich mich sagen, „Das wäre wundervoll…“ Ich sah ihn an und lächelte, so ehrlich es mir gerade möglich war. Dean beugte sich zu mir hinüber und küsste mich sanft auf den Mund. Mit geschlossenen Augen holte ich Luft.

„Es tut mir leid…“, flüsterte ich und sah, wie er sich aufsetzte.

„Was tut dir leid, Darling?“

„Dass ich heute so wortkarg bin.“

„Babe, das ist total in Ordnung. Du hattest eine harte Woche…“ Babe.

Allein beim Klang dieses Wortes zuckte ich zusammen. Sonst machte mir das nichts aus. Warum war ich heute so empfindlich?

Ich warf einen Blick zum Fenster. Nur schwer konnte man hinaus auf die Straße blicken, wo bereits die Straßenbeleuchtung brannte. Schemenhaft sah ich Leute an uns vorbeilaufen. Frauen in Sommerkleidern oder Kostümen, auf dem Heimweg von der Arbeit oder auf dem Hinweg zu einer Verabredung oder Party. Und Männer in Anzügen mit Aktentaschen oder im Freizeitdress, die an uns vorbeieilten und dem Restaurant keinen weiteren Blick schenkten.

„Wenn das alles vorbei ist, fahren wir raus, vielleicht Ende Oktober“, begann Dean wieder und suchte meinen Blick, der draußen auf der Straße auf einem schlanken Passanten verharrte. Er stand am Straßenrand und hielt Ausschau nach etwas oder jemanden, vielleicht nach einem Taxi.

„Dann ist es dort am schönsten. Die Wälder sehen im Indian Summer aus, als würden sie brennen und leuchten.“ Dean strahlte mich an und diesem Moment drehte sich der Mann auf der Straße um. Es war, als würde er mich direkt ansehen.

Ich starrte ihn an. Und er starrte zurück. Zumindest bildete ich mir das ein. Dann lief er eilig weiter.

„Hast du ihn mal gesehen?“, fragte Dean.

Dieser Blick. Es war, als würde ich geradewegs in das Gesicht eines Geistes sehen. Er sah genauso aus wie er. Genauso. Das konnte doch nicht sein.

„Was?“, fragte ich abwesend. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein. Er war doch vor langer Zeit gestorben.

„Den Indian Summer“, sagte Dean.

Ich hörte die Worte und es war, als riss er mit einem Ruck ein Pflaster von einer eitrigen Wunde ab. Mir wurde schlecht. „Was?“

„Den Indian Summer in Vermont.“

Ich riss den Kopf herum und starrte Dean an, als ob er mich geohrfeigt hätte. „Wie bitte?“, zischte ich.

„Ich habe dich gefragt, ob du schon mal zum Indian Summer in Neuengland warst.“ Dean runzelte die Stirn.

„Ich-“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich starrte hinaus aus dem Fenster. Der Mann war verschwunden. Ich hatte mir das nur eingebildet.

Sicher, ganz sicher nur eingebildet. „Nein…“ Mein Puls raste. „Nein, ich hab ihn… schon lange nicht mehr gesehen. Indian… Sum-“ Ich brach ab und stand hastig auf. „Entschuldige“, presste ich heraus und spürte, wie etwas sehr Dunkles und Hässliches aus den gut verpackten Erinnerungen in mir emporsteigen wollte. „Bestellst du mir ein Wasser?“, fragte ich hastig und sprang so schnell auf, dass mein Stuhl ins Taumeln geriet. Eilig lief in den hinteren Teil des Restaurants zu den Toilettenräumen. Ich spürte Deans Blick in meinem Rücken und war froh, als ich die dunkle Holztür hinter mir schließen konnte. Was war nur los mit mir?

Indian Summer.

Warum nur hatte er das gesagt?

„Beruhige dich, verdammt“, sagte ich zu mir selbst. „Er will mit dir nach Vermont. Das heißt ebenso… Indian Sum-“ Aber mehr bekam ich nicht heraus. Mir wurde schlecht. So plötzlich, dass ich mich fragte, ob ich mir was eingefangen hatte. Ich riss die Toilettentür auf und sank vor der weißen Porzellanschüssel auf den Boden und würgte.

Dieses Krachen.

Dieses ohrenbetäubende Krachen.

Ich hörte es immer und immer wieder.

„Gott…“, murmelte ich, als der Brechreiz vorüber war, und richtete mich langsam auf.

Ich lehnte mich gegen die gekachelte Wand und spürte die kühlen Fliesen in meinem Rücken. „Atme, verdammt…“, mahnte ich mich.

Langsam nur beruhigten sich meine Atmung und mein Pulsschlag.

Gegenüber im Spiegel sah ich mich gegen die Wand gelehnt stehen. Ich trat näher und stützte mich schwer am Waschbecken ab. Ich sah erschöpft aus – unendlich müde und erschöpft und das wenige Make-up, das ich aufgelegt hatte, konnte die dunklen Schatten unter meinen Augen kaum verstecken. Da half auch das kalte Wasser nicht, das ich mir ins Gesicht spritzte.

Diese Gestalt im Schatten. Vermont. Der Indian Summer. Das war doch alles verrückt. Es war, als ob mich von jetzt auf gleich etwas eingeholt hatte, das ich schon vor langer Zeit hinter mir gelassen geglaubt hatte.

Mir war noch immer flau im Magen – und ganz ehrlich so sah ich auch aus. Wie ein Zombie… „Komm schon, Sarah“, flüsterte ich, „Reiß dich zusammen… du tust ja grade so, als ob…“ Ich brach ab und starrte mich an. Als ob was?

„Verdammt…“ Ich holte tief Luft und tupfte mit einem trockenen Papierhandtuch über die Stellen meines Gesichts, die ich mit dem kalten Wasser benetzt hatte. Ich warf das Papierhandtuch in den kleinen Mülleimer am Boden und lief langsam zurück zu Dean. Er musterte mich besorgt. „Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob du krank wirst.“

Ich setzte mich und straffte die Schultern. „Nein, ich… ich hab schlecht geschlafen und die Proben schlauchen mich im Moment… Vielleicht hab ich mich nur-“ Ich sah aus dem Fenster. Kein Schatten zu sehen. „überanstrengt.“ Es klang arg nach einer Ausrede, aber ich wusste ja selbst nicht, was mit mir los war.

