Good Girl, Bad Blood - Holly Jackson - E-Book + Hörbuch

Good Girl, Bad Blood Hörbuch

Holly Jackson

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Beschreibung

Endlich auf Deutsch! Der zweite Band der beliebten Krimireihe A GOOD GIRL'S GUIDE TO MURDER

Die New-York-Times-Bestsellerreihe, bekannt aus der Netflixserie Heartstopper

Seit sie den Mordfall an Andie Bell aufgeklärt hat, ist Pip geradezu berühmt. Vom Ermitteln hat sie trotzdem erst mal genug - lieber erzählt sie in einem True-Crime-Podcast mehr darüber, wie sie geholfen hat, den wahren Mörder Andies zu finden. Doch dann erfährt sie, dass ein Bekannter aus der Nachbarschaft verschwunden ist. Und weil die Polizei erst mal nichts unternimmt, fängt Pip doch wieder an, Fragen zu stellen. Schon bald sind die Fans ihres Podcasts live dabei, wie sie nicht nur dem Verschwinden von Jamie Reynolds auf den Grund geht. Es scheint, dass Pip mal wieder an den dunklen Geheimnissen von Little Kilton rührt. Und das bringt erneut auch sie selbst in große Gefahr ...

Alle Bände der Reihe:
Band 1: A Good Girl's Guide to Murder
Band 2: Good Girl, Bad Blood
Band 3: As Good as Dead

Für alle Fans von One of Us Is Lying, We Were Liars und Riverdale

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Zeit:10 Std. 52 min

Sprecher:Miriam Kaufmann

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungNachher und vorherEinen Monat späterDONNERSTAGEinsZweiFREITAGDreiSAMSTAGVierFünfSechsSiebenAchtSONNTAGSEIT 2 TAGEN VERMISSTNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnMONTAGSEIT 3 TAGEN VERMISSTSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnDIENSTAGSEIT 4 TAGEN VERMISSTZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigMITTWOCHSEIT 5 TAGEN VERMISSTFünfundzwanzigSechsundzwanzigDONNERSTAGSEIT 6 TAGEN VERMISSTSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigFREITAGSEIT 7 TAGEN VERMISSTVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigSONNTAG16 TAGE SPÄTERZweiundvierzigSAMSTAG6 TAGE SPÄTERDreiundvierzigDANKSAGUNG

Über dieses Buch

Endlich auf Deutsch! Der zweite Band der beliebten KrimireiheA GOOD GIRL'S GUIDE TO MURDER

Die New-York-Times-Bestsellerreihe, bekannt aus der NetflixserieHeartstopper

Seit sie den Mordfall an Andie Bell aufgeklärt hat, ist Pip geradezu berühmt. Vom Ermitteln hat sie trotzdem erst mal genug – lieber erzählt sie in einem True-Crime-Podcast mehr darüber, wie sie geholfen hat, den wahren Mörder Andies zu finden. Doch dann erfährt sie, dass ein Bekannter aus der Nachbarschaft verschwunden ist. Und weil die Polizei erst mal nichts unternimmt, fängt Pip doch wieder an, Fragen zu stellen. Schon bald sind die Fans ihres Podcasts live dabei, wie sie nicht nur dem Verschwinden von Jamie Reynolds auf den Grund geht. Es scheint, dass Pip mal wieder an den dunklen Geheimnissen von Little Kilton rührt. Und das bringt erneut auch sie selbst in große Gefahr …

Alle Bände der Reihe:

Band 1: A Good Girl's Guide to Murder

Band 2: Good Girl, Bad Blood

Band 3: As Good as Dead

Für alle Fans von One of Us Is Lying, We Were Liars und Riverdale

Über die Autorin

Holly Jackson hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Sie lebt in London, und wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, spielt sie am liebsten Computerspiele oder sucht nach Rechtschreibfehlern auf Verkehrsschildern. Nach dem NYT-Bestseller A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER haben auch die weiteren zwei Bücher rund um Pippa die Community begeistert.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2020 by Holly Jackson

Titel der englischen Originalausgabe, erschienen 2020:

»Good Girl, Bad Blood«

Originalverlag: Farshore, jetzt HarperCollins

Publishers Limited, l London Bridge Street, London SEI 9GF, United Kingdom.

Illustrationen zur Verfügung gestellt von HarperCollins Publishers Limited.

Cover Images © Shutterstock

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen // llustrations provided by HarperCollins Publishers Limited.Cover Images © Shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN978-3-7517-2794-5

one-verlag.de

luebbe.de

Für Benund sämtliche Versionen von dir in den letzten zehn Jahren.

Nachher und vorher

Man sollte meinen, dass man weiß, wie sich Mörder anhören.

Dass ihre Lügen eine andere Textur haben, kaum wahrnehmbar. Eine Stimme, die schwerer, schärfer und unsteter wird, wenn die Wahrheit unter die rissigen Ränder gleitet. Das würde man denken, oder nicht? Jeder glaubt, er würde es erkennen, wenn es drauf ankommt. Aber Pip hatte es nicht erkannt.

»Es ist eine Tragödie, was am Ende geschehen ist.«

Sie saß ihm gegenüber, sah in seine freundlichen Augen mit den Krähenfüßen, ihr Handy zwischen ihnen, das jeden Laut, jedes Luftholen und Räuspern aufzeichnete. Sie hatte ihm alles geglaubt, jedes Wort.

Pip glitt mit den Fingern über das Touchpad und spulte die Audioaufnahme wieder zurück.

»Es ist eine Tragödie, was am Ende geschehen ist.«

Elliot Wards Stimme erklang wieder aus den Lautsprechern und füllte das verdunkelte Zimmer. Füllte ihren Kopf.

Stopp. Klick. Wiederholen.

»Es ist eine Tragödie, was am Ende geschehen ist.«

Sie hatte es sich an die hundert Mal angehört. Vielleicht sogar tausendmal. Und da war nichts, kein Hinweis und keine Veränderung, als er zwischen Lügen und Halbwahrheiten hin und her wechselte. Der Mann, der für sie mal beinahe eine Vaterfigur gewesen war. Andererseits hatte auch Pip gelogen, nicht wahr? Sie konnte sich einreden, dass sie es getan hatte, um die Leute zu schützen, die sie liebte, aber war das nicht genau derselbe Grund, den Elliot angegeben hatte? Pip ignorierte die Stimme in ihrem Kopf; die Wahrheit war ans Licht gekommen, das meiste davon, und daran musste sie sich klammern.

Sie machte weiter, spielte den nächsten Teil, bei dem sich ihr die Härchen an den Armen aufstellten.

»Und denkst du, dass Sal Andie umgebracht hat?«, fragte Pips Stimme aus der Vergangenheit.

»… er war so ein liebenswerter Junge. Aber wenn man an die Beweise denkt, wüsste ich nicht, wie er es nicht gewesen sein sollte. Nein, so falsch, wie es sich anfühlt, denke ich wohl eher, dass er es getan haben muss. Es gibt keine andere Erklärung …«

Pips Tür wurde schwungvoll geöffnet.

»Was machst du?«, unterbrach sie eine Stimme, die sich zum Ende spöttisch hob, weil er verdammt gut wusste, was sie tat.

»Du hast mich erschreckt, Ravi«, antwortete sie genervt und schaltete rasch auf Pause. Ravi musste Elliot Wards Stimme nicht hören. Nie wieder.

»Du hockst hier im Dunkeln und hörst dir das an, aber ich bin der Gruselige?« Ravi schaltete das Licht ein. Der gelbe Schein spiegelte sich in dem dunklen Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er zog diese Grimasse, die nie ihre Wirkung verfehlte, und Pip grinste, weil sie nicht anders konnte.

Sie rollte von ihrem Schreibtisch zurück. »Wie bist du überhaupt reingekommen?«

»Deine Eltern und Josh waren gerade mit einer sehr eindrucksvollen Zitronen-Tarte auf dem Weg nach draußen.«

»Ach ja«, sagte sie. »Sie sind auf Nachbarnbegrüßungstour. Ein junges Paar ist gerade in das Haus der Chens weiter hinten eingezogen. Mum hat für sie gebacken. Die Greens … oder die Browns? Ich erinnere mich nicht mehr.«

Es war seltsam, sich eine andere Familie in dem Haus vorzustellen, sich auszumalen, wie neue Persönlichkeiten die alten Räume füllten. Pips Freund Zach Chen hatte immer dort gewohnt, vier Häuser weiter, seit Pip mit fünf Jahren hergezogen war. Es war kein richtiger Abschied gewesen, denn sie sah Zach noch täglich in der Schule, aber seine Eltern hatten beschlossen, dass sie nicht mehr in dieser Stadt wohnen konnten, nicht nach all dem Aufruhr. Und Pip war sich sicher, dass sie ihr einen Großteil an all dem Aufruhr anlasteten.

