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Ein geheimer Machtkampf. Ein gefährliches Netzwerk. Und eine Liebe, die alles verändern könnte. Als Journalistin Livia Santorini die Machenschaften eines mächtigen Netzwerks aufdeckt, gerät sie selbst ins Fadenkreuz. Ihre einzige Rettung: Cole, ein Mann mit einer geheimnisvollen Vergangenheit, der mehr über das Netzwerk zu wissen scheint, als er zugibt. Gemeinsam riskieren sie alles, um die Wahrheit ans Licht zu bringen - und kämpfen dabei nicht nur gegen eine unsichtbare Bedrohung, sondern auch um ihr Vertrauen zueinander. Packend, emotional und voller Spannung - eine Geschichte über Mut, Verrat und eine Liebe, die in den dunkelsten Stunden entsteht.
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2025
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M.C. Wnter ist seit ihrer Kindheit eine leidenschaftliche Geschichtenerzählerin mit einem Faible für vielschichtige Charaktere und atmosphärische Settings. Sie schreibt oft an der Grenze zwischen Spannung und emotionaler Tiefe, wobei gesellschaftliche Themen und moralische Grauzonen eine zentrale Rolle spielen. Wenn sie nicht gerade schreibt, findet man sie oft im Kino, genießt inspirierende Gespräche oder träumt bei einem Ausritt von neuen Geschichten.
Von M.C. Winter bereits erschienen
Die Schattenspringen-Reihe
Schattenspringen Bd 1 (2015)
Blutsbrüder Bd 2(2018)
Lichtläufer Bd 3 (2016)
Goldstaub Bd 4 (2015)
Spin-Off zu Schattenspringen
About Storms and drowning (2023)
THE VEIL – Vertraue niemandem! (2025)
Für alle, die sich einen Neuanfang wünschen.
Dermot Kennedy – Boston X Ambassadors – Unsteady Jeris Johnson - Kryptonite Sebastian Schub – Sing like madonna The Weeknd – Dancing like flames Rosé feat. Bruno Mars – APT Dermot Kennedy – Without Fear Soap & Skin - Me and the devil Milck - Devil devil Florence and the machine - Big god Ruby Amanfu – Bitch Dermot Kennedy – Dancing under red Sky Judith Hill – In the Air tonight
THE VEIL behandelt sensible Themen.
Eine explizite Triggerwarnung finden Leser*innen auf Seite →.
Veil
/veɪl/ Substantiv
Bedeutung: Schleier
Eine dünne Hülle, die etwas verbirgt oder verhindert, dass man etwas klar sehen kann.
literarisch: Etwas, das verhindert, dass man weiß, was geschieht.
Die Luft ist kühl und still, und ich stehe in der alten Diele des Hauses, meine Augen auf die vergilbten Fotos an der Wand gerichtet. Die Tapete hat sich über die Jahre gelöst. Gesichter, die mir vertraut und doch fremd sind, blicken mir entgegen – eingefroren in Augenblicken, die sich wie eine fremde Erinnerung anfühlen. Der Wind draußen lässt das Holz knarren, und für einen Moment ist es, als würde das Haus selbst all seine Geheimnisse für sich behalten wollen.
Hinter mir höre ich Schritte, leise und zögernd. Er tritt in den Raum, seine Silhouette umrahmt vom schwachen Licht der Dämmerung, das durch die verstaubten Fenster dringt. Ich spüre seinen Blick auf mir, warm und doch voller Sorge, als wüsste er, dass dieser Ort mich zu etwas zwingt, dem ich mich nicht mehr entziehen kann.
„Bist du dir sicher?“, flüstert er. Seine Stimme zittert leicht, ein Hauch von Angst darin, und ich weiß, dass er sich genauso wenig sicher ist wie ich, was wir hier finden werden.
Ich nicke langsam, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen. „Ich bin mir sicher“, sage ich leise, die Worte schwer wie das Gewicht der Vergangenheit. Ein Teil von mir hätte es lieber nie erfahren – das, was in diesen Wänden verborgen liegt. Doch das Verlangen nach Antworten, nach der Wahrheit, zieht mich tiefer in die Dunkelheit.
Er tritt näher, bis ich seinen Atem an meiner Schulter spüren kann. Seine Hand berührt leicht meinen Arm, ein zögernder Trost, der nicht verbergen kann, dass sie weiß, wie unausweichlich dieser Weg geworden ist. Unausweichlich. Absolut. „Es wird gut werden“, flüstert er, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch.
Ich schließe für einen Moment die Augen, das Rauschen der Vergangenheit dringt durch die Stille, ein Schatten, der nie ganz weichen will.
Wir stehen still, eingehüllt in die Ruhe und das Geheimnis dieses alten Hauses, umgeben von den Schatten, die sich an die Ecken klammern, als hätten sie selbst Angst vor dem, was sie verbergen.
Prolog
Kapitel 1
Livia
Kapitel 2
Livia
Kapitel 3
Livia
Cole
Livia
Kapitel 4
Livia
Kapitel 5
Livia
Cole
Livia
Kapitel 6
Livia
Cole
Livia
Kapitel 7
Cole
Livia
Kapitel 8
Livia
Kapitel 9
Livia
Cole
Livia
Kapitel 10
Livia
Cole
Kapitel 11
Livia
Cole
Livia
Kapitel 12
Livia
Kapitel 13
Livia
Cole
Kapitel 14
Livia
Cole
Kapitel 15
Livia
Cole
Livia
Kapitel 16
Cole
Livia
Kapitel 17
Livia
Cole
Livia
Kapitel 18
Livia
Cole
Livia
Cole
Kapitel 19
Livia
Cole
Livia
Cole
Livia
Cole
Kapitel 20
Cole
Livia
Kapitel 21
Livia
Kapitel 22
Livia
Cole
Livia
Kapitel 23
Livia
Kapitel 24
Epilog
Danksagung
Triggerwarnung
Ich streiche mir eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht und blase ungeduldig Luft aus. Vor meinem Spiegel stehend, halte ich die elegante schwarzgeprägte Einladungskarte in der Hand und frage mich erneut, ob das hier wirklich eine gute Idee ist. Die Karte, ein schlichtes, dunkles Rechteck mit goldener Schrift, lag vor zwei Tagen in meiner Post – ohne Absender und ohne nähere Erklärung. „Du bist eingeladen“, steht darauf, und auf der Rückseite: die Adresse eines alten Stadtclubs in Boston, Back Bay.
Ich wohne mit meiner Kommilitonin Leyla zusammen in einer winzigen Wohnung in der Nähe des Uni-Campus der Boston University. Die Wohnung ist zweckmäßig – das Notwendigste, was man sich in dieser Stadt leisten kann, wenn man als Studentin auf sich allein gestellt ist. Meine Eltern leben mit meinen zwei kleinen Schwestern im mittleren Westen in Minnesota und das Geld ich, seit meine Mutter nicht mehr arbeiten kann, oft knapp. Ich habe nie viel auf äußeren Luxus gegeben, doch die Anziehungskraft der glänzenden Welt, in die diese Einladung mich führen könnte, habe ich nicht vollständig ignorieren können. Ich sehne mich danach, nicht nur zu überleben, sondern wirklich „da draußen“ zu sein, Einfluss zu haben, wie die großen Journalisten, die Missstände aufdecken und die Welt verändern.
Ich schaue auf die Collage an der Wand in meinem Zimmer, die ich in den letzten Jahren angefertigt habe. Große Schlagzeilen und Titelbilder, der führenden Tageszeitungen und Magazine. Mein Traum ist es, irgendwann einmal einen Leitartikel in einem dieser Medien zu veröffentlichen. In der Times, dem New Yorker, dem Boston Globe, der Washington Post... Ich weiß, dass harte Arbeit dafür nötig ist. Harte Arbeit, Fleiß und vermutlich auch die nötigen Beziehungen. Ich gebe in meinem Studiengang alles, um nicht unterzugehen. Um einen guten Abschluss zu machen und, wie meine Mom, später für ein renommiertes Blatt schreiben zu können.
Meine Chancen hierfür wären größer, wenn ich in Harvard studieren könnte, aber Mom und Dad können sich die gewaltigen Studiengebühren einfach nicht leisten.
Als ob sie meine Gedanken gehört hat, klingelt mein Handy. „Hi Mom“, melde ich mich und ich höre ihr dunkles, freundliches Lachen.
„Livi. Nie meldest du dich. Wir vergehen vor Sehnsucht!“
„Stimmt, Schatz“, höre ich meinen Dad im Hintergrund.
„Die Mädchen vermissen ihre große Schwester.“
Ich vermisse sie auch. Ich vermisse die Tage, in denen ich mit Laura und Louisa im Garten gespielt habe. Die beiden sind jünger als ich, manchmal fühle ich mich eher wie eine Tante. Trotzdem sind es meine kleinen Monster. „Ihr fehlt mir auch“, sage ich.
„Was gibt es neues?“, fragt Mom und ich lasse mich auf meine Matratze fallen. „Nicht viel. Ich muss demnächst bei Professor Carter eine Semesterarbeit anfertigen.“ Von der Einladung meiner Professorin zu dem Event heute Abend erzähle ich nicht. Stattdessen erzähle ich ihr von Leylas jüngstem Dating-Desaster und davon, dass ich noch immer glücklich Single bin.