Dean sah mich noch einmal an, ging dann aber nicht mehr auf mein offensichtliches Unwohlsein ein. Ich glaubte, er spürte, dass ich nicht darüber reden wollte. Auf der anderen Seite, was sollte ich ihm auch sagen? Hey, Dean, ich hab eben einen Geist gesehen, den du durch deine Ausflugsidee heraufbeschworen hast.

Das war doch verrückt.

Das Essen kam. Dean hatte sich ein Steak bestellt, das köstlich aussah und es sicherlich auch war. Vor mir standen Tagliatelle mit Meeresfrüchten in Weißweinsoße. Mein Kopf hämmerte, als ich den ersten Bissen nahm.

An jedem anderen Tag hätte ich vor Genuss sicher die Augen verdreht aber heute? Heute schmeckte es fad wie Pappe.

Während Dean sich bemühte, die Stimmung aufzulockern, stocherte ich appetitlos in den Nudeln herum und schob sie irgendwann von mir.

„Schmeckt es dir nicht?“ Er hatte längst aufgegessen.

„Doch, ich… ich bekomm nur nichts hinunter…“

„Magst du gehen?“

Ich schüttelte langsam den Kopf. Ja, ich wollte gehen, ich wollte ihm aber auch nicht den Abend versauen. „Nein, du… Wir haben uns so lange nicht gesehen und…“ Dean sah mich an. „Sarah, wenn es dir nicht gut geht? Dann geht es dir nicht gut. Wir müssen nicht bleiben. Du siehst aus wie ein Gespenst.“

Ich blinzelte. „Ich weiß nicht. Ich…“ Ich sah kurz unter mich und atmete tief durch. „Ja… ja, ich sollte… vielleicht doch ins Bett…“ Als ich es aussprach, fiel eine unsichtbare Last von mir ab, bevor sie sich erneut über mein Herz legte.

Er sagte noch irgendetwas, aber ich bekam es nicht mit. Ich sah ihn zahlen, aber meine Gedanken waren weit weg. Vielleicht war ich einfach erschöpft. Durch. Fertig. Zu fertig, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Aber warum? Nur wegen irgendeinem Typen, der dort an der Straße gestanden hatte, und nur vage einer sehr entfernten Erinnerung geähnelt hatte?

Ich teilte mir mit Dean das Taxi. Er wollte mit raufkommen, aber ich schüttelte den Kopf. Küsste ihn zum Abschied und zog bereits die Schuhe aus, als ich die Tür zum Treppenhaus hinter mir geschlossen hatte. Die Treppenstufen in den sechsten Stock kamen mir vor wie die Treppen hinauf in die oberste Etage des Empire State Buildings. Unendlich. Meine Oberschenkel brannten mittlerweile. Als ich meine Tür aufschloss, konnte ich meine Beine kaum noch bewegen. Ich stolperte in meine Wohnung.

Vielleicht wurde ich wirklich wieder krank und träumte deshalb diesen Mist.

Ich versuchte noch nicht einmal, das Kleid auszuziehen, sondern fiel direkt ins Bett. Die Luft in meinem Apartment war heiß und stickig, aber ich öffnete kein Fenster. Ich fiel einfach ins Bett. Froh, nicht mehr im Restaurant zu sein. Froh, daheim zu sein. Oder dort, was ich mein zu Hause nannte. Es dauerte nicht lange und ich schlief tief und fest.

2

Ich schrak schweißgebadet auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Hart und fest, viel schneller, als ich verkraften konnte. Ich saß im Bett, mein Shirt war nass geschwitzt und ich starrte desorientiert in die Dunkelheit. Es dauerte ewig, bis ich wusste, wo ich war. Erst als ich die Sirenen heulen hörte, verstand ich, dass es nur ein Traum gewesen war. Dass ich in meinem Apartment war, und nicht in meinem Zimmer daheim in Deutschland. Dass ich nicht in meinem alten Bett lag, dass mein alter Wecker nicht neben dem Bett stand, sondern auf dem Fensterbrett, weil das Zimmer zu klein war, um einen Nachttisch daneben zu stellen.

Meilenweit von zu Hause entfernt.

Beruhige dich, es war nur ein Traum, sagte ich mir leise und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Backsteinwand. Ein Traum, viel zu real, um nur eine Kreation meines Unterbewusstseins zu sein. Ich hatte ewig nicht mehr davon geträumt. Ewig nicht mehr daran gedacht.

Ich schloss die Augen. Mein Herz hämmerte immer noch gegen meinen Brustkorb, aber allmählich beruhigte sich mein Atem.

Ich griff nach der Wasserflasche neben dem Bett und trank einen Schluck. Ich atmete durch, lehnte mein Kinn auf den Verschluss und spürte, wie das Zittern, das Herzrasen allmählich weniger wurde.

Es waren nur unzusammenhängende Bilder gewesen in diesem Traum.

Lichter auf einer Party. Eine steile Klippe irgendwo in Italien. Weiße Zelte in einem Park, beleuchtet von bunten Lampions, die sanft im Licht schaukelten. Ein steriler Krankenhausflur. Ein Schrei, meiner vielleicht.

Meine Mutter, die ruhig auf mich einspricht.

Es war nur ein Traum. Trotzdem hörten sich das beständige Tropfen und dieses Piepsen, dieses nervenzerfetzende, hochfrequente Piepsen in meinem Kopf an, als sei die Quelle des Geräuschs nur Zentimeter entfernt.

Es war Jahre her, dass ich dieses Piepsen gehört hatte, aber jetzt, nach diesem Traum, schien nur ein Augenblick vergangen zu sein. Ich hatte das alles doch nur vergessen wollen.

Ich griff nach meinem Handy und rief die Nachrichten auf. Langsam scrollte ich durch den Chatverlauf und verharrte mit dem Daumen über einem Kontakt.

Du bist verrückt, wenn du ihm wegen diesem Alptraum schreibst… Die Stimme in meinem Kopf war penetrant, aber ich wusste nicht, was ich mit diesem Traum anfangen sollte.

Damals, vor ein paar Jahren, hatte es nicht eine Nacht gegeben, in der ich nicht davon geträumt hatte. Von Italien, der Klippe, dem Krankenhaus

– vor allem vom Krankenhaus, den Schreien, dem Krachen, dem Piepen.

Jede verdammte Nacht war ich zitternd, weinend und schreiend aufgewacht. Und jedes Mal hatte ich ihm eine Nachricht geschrieben.

Ich starrte auf das Display und zögerte, bis ich seinen Namen antippte.

Ich hatte Whatsapp offen und scrollte durch die Kontakte, bis ich auf unseren Chat stieß. Die letzte Nachricht war an meinem Geburtstag im Mai gekommen. Happy Birthday, New York City Girl. Ich hoffe, es geht dir gut. Feier kräftig! Ich denk an dich.