»Der Tisch ist übrigens für halb acht reserviert«, sagte Ravi, der plötzlich verlegen über seine Wörter stolperte. Pip sah ihn an. Er trug sein bestes Hemd, vorn in die Hose gesteckt, und … Waren das neue Schuhe? Sie konnte auch Aftershave riechen, als er auf sie zukam, dann jedoch abrupt stehen blieb, ohne sie auf die Stirn zu küssen oder ihr durchs Haar zu streichen. Stattdessen setzte er sich auf ihr Bett und bewegte die Hände unruhig.

»Also bist du fast zwei Stunden zu früh.« Pip lächelte.

»Ja.« Er hüstelte.

Warum war er so verlegen? Es war Valentinstag, ihr erster, seit sie sich kannten, und Ravi hatte für sie im The Siren reserviert, außerhalb der Stadt. Pips beste Freundin Cara war fest überzeugt, dass er Pip heute Abend bitten würde, seine feste Freundin zu sein. Sie hatte gesagt, dass sie darauf gewettet hatte. Allein bei dem Gedanken war etwas in Pips Bauch angeschwollen und hatte Hitze bis in ihre Brust verströmt. Doch vielleicht kam es nicht so. Der Valentinstag war auch Sals Geburtstag. Ravis älterer Bruder wäre heute vierundzwanzig geworden, hätte er es über achtzehn hinausgeschafft.

»Wie weit bist du?«, fragte Ravi mit einem Nicken zu ihrem Laptop, auf dem der Audioeditor Audacity den Bildschirm mit blauen Zackenlinien ausfüllte. Dort, in diesen blauen Linien, war die ganze Geschichte. Vom Beginn ihres Projekts bis zum Ende; jede Lüge, jedes Geheimnis. Sogar einige ihrer eigenen.

»Fertig«, sagte Pip und sah zu dem neuen USB-Mikrofon, das in ihren Computer eingestöpselt war. »Ich bin durch. Sechs Folgen. Bei einigen der Telefonbefragungen musste ich die Lärmunterdrückung aktivieren, damit sie besser klingen, aber es ist alles erledigt.«

Und in dem grünen Plastikordner neben dem Mikrofon waren die Freigabeformulare, die sie allen geschickt hatte. Sie waren unterschrieben zurückgekommen, sodass Pip nun die Erlaubnis hatte, die Aufzeichnungen für einen Podcast zu nutzen. Sogar Elliot Ward hatte eine Erklärung unterschrieben, von seiner Gefängniszelle aus. Zwei Leute hatten sich geweigert: Stanley Forbes von der Lokalzeitung und natürlich Max Hastings. Aber Pip brauchte ihre Stimmen nicht, um die Geschichte zu erzählen. Sie würde die Lücken mit den Eindrücken aus ihrem Produktionstagebuch füllen, die nun als Monologe aufgenommen waren.

»Du bist schon fertig?«, fragte Ravi, obwohl es ihn eigentlich nicht überraschen sollte. Er kannte sie doch, und das womöglich besser als irgendjemand sonst.

Es waren erst ein paar Wochen vergangen, seit sie in der Aula ihrer Schule gestanden und allen erzählt hatte, was wirklich geschehen war. Aber die Medien brachten die Story nicht richtig; immer noch blieben sie bei ihren alten Ansätzen, weil die sauberer waren. Dabei war der Andie-Bell-Fall alles andere als sauber gewesen.

»Will man, dass etwas richtig gemacht wird, muss man es selbst machen«, sagte Pip und blickte zu den Audio-Clips. Momentan konnte sie sich nicht entscheiden, ob sich dies hier wie ein Anfang oder ein Ende anfühlte. Doch sie wusste, was sie sich wünschte.

»Und was jetzt?«, fragte Ravi.

»Ich exportiere die einzelnen Dateien und lade sie eine nach der anderen bei SoundCloud hoch, einmal die Woche. Dann kopiere ich den RSS-Feed in die Podcast-Verzeichnisse wie iTunes und Stitcher. Aber ich bin noch nicht ganz fertig«, sagte sie. »Ich muss noch die Einleitung zu diesem Song aufnehmen, den ich auf Audio Jungle gefunden habe. Nur braucht man für die einen Titel.«

»Ah«, Ravi lehnte sich zurück, »wir sind noch titellos, Lady Fitz-Amobi?«

»Sind wir«, bestätigte sie. »Ich habe es aber auf drei Optionen eingeengt.«

»Sag mal.«

»Nein, dann wirst du fies.«

»Werde ich nicht«, versprach er und deutete ein winziges Lächeln an.

»Okay.« Sie schaute zu ihren Notizen. »Option A ist: Untersuchung eines Justizirrtums. Uaah, Ravi, ich kann dich lachen sehen!«

»Das war ein Gähnen, ich schwör’s.«

»Tja, Option B wird dir auch nicht gefallen, denn die ist Nachforschung zu einem abgeschlossenen Fall: Der Andie-Bell… Ravi, hör auf!«

»Was – tut mir leid, ich kann nicht anders«, sagte er und lachte, bis seine Augen glänzten vor Tränen. »Es ist bloß … bei all deinen Fähigkeiten, Pip, mangelt es dir an einem …«

»Mangelt?« Sie drehte ihren Stuhl zu ihm. »Mir mangelt es an etwas?«

»Ja«, antwortete er und hielt ihrem fast strengen Blick stand. »Pep. Du bist praktisch total peplos, Pip.«

»Ich bin nicht peplos!«

»Du musst die Leute ködern, sie neugierig machen. Bring da ein Wort wie ›morden‹ oder ›tot‹ rein.«

»Aber das ist Sensationsmache.«

»Und die willst du, damit die Leute tatsächlich zuhören«, sagte er.

»Meine Titel sind alle akkurat und …«

»Langweilig?«

Pip bewarf ihn mit einem gelben Textmarker.

»Du brauchst etwas, das sich reimt, oder eine Alliteration. Etwas mit …«

»Pep?«, fragte sie, wobei sie Ravis Stimme imitierte. »Dann denk du dir was aus.«

»Crime Time«, schlug er vor. »Nein, oh, Little Kilton … vielleicht Little Kill Town.«

»Iih, nein!«

»Du hast recht.« Ravi stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Dein einzigartiges Verkaufsargument bist im Grunde du. Eine Siebzehnjährige, die einen Fall aufklärt, den die Polizei lange für abgeschlossen gehalten hat. Und was bist du?« Er sah sie prüfend an.

»Mangelhaft, offensichtlich«, sagte sie übertrieben verärgert.

»Eine Schülerin«, überlegte Ravi laut. »Ein Mädchen. Ein Projekt. Oh, wie wäre es mit Project Murder and Me?«

»Nee.«

»Okay …« Er nagte an seiner Unterlippe, und Pips Bauch zog sich zusammen. »Also, etwas mit Mord, Morden oder Tod. Und du bist Pip, eine Schülerin und ein Mädchen, das gut ist in … oh, Shit«, sagte er plötzlich und riss die Augen weit auf. »Ich hab’s!«

»Was?«

»Ich habe es wirklich«, sagte er viel zu selbstzufrieden.

»Was denn?«

»A Good Girl’s Guide to Murder.«

»Neeeeiiiin.« Pip schüttelte den Kopf. »Das ist schlimm, viel zu bemüht.«

»Was redest du da? Es ist perfekt.«

»Good girl?«, fragte sie skeptisch. »Ich werde in zwei Wochen achtzehn, da werde ich jetzt nicht meine eigene Infantilisierung befeuern.«

»A Good Girl’s Guide to Murder«, wiederholte Ravi mit seiner tiefen Filmtrailer-Stimme, zog Pip von ihrem Stuhl und drehte sie zu sich.

»Nein«, sagte sie.

»Doch«, entgegnete er, legte eine Hand an ihre Taille und ließ seine warmen Finger ihre Rippen hinaufgleiten.

»Auf keinen Fall.«

A Good Girl’s Guide to Murder Review:Der neueste True-Crime-Podcast endet mit einem Gänsehaut-Finale

BENJAMIN COLLISh MARCH 28

Falls ihr Folge 6 von A Good Girl’s Guide to Murder noch nicht gehört habt, lest nicht weiter. Unten gibt es diverse Spoiler.

Natürlich wissen viele von uns, wie dieser Krimi endet, seit er im letzten November überall in den Schlagzeilen ausgeschlachtet wurde. Aber die Auflösung des Mordfalls war hier nicht die ganze Geschichte. Die wahre Story von A Good Girl’s Guide to Murder ist eine Reise gewesen, angefangen bei der Ahnung einer 17-jährigen Detektivin bezüglich eines abgeschlossenen Falls – den Mord an der jungen Andie Bell, der angeblich von ihrem Freund Sal Singh begangen wurde – bis hin zu einem verworrenen Netz aus dunklen Geheimnissen, die sie in ihrer Kleinstadt aufdeckt. Ständig wechselnde Verdächtige, Lügen und Wendungen.