„Livi...“, sagt sie tadelnd. „Du solltest dein Studium genießen. Ausgehen, Partys feiern, Jungs daten! Diese Zeit kommt nie wieder!“
„Ja, Mutter. Ich werde ausgehen und Jungs treffen“, wiederhole ich brav, was sie hören möchte und sie lacht. Wir plaudern noch ein Moment, sie erzählt von Lous erster 4 in Mathe und davon, dass Laura Karate ausprobieren will. Dann legen wir auf.
Sie fehlen mir.
Ich seufze leise und mustere mich erneut im Spiegel. Ich sehe ihr ähnlich. Meiner Mom. Mit meinen dunklen Augen und dem wilden, leicht gewellten Haar, das mir kaum gehorcht, bin ich niemand, der in der Masse untergeht. Meine Gesichtszüge sind markant, und meine Augen haben diesen dunklen Schimmer, den mir mal jemand als „stur und voller Neugier“ beschrieben hat. Meine Garderobe halte ich meist schlicht und funktional – doch für diesen Abend habe ich mich entschlossen, etwas zu wagen: ein schwarzes Kleid, das mir meine beste Freundin Leyla geliehen hat und das mir eine elegante, fast unnahbare Aura verleiht.
Ich bin auch wie Mom ehrgeizig, vielleicht zu ehrgeizig – und das weiß ich. Meine Kindheit hat mir eingebläut, dass ich mir alles im Leben hart erarbeiten muss. Ich stamme aus einer Familie, die oft am Rand des finanziellen Abgrunds balancierte, und habe früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen – für meine zwei Schwestern Laura und Louisa, zum Beispiel. Als meine Mom ihr Augenlicht verloren hat, war Dad zu häufig mit ihr beschäftigt, als dass er sich noch um die Mädels hätte kümmern können. Ich hätte es ohne ihren Unfall vielleicht geschafft, eines der begehrten Stipendien für Harvard zu ergattern, aber so? So bleibt die Uni der Ivy-League nur ein Traum für mich. An der Boston-University bleibe ich oft eine Außenseiterin; ich habe nie das Gefühl gehabt, wirklich dazuzugehören, auch wenn ich mich oft über meine Arbeit zu profilieren versuche. Meine Kommilitonen genießen das Leben auch außerhalb der Seminare, aber ich habe zu hart dafür gearbeitet, um mir meine Noten durch Partys kaputt zu machen.
Dass ich jetzt hier in Leylas Kleid stehe, ist absolut untypisch für mich. „Es wird schon keine Katastrophe werden“, flüstere ich mir selbst zu, als ich mich schließlich entscheide, die Einladung anzunehmen, wirklich dorthin zu gehen. Meine Professorin, Prof. Dr. Charleen Carter, die seit ein paar Monaten in diesen Kreisen verkehrt, hat mir diese Einladung verschafft. Sie meinte, es wäre wichtig, als angehende Journalistin die richtigen Kontakte zu knüpfen, und hat mich damit allein gelassen. Weitere Fragen, was mich hier erwartet, hat sie nicht beantwortet.
Professor Carter ist immer freundlich zu mir. Ich habe im letzten Semester eine Seminararbeit bei ihr geschrieben und sie war sehr zuvorkommend, als ich sie um Hilfe bat. Trotzdem: Es ist nicht so, dass ich ihre Lieblingsstudentin wäre, oder so. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, warum ich zu dieser Veranstaltung eingeladen wurde. Alles daran klingt elitär.
Ich bin nervös. Ich weiß nicht, was auf mich zu kommt. Ich bin gerne vorbereitet. Ich weiß nicht, ob noch andere aus meinem Studiengang eingeladen sind. Ich weiß überhaupt nicht, was mich dort erwartet.
Ich greife nach meinem Mantel, schiebe die schlichte Einladung in meine Tasche und mache mich auf den Weg. Auf der edlen schwarzen Karte ist nichts weiter als die Adresse hineingeprägt. Auf der Rückseite habe ich einen goldenen Ring entdeckt. Mehr nicht. Die Adresse führt mich nach Back Bay, das bekannt ist für seine eleganten, viktorianischen Brownstones, gehobene Boutiquen und renommierte Restaurants. Hier liegt die berühmte Newbury Street, und die Immobilienpreise sind hoch, was den Stadtteil zu einer bevorzugten Wohngegend für die Elite macht.
Die historischen Straßenlaternen leuchten in warmem Licht, doch der Weg zu diesem Stadtclub führt mich durch eine ältere Gegend Back Bays, die weniger gut beleuchtet ist. Ein leises, aufgeregtes Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus, und ich versuche, ruhig zu bleiben. Das hier ist mein Moment, die Chance, die Kreise kennenzulernen, die mich in meinem Ziel, Journalistin zu werden, vielleicht voranbringen können. Vielleicht ist jemand vom Boston Globe da. Vielleicht kann mich Professor Carter vorstellen. Vielleicht kann ich ein Praktikum-
Bei dem Gedanken daran wird mir ganz kribbelig. Der Boston Globe ist die größte Tageszeitung in Boston. Der Globe hat sich über die Jahre seines Bestehens einen Ruf für investigativen Journalismus erarbeitet und erhielt mehrere Pulitzer-Preise. Das wäre... Ich will gar nicht daran denken! Fantastisch!
Ich schlinge die Arme um mich, während ich die massiven Holztüren des alten Bankgebäudes in Back Bay mustere. Die Location für die Party könnte nicht eindrucksvoller sein: ein Monument der Bostoner Architektur aus dem späten 19. Jahrhundert, mit imposanten, neoklassizistischen Säulen, die die Fassade flankieren. Über der schweren Steintreppe, die sich in die Dunkelheit erhebt, wacht eine kunstvoll verzierte Balustrade, und die Details der Fassade – gekrönte Fenster, Steinreliefs und geschnitzte Embleme – scheinen im Dämmerlicht zu verschwimmen. Es fühlt sich an, als träte ich in ein Relikt einer vergangenen Ära voller Geheimnisse und Geschichte. Ich weiß, dass die Party keine gewöhnliche ist – diese Einladung ist speziell für jene reserviert, die in die exklusiven Kreise der Stadt aufsteigen wollen oder für die, die es bereits geschafft haben.
Mit einem kleinen Lächeln – mehr für mich selbst als für irgendjemand anderen – atme ich tief durch und trete ein.
Das Erste, was mir auffällt, ist gedämpft beleuchtete Atmosphäre des Inneren des Gebäudes. Die Empfangshalle ist majestätisch, strahlt Geschichte aus, und ich mit Sicherheit zu diesem Zeitpunkt der eleganteste Raum, in dem ich mich jemals aufgehalten habe.
Mir kommt sofort ein Bediensteter entgegen, nimmt mir meinen Mantel ab und bittet mich nach meiner Einladungskarte. Sichtlich beeindruckt reiche ich ihm sie ihm, während mein Blick nach oben gleitet und ich die Höhe der Halle förmlich in mich aufsauge. Eine junge Frau im smaragdfarbenen Kleid erscheint und geleitet mich durch die Halle in den nächsten Raum, aus dem ich gedämpft Gelächter und Gläserklirren höre.
Unsere Schritte hallen auf dem polierten Marmorfußboden in wieder und mein Blick wandert von dem kunstvollen Muster unter mir zu dem Bild an der Wand. Ist das ein Monet?
Die Schiebetür zum nächsten Raum gibt mir den Blick auf die Party frei. Massive Kronleuchter brechen das grüne Licht aus versteckten Scheinwerfern, so, dass schimmernde Reflexionen auf die Wände geworfen werden.
Die dunklen Holztäfelungen der Wände, die Messingdetails und antike, geschwungene Geländer, die Treppen und Geländer zieren, all das tritt in den Hintergrund, da der Raum übervoll ist mit Gästen.
Stimmen und das gedämpfte Klirren von Gläsern füllen den Raum, und alles wirkt eine Spur zu elegant, zu perfekt inszeniert. Die Frisuren der Frauen sitzen frei von Makeln, die Zähne sind kerzengerade, kein Gramm Fett zu viel ist zu sehen. Ich bin in einem Raum mit Topmodels – zumindest wirkt es auf den ersten Blick so.
Was ist das für eine Gesellschaft, frage ich mich.
Eine Kellnerin – ebenfalls im smaragdfarbenen Minikleid – schwebt mit einem Tablett Champagner an mir vorbei. „Ein Drink?“, fragt sie und ich greife mir ein Glas. Eigentlich trinke ich nicht. Aber ich bin nervös.
Meine Augen scannen den Raum, während ich mich vorsichtig vorwärts bewege. Die Gäste scheinen einander alle zu kennen; Gruppen von teuer gekleideten Männern und Frauen lachen leise, tauschen intensive Blicke und ich stelle mir vor, dass sie sich Geheimnisse zu flüstern, die nur sie verstehen. Inmitten der glänzenden Roben und teuren Anzüge fühle ich mich wie ein Eindringling – und genau das bin ich ja auch. Ich trage ein geliehenes Kleid von Zara. „Bleib ruhig“, sage ich mir in Gedanken, hebe den Kopf und setze mein bestes Pokerface auf.