Ich lehnte mich gegen die Wand. Ich spürte, dass ich weinte, dass mir die Tränen einfach so aus den Augen liefen. Warum war das alles plötzlich so präsent? Nach all den Jahren? Ich hatte jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet und doch plötzlich war alles so… nah. Als ob das alles erst gestern passiert wäre. Ich spürte ihn förmlich neben mir liegen.

„Scheiße, man…“ Ich schluchzte einmal laut auf und rieb mir die Augen.

Ich versuchte, die Tränen abzuschütteln, die in meinen Augen brannten, aber es ging nicht. Sie waren da, sie liefen, sie gingen nicht weg.

Als ich etwas klarer war, spürte ich, dass meine Hand wieder die Kette berührte. Es war eine Kugel… der Anhänger. Silbern. Ziemlich alt. Sie hatte symbolischen Charakter.

Hallo Welt.

Nein, Sarah! Nein! Denk nicht mal daran!

Ich öffnete den Chat. Schnell und ohne nachzudenken, schrieb ich:

Ich

Ich hab von ihm geträumt. Nach all den Jahren hab ich wieder von dem Unfall geträumt. Ich drehe durch, wenn das alles wieder anfängt…

Ich sah auf die Uhr, ließ die Kette aber nicht los. Wenn ich sie berührte, fühlte es sich manchmal so an, als hätte sich nie etwas geändert. Als sei ich noch immer sechzehn und glücklich und frei.

Es war drei. Drei Uhr nachts. Mein Herz raste noch immer.

Warum. Warum. Warum. Millionen Mal warum. Und doch keine einzige Antwort darauf. Ich stand auf. Meine Beine waren schwer und von der Anstrengung beim Training übersäuert. Meine Augen brannten vor Müdigkeit und wegen der Tränen, aber ich konnte mich nicht hinlegen und schlafen. Es ging einfach nicht. Also stand ich auf. Schleppte mich übermüdet mit schmerzenden Beinen und Armen ins Bad. Stellte die Dusche an, wartete, bis das Wasser warm war. Spülte die Gedanken weg.

Zumindest hoffte ich das. Aber so ganz gelang es mir nicht.

Immerhin fühlte ich mich nach der Dusche ein Stück lebendiger als zuvor. Natürlich war die Erschöpfung nah und greifbar, aber das war sie ständig, seit ich nach New York gekommen war. Nur dass eben jetzt erstmals die Gedanken auf mich eindroschen wie selten in den letzten Jahren.

Als ich zurück im Schlafzimmer war, sah ich, dass mein Handy blinkte.

Eine neue Nachricht. Mein Herz klopfte, als ich danach griff und die Nachricht aufrief.

Bastian Hambach

Du drehst nicht durch. Du bist zu stark dafür. Und wenn, rufst du bitte an und ich komme vorbei.

Wieder traten mir Tränen in die Augen, aber ich musste leise lachen – auch vor Erleichterung.

Ich

Sag das nicht zu laut.

Es dauerte keine Minute, da hatte Basti geantwortet. Ein Emoji mit Kussmund.

Bastian Hambach

Jederzeit, Sarah. Du weißt, ich komme jederzeit und vertreib die bösen Geister für dich.

Das wusste ich. Von ganzem Herzen wusste ich, dass er sofort zu mir kommen würde und die bösesten und dunkelsten Träume für mich vertrieben hätte – genauso, wie ich es für ihn getan hätte. Er hatte sich damals vor mich gestellt, in meinem schlimmsten Alptraum, und aus Dank würde ich das heute noch jederzeit für ihn tun.

Ich

Ich hab ihn heute gesehen.

Bastian Hambach

Süße…

Ich

Ich weiß, das ist bescheuert, aber… Er sah aus, wie er.

Es dauerte einen Moment, bis er wieder antwortete. Ich sah zu, wie mir die App verriet, dass er schrieb und schrieb und schrieb. Als er dann antwortete, las ich etwas anderes, als ich erwartet hatte.

Bastian Hambach

Ich bin vermutlich in zwei Wochen beruflich in Boston. Melde dich, wenn du reden willst oder trinken oder einfach nur auf irgendetwas eintreten.

Ich wiederhole mich, aber ich bin da, wenn du mich brauchst.

Ich

Ich weiß… Ich hab dich lieb…

Ich sah, dass er eine Antwort tippte.

Bastian Hambach

Geh ins Bett… Du schreibst verrücktes Zeug.

Und dann kurz darauf:

Ich dich auch…

Ich musste lächeln und legte mir das Handy auf den Bauch. „Danke, Bast…“, flüsterte ich. Ich kannte ihn schon so lange. Und ich hatte ihn am Anfang so blöd gefunden.

Eine Erinnerung schob sich in meinen Kopf, ohne dass ich sie aufhalten konnte. Ich dachte an dieses große Reitturnier in Dortmund. An diesen Streit in den Katakomben und an zwei ehemalige Freunde, die sich so angebrüllt hatten, dass ich Angst bekommen hatte. Um den einen mehr als um den anderen. Dann dieser Krampfanfall. Diese Gewalt, mit der dieses Monster in seinem Kopf ihn von den Füßen gerissen hatte. Zitternd schloss ich die Augen.

Und doch, trotz all der schlimmen Dinge, die ich von Basti gehört hatte, war er irgendwann neben ihm mein bester Freund gewesen.

Neben ihm.

Neben Jan.

Ich hatte ihn geliebt. So sehr geliebt. So sehr, dass es weh getan hatte.

So sehr. Und es tat noch immer weh.

Weil er weg war.

Weil er gestorben war.

3

Es war sieben Uhr, als ich aus dem Schlaf aufschrak. Ich fühlte mich wie gerädert. Die Müdigkeit machte mein Gehirn langsam. Vielleicht war es auch der elende Staub der verdrängten Erinnerungen, vielleicht die Last, die diese mit sich brachten. Ich hatte so lange nicht mehr an Jan gedacht, dass die plötzliche Erinnerung, der Geist von ihm – der Schatten, den ich gestern vor dem Restaurant gesehen hatte – mich vollkommen aus der Bahn warf.

Mühsam stand ich auf, spürte jeden meiner müden Muskeln, und duschte heiß. Schon wieder. Irgendetwas an diesen aufflackernden Erinnerungen machte, dass ich mich schmutzig fühlte und auch das warme Wasser vermochte nicht, dieses Gefühl zu vertreiben.