In der letzten Folge fehlt es eindeutig nicht an Wendungen, als wir die Wahrheit erfahren, angefangen mit Pips schockierender Enthüllung, dass es Elliot Ward war, der Vater ihrer besten Freundin, der ihr während ihrer Nachforschungen die Drohbriefe geschickt hatte. Unumstößliche Beweise seiner Verstrickung und ein wahrhafter »Verlust der Unschuld« für Pip. Sie und Ravi Singh – Sals jüngerer Bruder und Co-Detektiv bei diesem Fall – hatten geglaubt, dass Andie Bell noch am Leben sein könnte und Elliot sie die ganze Zeit festhielt. Pip stellte Elliot Ward allein zur Rede und enthüllte die ganze Geschichte – in Wards Worten erzählt. Eine verbotene Beziehung zwischen Schülerin und Lehrer, angeblich von Andie initiiert. »Falls das stimmt«, lautet Pips Theorie, »denke ich, dass Andie aus Little Kilton wegwollte, besonders von ihrem Vater, der einer Quelle zufolge sehr kontrollierend war und sie emotional misshandelt hat. Vielleicht hatte Andie geglaubt, Mr. Ward könnte ihr einen Platz in Oxford beschaffen, wie Sal, sodass sie weit weg von zu Hause wäre.«

In der Nacht ihres Verschwindens war Andie bei Elliot Ward zu Hause. Sie haben sich gestritten. Andie stolperte und schlug mit dem Kopf gegen seinen Schreibtisch. Doch als Ward rauslief, um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen, verschwand Andie in der Dunkelheit. In den Tagen danach, als sie offiziell für vermisst erklärt wurde, bekam Elliot Ward Panik und glaubte, dass sie an der Kopfverletzung gestorben sei und die Polizei, wenn sie ihre Leiche fand, Beweise entdecken würde, die zu ihm führten. Seine einzige Chance war, ihnen einen glaubwürdigeren Verdächtigen zu liefern. »Er hat geweint, als er mir erzählte, wie er Sal Singh umgebracht hat«, sagt Pip. Ward ließ es wie Selbstmord aussehen und platzierte Beweise, damit die Polizei denkt, dass Sal seine Freundin und danach sich selbst getötet habe.

Doch Monate später sah Ward Andie am Straßenrand, dünn und abgerissen, und war schockiert. Sie war doch nicht gestorben. Ward konnte nicht zulassen, dass sie nach Little Kilton zurückkehrte, und so wurde sie für fünf Jahre zu seiner Gefangenen. In einer Wendung, die verrückter war als jede Fiktion, stellt sich allerdings heraus, dass die Person in Wards Loft nicht Andie Bell war. »Sie sah ihr so ähnlich«, behauptet Pip, »und sie hat mir sogar gesagt, sie sei Andie.« Aber in Wahrheit war sie Isla Jordan, eine verletzliche junge Frau mit einer Lernschwäche. Elliot hatte sich selbst – und Isla – die ganze Zeit eingeredet, dass sie Andie Bell sei.

Womit die letzte Frage blieb, was mit der echten Andie Bell passiert war. Unsere junge Detektivin kam der Polizei hier zuvor. »Es war Becca Bell, Andies kleine Schwester.« Pip hatte herausbekommen, dass Becca auf einer Party sexuell missbraucht worden war und Andie auf diesen Partys Drogen vertickt hatte, einschließlich Rohypnol, das bei Beccas Vergewaltigung eine Rolle gespielt haben soll. Als Andie an jenem Abend bei Ward war, hatte Becca vermeintlich Beweise im Zimmer ihrer Schwester gefunden, dass Max Hastings Rohypnol von Andie gekauft hatte und wahrscheinlich Beccas Vergewaltiger war (Max wird sich bald wegen mehrerer Vergewaltigungs- und Nötigungsklagen vor Gericht verantworten müssen). Doch als Andie wiederkam, reagierte sie nicht so, wie Becca gehofft hatte: Andie verbot ihrer kleinen Schwester, zur Polizei zu gehen, weil es sie in Schwierigkeiten bringen würde. Sie haben sich gestritten, sich gegenseitig geschubst, bis Andie bewusstlos auf den Boden fiel und sich übergab. Andies Autopsie, nachdem ihre Leiche letzten November endlich gefunden wurde, zeigte, dass »Andies Hirnschwellung von dem Schädeltrauma nicht tödlich war. Obwohl sie zweifellos zur Bewusstlosigkeit und dem Erbrechen geführt hatte, starb Andie Bell durch Ersticken – an ihrem eigenen Erbrochenen.« Becca erstarrte, sah Andie angeblich beim Sterben zu, viel zu geschockt und zu wütend, um ihrer Schwester das Leben zu retten. Danach hat sie die Leiche versteckt, weil sie Angst hatte, ihr würde keiner glauben, dass es ein Unfall gewesen war.

Und hier haben wir unser Ende. »Keine vorgefertigten Blickwinkel, keine Filter, nur die traurige Wahrheit, wie Andie Bell gestorben ist, wie Sal ermordet und als ihr Mörder dargestellt wurde und es jeder glaubte.« In ihrer vernichtenden Schlussfolgerung benennt Pip jeden, der für sie direkt oder indirekt schuld am Tod dieser beiden Teenager ist: Elliot Ward, Max Hastings, Jason Bell (Andies Vater), Becca Bell, Howard Bowers (Andies Drogendealer) und Andie Bell selbst.

A Good Girl’s Guide to Murder stürmte mit der ersten Folge vor sechs Wochen an die Chartspitze von iTunes, und wie es aussieht, wird der Podcast noch eine Weile dort bleiben. Nach der letzten Folge, die gestern Abend online ging, betteln die Hörer schon um eine zweite Staffel des Podcast-Hits. Doch in einem Statement, das Pip auf ihrer Website gepostet hat, schreibt sie: »Ich fürchte, meine Detektivtage sind vorbei und es wird keine zweite Staffel von AGGGTM geben. Dieser Fall hat mich fast verschlungen, was ich erst erkannt habe, als es vorbei war. Er wurde zu einer ungesunden Obsession, hat mich und Menschen um mich herum in ernste Gefahr gebracht. Aber ich werde diese Geschichte beenden und Updates zu den Prozessen und den Urteilen zu allen Beteiligten aufnehmen. Ich verspreche, dass ich bis zum allerletzten Wort an der Sache dranbleibe.«

Einen Monat später

DONNERSTAG

Eins

Es war noch da, jedes Mal, wenn sie die Haustür öffnete. Es war nicht real, das wusste sie, nur ihr Verstand, der die Lücke füllte, die klaffende Leere überbrückte. Sie hörte es: das Tapsen von Hundepfoten, die herbeigeeilt kamen, um sie zu begrüßen. Aber da waren keine, konnten keine sein. Bloß eine Erinnerung, der Geist eines Geräusches, das immer da gewesen war.

»Pip, bist du das?«, rief ihre Mutter aus der Küche.

»Ja, hi«, antwortete Pip und ließ ihren bronzefarbenen Rucksack in der Diele fallen, sodass die Schulbücher drinnen dumpf zusammenschlugen.

Josh war im Wohnzimmer, er hockte zwei Schritte vom Fernseher entfernt auf dem Fußboden und spulte sich durch die Werbung auf dem Disney Channel.

»Du kriegst noch viereckige Augen«, sagte Pip im Vorbeigehen.

»Und du einen viereckigen Hintern«, konterte Josh. Objektiv betrachtet war es eine furchtbare Retourkutsche, doch für einen Zehnjährigen kam sie ziemlich fix.

»Hi, Schatz, wie war die Schule?«, fragte ihre Mum, die aus einem geblümten Becher trank, als Pip in die Küche kam und sich auf einen der Barhocker am Tresen setzte.

»In Ordnung. Es war in Ordnung.« Die Schule war jetzt immer in Ordnung. Nicht gut, nicht schlecht. Eben in Ordnung. Pip streifte ihre Schuhe ab, deren Leder an ihren Füßen klebte, und ließ sie auf die Fliesen fallen.

»Ach, musst du deine Schuhe dauernd in der Küche lassen?«, fragte ihre Mum.

»Musst du mich dauernd dabei erwischen?«

»Ja, denn ich bin deine Mutter«, antwortete sie und versetzte Pip mit ihrem neuen Kochbuch einen leichten Klaps auf den Arm. »Oh, und, Pippa, ich muss mit dir über etwas reden.«

Sie hatte den vollen Namen benutzt – so viel Bedeutung in der zusätzlichen Silbe.

»Habe ich was angestellt?«

Ihre Mum beantwortete die Frage nicht. »Flora Green von Joshs Schule hat heute angerufen. Du weißt, dass sie die neue Lehrassistentin ist, oder?«

»Ja …« Pip nickte, damit sie fortfuhr.