Da löst sich aus einer Gruppe ein Mann und kommt selbstsicher auf mich zu. Um die Dreißig, mit glatt zurückgekämmtem, dunklem Haar und in einen perfekt sitzenden Anzug gehüllt, wirkt er wie aus einem alten Hollywood-Film herausgeschnitten. Seine Gesichtszüge sind scharf und irgendwie unnahbar, und obwohl er mir ein höfliches Lächeln zuwirft, fühlt es sich an, als beobachte er mich mit der gleichen Präzision, mit der man einen Stein in der Hand wiegt. Seine hellgrünen Augen sind so kühl wie sein grauer Anzug, und ich merke, dass ich den Blick nicht so leicht von ihm abwenden kann. Er ist attraktiv. Sehr attraktiv.
„Livia Santorini“, begrüßt er mich, „Schön, dass Sie es geschafft haben,“ sagt er schmeichelnd, und seine tiefe Stimme lässt kaum eine echte Emotion durchblicken. Freut er sich, mich zu sehen? Ist er nur höflich? „Grayson Rutherford, herzlich willkommen in unserer kleinen Runde.“
„Danke,“ antworte ich, versuche, so lässig wie möglich zu klingen, und doch prickelt es in mir vor Aufregung und Anspannung. Alles an ihm wirkt so präzise und kalkuliert, dass ich mich frage, ob er je aus der Fassung gerät. „Obwohl ich nicht recht weiß, wieso...“, setze ich an und sehe mich unschlüssig um.
„In unserer Welt landet man nicht zufällig,“ sagt er, als könnte er meine Gedanken lesen. „Alles ist eine Frage der richtigen Wahl.“ Sein Lächeln wird ein wenig breiter, und ich kann die spürbare Distanz zwischen uns fast greifen. Ich weiß nicht, ob ich ihn faszinierend oder abstoßend finden soll, doch irgendetwas an dieser Mischung aus Kälte und Selbstsicherheit reizt mich.
„Was für eine Wahl?“, mein Herz pocht heftig in meinem Brustkorb.
Er lächelt mich an und reicht mir die Hand. Sein Händedruck ist fest, fast unnachgiebig. „Später. In Frankreich bespricht man das geschäftliche nicht auf Partys.“
Die Spannung in meinem Inneren steigt, als ich seine Hand loslasse und seinen kryptischen Worten nachsinne. Der Mann scheint zu wissen, wer ich bin, aber er hat sich mir nicht vorgestellt. Es ist, als würde er mich einer Probe unterziehen, als wolle er sehen, wie ich in dieser Welt navigiere – oder vielleicht, ob ich mich hier überhaupt halten kann. Sein Blick schweift ab, nur für einen Moment, doch ich spüre, dass seine Aufmerksamkeit noch immer wie eine Klinge auf mich gerichtet ist, bereit, jeden Fehler, jedes Anzeichen von Unsicherheit zu registrieren.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und beschließe, meine Unsicherheit in Neugierde zu verwandeln. In unserer Welt landet man nicht zufällig. Diese Worte hallen in mir nach. Was meint er damit? Warum hat Professor Carter mich hierher eingeladen? Und wo ist sie? Ich habe sie noch nicht entdeckt – ebenso wie keinen anderen aus meinen Kursen. „Professor Carter hat-“, setze ich an, doch er lächelt nur.
„Livia, Livia...“, sagt er und schüttelt amüsiert den Kopf. Der Raum scheint sich um uns zu drehen, die leisen Klänge der Musik und das Murmeln der Gäste verschwimmen, als er sich einen Schritt zurückzieht und mich mit einem Blick mustert, der zwischen Neugier und Abwägung oszilliert.
„Genießen Sie den Abend, Livia,“ sagt er schließlich, mit einem Hauch eines geheimnisvollen Lächelns.
Er küsst meinen Handrücken, seine Lippen verweilen eine Spur zu lang auf meiner Hand, bevor er in der Menge verschwindet. Zurück bleibt ein Gefühl von Beklemmung und Reiz gleichermaßen. Es ist, als wäre ich durch eine unsichtbare Schwelle getreten, durch die ich nicht mehr so leicht zurückkehren kann. Die Worte meiner Professorin, dass ich die „richtigen Kontakte“ knüpfen müsse, hallen in mir nach. War das hier die Art von Kontakt, den sie meinte? Wer ist dieser Grayson Rutherford?
Ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken. Doch anstatt zu gehen, ziehe ich das Glas Champagner näher an mich heran und lasse meinen Blick über die glänzenden Gestalten um mich schweifen. Ich bin hier, um zu lernen – nicht nur über diese Gesellschaft, sondern vielleicht auch über mich selbst und den Preis, den ich für meinen Traum zahlen muss.
Gerade, als ich mich frage, ob ich den mysteriösen Mann je wiedersehen werde, erscheint Professor Carter meiner Seite. „Livia, Sie sind hier“, sagt sie warmherzig und ich schaffe es gerade so, ein halbherziges „Ja“ herauszuwürgen. Ihr Ausdruck ist weicher als in den Vorlesungen, fast mütterlich, als würde sie mir einen winzigen Einblick in eine andere, weniger distanzierte Seite von sich gewähren. Sie neigt leicht den Kopf und sagt: „Kommen Sie mit, Livia. Ich möchte Ihnen einige Bekannte vorstellen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, geht sie vor durch die Menge. Ich halte meinen Atem an und versuche, mich meiner Umgebung bewusst zu bleiben – die verzierten Wände, die leise Musik, das leise, gedämpfte Gespräch der Gäste um uns herum –, doch mein Herzschlag übertönt alles. Diese Einladung fühlt sich an, als würde sie mich in eine neue Sphäre ziehen, eine, die mir bisher verwehrt geblieben ist.
Sie bleibt vor einer kleinen Gruppe stehen, und die Gespräche verstummen fast augenblicklich, als sich alle Blicke auf uns richten. „Livia,“ beginnt sie und wendet sich an eine elegante Frau mittleren Alters, die in einem dunkelblauen Kleid mit einem langen Perlenstrang gekleidet ist. „Darf ich Ihnen Diane Hargrove vorstellen, Herausgeberin des Boston Globe.“
Mein Herz bleibt stehen. Vor mir steht eine der mächtigsten Frauen des Journalismus in Boston. Diane Hargrove ist bekannt für ihre knallharten, investigativen Artikel und ihren unermüdlichen Einsatz für die Wahrheit. Ihre blauen Augen mustern mich mit einer Intensität, die ich nur zu gut kenne – die einer erfahrenen Journalistin, die nicht auf Smalltalk aus ist, sondern auf klare Fakten.
„Miss Santorini, nicht wahr?“, fragt sie in einem Ton, der freundlich, aber zugleich prüfend klingt. „Es freut mich, aufstrebende Talente wie Sie zu treffen. Meine Freundin Charleen erzählt, Sie schreiben mit einer Hingabe, die heutzutage selten geworden ist.“
Ich starre Professor Carter perplex an und bemühe mich, die Fassung zu bewahren. „D... danke, das bedeutet mir viel.“ Ich spüre, dass ich jetzt keine belanglosen Worte verlieren darf, also setze ich mit einem schüchternen Lächeln hinzu: „Der Globe ist einer der Gründe, warum ich Journalistin werden möchte.“
Diane Hargrove lächelt knapp, fast als hätte sie meine Worte erwartet. „Das hoffe ich doch, Miss Santorini. Der Journalismus braucht Idealisten, doch er braucht ebenso Leute, die die nötige Widerstandskraft haben, um in diesem Geschäft zu überleben.“
Bevor ich antworten kann, zieht mich Professor Carter zur nächsten Person in der Gruppe. „Und dies ist Dr. Henry Whitaker, einer der größten Mäzene und Gründer mehrerer Stipendien für Studenten. Ohne ihn sähe die Zukunft vieler junger Menschen wohl anders aus.“
Dr. Whitaker reicht mir die Hand und lächelt väterlich. „Aha, eine Studentin. An der BU, nicht wahr? Ihre Professorin Carter hat nur Gutes über Sie berichtet.“
„Ich gebe mir Mühe, Dr. Whitaker,“ antworte ich mit einem Lächeln. „Professor Carter ist eine Inspiration für mich.“ Die Nennung meines Namens durch Diane Hargrove und nun auch durch Dr. Whitaker lässt mich fast erschauern. Es ist, als wüssten alle hier bereits, wer ich bin.
„Es ist die Art von Mühe, die oft belohnt wird, Miss Santorini. Ihre harte Arbeit ist nicht unbemerkt geblieben,“ antwortet Dr. Whitaker. „Vielleicht haben wir bald Gelegenheit, über Ihre Zukunft zu sprechen.“
Mir wird klar, dass dies vielleicht die Momente sind, die Professor Carter meinte. Ich bin überwältigt, doch auch stolz – ich halte dem Blick dieser einflussreichen Menschen stand.