Ich zog mich an, packte meine Tasche für den langen Tag im Theater und verzichtete darauf, mir die Haare zu föhnen. Es war jetzt schon heiß und schwül draußen, obwohl die Sonne noch nicht mal ganz hinter den Hochhäusern empor geklettert war.

Während ich meine Wohnung verließ, überprüfte ich mein Handy. Zwei Nachrichten, beide von Dean.

Dean Morris

Hey Babe, ich hoffe, dir geht es heute besser…

Und:

Sehen wir uns morgen?

Ich seufzte leise und antwortete ihm. Langer Tag im Theater, wenn er wollte, könne er abends bei mir vorbeikommen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen gestern Abend, aber ich wusste nicht, wie ich ihm das hätte erklären sollen. Wie hätte er verstehen können, dass mich dieser Typ auf der Straße so sehr an Jan erinnert hatte? Es war die Art gewesen, wie er sich die Haare aus der Stirn gestrichen hatte. Tausend Mal hatte ich Jan dabei beobachtet. Und wie hätte ich Dean erklären können, dass diese zwei Wörter mir das Herz gebrochen hatten?

Indian Summer.

Ich mochte Dean und er tat mir gut. Sue hatte mich neulich gefragt, ob wir zusammenziehen würden. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was ich ihr darauf hatte antworten sollen. Konnte ich mir das vorstellen? Mit Dean zusammenzuleben? Mir irgendwann eine Wohnung mit ihm zu teilen?

Mein Leben mit ihm zu teilen?

Ich hatte Sue angesehen und das Thema gewechselt. Nach Jan war es mir so abwegig vorgekommen wieder jemanden in mein Herz zu lassen.

Ich hatte ein paar Typen gedatet, nie etwas Ernstes, aber mit Dean? Er liebte mich, das wusste ich. Das hatte er gesagt. Und ich liebte ihn auch.

Wir funktionierten gut zusammen als Paar. Das war doch in der heutigen Zeit schon mehr als bei den meisten, oder?

Aber ich konnte ihm ja noch nicht mal erzählen, warum mich der Gedanke an den Indian Summer in Vermont gestern auf der Toilette dazu gebrachte, den Aperitif ins Porzellan zu erbrechen.

Ich schloss die Haustür hinter mir und lief zwei Blocks bis zur nächsten Metrostation. Ich musste nicht lange auf meinen Zug warten, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und hörte Musik, während der überfüllte Zug Richtung Timesquare fuhr. Halbherzig blätterte ich in dem Buch, das ich seit Monaten las, ohne es zu lesen. Ich starrte hinein, sah mir die Buchstaben an und verstand kein Wort. Stattdessen sah ich vor meinem inneren Auge Jan auf meinem Bett zu Hause in Endingen liegen, eine zerlesene Ausgabe von Harry Potter in der Hand und den Blick immer wieder schmunzelnd auf mich gerichtet.

„Fuck.“ Ich starrte auf die Haltestelle. Ich war zu weit gefahren. Eilig schnappte ich meine Sachen und sprang aus dem Zug. Zum Glück war ich nur eine Station zu weit gefahren. Ich lief den Rest zum Theater.

Einfach, weil ich es brauchte. Die Bewegung tat gut, obwohl ich jeden Muskel schmerzhaft spürte und auch mein Kopf schon in besserer Verfassung gewesen war.

Die Hitze in der Stadt war drückend und schwül, die Luftfeuchtigkeit viel zu hoch. Es war viel zu heiß für September. Das Duschen am Morgen hätte ich mir schenken können, innerhalb von Sekunden klebte ohnehin wieder jeder Stofffetzen an meiner Haut. Shirt, Shorts, Haare, alles. Die Gebäude strahlten die Hitze ab und selbst im Schatten war es unerträglich heiß.

Ich wischte mir über die Stirn und bog in die kleine Seitengasse ab, die direkt zum Bühneneingang des Theaters führte. Große Müllcontainer standen hier herum und Fliegen flirrten aufgeregt durch die Gegend.

Fliegen. Dieser Sommer, unser erster Sommer, in Endingen war genauso heiß gewesen. Trotzdem war es ein Sommer gewesen wie aus dem Bilderbuch – mein Märchen. Sonne satt seit dem Tag, an dem wir aus Italien zurückgekehrt waren.

Italien. Sorrent. Unsere Klassenfahrt. Unser Kuss auf der Terrasse… Der Geschmack seiner Lippen auf meinen… Ich war damals so verliebt in ihn. So unglaublich verliebt… Die Zeit in Italien, die Klassenfahrt, das hatte sich angefühlt wie im Traum, wie ein unbeschreiblich schöner Traum. Die Wochen vor der Fahrt nach Sorrent waren so anstrengend gewesen und als ich ihn am Tag nach unserer Rückkehr aus Italien wieder gesehen hatte, war ich aufgeregt gewesen wie vor einem ersten Date.

Jan hatte an der Wand des Verwaltungsgebäudes gestanden und sein Handy in der Hand gehalten. Er hatte diese ausgewaschene Jeans getragen, die ihm immer eine Spur zu tief auf den Hüften gesessen hatte und ein graues Polo, das eine Spur zu eng um seine Brust… „Oh Gott, ist das heiß!“

Ich schrak regelrecht zusammen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte. Mein Herz schlug mir vor Schreck noch bis zu Hals und es dauerte einen Moment, bis ich meine Orientierung in Zeit und Raum wieder fand.

Lindsay.

„Was?“ Ich zitterte, so sehr hatte sie mich überrascht. „Man, erschreck mich doch nicht so!“

„Sorry!“ Lindsay lachte hell und klar auf und strich sich durch die dicken, blonden Haare. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ach Gottchen, Sarah, du bist ja kreidebleich und das bei dem Wetter! Das steht dir nicht…“ Ob es Sorge oder Demütigung war, war nicht so klar zu sagen. Sie war nett, aber oberflächlich und ein wenig selbstverliebt. Sie sagte noch irgendetwas hinterher, was ich aber aufgrund ihres sehr, sehr breiten Südstaaten-Akzentes nicht verstand oder auch nicht verstehen wollte.

„Also?“ Lindsay blieb vorm Bühneneingang stehen und sah mich erwartungsvoll an.

„Entschuldige, was?“

„Was für dich heute ansteht?“

„Kostümprobe und Vocal Coaching mit Tanner. Ich…“ Ich dachte nach.