»Joshua hat heute Probleme gemacht und wurde zur Direktorin geschickt.« Ihre Mum zog die Augenbrauen zusammen. »Anscheinend war Camilla Browns Anspitzer weg, und Josh hat angefangen, alle in der Klasse zu befragen, Beweise zu suchen und eine Verdächtigenliste zusammenzustellen. Er hat vier Kinder zum Weinen gebracht.«

»Oh«, sagte Pip, und erneut tat sich der Graben in ihrem Bauch auf. Ja, sie hatte Ärger. »Okay, okay, soll ich mit ihm reden?«

»Ja, das solltest du. Jetzt.« Ihre Mum hob den Becher an und schlürfte geräuschvoll.

Pip glitt mit einem angespannten Lächeln vom Hocker und ging zurück ins Wohnzimmer.

»Hi, Josh«, sagte sie munter. Sie hockte sich zu ihm auf den Fußboden und schaltete den Fernseher stumm.

»He!«

Pip beachtete ihn nicht. »Ich habe gehört, was heute in der Schule passiert ist.«

»Ach so, ja, es gibt zwei Hauptverdächtige.« Er sah sie an, und seine braunen Augen strahlten. »Vielleicht kannst du mir helfen …«

»Josh, hör mir zu.« Pip strich sich das dunkle Haar hinter die Ohren. »Detektivarbeit ist längst nicht so klasse, wie sie oft dargestellt wird. Tatsächlich ist sie … ziemlich übel.«

»Aber ich …«

»Hör einfach zu, okay? Wenn man herumschnüffelt, macht man die Leute um sich herum unglücklich. Und sich selbst auch.« Ihre Stimme verklang, sodass sie sich räuspern und wieder konzentrieren musste. »Erinnerst du dich, wie Dad dir erzählt hat, was mit Barney geschehen ist, warum ihm wehgetan wurde?«

Josh nickte. Seine Augen wurden größer und traurig.

»Das passiert, wenn man sich als Detektiv versucht. Andere um uns herum werden verletzt. Und man selbst verletzt sie, ohne es zu wollen. Man muss Geheimnisse wahren, obwohl man nicht sicher ist, dass man es sollte. Deshalb will ich es nicht mehr machen, und du solltest es auch nicht tun.« Die Worte plumpsten direkt in den Graben in ihrem Bauch, wo sie hingehörten. »Verstehst du das?«

»Ja …« Er nickte und hielt das »A«, bis es fließend in ein »Entschuldigung« überging.

»Ach was.« Sie umarmte ihn kurz. »Du musst dich nicht entschuldigen. Aber kein Detektivspielen mehr?«

»Nein, versprochen.«

Tja, das war leicht gewesen.

»Erledigt«, sagte Pip, als sie wieder in der Küche war. »Ich schätze, der verschwundene Anspitzer wird für immer ein Rätsel bleiben.«

»Ähm, vielleicht nicht«, entgegnete ihre Mutter mit einem sehr dürftig unterdrückten Grinsen. »Ich wette, das war Alex Davis, dieser kleine Satansbraten.«

Pip lachte schnaubend.

Ihre Mum kickte Pips Schuhe aus dem Weg. »Und hast du schon von Ravi gehört?«

»Ja.« Pip holte ihr Handy hervor. »Er hat gesagt, dass sie vor ungefähr einer Viertelstunde Schluss gemacht haben. Er kommt bald zur Aufnahme rüber.«

»Ist gut. Wie war es heute?«

»Er meint, es war heftig. Ich wünschte, ich könnte da sein.« Pip lehnte die Ellbogen auf den Tresen und stützte das Kinn auf die Hände.

»Kannst du nicht, weil du Schule hast«, sagte ihre Mum. Es war keine Diskussion, auf die ihre Mum sich wieder einlassen wollte, und das wusste Pip. »Und hat es dir nach Dienstag nicht gereicht? Mir auf jeden Fall.«

Dienstag war der erste Prozesstag gewesen, und Pip war als Zeugin der Anklage aufgerufen worden. Sie hatte ein neues Kostüm und eine weiße Bluse getragen, hatte Mühe gehabt, ihre unruhigen Hände so zu halten, dass die Geschworenen sie nicht sahen, und Schweiß war ihr über den Rücken gelaufen. Und die ganze Zeit hatte sie gespürt, wie er sie von der Anklagebank aus beobachtet hatte, als wäre sein Blick etwas Physisches, das ihr über die Haut kroch. Max Hastings.

Als sie ein einziges Mal zu ihm gesehen hatte, war ein hämischer Ausdruck in seinen Augen gewesen, den niemand sonst erkannt hätte. Jedenfalls nicht hinter dieser unechten Brille mit Fensterglas. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er wagen, sich hinzustellen und auf nicht schuldig zu plädieren, wo sie beide die Wahrheit kannten? Sie hatte eine Aufnahme von einem Telefonat, in dem Max zugab, Becca Bell unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Max hatte gestanden, als Pip ihm androhte, jedem seine Geheimnisse zu verraten: der Unfall mit Fahrerflucht und Sals Alibi. Aber es hatte so oder so keine Rolle gespielt, denn eine private Aufnahme war vor Gericht nicht als Beweismittel zulässig. Die Anklage musste sich mit Pips Erzählung von dem Gespräch zufriedengeben. Und sie hatte das Gespräch wiedergegeben, Wort für Wort … nun ja, abgesehen von dem Anfang natürlich und ebenjenen Geheimnissen, die sie wahren musste, um Naomi Ward zu schützen.

»Ja, es war furchtbar«, sagte Pip, »aber ich müsste trotzdem da sein.« Sollte sie. Sie hatte versprochen, diese Geschichte bis zum Ende zu verfolgen. Stattdessen war Ravi täglich auf der Zuschauergalerie und machte Notizen für sie. Weil die Schule nicht optional war, wie ihre Mum und die neue Schulleiterin sagten.

»Pip, bitte«, warnte ihre Mum sie. »Es ist im Moment so schon schwierig genug. Dann auch noch die Gedenkfeier morgen. Was für eine Woche!«

»Ja«, stimmte Pip ihr seufzend zu.

»Alles okay?« Ihre Mum blieb stehen und legte eine Hand auf Pips Schulter.

»Ja, immer doch.«

Ihre Mum glaubte ihr nicht ganz, wie Pip ihr anmerkte. Aber es war gleich, denn einen Moment später war das schnelle Klopfen von Fingerknöcheln an der Haustür zu hören: Ravis typisches Klopfsignal. Lang-kurz-lang. Wie üblich wurde Pips Herzschlag schneller, bis er dem Klopfrhythmus entsprach.

Dateiname:
A Good Girl’s Guide to Murder: Der Prozess von Max Hastings (Update 3).wav

[Jingle spielt]

Pip:Hallo und willkommen zurück bei A Good Girl’s Guide to Murder. Der Prozess von Max Hastings. Hier ist Pip Fitz-Amobi. Dies ist das dritte Update, also falls ihr die letzten beiden Mini-Folgen nicht kennt, hört sie euch bitte vorher an. Hier wollen wir alles besprechen, was heute passiert ist, am dritten Tag des Prozesses gegen Max Hastings, und bei mir ist Ravi Singh …

Ravi:Hallo.

Pip:… der den Prozess von der Zuschauergalerie aus beobachtet. Heute ging es mit der Aussage eines weiteren Opfers los, Natalie da Silva. Den Namen dürftet ihr kennen. Nat hatte mit meinen Nachforschungen zu dem Andie-Bell-Fall zu tun. Ich hatte erfahren, dass Andie sie in der Schule gemobbt und ihr sogar etwas vorgespielt hatte, um fiese Bilder von ihr zu bekommen und sie online zu stellen. Ich dachte, es könnte ein Motiv sein, und hielt Nat eine Weile für verdächtig. Das war natürlich völlig falsch. Heute hat Nat vor Gericht ausgesagt, wie sie am 24. Februar 2012 bei einer Party mutmaßlich unter Drogen gesetzt und von Max Hastings missbraucht wurde. Die Anklage lautet auf sexuellen Missbrauch und Körperverletzung durch Penetration. Also, Ravi, kannst du uns erzählen, wie ihre Aussage abgelaufen ist?

Ravi:Klar. Also, der Staatsanwalt hat Nat gebeten, den Zeitablauf des Abends zu schildern: Wann sie auf der Party ankam, das letzte Mal, dass sie auf die Uhr gesehen hatte, bevor sie anfing, sich benommen zu fühlen, wann sie am nächsten Morgen zu sich gekommen ist und das Haus verlassen hat. Nat hat gesagt, dass sie nur wenige, bruchstückhafte Erinnerungen hat, wie sie von jemandem in ein Hinterzimmer gebracht wurde, weg von der Party, und auf ein Sofa gelegt wurde. Sie fühlte sich wie gelähmt, war unfähig, sich zu bewegen, und jemand lag neben ihr. Ansonsten beschrieb sie, dass sie einen Blackout hatte. Und dann, als sie am nächsten Morgen aufwachte, war ihr furchtbar schlecht und schwindlig, als hätte sie den schlimmsten Kater aller Zeiten. Ihre Kleidung war verdreht, und ihre Unterwäsche fehlte.