Dann lässt Professor Carter meinen Arm los und deutet mit einem kurzen Nicken in Richtung eines älteren Herrn, dessen graues Haar wie in Wellen zurückgekämmt ist und der den Raum mit einer ruhigen, aber durchdringenden Präsenz beherrscht. „Das ist Judge Samuel Irving, eine Institution im Bostoner Justizsystem. Seine Urteile haben oft die lokale Gesetzgebung beeinflusst.“
„Sehr erfreut, Miss Santorini,“ sagt der Richter, seine Stimme ruhig und fest. „Junge Journalistinnen wie Sie haben die Macht, durch ihre Worte Gerechtigkeit zu bewirken. Aber ich hoffe, Sie wissen, dass Sie dafür den Mut brauchen, die Wahrheit zu finden und, was noch wichtiger ist, sie zu veröffentlichen – ungeachtet des Drucks, der auf Ihnen lasten könnte.“
Ich schlucke, zu ergriffen, um sofort zu antworten. Es ist selten, dass Menschen wie Judge Irving sich direkt an jemanden wie mich wenden. Aber in seiner Art erkenne ich sofort die Hingabe für Gerechtigkeit und Wahrheit, die auch mich antreibt. „Das hoffe ich, Sir,“ antworte ich leise, und meine Stimme verrät meine Entschlossenheit.
„Meinen guten Freund William kennen sie bereits?“
Neben ihm steht ein älterer Herr mit weißen Haaren. „William Merrick“, stellt er sich vor.
„Der Stadtrat“, sage ich und bin ganz benommen davon, mit welch illustren Gästen ich mich hier unterhalte, als ob ich sie schon seit Jahren kennen würde.
Ich spüre ein Kitzeln im Nacken und drehe den Kopf leicht. An der Wand steht mein mysteriöser Begleiter von Beginn der Veranstaltung und hebt sein Champagnerglas lächelnd in meine Richtung. Ich erröte leicht. Grayson ist wirklich sehr attraktiv. Männlich. Ein wenig dunkel. Leyla würde sagen: heiß. Unter seinem Blick wird mir ein wenig heiß und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich die ganze Zeit beobachtet, da dies eine Art Test ist, eine Initiation, die entscheidet, ob ich bereit bin, die nächste Stufe in meiner Karriere zu erreichen. Dann hebt er das Glas erneut und prostet mir zu, ein Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen.
„Willkommen in unserer Welt, Livia,“ sagt er leise, und ich spüre, dass ich ab diesem Moment nicht mehr zurück kann.
Später am Abend rauscht mein Kopf. Ich habe Menschen kennengelernt. Menschen der Bostoner High Society. Einflussreiche Menschen. Richter, Anwälte. Menschen beim Fernsehen. Chloe Cole war hier, die Schauspielerin! Wenn ich das Leyla erzähle, dass ich ihre Lieblingsschauspielerin auf der Toilette getroffen – und ihr einen Tampon geliehen habe!
Der Abend ist mit Abstand der verrückteste in meinem Leben.
Es ist weit nach ein Uhr nachts, als ich mich verabschiede und nach Hause aufbreche. Als ich die Enge des Raumes hinter mir lasse und die kühle Luft der Eingangshalle einatme, spüre ich, wie sich die Anspannung in meinem Inneren langsam löst. Die Geräusche der Party, das gedämpfte Lachen und das Klirren der Gläser, liegen nun wie ein ferner Schleier hinter mir. Ich kann kaum glauben, dass ich diesen Ort wirklich verlassen will – doch irgendetwas an diesem Abend fühlt sich plötzlich falsch an, zu perfekt inszeniert, zu glatt. Die Worte des grauen Gentleman hallen in mir nach: In unserer Welt landet man nicht zufällig. Aber was, wenn ich doch zufällig hier bin? Oder schlimmer noch, in ein Spiel geraten bin, das ich nicht verstehe?
Ich spüre den Drang, die frische Luft der Straße einzuatmen und mich von der drückenden Atmosphäre zu befreien. Als ich die großen, schweren Türen nach draußen schiebe, weicht die Wärme des Gebäudes schlagartig der kühlen Abendluft. Ein Moment der Erleichterung durchströmt mich, doch er wird abrupt unterbrochen, als ich plötzlich gegen jemanden pralle.
„Oh – Entschuldigung“, stammele ich und sehe auf, nur um in ein paar tief liegende, geheimnisvolle sehr grüne Augen zu blicken. Der Mann vor mir hebt gerade sein Handy ans Ohr und wirkt dabei überrascht, mich zu sehen. Eine dunkle Strähne fällt ihm lässig über die Stirn, und die Art, wie er mich mustert – fast ein wenig belustigt und doch mit einer unergründlichen Tiefe – lässt mich innerlich innehalten. Er trägt Jeans und ein dunkles Hemd, die Ärmel locker hochgekrempelt, und hat eine Ausstrahlung, die so gar nicht in das Bild der Gäste auf der Party passt.
„Kein Problem“, murmelt er und steckt das Handy zurück in die Tasche, ohne das Gespräch fortzusetzen. Einen Moment lang stehen wir uns einfach gegenüber, als würde keiner von uns genau wissen, was er sagen soll. Dann bemerke ich, dass seine Augen mich auf eine Art und Weise mustern, als wüsste er etwas über mich, das ich selbst noch nicht begreife.
„Livia, richtig?“ Seine Stimme ist leise, ein wenig rau, und als er meinen Namen ausspricht, klingt es fast wie eine Warnung.
Ich fühle, wie mein Herz einen Schlag aussetzt. „Woher kennst du meinen Namen?“ Ich versuche, die Unsicherheit aus meiner Stimme zu verbannen, doch seine Präsenz bringt mich aus dem Gleichgewicht.
Er lächelt schief, fast entschuldigend, und seine Augen funkeln im Licht der Straßenlaternen. „In diesem Spiel kann man nicht viel verbergen. Vor allem keine Namen.“ Sein Lächeln verblasst, und eine leichte Müdigkeit legt sich über seine Züge, als trage er etwas mit sich, das ihn unauslöschlich geprägt hat.
Ich schlucke und versuche, meine innere Faszination unter Kontrolle zu halten. „Dann kannst du mir deinen ja verraten“, sage ich, und in meiner Stimme liegt ein Hauch von Trotz.
Er neigt den Kopf, sein Blick wandert kurz über die schattigen Gebäude von Back Bay, bevor er sich wieder mir zuwendet. „Ich gebe dir einen Rat, Livia. Einige Fragen bringen dich an Orte, an die du gar nicht willst.“
Ich spüre, wie sich ein unbehagliches Kribbeln in meinem Inneren ausbreitet, doch ich will ihm nicht nachgeben. „Vielleicht ist das genau der Ort, an dem ich sein will.“
Sein Blick hält meinen fest, und für einen Moment scheint er nach Worten zu suchen. Schließlich nickt er langsam. „Dann hoffe ich, du bist stark genug, um zu bleiben. Denn hier gibt es keinen einfachen Weg raus.“
Er lässt mich stehen, und ich sehe ihm nach, wie er die Straße hinuntergeht und schließlich in der Dunkelheit verschwindet. Zurück bleibt ein unbestimmtes Gefühl in meiner Brust – ein Mix aus Faszination, Unbehagen und einem unstillbaren Drang, das Geheimnis hinter seinen Worten zu ergründen. Es ist, als hätte er mir einen Schlüssel in die Hand gedrückt, der eine Tür öffnen könnte, die ich vielleicht besser verschlossen lassen sollte.
Ich starre in meinen Kleiderschrank und schüttle innerlich den Kopf. Eine Routine, die mich jeden Morgen auf die gleiche Weise nervt. Von den paar Hemden und Hosen, die mir gehören, habe ich die meisten schon zu oft getragen – Uni-Uniformen, die mir das Gefühl geben, zu verschwinden, nicht aufzufallen. Ich seufze, ziehe mir ein schlichtes schwarzes Shirt über und schlüpfe in meine Lieblingsjeans. Nicht unbedingt aufregend, aber funktional. Schließlich bin ich hier, um etwas zu erreichen, nicht um aufzufallen.
Journalismus. Ein Fach, das mir mehr Freiheit und Macht gibt, als ich es in meinem bisherigen Leben je hatte. Die Möglichkeit, Geschichten aufzudecken und Wahrheiten ans Licht zu bringen, ist das Einzige, das mich wirklich antreibt. Dass ich so hart an meinem Studium arbeite, ist weniger eine Wahl als eine Überlebensstrategie. Es ist mein Weg, aus der Unsichtbarkeit herauszutreten und für etwas zu stehen.
Die Kontakte, die ich gestern Abend in Back Bay knüpfen konnte... Sie alle könnten für meine weitere berufliche Zukunft so so wertvoll sein. Diane Hargrove, Dr. Whitaker, Judge Irving... Diane – sie sagte tatsächlich, ich solle sie Diane nennen – sagte, bevor ich mich verabschiedete – ich solle mich bei ihr melden, wenn sie irgendetwas für mich tun könne.
Das ging zu leicht, oder?
Eine Party, und man war dabei?