Am Nachmittag standen Durchlaufproben an. Lindsay war als zweite weibliche Hauptrolle besetzt. Als Jugendliche hatte sie an Miss-Wahlen teilgenommen und war eine extrovertierte Persönlichkeit, die mit Nacktszenen auf der Bühne kein Problem hatte. Ich mochte sie, konnte sie aber nur selten den ganzen Tag ertragen.

„Du?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nur, Chuck überwindet seinen Perfektionismus, bevor er mich emotional ausquetscht wie eine Zitrone.“

Lindsay lachte laut. „Das ist das erste Mal, dass ich sowas von dir höre!

Normalerweise kann man nach deiner deutschen Disziplin ja die Atomuhr eichen. Und keine Sorge, Schätzchen, Chuck Baker ist ganz verknallt in dich. Der wird dich nicht ausquetschen. Du gibst ihm emotional alles, was er will.“

Ich sagte nichts darauf. Tatsächlich war ich bislang die Einzige des Hauptcast, die um Chucks Tyrannei drumherum gekommen war. Als wir durch den Bühneneingang endlich von der schwülen Sommerhitze in das kühle Theater kamen und sie in die Garderobe verschwand, rieb ich mir die Augen. Wir waren früh da. Lindsay kam normalerweise immer auf den letzten Drücker. Ich war immer früh im Theater und genoss die morgendliche Stille für gewöhnlich alleine. Ich brauchte das. Zum Runterkommen, zum Abschalten, zum Durchatmen. Zum Fokussieren.

Heute mehr denn je.

Ich ging durch die Gänge zur Garderobe und dann durch das zugige, fast baufällige Treppenhaus zu einem der Studios, in dem ich auf Tanner Smith traf, einen unserer Vocal-Coaches. Er arbeitete bereits mit Caleb an einer seiner Solo-Nummern. Als Cal mich bemerkte, grinste er breit und griff sich ans linke Ohr. Ich schnitt eine Grimasse. Eine Anspielung auf mein kaputtes Ohrläppchen. Idiot. Ich mochte ihn.

Im Flur sang ich mich warm und arbeitete die nächsten drei Stunden mit Tanner, Caleb und später Lindsay an unseren gemeinsamen Stücken. Am Schluss sang ich noch meine beiden Lieblingsnummern solo durch.

Tanner war zufrieden.

Nach dem Coaching zog ich in einen anderen Teil des Theaters um zum Fitting. Schon aus dem Flur hörte ich das vertraute Surren der Nähmaschinen von Mrs. Golden und ihrem Team. In ihrer Werkstatt herrschte emsige Betriebsamkeit, sechs Wochen vor der Premiere kein Wunder. Ich war nahezu täglich hier. Als sie mich sah, hörte das Rattern der Nähmaschine auf. „Sarah, mein Schatz!“ Mrs. Golden zog den Stoff aus der Maschine, legte ihn sorgfältig zur Seite und rückte ihre Nickelbrille zu Recht.

„Guten Morgen“, sagte ich und versuchte, fröhlich zu klingen. Ich wusste nicht, ob es mir gelang.

Mrs. Golden war eine kleine Frau mit freundlichem Gesicht. Früher hatte sie extravagante Kurven gehabt, heute hatte ihre Leidenschaft zu selbstgemachten Pralinen und Gebäck ihre Kurven füllig werden lassen.

Sie versprühte Charme und Esprit, dieses gewisse Etwas eben. Man musste sie gern haben und manchmal war ich mir sicher, dass sie die einzige reale Person in dieser Theaterwelt war.

„Schätzchen, du bist ja immer noch so blass… trinkst du deinen Ingwer-Tee mit Zitrone?“

„Täglich.“ Die Leier hatte ich in den letzten Tagen ständig gehört.

„Sehr gut. Nichts hilft besser gegen kratzige Stimmbänder.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Du bist wieder dünner geworden.“ Sie umrundete mich und schüttelte missbilligend den Kopf. „Schatz, wir können nicht ständig weiter abstecken! Du verschwindest noch!“

„Sie übertreiben…“ Ich lächelte.

Mrs. Golden seufzte nachsichtig. „Achte besser auf dich. Du weißt, bald gehen die TV-Shows los. Du musst regelmäßig essen, sonst fällst du bis zur Premiere um, Schätzchen.“

„Ja, Mrs. Golden.“

„Dann zieh dich mal aus, mein Schatz, und lass uns loslegen…“ Mrs. Golden sah mich auffordernd an, bevor sie in den hinteren Teil der Schneiderei verschwand und mit einem Rollwagen voller Kostüme zurückkehrte. Ein Zettel war am linken Ende angebracht. Sarah Brock.

Mein Name. Ein ganzer Wagen schwerer, opulenter Kleider nur für mich.

Routiniert streifte ich mir meine Klamotten vom Körper und ließ mir von Mrs. Golden ins erste Kleid helfen. Ein schwarzes Samtkleid, aufwendig mit Spitze bestickt. Kleine, schwarze Straßsteine funkelten durch die Beschichtung im Licht. Mrs. Golden schloss das Kleid und begann vorsichtig, es abzustecken.

Die Prozedur wiederholte sich mit den anderen Kleidern, bis Mrs.

Golden fröhlich summend ein luftiges, hellblaues Kleid vom Bügel zog. Sie hielt es mir hin, während ich zurückprallte und es anstarrte wie einen Geist. „Ist was, Schatz?“

„Ich…“ Unbestimmt griff ich mir an den Hals zu meiner Kette. „Ist das neu? Das war beim letzten Fitting nicht dabei?“

Mrs. Golden hielt das hellblaue Kleid ins Licht und seufzte. „Mr. Baker“, sagte sie, als sei das Antwort genug. „Er wollte ein elfenhafteres Kleid für die Liebesszene im ersten Akt.“

Ich starrte sie an, dann das Kleid. „Für die Liebesszene im ersten Akt?“ Ich kannte das Kleid. Ich hatte einmal ein ganz Ähnliches besessen. Ein trägerloses, bodenlanges Kleid wie dieses. Im gleichen hellblauen Farbton. Satin-Unterkleid, hellblauer Chiffon als Oberkleid. Es war ganz leicht gewesen. Ich hatte es geliebt. In den Sommerferien waren meine Freundin Maica und ich Einkaufen gefahren. Es war so schwierig gewesen, ein Kleid für diesen besonderen Anlass zu finden, und es war irrwitzig teuer gewesen, aber als ich es angezogen hatte, war es gewesen, als sei es für mich gemacht worden. Als ich in diesem Kaufhaus vor dem Spiegel stand und mich und das Kleid ansah, hatte ich sofort gespürt, dass es das richtige Kleid für dieses Fest war.