Pip:Und nach dem, was der Fachzeuge der Staatsanwaltschaft am Dienstag über die Wirkung von Benzodiazepinen wie Rohypnol gesagt hat, stimmt die Aussage von Nat in weiten Teilen mit dem überein, was man nach der Verabreichung solch einer Droge erwarten sollte. Sie wirkt wie ein Sedativum und kann das zentrale Nervensystem beeinträchtigen, was Nats Lähmungsgefühl erklärt. Es fühlt sich beinahe an, als wäre man von seinem eigenen Körper losgelöst, als wollte er nicht mehr funktionieren und als wären die Gliedmaßen nicht mehr miteinander verbunden.

Ravi:Genau. Der Ankläger hatte den Fachzeugen mehrmals die Nebenwirkungen von Rohypnol wiederholen und erklären lassen, dass es zu Blackouts kommen kann, wie Nat beschrieben hat, oder retrograder Amnesie, was die Unfähigkeit bezeichnet, neue Erinnerungen zu schaffen. Und ich denke, der Ankläger wird die Geschworenen weiter an diesen Punkt erinnern wollen, weil er entscheidend für die Aussagen der anderen Opfer ist. Sie können sich nicht genau an das erinnern, was passiert ist, weil die Droge es verhindert hat.

Pip:Und genau das hat der Staatsanwalt auch schon bei Becca Bell immer wieder betont. Zur Erinnerung: Becca hat kürzlich ihr Plädoyer auf »schuldig« geändert und eine dreijährige Haftstrafe angenommen, obwohl ihre Verteidigung sicher war, sie könnten sie straffrei rausbekommen, in Anbetracht der Umstände und weil sie zur Zeit von Andies Tod minderjährig war. Und gestern hat Becca ihre Aussage per Video vom Gefängnis aus gemacht, in dem sie die nächsten achtzehn Monate verbringen wird.

Ravi:Richtig. Und wie bei Becca war der Ankläger auch heute sehr darauf erpicht zu betonen, dass sie beide am Abend des vermeintlichen Übergriffs nur ein alkoholisches Getränk getrunken hatten, womit übermäßige Trunkenheit ausgeschlossen werden kann. Vor allem sagte Nat aus, dass sie den ganzen Abend nur eine Flasche Bier getrunken habe. Und sie hat explizit erwähnt, wer ihr die Flasche bei ihrer Ankunft gegeben hatte. Es war Max.

Pip:Und wie hat Max reagiert, als Nat ihre Aussage machte?

Ravi:Von der Zuschauergalerie konnte ich ihn nur seitlich von hinten sehen. Aber er schien genau wie am Dienstag vollkommen ruhig, den Blick auf die Person im Zeugenstand gerichtet, als würde ihn interessieren, was sie sagt. Er trägt immer noch diese Brille mit dem dicken Rahmen, und ich bin mir sehr sicher, dass es keine geschliffenen Gläser sind – ich meine, meine Mutter ist Optikerin.

Pip:Und ist sein Haar immer noch lang und irgendwie verwuschelt wie am Dienstag?

Ravi:Ja, das scheint sein Image zu sein, und die Verteidiger haben sich offensichtlich darauf eingelassen. Teurer Anzug, unechte Brille. Vielleicht glauben sie, sein blondes, verwuscheltes Haar entwaffnete die Jury oder so.

Pip:Tja, bei einigen der neuesten Spitzenpolitiker auf dieser Welt wirkt das ja auch.

Ravi:Die Zeichnerin aus dem Gerichtssaal hat mich ein Foto von ihrer heutigen Zeichnung machen lassen. Wir dürfen es posten, nachdem die Presse es veröffentlicht hat. Man sieht Max dort sitzen, als sein Verteidiger, Christopher Epps, Nat im Zeugenstand ins Kreuzverhör nimmt.

Pip:Und wenn ihr euch das Bild ansehen wollt, findet ihr es im Zusatzmaterial auf dieser Website: agoodgirlsguidetomurderpodcast.com. Reden wir über das Kreuzverhör.

Ravi:Ja, das war ziemlich … übel. Epps fing mit einer Menge sehr persönlicher Fragen an. Was sie an dem Abend angehabt habe, ob sie sich absichtlich verführerisch angezogen habe. Er hat Fotos von Nat an dem Abend gezeigt, die online sind. Waren Sie in Max Hastings verliebt? Wie viel Alkohol trinken Sie normalerweise abends? Er hat auch ihre frühere Verurteilung wegen Körperverletzung ausgegraben und angedeutet, dass sie deswegen unglaubwürdig sei. Im Grunde war das Rufmord. Man konnte sehen, dass Nat wütend wurde, aber sie ist ruhig geblieben und hat sich einige Sekunden genommen, um durchzuatmen und einen Schluck Wasser zu trinken, bevor sie jede Frage beantwortet hat. Ihre Stimme hat allerdings gezittert. Es war richtig schlimm mit anzusehen.

Pip:Es macht mich wütend, dass so ein Kreuzverhör von Opfern erlaubt ist. Damit schiebt man die Beweispflicht auf sie ab, und das ist nicht fair.

Ravi:Kein bisschen fair. Danach hat Epps sie in die Zange genommen, weil sie nicht am nächsten Tag zur Polizei gegangen ist. Weil man, wäre sie innerhalb von zweiundsiebzig Stunden hingegangen, eine Urinprobe hätte nehmen und nachweisen können, ob sie überhaupt Rohypnol bekommen hatte, was, wie er behauptete, zu bezweifeln wäre. Nat konnte nur antworten, dass sie sich hinterher nicht sicher gewesen sei, weil sie sich an nichts erinnern konnte. Und da meinte Epps: »Wenn Sie sich an nichts erinnern können, woher wissen Sie dann, dass Sie den sexuellen Handlungen in der Nacht nicht zugestimmt haben? Oder dass Sie überhaupt mit dem Angeklagten interagiert haben?« Nat hat geantwortet, dass Max am Montag danach sehr zweideutige Bemerkungen gemacht und sie gefragt habe, ob sie genau solchen »Spaß« auf der Party gehabt habe wie er. Epps hat nicht lockergelassen. Es muss richtig anstrengend für Nat gewesen sein.

Pip:Anscheinend ist es seine Verteidigungsstrategie für Max, alle von uns als Zeugen zu diskreditieren. Bei mir war es seine Behauptung, dass es praktisch für mich sei, Max als männlichen Sündenbock zu benutzen, um Becca Bell und ihren vermeintlichen Totschlag zu verharmlosen. Dass alles Teil eines »aggressiven feministischen Narrativs« sei, das ich mit meinem Podcast verbreite.

Ravi:Ja, das scheint Epps’ Taktik zu sein.

Pip:Ich schätze, so eine aggressive Strategie kommt dabei heraus, wenn man einen Anwalt engagiert, der dreihundert Pfund die Stunde kostet. Aber Geld ist für die Hastings natürlich kein Problem.

Ravi:Am Ende spielt es keine Rolle, welche Strategie er nutzt – die Geschworenen werden die Wahrheit erkennen.

Dateiname:
Anhang zum Prozess gegen Max Hastings: Gerichtsskizze.jpg

Zwei

Wörter spalteten sich, rankten über die Lücken wie Efeu, als ihr Blick unscharf wurde und ihre Handschrift zu einem brodelnden Brei verschwamm. Pip sah auf die Seite, war aber nicht wirklich da. So war es jetzt: Riesige Löcher taten sich in ihrer Aufmerksamkeit auf, und sie fiel hinein.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, und die war nicht allzu lange her, in der sie einen Übungsaufsatz über die Eskalation des Kalten Kriegs spannend gefunden hätte. Sie hätte sich dafür interessiert, richtig interessiert. Das war die Pip von vorher, doch etwas hatte sich verändert. Hoffentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Löcher wieder füllten und eine neue Normalität einkehrte.

Ihr Handy summte auf dem Schreibtisch, und Caras Name leuchtete auf.

»Guten Abend, Miss Sweet F-A«, begrüßte Cara sie. »Bist du bereit für Netflix und Chillen in der Waagerechten?«

»Ja, CW, zwei Sekunden.« Pip nahm ihren Laptop und ihr Handy mit zum Bett und schlüpfte unter die Decke.