Ich greife nach meiner Tasche und trete in die morgendliche Frische. Der Himmel ist wolkig, und ein graues Licht fällt auf die Stadt, als ich zur U-Bahn laufe. Der Zug ist voll, doch ich finde einen Stehplatz an der Tür und stütze mich mit einer Hand am Griff ab. Die Menschen um mich herum sind in ihre Handys oder Zeitungen vertieft, und für einen Moment bin ich einfach Teil dieser Masse, unsichtbar und anonym. Doch innerlich, während die Bahn ratternd durch den Tunnel fährt, spüre ich das leise Kribbeln der Erwartung – dass ich bald nicht mehr nur zuschauen, sondern mitwirken werde. Vielleicht. Ganz vielleicht.
An der Haltestelle steige ich aus und gehe zur Rolltreppe. Direkt an der Straßenecke liegt mein Lieblingscafé „The Roost“, ein kleiner, unauffälliger Coffeeshop mit einem handgeschriebenen Menü an der Wand und einem Tresen voller Croissants und Muffins.
„Morgen, Livia“, sagt Mira, als sie mich sieht, und schiebt mir ohne Nachfrage einen Coffee-to-go über den Tresen.
„Danke, Mira.“ Ich lächle kurz, nehme den Becher und atme den warmen, bitteren Duft ein, bevor ich einen großen Schluck nehme. Schwarz, heiß und intensiv – genau das, was ich brauche, um mich zu fokussieren und die Hektik des Morgens abzustreifen.
Mit dem Becher in der Hand gehe ich die letzten Schritte bis zur Uni. Während ich mich durch die Menge der Studenten schlängle, denke ich wieder an die Party und die Einladung, die vor ein paar Tagen in meiner Post war. Es fühlt sich wie ein Spiel an, eines, das ein bisschen zu groß für mich ist, und doch kribbelt mir der Gedanke, es einfach zu wagen und mitzuspielen.
Als ich die Uni betrete, hallen die Schritte der ersten Studenten leise durch die langen Gänge. Ich habe mich hier immer wohlgefühlt, mit dem Geruch von Büchern und dem Murmeln der Gespräche, die durch die Flure dringen. Aber heute ist etwas anders, wie ein leises Summen in der Luft, das ich nicht recht einordnen kann.
Ich gehe auf meinen Hörsaal zu, als ich ihn bemerke – den Mann von der Party. Grayson Rutherford steht mit dem perfekt sitzenden Anzug in einem der Gänge, die zum Hörsaal führen, die Hände lässig in den Taschen seines Mantels vergraben. Er sieht aus, als würde er hierhergehören, was mich irritiert. Es wirkt, als wäre er der Gastgeber und nicht ein Fremder.
Ich gehe auf ihn zu und bleibe kurz stehen, unsicher, was ich sagen soll. Aber er nimmt mir das Sprechen ab. „Livia“, sagt er, mit einer fast unmerklichen Neigung des Kopfes, als wäre das unser geheimes Zeichen. Seine Stimme ist ruhig und tief, und seine grauen Augen mustern mich so genau, dass ich mir unwillkürlich überlege, ob ich irgendetwas übersehen habe.
„Was machen Sie hier?“
„Sie waren gestern Abend so schnell verschwunden, dass wir uns nicht mehr verabschieden konnten.“ Er tritt auf mich zu und lächelt charmant. „Wie bedauerlich“, fügt er hinzu. „Dabei hätte ich gerne unsere Unterhaltung fortgesetzt.“
Ein Teil von mir fühlt sich geschmeichelt, ein anderer ist misstrauisch. „Wie kommen Sie hierher?“, frage ich, ein bisschen überrascht, aber auch neugierig.
„Ich habe das Gefühl, dass Sie auf der Party nach Antworten gesucht haben,“ sagt er, seine Augen lassen nicht von mir ab. „THE VEIL schätzt Menschen, die die richtigen Fragen stellen.“
Ich zögere und versuche, einen kühlen Gesichtsausdruck zu bewahren. „THE VEIL?“
„Davon würde ich Ihnen gern mehr erzählen. Heute Abend, 20 Uhr, in Back Bay? Die Adresse kennen Sie ja.“ Er lächelt, dreht sich um und geht.
Ich stehe immer noch da und sehe ihm nach, obwohl er schon längst um die Ecke verschwunden ist, als Leyla, meine Mitbewohnerin, mich entdeckt. Wir sind im gleichen Journalismus-Kurs. Sie mustert mich neugierig, als hätte sie einen Schatz gefunden.
„Livi,“ ruft sie mit einem breiten Lächeln. „Sag mal, wer war der Hottie?“
Ich schnaube und zucke mit den Schultern, unsicher, was ich antworten soll. „Das war... Grayson Rutherford“, sage ich zögernd, merke, wie sein Name seltsam auf meiner Zunge liegt. Grayson Rutherford. Es klingt nach einer Figur aus einem Roman, jemandem, der Welten in sich trägt, die für mich unerreichbar bleiben.
„Und den kennst du von? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Leyla kichert.
„Von dieser Veranstaltung mit Carter.“
„Für die ich dir das Kleid geliehen habe?“ Sie runzelt die Stirn. „Ich dachte, das wäre ein Uni-Ding gewesen.“
„Dachte ich auch“, murmele ich nachdenklich.
„Es kann definitiv nicht mit der Uni zu tun gehabt haben, wenn da so heiße Typen rumgelaufen sind! Der Typ sieht aus, als hätte er die ganze Welt in der Tasche.“
Ich zucke die Schultern. „Er ist... schwer einzuschätzen“, sage ich und merke, dass das eine Untertreibung ist. Es liegt etwas an ihm, das ich nicht greifen kann, eine kühle Distanz, die mich gleichzeitig abstößt und anzieht.
Der Regen prasselt leise auf meinen roten Regenschirm, als ich das Stadthaus in Back Bay erreiche. Es ist das gleiche Gebäude, das mich gestern so fasziniert hat – doch diesmal ist es still, kein Gedränge, kein Gelächter. Nur gedämpftes Licht und diese absolute Stille, die mich nervös macht. Ohne die festliche Beleuchtung wirkt das Gebäude düsterer und bedrohlicher, als ich es gestern wahrgenommen habe. Es ist üppig ausgestattet, die Kunstwerke, die überall an den Wänden hängen, sind auch heute noch beeindruckend, jetzt – wo nichts mehr von der Party zeugt. Ich atme tief durch und drücke die schwere Tür auf, betrete in Begleitung eines Butlers durch die Eingangshalle den Raum, in dem gestern die Party stattfand.
Grayson wartet bereits auf mich. Er sitzt in einem breiten Ledersessel in der Mitte des Raumes, entspannt, die Hände locker auf den Armlehnen. Seine meergrünen Augen mustern mich, ohne eine Spur von Emotion. Als ob er genau weiß, was ich hier will und warum ich gekommen bin. „Livia,“ begrüßt er mich knapp und zeigt auf den Sessel gegenüber. „Setz dich.“
Setz dich. Okay, wir sind also zum Du übergegangen.
Ich zögere kurz, dann setze ich mich. Die Ruhe in seiner Stimme und der Raum, der mir so unnahbar vorkommt, machen mich unruhig. Seit der Party schwirrt mir sein Name im Kopf herum, zusammen mit all den unausgesprochenen Andeutungen und dem Geheimnisvollen, das er verkörpert. Heute will ich Antworten.
„Du suchst nach etwas, das nur wenige wirklich finden wollen,“ beginnt Grayson, ohne lange um den heißen Brei herumzureden.
„Das da wäre?“
„Anerkennung. Ruhm. Das wollen alle. Was dich von ihnen unterscheidet, Livia, ist, dass du bereit bist, sehr hart dafür zu kämpfen.“
Ich starre ihn an, will fragen, woher er das wissen will, aber etwas in mir sagt mir, dass er es weiß. Er weiß, wie hart ist für meinen Highschool-Abschluss gekämpft habe. Er weiß, dass ich die Beste war. Dass ich besser war, als andere im County.
weiß, wie hart die Umstände waren. Es ist sein Blick, die Härte darin, die mir verrät, dass er es wirklich weiß.
„Du gehörst zu den besten 5 Prozent in deinem Jahrgang. Zur Elite. Wir sind die Elite.“ Er lässt eine bedeutungsschwere Pause. „Wir bieten dir Zugang zu uns. Zu THE VEIL.“ Er lächelt.
Die Worte THE VEIL lassen meinen Puls steigen. Die Gerüchte, das Geflüster, das ich in den letzten Wochen, Monaten, mitgehört habe – könnte das alles wahr sein? Gerüchte von einem Netzwerk von Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und supporten. Die dafür sorgen, dass die richtigen Leute die richtigen Supporter kennenlernen, um so Erfolg zu haben. Die Fäden in der Hand halten, die Entscheidungen treffen, von denen die meisten nicht einmal träumen würden.