Die Liebesszene im ersten Akt.

„Tut mir leid“, murmelte ich und schlüpfte in das hellblaue Kleid, das Mrs.

Golden mir hinhielt. „Ich hab nur gerade… an etwas gedacht.“

„Ein hübsches Kleid, nicht?“

„Ja… ein hübsches Kleid…“, wiederholte ich stumpf.

Als Mrs. Golden es schloss, war es, als spürte ich Jans Hand sanft und warm auf meiner Schulter.

Das konnte doch alles nicht wahr sein.

Er war nicht mehr hier, verdammt!

Mrs. Golden trat einen Schritt zurück und kramte in einer ihrer Schachteln nach etwas. Als sie es fand, trat sie von hinten an mich heran und steckte mir mit einem strahlenden Lächeln eine weiße Blüte ins Haar.

„Perfekt… findest du nicht?“

Ich starrte mein Spiegelbild an. Ich war Jahre älter, doch mein Spiegelbild sah um keinen Tag gealtert aus. Ich schloss die Augen, unfähig irgendetwas zu sagen, zu erwidern oder mich zu bewegen. Es war ein Déjà-vu, ein unbedarftes Déjà-vu eines Traums, der jetzt, so viele Jahre danach, mehr weh tat, als alles andere. Mein Körper kribbelte, alles zog sich in mir zusammen. Ich sah genauso aus wie damals, als ich im Hotelzimmer geprüft hatte, ob das Kleid auch wirklich saß, und ob ich auch nicht neben Jan lächerlich aussehen würde.

Ich hatte damals überlegt, ob ich die Kette ausziehen sollte. Gegen eine andere tauschen. Meine Mutter hatte mir zu Weihnachten einen Swarovski-Anhänger geschenkt, der hellblau schimmerte, und sicherlich hätte er zu diesem Kleid wahnsinnig gut ausgesehen. Glamourös. Aber eben nicht nach mir. Außerdem war ich mir nicht sicher, was Jan gesagt hätte, wenn ich gerade an diesem Abend die Kette nicht getragen hätte.

„Ich werde Mr. Baker das mit der Blume vorschlagen… das wäre doch wirklich eine reizende Idee für das große Date zwischen Stella und Charly, oder?“

Es war wie im Märchen. Der Garten, die Blumen, der betörende Duft der Rosen. Der Rasen war perfekt geschnitten, kleine Buchshecken fassten die Wege ein. Schneeweißer Kies knirschte bei jedem unserer Schritte.

Langsam schlenderten wir den Weg hinunter, Hand in Hand. Ich spürte, dass er aufgeregt war, und seine Nervosität übertrug sich ein bisschen auf mich. Ich wusste, wie viel es ihm bedeutete, dass ich mit ihm hier war.

Ich starrte Mrs. Golden an. Am liebsten hätte ich gebrüllt, mir das Kleid vom Leib gerissen, um mich getreten, geschrien, gerufen, wäre ausgerastet, weggerannt - nach Hause vielleicht - zurückgeflogen, zurückgekrochen, um mich zu verstecken. Vor dem Geist, den ich gesehen hatte.

Seine Hand berührte mich. Vorsichtig, als würde ich unter der Berührung seiner Fingerspitzen zerbrechen. Ganz langsam zog er mir den Reißverschluss des Kleides nach unten und küsste mich dort, wo eben noch der blaue Stoff meine Haut berührt hatte. Ich hielt die Luft an, als er das auch auf der anderen Seite tat, und spürte, wie das Kleid mit einem weichen Rauschen von mir hinunterfloss und leise zu Boden fiel.

„Bitte, ich…“ Ich bekam keine Luft. „Ich muss aus dem Kleid raus, ich…“ Ich griff mir an den Hals. Es fühlte sich an, als würde mir jemand den Hals abdrücken. „Ich bekomme keine Luft…“ Schweiß trat mir auf die Stirn und ich zog und zerrte am Stoff.

„Beruhige dich, Sarah – was ist denn los?“ Ich riss am Kleid und der Klettverschluss am Rücken löste sich. Es fiel achtlos auf den Boden und ich sprang einen Schritt zurück, die Hand an meinen Hals gelegt, schützend vor der Kehle, als ob mich etwas erwürgen würde. Aber dem war nicht so, das sah ich im Spiegel. „Entschuldigung.“ Ich wurde panisch. Richtig panisch. Brennend heiß spürte ich die Hitze in mir hinaufsteigen, ein versengendes Gefühl, ganz anders, kratzend und heiß, befremdlich, anders als die Kühle des Satinunterkleids.

Ich riss mir auch die Blüte aus dem Haar. Nichts war heute so wie damals. Es war ein anderes Kleid. Ein ganz anderes. Ein anderer Stoff.

Ein anderes Kleid. Es war nur eben auch hellblau… und es war… keine Orchidee. Und Mrs. Golden war nicht Jan. Sie kannte ihn nicht. Woher auch? Und ich… ich drehte einfach durch… „Scht… scht…“ Mrs. Golden schob mich zu ihrem Stuhl, drückte mich nieder und goss mir ein Glas Wasser ein.

„Schatz, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist ja ganz aufgewühlt?“

„Ich… ich habe nur…“ Sie sah mich besorgt an. Die grauen Augen blickten freundlich, aber ihr Lächeln war bei meinem Panikanfall verloren gegangen. „Schätzchen… was ist los?“ Sie fragte es mit einer absurden Endgültigkeit.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete ich wahrheitsgemäß, sah ihr aber an, dass sie mir kein Wort glaubte.

„In meiner Schneiderei hat sich noch niemand ein Kleid vom Körper gerissen – und glaub mir, in meiner Schneiderei ist schon sehr viel passiert.“

Ich schloss die Augen. Ich sah ihn so plastisch vor mir, dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich die Hand nur nach ihm ausgestreckt hätte. „Ich glaube, ich habe gestern einen Geist gesehen… Sie denken bestimmt, ich spinne, aber… Ich kann ihn nicht gesehen haben, weil es ihn nicht mehr gibt und… Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt.“

Es war, als wäre eine tonnenschwere Last von meinen Schultern abgefallen, als ich es laut aussprach. Ich erschrak so über mich selbst, dass ich mir den Mund zuhielt. Mrs. Golden zog einen kleinen Hocker zu mir heran und reichte mir meinen schwarzen Cardigan. Ich zog ihn über, seltsam benommen, und starrte auf das Wasserglas, ohne sagen zu können, was gerade passiert war.