»Wie war der Prozess heute?«, fragte Cara. »Naomi wäre fast hingegangen, um Nat zu unterstützen. Aber sie hätte es nicht ertragen, Max zu sehen.«

»Ich habe gerade das nächste Update hochgeladen.« Pip seufzte. »Mich macht es so wütend, dass Ravi und ich bei den Aufnahmen so vorsichtig sein müssen, von ›vermeintlich‹ und ›angeblich‹ reden und alles vermeiden, was gegen die Unschuldsvermutung geht, obwohl wir wissen, dass er es getan hat. Er hat das alles gemacht.«

»Stimmt, das ist widerlich. Aber es ist okay, in einer Woche ist es vorbei.« Cara raschelte mit ihren Bettdecken, sodass es im Telefon knisterte. »Hey, rate mal, was ich heute gefunden habe!«

»Was?«

»Du bist ein Meme. Ein richtiges Meme, das Fremde auf Reddit posten. Es ist das Foto von dir mit DI Hawkins vor all den Pressemikros. Das, auf dem es aussieht, als würdest du die Augen verdrehen, während er redet.«

»Ich habe die Augen verdreht.«

»Und die Leute haben total witzige Bildunterschriften dazu. Es ist, als wärst du das neue ›Eifersüchtige Freundin‹-Meme. Bei diesem hier steht Ich neben dir, und neben Hawkins steht Männer erklären mir im Internet meinen eigenen Witz.« Sie schnaubte vor Lachen. »Ein Meme zu werden heißt, dass du es echt geschafft hast. Hast du noch von anderen Werbern gehört?«

»Hab ich«, antwortete Pip. »Einige Firmen haben wegen Sponsoring gemailt. Aber … ich weiß immer noch nicht, ob es richtig ist, von dem zu profitieren, was passiert ist. Ich weiß nicht, es ist mir einfach zu viel, darüber nachzudenken, erst recht diese Woche.«

»Verständlich. Was für eine Woche!« Cara hustete. »Also morgen, du weißt schon … die Gedenkfeier. Wäre es schräg für Ravi … und seine Eltern, wenn Naomi und ich da sind?«

Pip setzte sich auf. »Nein. Du weißt, dass Ravi nicht so denkt. Ihr habt doch schon darüber geredet.«

»Ja, ich weiß. Aber ich dachte nur, weil es morgen um das Gedenken an Sal und Andie geht. Jetzt, wo wir die Wahrheit kennen, ist es vielleicht komisch, wenn wir …«

»Ravi ist der Letzte, der jemals wollen würde, dass ihr Schuldgefühle wegen dem habt, was dein Vater mit Sal gemacht hat. Und seine Eltern denken genauso.« Pip machte eine kurze Pause. »Sie haben das selbst durchlebt und kennen das Gefühl besser als irgendwer sonst.«

»Ich weiß, nur …«

»Cara, es ist okay. Ravi wird wollen, dass ihr da seid. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sagen würde, Sal hätte Naomi dort gewollt. Sie war seine beste Freundin.«

»Okay, wenn du dir sicher bist.«

»Bin ich mir immer.«

»Stimmt. Du solltest mal über Glücksspiel nachdenken«, sagte Cara.

»Kann ich nicht. Meine Mum sorgt sich schon zu sehr wegen meiner potenziellen Suchtdisposition.«

»Naomis und meine Verkorkstheit helfen sicher, dich zu normalisieren.«

»Offensichtlich nicht genug«, sagte Pip. »Wenn ihr euch ein bisschen mehr anstrengen könntet, wäre es super.«

Es war Caras Art, durch die letzten sechs Monate zu kommen, ihre neue Normalität – sich hinter witzigen Bemerkungen zu verschanzen, bei denen andere zusammenzuckten und verstummten. Die meisten Leute wussten nicht, wie sie reagieren sollten, wenn jemand Witze über den eigenen Vater machte, der einen Menschen ermordet und einen anderen entführt hatte. Pip hingegen wusste genau, wie sie reagieren sollte: Sie versteckte sich ebenfalls hinter den Einzeilern, damit Cara immer jemanden direkt neben sich hatte. So half sie.

»Ich merk es mir. Obwohl ich nicht sicher bin, ob meine Grandma mehr aushält. Übrigens hat Naomi eine neue Idee: Offenbar will sie alle Sachen von Dad verbrennen. Die Großeltern haben natürlich abgelehnt und sofort unsere Therapeutin angerufen.«

»Verbrennen?«

»Ja, irre, oder?«, fragte Cara. »Sie würde bestimmt aus Versehen einen Dämon herbeirufen oder so. Ich sollte es ihm wahrscheinlich nicht erzählen. Er glaubt immer noch, dass Naomi irgendwann aufkreuzt.«

Cara besuchte ihren Dad alle vierzehn Tage im Woodhill-Gefängnis. Sie sagte, dass es nicht bedeute, sie würde ihm vergeben; aber schließlich sei er immer noch ihr Dad. Naomi hatte ihn noch kein einziges Mal besucht und sagte, sie würde es auch nie tun.

»Also, wann fängt die Gedenkfeier – warte kurz, Grandpa redet mit mir … ja?«, rief Cara, die Stimme vom Handy weg gerichtet. »Ja, ich weiß. Ja, bin ich.«

Caras Großeltern – die Eltern ihrer Mutter – waren letzten November zu ihnen ins Haus gezogen, damit Cara die ärztlich verordnete Stabilität bekam, bis sie mit der Schule fertig war. Doch der April war beinahe um, und die Abschlussprüfungen sowie das Ende der Schule rückten näher. Zu schnell. Und im Sommer würden sie das Ward-Haus zum Verkauf anbieten und mit den Mädchen zu sich zurück nach Great Abington ziehen. Wenigstens wären sie dort in der Nähe, wenn Pip mit dem Studium in Cambridge anfing. Aber Little Kilton war nicht Little Kilton ohne Cara, und Pip wünschte sich insgeheim, der Sommer käme nie.

»Okay. Gute Nacht, Grandpa.«

»Was war das?«

»Ach, du weißt schon. Es ist nach halb elf, also suuuuuperspät und längst ›Licht-aus-Zeit‹. Ich sollte seit Stunden im Bett sein und nicht mit meinen ›kleinen Freundinnen‹ quatschen. Plural. Wenn das so weitergeht, werde ich wohl nie eine feste Freundin finden, von mehreren ganz zu schweigen. Außerdem hat ungefähr seit dem siebzehnten Jahrhundert keiner mehr ›Licht-aus-Zeit‹ gesagt«, schimpfte sie.

»Na ja, die Glühbirne wurde 1879 erfunden, also …«

»Oh, bitte, hör auf! Hast du schon aufgerufen?«

»Fast«, antwortete Pip und strich über das Touchpad. »Wir sind bei Folge vier, oder?«

Sie hatten im Dezember damit angefangen, als Pip erstmals klar wurde, dass Cara nicht richtig schlief. Was eigentlich kein Wunder war; nachts im Bett kamen immer die schlimmsten Gedanken. Und Caras waren schlimmer als die der meisten anderen. Könnte Pip es doch nur hinbekommen, dass Cara nicht auf diese Gedanken hörte. Als sie Kinder waren, war Cara bei gemeinsamen Übernachtungen immer die Erste gewesen, die einschlief und deren leises Schnarchen den Rest der billigen Horrorfilme untermalte. Also versuchte Pip, jene Pyjamapartys wiederzubeleben, indem sie mit Cara telefonierte, während sie Netflix sahen. Es funktionierte. Solange Pip da war und zuhörte, schlief Cara irgendwann ein, sodass ihr Atmen durch das Telefon pfiff.

Jetzt machten sie es jeden Abend. Sie hatten mit Serien angefangen, von denen Pip zu Recht behaupten durfte, dass sie bildeten. Aber sie hatten schon so viel gesehen, dass der Anspruch ein wenig nachgelassen hatte. Zumindest bot Stranger Things noch ein wenig historischen Kontext.

»Okay, bereit?«, fragte Cara.

»Bereit.« Es hatte mehrere Versuche gebraucht, bis sie es hinbekamen, die Serie exakt synchron laufen zu lassen; Caras Laptop war ein wenig langsam, deshalb drückte sie »Play« bei eins und Pip bei los.

»Drei«, sagte Pip.

»Zwei.«

»Eins.«

»Los.«

FREITAG

Drei

Sie erkannte seine Schritte auf Teppich und auf Dielenboden, und genauso erkannte Pip sie jetzt auf dem Kies des öffentlichen Parkplatzes. Sie drehte sich um und lächelte ihm zu. Ravi beschleunigte seinen Gang auf ein Halblaufen in kleinen Schritten, wie er es immer machte, wenn er sie sah. Und jedes Mal brachte es Pip zum Strahlen.

»Hi, Sarge«, sagte er, wobei er ihr die Worte mit den Lippen auf die Stirn presste. Es war der allererste Spitzname, den er ihr gegeben hatte, und mittlerweile einer von Dutzenden.

»Alles okay?«, fragte sie, obwohl sie bereits wusste, dass es das nicht war. Er hatte zu viel Deo aufgetragen, und der Duft folgte ihm nun wie eine Nebelschwade. Allein das bedeutete, dass er nervös war.