„Aber-“ Ich versuche, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. „Ich meine, warum ich?“
„Du bist klug, eloquent, scharfsinnig. Nicht zu vergessen... schön.“ Er lächelt und sein Blick gleitet bewundernd an meinem Körper hinab. „Du warst... die logische Wahl.“
Ich bin überfordert. Meine Finger krallen sich in das weiche Leder des Clubsessels, in dem ich sitze und bin dankbar, dass er mir aus der Kristallkaraffe auf dem Tisch ein Glas Wasser eingießt. „Und... was... erwartet ihr... als Gegenleistung?“ Ich wähle meine Worte vorsichtig, obwohl mein Herz längst entschieden hat, dass ich das herausfinden will. Es gibt nichts im Leben umsonst.
„Ich will, dass du deine Fähigkeiten für etwas... Größeres nutzt,“ sagt Grayson ruhig.
Ich fühle, wie meine Hände leicht zittern, halte sie aber in meinem Schoß fest. „Warum ich?“, frage ich erneut und hoffe, dass er mir eine Antwort gibt, die mich von meiner Nervosität befreit. „Ich bin keine Detektivin, Grayson. Keine Spionin.“
„Wir suchen weder das eine noch das andere“, antwortet er. „Du suchst nach etwas Größerem. Etwas, das über dich hinausgeht. Du willst Ruhm.“ Er lehnt sich ein Stück vor, und ich spüre, wie sein Blick tiefer in mich dringt, als könnte er jede Unsicherheit und jeden Zweifel sehen, die ich zu verbergen versuche.
Ich lasse seine Worte sacken. Will ich das? Ruhm? In erster Linie will ich als Journalistin arbeiten, mich der Wahrheit verpflichten. Und ja, sicher auch erfolgreich sein. Deshalb arbeite ich so hart.
„Ich habe ein Angebot, dir eine Tür in die Welt zu öffnen, in die du eintreten willst. Aber ich muss sicher sein, dass du loyal bist.“ Sein Blick brennt sich in mich ein und ich spüre ihn förmlich in meinem Unterleib. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt oder ob ich mich ihm ausgeliefert fühle. Es geht eindeutig eine sexuelle Energie von ihm aus, die irgendwie... ich weiß nicht. Ich rutsche nervös auf dem Sessel herum.
Ich finde das anziehend. Ich fühle mich zu seinem Angebot hingezogen, auch wenn ich nicht weiß, was genau er mir anbietet.
„Wir könnten einander nützlich sein. Wir – die Menschen, die diese Stadt formen – brauchen Menschen mit Talent und, nun ja, dem Mut, etwas Großes zu bewirken.“
„Was genau bedeutet das?“ Ich versuche, die Spannung in mir zu übergehen, als er milde lächelt.
„Das bedeutet, dass ich Türen öffnen kann. Türen, die Dir helfen könnten, zu finden, was Du suchst.“ Er lehnt sich ein Stück vor, sodass ich ihn beinahe riechen kann – einen kühlen Duft, ein wenig nach Bergamotte und dunkler Wald. Er riecht gut, angenehm. Als ob man in seinem Hals eintauchen möchte - was mich irritiert, den etwas an ihm lässt mich Abstand halten.
Die letzten Worte lassen eine kalte Welle durch mich rollen. „Welche Türen?“, murmle ich, unsicher, ob ich mich ihm gegenüber wirklich verpflichtet fühlen will.
„Zum Beispiel zum Globe…“ Er lässt das Ende offen, doch spüre ich das Gewicht seiner Worte.
Ich starre ihn mit offenem Mund an. Ist das sein Ernst? Er bietet mir die Chance, Eintritt zum Globe zu bekommen? „Wie... ein Praktikum?“
„Nun... so in der Art“, sagt er vage. „Ich denke, das sollten wir bei einem weiteren Treffen besprechen.“ Er lächelt einnehmend und steht auf.
Ich nicke langsam. Ein Praktikum beim Boston Globe wäre der Wahnsinn! Ich habe auf der Party bereits mit Diane Hargrove gesprochen, das wäre-
Ich habe vermutlich die Chance, eine Wahrheit zu finden, etwas Großes aufzudecken, das meine Karriere und vielleicht sogar mein Leben verändern könnte. Ein kleiner Teil in mir zögert noch, aber die Faszination ist zu stark. „Das wäre fantastisch,“ sage ich schließlich und halte seinem Blick stand.
Grayson erhebt sich und mustert mich noch einen Moment, dann nickt er. „Gut. Sehr gut.“ Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln wendet er sich ab und verschwindet leise in einem Nebenraum, als wäre er nie hier gewesen.
Ich verlasse verwirrt und mit klopfendem Herzen das Haus und trete hinaus in den Regen. Die kühle Luft schlägt mir entgegen, und ich atme tief ein. Ich spüre die Schwere des Versprechens, das er mir gegeben hat. Er wird mit Türen öffnen. Zum Globe. Das ist mein Moment – der erste Schritt auf einem Weg, der in eine Welt führt, die mir bisher verschlossen war.
Nach einer langen Vorlesung, die wie im Nebel an mir vorüberzieht, schnappe ich mir meine Tasche und gehe Richtung Campus-Ausgang. Ich brauche eine Pause, eine Auszeit von all den Gedanken, die mir seit der Begegnung mit Grayson durch den Kopf schwirren. Es ist dieser Sog, den ich nicht abschütteln kann, der Gedanke daran, etwas wirklich Großes aufdecken zu können – und das Gefühl, dass der Preis dafür vielleicht zu hoch sein könnte.
Ich gehe zur U-Bahn-Station und lasse mich von der Masse mitziehen. Sobald ich an meiner Lieblingshaltestelle angekommen bin, schlängle ich mich durch die Menschenmenge zum „Roost“. Im Inneren des Cafés strömt warmes Licht durch die großen Fenster und die Regale voller Bücher und Pflanzen werden in sanftes Leuchten getaucht.
„Morgen, Livia,“ sagt Mira mit einem Lächeln. Sie schiebt mir ohne Nachfrage einen schwarzen Coffee-to-go über den Tresen – heiß, stark und ohne Schnickschnack, genau wie ich ihn mag.
„Danke.“ Ich lächle kurz, nehme den Becher und atme den warmen, bitteren Duft ein. Der erste Schluck ist wie ein kleiner Energieschub, der sich in mir ausbreitet und meine Gedanken klärt.
Ich setze mich an einen der Holztische, lehne mich zurück und lasse meinen Blick durch das Café schweifen. Die Wände sind bedeckt mit handgeschriebenen Zetteln, kleinen Notizen und Kritzeleien, die die Besucher hinterlassen haben. Ich liebe die Einrichtung; eine seltsame Mischung aus Alt und Neu, Vintage und Boho. Es ist ein Ort, an dem man nicht nur Kaffee trinkt, sondern sich kurz aus der Hektik der Stadt herausziehen kann.
Gerade als ich mich zurücklehne und den nächsten Schluck Kaffee nehme, bemerke ich ihn. Der junge Mann von der Party. Er sitzt auf der anderen Seite des Cafés, ein Buch in der Hand, aber seine Augen wandern kurz zu mir, als ob er genau weiß, dass ich ihn entdeckt habe. Sein Blick ist schärfer, als ich es in Erinnerung habe, wie ein ständiger, innerer Alarm, der ihn wachsam hält.
Da ist etwas an ihm, das mich... anzieht. Er wirkt wie ein Schatten, den man nicht greifen kann – mit seinem zerzausten, dunklen Haar und dem leichten Bartschatten, der ihm etwas Raues verleiht. Seine Kleidung ist schlicht – Jeans, ein grauer Kapuzenpulli mit hochgekrempelten Ärmeln – und seine Haltung zeigt eine stille Wachsamkeit, als ob er jeden Moment bereit wäre, sich zu verteidigen. Etwas an ihm wirkt wie ein verborgener Abgrund, als ob er ständig an der Abbruchkante balancieren würde.
Er deutet auf den leeren Stuhl vor sich, und bevor ich es realisiere, habe ich meine Tasche gegriffen und gehe zu ihm hinüber.
„Also?“, beginne ich, als ich mich hinsetze. Es klingt fast wie eine Herausforderung, doch ich spüre mein Herz schneller schlagen.
„Wie meinen?“
„Dein Name.“
Er sieht mich an, und ein leichtes, fast abwesendes Lächeln huscht über sein Gesicht. „Mein Name ist nicht wichtig“, sagt er schlicht.
Ich kann nicht verhindern, dass ich lache. „Du weißt schon, dass die UN 1989 bei den Kinderrechtskonventionen beschlossenen hat, dass jeder das Recht auf einen eigenen Namen hat.“
Er grinst schief. „Ja, schon. Aber das bedeutet nicht zwingend, dass man ihn jedem verraten muss.“
„Pff“, mache ich und rolle die Augen. „Ich möchte trotzdem wissen, mit wem ich spreche.“
Er lehnt sich zurück, sein Blick bleibt jedoch auf mir haften.
„Nenn mit Donald.“
„Trump-Fan?“
„Donald Duck-Fan.“
Ich spüre, wie meine Neugier und mein Widerstand gegen sein Benehmen mich weiter in seine Nähe ziehen. Ich muss mir das Schmunzeln regelrecht verkneifen.
„Und warum sprichst du dann überhaupt mit mir?“, frage ich und versuche, mich nicht allzu herausgefordert zu fühlen.