„Was für einen Geist?“, fragte sie behutsam.

Ich versuchte, ruhig zu werden, durchzuatmen, wie ich es schon so oft getan hatte, aber es gelang mir nicht. Ich hatte es ausgesprochen. Ich schloss die Augen.

„Einen Geist…“, sagte ich leise, „Einfach einen Geist.“ Ich konnte es nicht aussprechen. Ich sah plötzlich so viele Bilder von ihm vor mir.

Jan in diesem Ramones-Shirt.

Jan am See. Lachend auf dem Rücken seines Pferdes.

Jan strahlend an der Spitze einer Ehrenrunde galoppierend.

Jan, stocksauer, wie er mir sagte, ich sei schuld, dass er das dämliche Streichergebnis geliefert habe.

Jan, der mit meinem Pferd einen Sprung anritt.

Jan auf dem Boden eines Parkplatzes.

Jan nackt schlafend in seinem Bett.

Jan in der Klinik.

Jan zwischen all den ganzen Geräten, die ihn geradeso am Leben hielten.

Jan, der mir versprach, mir immer die Wahrheit zu sagen.

Jan, der mir sagte, er würde alles für mich tun.

Jan, der mir sagte, ich sei das Wichtigste auf der Welt für ihn.

Jan, der mir sagte, ich sei die Welt für ihn.

Mrs. Golden sagte nichts. Sie stand auf, holte aus einem kleinen Schrank eine Flasche Bourbon und goss mir ein zweites Glas ein und drückte es mir in die Hand. Ich konnte mich nicht rühren. „Trink das, Liebes.“

Ich tat, wie sie gesagt hat. Der Bourbon brannte in meiner Kehle, sonst spürte ich nicht viel.

Jan war weg.

„Besser?“

Ich hob den Kopf und blinzelte. Ich weinte nicht. Ich sah sie einfach nur an. „Ja, danke.“ Ich stellte das Glas auf den Tisch und schloss die Augen.

„Ich weiß nicht, warum ich das gerade gesagt habe. Ich glaube nicht an Geister.“

Mrs. Golden lächelte mich an. „Ach, Schatz… das ist doch kein Problem.“ Sie tätschelte mein Knie und stand auf. „Meinst du, du hast wirklich einen Geist gesehen?“

„Vermutlich ist das alles gerade etwas viel…“, sagte ich ausweichend.

Ich stand langsam auf und stellte mich vor den Rollwagen mit den Kostümen. „Mrs. Golden?“ Meine Stimme klang dünn und war sicherlich Millionen von Kilometern entfernt.

„Ja?“

„Können wir weiter machen?“ Sie sah mich eine Weile lang befremdlich an, dann nickte sie und zog das nächste Kostüm vom Bügel, ein schweres Brokatkleid, das den Namen Kleid eigentlich nicht verdiente. Es war ein Monstrum.

Als ich spät am Abend zurück zu Hause war, stieg ich über die Feuerleiter aufs Dach, bewaffnet mit einer Flasche Rosé, einer Decke und einem alten, goldenen Schuhkarton.

Nun saß ich auf dem Dach meines Wohnhauses, trank den Wein aus der Flasche und hielt mein Handy in der Hand. Ich starrte auf Bastis Nachrichten von gestern Abend. Ich vertreib die bösen Geister für dich.

Ich hatte Jan so sehr geliebt. Ich hätte damals alles für ihn getan. Für Jan. Nein, ich hatte alles dafür getan. Ich hatte alles nach ihm ausgerichtet. Für ihn gegeben. An ihn geglaubt. Ihn unterstützt. Immer, bedingungslos. Und er hat mich geliebt. Ich war seine Welt gewesen. Er hat mir so viel ermöglicht. Und doch… und doch… war es am Ende wie ein böser Traum gewesen. Ein Alptraum.

Ich starrte schon seit bestimmt einer Stunde auf den Schuhkarton zu meinen Füßen. Öffnen? Nicht öffnen?

Es hatte einen Grund, warum ich den Karton seit Jahren verschlossen hatte. Jan war der Grund. Aber jetzt, wo ich seit Tagen ohnehin schon an ihn dachte?

Ich trank noch einen tiefen Schluck.

Vermont.

Indian Summer.

Der Schatten vor dem Restaurant.

Mrs. Goldens blaues Kleid für diese Liebesszene im ersten Akt.

Ich liebe dich, Welt.

Mit einem Ruck hob ich den Schuhkarton auf meinen Schoß und strich über den glatten Deckel. Die Kanten waren verschrammt, ein wenig mitgenommen. Mein Schatz.

Ich ließ die kleine Kugel des Anhängers an meiner Kette über meine Finger tanzen, während ich darüber nachdachte, ob ich die Kiste wirklich öffnen sollte oder nicht. Alles in mir wehrte sich dagegen, weil ich so lange gebraucht hatte, um in New York anzukommen, um abzuschließen mit Endingen und Deutschland. Aber hatte ich das jemals? Damit abgeschlossen? Allein, dass ich die Frage stellte, machte die Antwort eigentlich klar.

Der kleine Teil von mir, der die Kette berührte, sehnte sich nach daheim.

Nach der Vergangenheit. Nach Mama. Meinen Freunden… Indian Summer, Andy… Nach Maica, Bastian, Mattes, Andy und Kim… und nach Jan… am allermeisten und allerwenigsten nach Jan…

Meine Finger wanderten über den Deckel, unter dem so viele Erinnerungen verborgen lagen. Zeitungsausschnitte, Fotos. Erinnerungen.

Dinge eben. Staub. Schlüssel zu Gedanken in meinem Kopf, die ich weggeschlossen hatte, als ich aus Endingen weggegangen war, weil ich es dort nicht mehr ausgehalten hatte.

Ich schloss die Augen und atmete durch. Hob den Deckel an und erwartete fast, dass mir ein Geist, ein Windhauch, irgendetwas entgegenkommen würde, aber nichts dergleichen geschah. Die Erinnerungen waren ohnehin zurück. Ich öffnete die Augen und wurde plötzlich ruhig, als ich die Postkarte sah. Das Felsentor von Capri. Ich lächelte. Roch das Salz des Meeres, den Duft der Olivenbäume und hatte das Zirpen der Zikaden im Ohr. Ich werde nie vergessen, wie das Meer gerauscht hatte, als er mich damals geküsst hat. Mit welcher Wucht es mich getroffen hatte, als ich erkannte, wie sehr ich ihn liebte. Ich werde nie vergessen, wie ich explodiert bin, als er mich endlich, endlich geküsst hatte. Sorrent, Capri, Amalfi. Die Erinnerung war auch jetzt, viele, viele Jahre später noch so lebhaft, noch so präsent, als sei es eben erst passiert. Dabei war es schon so lange her.