»Ja, ich bin nur ein bisschen nervös«, antwortete Ravi. »Mum und Dad sind schon länger da, aber ich wollte vorher noch duschen.«

»Klar, und die Zeremonie fängt nicht vor halb acht an«, sagte Pip und nahm seine Hand. »Es sind bereits eine Menge Leute am Pavillon, könnten einige Hundert sein.«

»Jetzt schon?«

»Ja. Ich bin auf dem Weg von der Schule durch den Park gegangen, und da werden schon die Ü-Wagen von den Nachrichtensendern aufgebaut.«

»Bist du deshalb in Verkleidung?« Ravi zupfte grinsend an der flaschengrünen Kapuze von Pips Jacke, die sie aufgezogen hatte.

»Nur, bis wir an ihnen vorbei sind.«

Wahrscheinlich war es sowieso ihre Schuld, dass sie hier waren. Ihr Podcast hatte Sals und Andies Geschichte wieder aufleben lassen, insbesondere diese Woche, in der sich ihre Tode zum sechsten Mal jährten.

»Wie lief es heute bei Gericht?«, fragte Pip und ergänzte sofort: »Wir können morgen darüber reden, falls du nicht …«

»Nein, schon okay«, sagte er. »Ich meine, es war nicht okay. Heute hat ein Mädchen ausgesagt, das an der Uni im selben Wohnheim gewohnt hat wie Max. Sie haben ihren Notruf vom Morgen danach vorgespielt.« Ravi schluckte, weil er einen Kloß im Hals hatte. »Und in dem Kreuzverhör ist Epps auf sie losgegangen, war ja klar: kein DNS-Profil vom Spurensicherungsset für Sexualdelikte, keine Erinnerungen, solche Sachen. Ehrlich, wenn ich Epps zusehe, frage ich mich manchmal, ob ich wirklich Strafverteidiger werden will.«

Das war der Plan, den sie ausgearbeitet hatten: Ravi würde seine A-Level-Prüfungen als Privatschüler nachholen, wenn Pip ihre regulären Prüfungen hatte. Dann wollte er sich für eine sechsjährige juristische Ausbildung bewerben, die im September anfangen würde, wenn Pip an die Uni ging. »Ganz das Power-Paar«, hatte Ravi bemerkt.

»Epps ist einer von den Bösen«, sagte Pip. »Du wirst einer von den Guten.« Sie drückte seine Hand. »Bist du bereit? Wir können noch ein bisschen hier warten, falls du …«

»Ich bin bereit«, antwortete er. »Nur … ich … Bleibst du bei mir?«

»Natürlich.« Sie drückte ihre Schulter an seine. »Ich lasse nicht los.«

Der Himmel verdunkelte sich schon, als sie den knirschenden Kies hinter sich ließen und den weichen Rasen des Parks betraten. Rechts von ihnen kam eine kleine Gruppe aus Richtung Gravelly Way, alle auf dem Weg zum Pavillon auf der Südseite. Pip hörte die Menge, bevor sie etwas sah; das leise, lebendige Raunen, das nur auftritt, wenn man Hunderte von Leuten auf kleinem Raum zusammenbringt. Ravi umfasste Pips Hand fester.

Sie gingen um einen Hain von dicht an dicht stehenden Maulbeerbäumen herum, und nun war der Pavillon zu sehen, der sanft gelb leuchtete. Die Leute mussten angefangen haben, die Kerzen und Teelichte um den Bau herum anzuzünden. Ravis Hand in Pips begann zu schwitzen.

Pip erkannte einige Gesichter hinten in der Menge, als sie näher kamen: Adam Clark, ihr neuer Geschichtslehrer, stand neben Jill aus dem Café, und dort drüben waren Caras Großeltern, die ihr zuwinkten. Sie arbeiteten sich weiter vor, und als sich Leute zu ihnen umdrehten und sie sahen, traten sie auseinander, um Ravi und Pip Platz zu machen und sich hinter ihnen wieder zusammenzustellen, sodass sie den Rückweg blockierten.

»Pip, Ravi!«, erklang eine Stimme von links. Es war Naomi, die ihr Haar zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden hatte und angespannt lächelte. Sie stand mit Jamie Reynolds zusammen – dem älteren Bruder von Pips Freund Connor – und, wie Pip mit einem kleinen Ziehen im Bauch klar wurde, Nat da Silva. Ihr Haar wirkte im zunehmenden Zwielicht so weiß, dass es beinahe die Luft um sie herum erhellte. Sie waren alle im selben Schuljahr gewesen wie Sal und Andie.

»Hi«, sagte Ravi, was Pip aus ihren Gedanken riss.

»Hi, Naomi, Jamie«, sagte sie und nickte den beiden zu. »Nat, hi.« Sie verstummte, als Nat sie mit ihren blassblauen Augen ansah und sich ihr Blick verhärtete. Um sie herum schien das Leuchten zu ersterben und kalt zu werden.

»Entschuldige«, sagte Pip. »I-ich … wollte nur sagen, wie leid es mir tut, dass du das durchmachen musstest, d-den Prozess gestern. Aber du hast es sagenhaft gut gemacht.«

Nichts. Nichts außer einem Zucken in Nats Wange.

»Und ich weiß, dass diese Woche und die nächste furchtbar für dich sein müssen, aber wir kriegen ihn. Das weiß ich. Und falls ich irgendwas tun kann …«

Nat sah von Pip weg, als wäre sie gar nicht da. »Okay«, sagte sie scharf, während sie in die andere Richtung blickte.

»Okay«, wiederholte Pip leise und sah wieder zu Naomi und Jamie. »Wir gehen lieber weiter. Bis später.«

Sie bewegten sich durch die Menge, und als sie weit genug weg waren, flüsterte Ravi ihr ins Ohr: »Ja, sie hasst dich definitiv immer noch.«

»Weiß ich.« Und sie verdiente es, wirklich; sie hatte Nat für eine Mordverdächtige gehalten. Warum sollte Nat sie nicht hassen? Pip war kalt, doch sie packte Nats Blick in den Graben in ihrem Bauch, zusammen mit dem Rest jener Gefühle.

Sie entdeckte Caras unordentlichen dunkelblonden Haarknoten, der die anderen Köpfe in der Menge überragte, und zog Ravi mit sich dorthin. Cara stand mit Connor zusammen, der eifrig mit dem Kopf nickte, während sie redete. Neben ihnen, die Köpfe beinahe zusammengepresst, waren Ant und Lauren, die inzwischen für alle zu Antlauren in einem Wort verschmolzen waren, weil sie nie mehr getrennt gesehen wurden. Nicht mehr, seit sie richtig zusammen waren und nicht länger angeblich zusammen wie vorher. Cara sagte, es hätte auf der Houseparty angefangen, auf der sie alle im letzten Oktober gewesen waren, als Pip noch undercover war. Kein Wunder, dass sie nichts mitbekommen hatte. Zach stand auf ihrer anderen Seite, unbeachtet und linkisch mit seinem pechschwarzen Haar spielend.

»Hi«, sagte Pip, als sie mit Ravi den äußeren Kreis der Gruppe durchbrach.

»Hi«, antworteten sie leise im Chor.

Cara blickte zu Ravi auf und zupfte nervös an ihrem Kragen. »Ich, ähm … mir … Wie geht es dir? Entschuldige.«

Cara fehlten nie die Worte.

»Ist schon okay«, antwortete Ravi und ließ Pips Hand los, um Cara zu umarmen. »Ganz ehrlich.«

»Danke«, sagte Cara leise und blinzelte Pip über Ravis Schulter hinweg zu.

»Oh, seht nur«, zischte Lauren, die Pip anstupste und betont in eine Richtung sah. »Da sind Jason und Dawn Bell.«

Andies und Beccas Eltern. Pip folgte Laurens Blick. Jason hatte einen eleganten Wollmantel an, der zweifellos zu warm für den heutigen Abend war, und führte Dawn auf den Pavillon zu. Dawns Augen waren auf den Boden gerichtet, auf all die körperlosen Füße, und ihre Wimperntusche war verklumpt, als hätte sie bereits geweint. Hinter Jason, der sie an der Hand mit sich zog, sah sie sehr klein aus.

»Habt ihr es schon gehört?«, fragte Lauren, die der Gruppe bedeutete, näher zusammenzurücken. »Anscheinend sind Jason und Dawn wieder zusammen. Meine Mum sagt, seine zweite Frau lässt sich von ihm scheiden, und anscheinend ist Jason wieder in das Haus zu Dawn gezogen.«

Das Haus. Das Haus, in dem Andie Bell auf den Küchenfliesen gestorben war, während Becca dabeistand und zuschaute. Wenn es stimmte, fragte Pip sich, wie viel Mitspracherecht Dawn bei dieser Entscheidung gehabt hatte. Nach allem, was sie im Zuge ihrer Nachforschungen über Jason gehört hatte, war sie nicht sicher, wie viel Mitspracherecht irgendwer um ihn herum jemals hatte. Er kam in ihrem Podcast jedenfalls gar nicht gut weg. In einer Twitter-Umfrage, die ein Hörer gemacht hatte, Die hassenswerteste Person bei AGGGTM, hatte Jason Bell fast so viele Stimmen bekommen wie Max Hastings und Elliot Ward. Pip selbst hatte knapp den vierten Platz gemacht.