Er sieht mich eine Weile an, bevor er antwortet. „Vielleicht bin ich an einer längeren Ausführung über die Kinderrechtskonventionen interessiert.“
Ich hebe eine Augenbraue, schiebe den Stuhl zurück und mache Anstalten zu gehen. „Vielleicht will ich ihn dir auch nicht sagen – zu deinem eigenen Schutz.“
„Weil du Dinge weißt, für die du mich töten müsstest.“
„So in der Art.“ Er lehnt sich lässig zurück und um seine Mundwinkel zuckt es.
Ich lehne mich ein Stück zurück und spüre die Härte des Stuhls gegen meinen Rücken. Das ist gut, denn das kleine Grübchen auf seiner Wange macht, dass ich ihn anstarre. Länger als mir lieb ist. Eine Stimme in meinem Inneren sagt mir, dass ich aufhören sollte, ihn weiter so anzusehen.
„Vielleicht bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen“, antworte ich und merke, dass meine Stimme rauer klingt als gewöhnlich. „Ich habe das Gefühl, dass du weißt, worauf ich mich eventuell einlasse. Und vielleicht könntest du mir helfen, das besser zu verstehen...“
Er beobachtet mich lange, sein Blick bleibt unergründlich. „Manche Dinge lassen sich nicht verstehen, bis man zu tief drin ist“, sagt er schließlich, seine Stimme ist leise, als würde er mit sich selbst sprechen.
„Das klingt… wie eine Warnung“, sage ich vorsichtig und spüre ein Kribbeln an meinem Hinterkopf.
Er zuckt mit den Schultern, doch sein Gesicht bleibt ernst. „Vielleicht ist es eine“, murmelt er. „Einige Leute bleiben für immer im Wald, ohne es überhaupt zu merken.“
„Welcher Wald?“ Ich hebe irritiert die Augenbrauen.
„Dem, in dem du dich verirren wirst.“ Er seufzt schwer. „Partys, Essen, Stars... Dieser Wald.“
„Und was ist mit dir?“, frage ich und suche in seinem Gesicht nach einem Hinweis auf die Dinge, die er nicht aussprechen will. „Du marschierst einfach so... durch den Wald der Stars und Sternchen? Mein Gott: bist du selbst ein Star?!“ Meine Stimme trieft vor Sarkasmus. Obwohl er gut aussieht, sehr gut, weiß ich, bin ich mir sicher, dass er nicht der Star eine C-Comedy auf Hulu ist.
Ein schwaches, bitteres Lächeln zuckt um seine Mundwinkel. „Manchmal hat man keine Wahl. Man wird in etwas reingezogen, und irgendwann kann man die Richtung nicht mehr ändern.“
Eine Stille legt sich über uns, und ich fühle das Gewicht seiner Worte, dieses unsichtbare Band, das uns verbindet, obwohl wir uns kaum kennen. Er scheint selbst überrascht über seine Worte zu sein, denn seine Miene verschließt sich und er schüttelt den Kopf. „Vergiss das.“
„Und wenn ich nicht will?“
„Wäre besser für dich.“ Er seufzt schwer und klappt sein Buch zu und steckt es, bevor ich einen Blick auf den Titel werfen kann, in seinen Rucksack.
Seine harten Worte treffen mich, und ein Knoten zieht sich in meiner Brust zusammen. Ich verstehe nicht, warum er so abwehrend ist und auch nicht, warum er mir seinen Namen nicht verrät.
„Und was, wenn ich es trotzdem nicht vergesse?“
Er steht mit einem Ruck auf, schultert seinen Rucksack und geht zur Tür. Dann bleibt er noch einmal stehen und sagt: „Dann läufst du demnächst durch den Wald und kommst nicht mehr hinaus.“
Zurück bleibe ich mit einem Becher kaltem Kaffee.
Die Mensa ist heute überfüllt, wie fast jeden Vormittag, und ich sitze mit einem Kaffee in der Hand an einem kleinen Tisch am Fenster. Um mich herum summt der Raum vor Gesprächen und dem leisen Klirren von Geschirr, doch das alles zieht wie ein ferner Klangteppich an mir vorbei. Mein Blick schweift gedankenverloren nach draußen, aber meine Gedanken kehren immer wieder zu den letzten Tagen zurück. Das Treffen mit Grayson und dem Fremden gestern hinterlassen spröde Gedankenkreise.
Plötzlich taucht ein Schatten am Rand meines Blickfeldes auf. Ich sehe auf und merke, wie mein Herz einen kleinen Sprung macht, als ich Professor Carter vor mir stehen sehe. Sie trägt wie immer ihre kantige, dunkel umrandete Brille und hat das Haar zu einem strengen Knoten gebunden, was ihrem Gesicht einen entschiedenen Ausdruck verleiht. Doch heute liegt in ihren Augen etwas anderes – eine Mischung aus Neugier und dieser feinen Überlegenheit, die ich schon immer an ihr bemerkt habe.
„Livia,“ sagt sie mit einem freundlichen, aber scharf analysierenden Lächeln und setzt sich direkt mir gegenüber. „Schön, Sie hier anzutreffen.“ Ihre Stimme ist ruhig, durchdringend und lässt keine Aufgeregtheit durchblicken, auch wenn ich das Gefühl habe, dass sie ganz genau weiß, wo ich letzte Nacht gewesen bin. Ihre Hände ruhen gefaltet auf dem Tisch, und sie mustert mich mit diesem forschenden Blick, der wie ein Scheinwerfer jeden Winkel ausleuchtet.
„Na? Wie hat Ihnen der Abend neulich gefallen?“, fragt sie mit einer beinahe beiläufigen Neugier, als wäre es nur ein höflicher Smalltalk zwischen zwei Menschen, die sich zufällig in der Mensa treffen.
Mein Mund fühlt sich trocken an, und ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. „Es war... beeindruckend,“ beginne ich vorsichtig und halte ihren Blick. Ihre Augen verengen sich leicht, und ich spüre, wie mein Puls ein wenig schneller wird. „Es war definitiv spannend, so viele Menschen kennenzulernen, die Einfluss haben.“
Professor Carter nickt und lässt ein fast zufriedenes Lächeln aufblitzen. Sie scheint die Antwort zu akzeptieren, als hätte ich genau das gesagt, was sie hören wollte. „Ja, das dachte ich mir,“ erwidert sie, ihre Stimme sanft und doch mit einem Unterton, der mehr verrät, als ich verstehen kann. „Solche Gelegenheiten sind selten, Livia. Manchmal bieten sie uns Einblicke, die man sonst nie erlangen würde. Nutzen Sie sie gut.“ Ihr Lächeln vertieft sich, und in ihren Augen blitzt eine geheimnisvolle Wärme auf, die ich mir nicht erklären kann.
Bevor ich etwas sagen kann, greift sie in ihre Tasche und zieht einen kleinen, schwarzen Umschlag hervor. Mit einer eleganten Bewegung legt sie ihn vor mich auf den Tisch. Der Umschlag ist nur ein paar Zentimeter breit und kaum dicker als eine Postkarte, doch er strahlt eine Schwere aus, die nichts mit seinem tatsächlichen Gewicht zu tun hat.
„Das hier wird Ihnen helfen, den nächsten Schritt zu machen,“ sagt sie leise, ihre Worte sind kaum mehr als ein Flüstern, doch sie treffen mich mit einer Intensität, die ich nicht erwartet habe. Ihre Augen sind wieder auf mich gerichtet, und ich habe das Gefühl, dass sie in mir nach etwas sucht, was ich selbst vielleicht noch nicht entdeckt habe.
Ich sehe auf den Umschlag und dann wieder zu ihr. „Danke, Professor Carter“, murmle ich und streiche mit den Fingerspitzen über das glatte, schwarze Papier. Es fühlt sich an, als würde ich ein Versprechen annehmen, das ich noch nicht ganz verstehe, und die Vorstellung daran lässt eine seltsame Mischung aus Aufregung und Unbehagen in mir aufsteigen.
Professor Carter nickt knapp, als wäre das Gespräch für sie abgeschlossen. „Ich habe das Gefühl, Sie werden sich gut einfügen“, sagt sie mit einem vagen, vielsagenden Lächeln, das in mir das Gefühl aufkeimen lässt, dass ich bereits Teil von etwas bin, ohne es je bewusst entschieden zu haben.
Mit diesen letzten Worten steht sie auf, wirft mir einen abschätzenden Blick zu und verlässt die Mensa, als hätte sie nur einen kurzen Zwischenstopp gemacht, um mir diesen Umschlag zu überreichen. Ihre Gestalt verschwindet im Gewimmel der Studenten, und für einen Moment bleibt ein merkwürdiges Vakuum in mir zurück. Die Tasse in meinen Händen hat längst ihre Wärme verloren, aber ich halte sie fest, als sei sie ein Anker in dieser sich seit Tagen ständig verschiebenden Welt.