Die Postkarte sah ziemlich mitgenommen aus. Ich hatte sie an einem kleinen Souvenirstand gekauft. Am Tag danach, nach einem Ausflug zu einem Olivenbauern. Nachdem er mich geküsst hatte. Ich war so verliebt gewesen in ihn…

Und jetzt? Jetzt war er weg und ich allein in New York und stellte fest, dass er mich verfolgte wie ein Schatten und ich hatte keine Ahnung, ob ich diesmal die Kraft haben würde, ihn noch einmal hinter mir zu lassen… Ich schlug die Augen auf. Erinnerungen. Alles nur noch Erinnerungen.

Nichts war mehr so, wie es damals gewesen war. Gar nichts. Der Lärm New Yorks drang zu mir hinauf aufs Dach, allmählich dämmerte es und der Alkohol stieg mir in den Kopf. Dennoch trank ich einen weiteren großen Schluck aus der Weinflasche.

Wie eine Süchtige griff ich erneut nach meiner Kiste, hob den Deckel wieder an und sah hinein. Unter der Postkarte zog ich ein Foto heraus. Es war ähnlich mitgenommen wie die Karte vom Felsentor Capris. Als ich es ansah, es in die Hand nahm, darüber strich, stahl sich etwas wie ein Lächeln in mein Gesicht, aber mein Herz wurde schwer. Indian Summer.

Nicht der Indian Summer, den Dean mir in Vermont zeigen wollte. Nein.

Mein Indian Summer. Mein Pferd.

Die große Koppel der Silberburg, des Reitstalls, saftiges Grün, die Apfelbäume waren schon lange verblüht. Es war ein Bild aus dem Juni.

Indian Summer mit gespitzten Ohren in die Kamera schauend, die breite Blesse schneeweiß, die Mähne vom Wind zerzaust. Die weißen Beine des Pferdes strahlten nicht wirklich auf dem Foto, eher schlammverspritzt, aber Iana sah unglaublich zufrieden aus. Ein überraschend scharfes Foto von meinem Pferd, das normalerweise immer den Kopf schüttelte, wenn man es fotografieren wollte. Indian Summer. Der große, rote Fuchs. Zu groß und zu stark für mich. Zu schwierig, weil zu unrittig. Das waren einstimmige Kommentare gewesen, aber es hatte mich nicht interessiert.

Iana und ich, wir waren ein Team. Dass es auf Turnieren nicht immer gut lief, war mir egal gewesen und nachdem Jan zu Beginn unserer anfangs schwierigen Bekanntschaft so überaus liebreizend zu mir gewesen war, hatte ich sowieso mit dem dämlichen Turnierreiten aufhören wollen. Im Gelände war es schließlich auch schön… Dass es dann anders gekommen war, ist Geschichte. Wir hatten uns angefreundet. Er hatte mir seine Stute Avalon zur Verfügung gestellt, er war Iana geritten. Ich war in den Landeskader aufgenommen worden, er hatte den Preis der Besten mit Indian Summer gewonnen. Wir waren beide unschlagbar gewesen als Team.

Bis etwas zwischen uns geraten war und wir daran scheiterten.

Ich musste nicht mal in die Schatzkiste schauen, um daran erinnert zu werden.

Etwas… Sein Ehrgeiz. Sein verdammter Ehrgeiz. Und etwas anderes.

Etwas sehr viel Dunkleres als sein Ehrgeiz.

Ich schluckte und sah tiefer in die Kiste. Es war eine seltsame Sammlung von scheinbaren Belanglosigkeiten. Zum Beispiel eine Styroporkugel, gefüllt mit abgesägten Playmobilbeinen. Eine Preisschleife vom CHIO Aachen. Ein verschlossener Briefumschlag mit meinem Namen darauf. Bastis Vater hatte ihn darauf geschrieben. Ich hatte nie hineingesehen. Ich wusste, was darin war: Eine Akte, ein Scheck, ein Pferdepass.

Was war noch in der Kiste? Ein paar Zeitungsartikel. Zwei davon handelten von mir. Einer war eingerahmt und ein Post-it klebte darauf. Es war das erste Geschenk, ich jemals von Jan bekommen hatte. Zu Weihnachten. Irgendwann in der ersten Zeit, nachdem wir endlich „wir“ waren, hatte Jan bei mir im Zimmer gestanden. Ich war unten gewesen, hatte etwas zu trinken geholt und als ich hoch in mein Zimmer kam, stand er mit dem Rücken zu mir am Fenster und hielt den Bilderrahmen in der Hand, den er mir ein halbes Jahr zuvor so unbeholfen zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Bild, das darin war, war grobkörnig und schwarzweiß, zeigte mich mit dem Mikro in der Hand auf der Weihnachtsgala unserer Schule. Die Gala, die ich gar nicht hatte singen wollen. Ich war nur eingesprungen, weil ein Mädchen krank geworden war, und meine Mum hatte mich etwa hundert Mal gefragt, ob ich nicht mitmachen wollte. Ich hatte richtig Angst davor gehabt. Ich war verunsichert gewesen und nervös und nur Jan war schuld daran, dass ich mich getraut hatte. Gerade er, den ich damals so gar nicht hatte leiden können.

Jan hatte sich umgedreht, als er mich bemerkt hatte. „Du hast ja das Post-it noch…“, hatte er gesagt. Du kannst alles, was du willst stand darauf.

Ich hatte nicht so recht gewusst, was ich darauf hatte sagen sollen. Ja, ich hatte das Post-it aufgehoben. Er hatte immer an mich geglaubt. Von Anfang an.

Das Post-it war es, das alles verändert hatte. Das mich verändert hatte.

Dieser kleine gelbe Klebezettel, der in der kleinen goldenen Kiste lag, zerknittert, millionenfach gefaltet und auseinandergeklappt. Jans gerade und doch krakelige Handschrift war mittlerweile verblasst und durch das viele Falten kaum noch zu lesen. In all den Jahren, in all den Momenten, in allen Prüfungen hatte ich den gelben Zettel bei mir gehabt. Und er hatte mir immer Glück gebracht. Glück und die Gewissheit, dass nichts schief gehen konnte, wenn ich ihn bei mir trug. Dass ich einfach alles erreichen konnte, was ich mir vornahm.