Ich atme tief durch und versuche, mir die Ruhe zu bewahren, die ich äußerlich zur Schau trage, doch mein Inneres fühlt sich, wie ein angespannter Draht. Ich schiebe den schwarzen Umschlag in meine Tasche und zwinge mich dazu, den Rest meines kalten Kaffees zu trinken, auch wenn mir der Geschmack nun unangenehm herb vorkommt.
Um mich herum ist die Mensa unverändert, die Menschen plaudern, lachen, essen. Alles sieht so normal aus, so völlig losgelöst von dieser neuen Welt, die sich mir nun Stück für Stück öffnet.
Ich bleibe noch einen Moment sitzen, die Tasse in meinen Händen, die sich kühl und fremd anfühlt. Gedanken rasen durch meinen Kopf, und obwohl ich versuche, mich auf den Lärm um mich herum zu konzentrieren, merke ich, dass ich die Gespräche kaum noch wahrnehme. Die Worte von Professor Carter, das Gewicht des Umschlags in meiner Tasche – es ist, als hätte jemand leise, fast unbemerkt, eine Tür geöffnet, die sich nun nicht mehr schließen lässt.
Irgendwann erhebe ich mich, mein Kaffee ist längst leer, und ich schiebe das Tablett mechanisch in den Wagen. Als ich die Mensa verlasse, fühle ich mich beobachtet, als würden Augenpaare meinen Rücken durchbohren. Ein paar Schritte weiter drehe ich mich um, aber da ist niemand – nur ein paar Kommilitonen, die an einem Tisch sitzen und lachen.
Ich schüttle den Kopf über mich selbst und gehe weiter, doch meine Schritte sind schneller als sonst, ein unbewusster Reflex, der mir zeigt, dass ich innerlich auf der Flucht bin, ohne genau zu wissen, wovor. Im Schatten der hohen, schmiedeeisernen Lampe, die den Weg zum Ausgang beleuchtet, bleibe ich kurz stehen und greife nach meiner Tasche. Der Umschlag scheint dort regelrecht zu glühen, so präsent ist er mir.
Draußen schneidet mir die kühle Herbstluft scharf ins Gesicht. Ich atme tief ein, versuche, das mulmige Gefühl abzuschütteln, das sich in meinem Bauch ausbreitet. Die Bäume sind kahl, die Blätter längst gefallen und zu kleinen Haufen zusammengeschoben. Alles wirkt so ruhig, als wäre die Stadt in eine Art Wachtraum gehüllt – und doch scheint in der Luft ein Geheimnis zu liegen, das nur darauf wartet, sich mir zu offenbaren.
Mein Weg führt mich über den Campus, und schließlich, ohne bewusst zu wissen, wie ich hierhergelangt bin, stehe ich am Rand des kleinen Parks hinter der Bibliothek. Es ist ein Ort, an den kaum jemand geht, ein verstecktes Stück Grün zwischen den strengen, imposanten Bauten der Universität, das nur wenige kennen. Hier bin ich allein, und ich nutze die Gelegenheit. Ich greife in meine Tasche und ziehe den schwarzen Umschlag hervor.
Langsam öffne ich ihn und finde darin eine Karte, schlicht und in elegantem Schwarz gehalten, mit einer silbernen Prägung, die mir entgegenblitzt. Es ist eine Adresse, keine Namen, keine weiteren Hinweise, nur eine Uhrzeit: 19:00 Uhr. Mein Atem stockt. Die Adresse liegt in einem Viertel, das ich bisher nur aus Erzählungen kenne – ein Viertel, das in den Flüstertönen meiner Kommilitonen oft als der Treffpunkt der einflussreichen, aber auch der gefährlichen Kreise beschrieben wird.
Mit zitternden Fingern drehe ich die Karte um, doch auf der Rückseite finde ich nichts weiter als die feine, beinahe schon künstlerische Struktur des Papiers. Keine Erklärung, kein weiterer Hinweis. Nichts, was die Einladung greifbarer macht. Nur die schlichte, lautlose Botschaft, die mich auffordert, zu erscheinen.
Das Rauschen der Bäume im Wind und das ferne Murmeln der Stadt verschmelzen zu einem Klangteppich, der meinen Herzschlag übertönt. Eine Einladung – aber zu was? Zu einer weiteren Party?
Ich stecke die Karte zurück in den Umschlag und lasse ihn in meine Tasche gleiten. Ein kaltes, elektrisches Kribbeln zieht durch meine Arme, als ich die ersten Schritte zurück auf den Hauptweg mache. Ich weiß, dass es keinen Weg zurückgibt, dass ich diesen Pfad nun beschritten habe und die Frage, ob ich weitergehen soll, längst keine Wahl mehr ist.
Punkt 19 Uhr klingelt es an der Tür. Ich spähe aus dem Fenster in meinem Schlafzimmer auf die Straße und sehe eine schwarze Limousine am Straßenrand parken. „Fuck“, murmle ich und muss grinsen. Dieser Grayson Rutherford lässt nichts anbrennen. Vorfreude und ein leises Kribbeln breiten sich in mir aus, und der Gedanke daran, Teil von etwas Großem zu sein, verdrängt die Zweifel. Ich checke im Spiegel mein Outfit und gehe, als ich fertig bin, in die Küche, wo Leyla ihre Bücher auf dem Tisch ausgebreitet hat.
„Schick gekleidet, Livia“, sagt Leyla und hebt fragend eine Augenbraue. „Hast du ein Date?“
Ich lache leise und zucke die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher“, sage ich, „Eher... ein Treffen mit Leuten, die etwas einflussreicher sind als die üblichen Uni-Kontakte.“
Leyla grinst und lehnt sich auf ihren Stuhl zurück, so, dass sie aus dem Fenster schauen kann – und pfeift. „Eine Limousine, ja? Nicht übel.“
„Mal sehen,“ sage ich, obwohl das alles wie ein Abenteuer klingt, das ich nicht ganz verstehe. Doch der Gedanke daran, vielleicht bald zu einer der führenden Journalistinnen der Stadt zu werden, oder zumindest zu einer Journalistin der Stadt, gibt mir eine Art seltsamen Mut.
Am Spiegel an der Haustür werfe ich noch einen letzten Blick auf mein Outfit, atme tief durch und steige ein. Die Fahrt führt mich quer durch die Stadt, bis wir schließlich vor einer unscheinbaren Galerie halten, die von außen keinerlei Anzeichen der Exklusivität zeigt, die dahintersteckt.
Drinnen begrüßt mich Grayson, der in einem dunkelgrauen Anzug und mit einem unleserlichen Lächeln auf mich wartet. Seine Augen mustern mich kurz, dann streckt er mir eine Hand hin.
„Willkommen, Livia,“ sagt er und seine Stimme klingt so ruhig und kontrolliert wie immer. „Ich dachte, es ist Zeit, dass Sie ein paar unserer einflussreicheren Freunde kennenlernen.“
Noch einflussreicher, als die Gäste auf der Party? Ich schlucke und überlege, ob ich passend gekleidet bin. Obwohl ich mich zusammenreiße, kann ich die Aufregung nicht ganz verbergen. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen, als Grayson mich in einen Raum führt, dessen Wände mit Gemälden und Fotografien in gedämpften Farben bedeckt sind, während an den Ecken diskret Lampen leuchten. Der Raum ist mit leisen Stimmen und vereinzeltem Lachen erfüllt, und die Gäste bewegen sich in einer Art stiller Harmonie, als wären sie selbst ein Teil der ausgestellten Kunst.
Grayson führt mich durch die Menge und stellt mir verschiedene Menschen vor. Darunter ist Emilia Voss, die deutsche Sopranistin, die mit einem Cocktailglas in der Hand in einem Kreis einflussreicher Männer steht. Ihre Augen sind hell und wachsam, und in jedem ihrer Blicke liegt eine Art kalkulierte Berechnung. Daneben Clint Sax, ein Medienmogul, dessen schwere Hand auf meiner Schulter einen Moment zu lange verweilt, und Erik van Houten, der Formel-1-Weltmeister der frühen 2000er Jahre. Und dann René Dupont, ein weltbekannter Kunstsammler, der in seiner schwarzen Kleidung wie ein Schatten wirkt und nur mit einem flüchtigen Nicken grüßt. Ein Teil seiner Sammlung ist offenbar hier ausgestellt. Jeder von ihnen ist faszinierend und auf eine düstere Weise einschüchternd.
Während ich mich in dieser fremden Welt bewege, steigt in mir das Gefühl auf, dass das hier mehr ist als nur eine Einladung – es ist eine Prüfung. Ich muss zeigen, dass ich stark genug bin, um in dieser Welt mitzuspielen.
Ich stehe im Schatten an der Wand, weit genug entfernt, um unauffällig zu bleiben, aber nah genug, um jeden Schritt, den sie macht, zu beobachten. Die vertrauten Gesichter um mich herum wirken wie ein groteskes Schauspiel. Diese Menschen, die sich als Strippenzieher der Stadt sehen, die mit einem Lächeln ganze Existenzen formen oder zerstören können – jeder Einzelne von ihnen spielt seine Rolle perfekt. Ich kenne das Spiel, habe es durchschaut, doch ich kann es nicht ändern. Meine Anwesenheit hier stand nicht zur Wahl. Sie ist eine lästige Pflicht.