»Es ist so schräg, dass die noch hier wohnen«, sagte Ant, der seine Augen genauso aufriss wie Lauren ihre. Sie imitierten sich dauernd auf diese Weise. »Dass sie in demselben Raum essen, in dem sie gestorben ist.«

»Leute kommen mit dem klar, womit sie klarkommen müssen«, sagte Cara. »Da kann man keine normalen Maßstäbe ansetzen.«

Damit waren Antlauren zum Schweigen gebracht.

Es trat eine unangenehme Stille ein, die Connor zu füllen versuchte. Pip sah weg und erkannte das Paar neben ihnen sofort. Sie lächelte.

»Oh, hi, Charlie, Flora.« Ihre neuen Nachbarn, vier Häuser weiter: Charlie mit dem rostroten Haar und dem ordentlich getrimmten Bart und Flora, die Pip bisher ausschließlich in geblümten Sachen gesehen hatte. Sie war die neue Lehrassistentin an der Schule von Pips Bruder, und Josh schwärmte dauernd von ihr. »Ich hatte euch gar nicht gesehen.«

»Hallo.« Charlie neigte lächelnd den Kopf. »Du musst Ravi sein«, sagte er und schüttelte Ravis Hand, die noch nicht zurück zu Pip gefunden hatte. »Uns beiden tut dein Verlust sehr leid.«

»Es klingt, als wäre dein Bruder ein fantastischer Junge gewesen«, ergänzte Flora.

»Danke. Ja, war er«, sagte Ravi.

»Oh.« Pip klopfte auf Zachs Schulter, um ihn ins Gespräch zu holen. »Das hier ist Zach. Er hat früher in eurem Haus gewohnt.«

»Freut mich sehr, Zach«, sagte Flora. »Wir lieben das Haus. War dein Zimmer das nach hinten?«

Ein Zischeln hinter Pip lenkte sie für einen Moment ab. Connors Bruder Jamie war neben ihm aufgetaucht, und die beiden flüsterten miteinander.

»Nein, da spukt es nicht«, sagte Charlie, als Pip wieder hinhörte.

Zach sah Flora an. »Hast du nie das Ächzen in den Rohren der Toilette unten gehört? Es klingt, als würde ein Geist rufen: Laaaauf, laaaauf.«

Plötzlich riss Flora die Augen weit auf, wurde blass und sah ihren Mann an. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber dann hüstelte sie, entschuldigte sich und ging auf Abstand.

»Sieh dir an, was du angerichtet hast«, sagte Charlie grinsend. »Bis morgen wird sie dick mit dem Toilettengeist befreundet sein.«

Ravi ließ seine Finger an Pips Unterarm herabwandern, bis seine Hand wieder in ihre glitt, und sah sie an. Ja, sie sollten vermutlich weitergehen und seine Eltern suchen; es würde bald anfangen.

Sie verabschiedeten sich und gingen weiter nach vorn. Als Pip sich umblickte, wollte sie schwören, dass sich die Menge seit ihrer Ankunft verdoppelt hatte; es könnten nun an die tausend Leute hier sein. Fast am Pavillon sah Pip erstmals die stark vergrößerten Fotos von Sal und Andie, die auf Staffeleien an entgegengesetzten Seiten des Baus lehnten. Beide trugen ein Lächeln auf den ewig jungen Gesichtern. Leute hatten Blumensträuße in Halbkreisen unter die Porträts gelegt, und die Kerzen flackerten, als die Menge von einem Fuß auf den anderen trat.

»Da sind sie.« Ravi zeigte auf seine Eltern, die vorne rechts auf der Seite mit Sals Bild standen. Eine Gruppe von Leuten scharte sich um sie, und Pips Familie war ganz in der Nähe.

Pip und Ravi gingen direkt hinter Stanley Forbes vorbei, der alles fotografierte. Sein Kamerablitz erhellte sein blasses Gesicht und tanzte über sein dunkelbraunes Haar.

»Natürlich ist er hier«, sagte Pip, als sie außer Hörweite waren.

»Ach, lass ihn in Ruhe, Sarge.« Ravi grinste ihr zu.

Vor Monaten hatte Stanley den Singhs einen vierseitigen Entschuldigungsbrief geschrieben und ihnen gesagt, er schäme sich für die Art, wie er über ihren Sohn geschrieben habe. Er hatte außerdem noch eine öffentliche Entschuldigung in der Lokalzeitung gedruckt, der Kilton Mail, für die er als freier Journalist arbeitete. Und er hatte eine Spendenaktion für eine Sal gewidmete Bank im Park ins Leben gerufen, die nur ein Stück weiter an dem Weg mit der Bank für Andie stand. Ravi und seine Eltern hatten die Entschuldigung angenommen, doch Pip blieb skeptisch.

»Wenigstens hat er gesagt, dass es ihm leidtut«, fuhr Ravi fort. »Sieh dir die alle an.« Er wies zu der Gruppe um seine Eltern. »Ihre Freunde und Nachbarn. Leute, die ihnen das Leben zur Hölle gemacht hatten. Sie haben sich nie entschuldigt, bloß so getan, als hätte es die letzten sechs Jahre nie gegeben.«

Ravi verstummte, als Pips Vater sie beide umarmte.

»Alles okay?«, fragte er Ravi und klopfte ihm auf den Rücken, bevor er ihn losließ.

»Alles okay.« Ravi verwuschelte Joshs Haar zur Begrüßung und lächelte Pips Mutter zu.

Ravis Vater Mohan kam zu ihnen. »Ich gehe jetzt rein, um einige Sachen vorzubereiten. Wir sehen uns später.« Er tippte Ravi liebevoll mit einem Finger unters Kinn. »Pass auf Mum auf.« Mohan stieg die Stufen des Pavillons hinauf und verschwand drinnen.

Um Punkt halb acht ging es los. Ravi stand zwischen Pip und seiner Mum und hielt ihrer beider Hände. Pip malte mit ihrem Daumen Kreise in Ravis Handfläche, als der Bezirksrat, der bei der Organisation der Gedenkfeier geholfen hatte, an das Mikrofon oben auf den Stufen trat, um »einige Worte« zu sagen. Es wurden mehr als einige. Er redete von den Familienwerten im Ort und der Unvermeidlichkeit der Wahrheit, lobte die Thames Valley Police für ihre »unermüdliche Arbeit an diesem Fall«. Dabei versuchte er nicht einmal, sarkastisch zu sein.

Als Nächste sprach Mrs. Morgan, die jetzige Schulleiterin an der Little Kilton Grammar School. Ihr Vorgänger war vom Schulrat zum Rücktritt gezwungen worden. Es war die Konsequenz aus allem, was Mr. Ward während seiner Zeit an der Schule getan hatte. Mrs. Morgan sprach über Andie und Sal und die dauerhafte Wirkung, die ihre Geschichten auf den gesamten Ort haben würde.

Danach traten Andies beste Freundinnen, Chloe Burch und Emma Hutton, ans Mikrofon. Jason und Dawn Bell hatten sich offensichtlich geweigert, bei der Gedenkfeier zu sprechen. Chloe und Emma lasen gemeinsam aus Christina Rossettis Gedicht Goblin Market vor. Als sie fertig waren und sich wieder in die leise murmelnde Menge stellten, tupfte Emma sich schniefend die Augen mit ihrem Ärmel. Pip beobachtete sie, als jemand von hinten gegen ihren Ellbogen stieß.

Sie drehte sich um. Es war Jamie Reynolds, der sich mit entschlossenem Blick durch die Menge schob. Das Kerzenlicht spiegelte sich in dem Schweißfilm auf seinem Gesicht.

»Sorry«, murmelte er fahrig, als hätte er Pip nicht einmal erkannt.

»Alles gut«, antwortete sie und blickte Jamie nach, bis Mohan Singh aus dem Pavillon kam und sich vor dem Mikrofon räusperte, worauf alles still wurde. Kein einziges Geräusch mehr, abgesehen von den raschelnden Blättern in den Bäumen. Ravi hielt Pips Hand so fest, dass seine Fingernägel Halbmonde in ihre Haut drückten.

Mohan blickte zu einem Blatt Papier in seiner Hand. Er zitterte, wie man an dem Blatt sah.

»Was kann ich euch über meinen Sohn Sal erzählen?«, begann er, und auf halber Strecke kippte seine Stimme. »Ich könnte euch erzählen, dass er ein glatter Einserschüler war, der eine große Zukunft vor sich hatte, aber das wisst ihr wahrscheinlich schon. Ich könnte euch erzählen, dass er ein treuer und fürsorglicher Freund war, der nie wollte, dass sich jemand allein oder unerwünscht fühlte, aber wahrscheinlich wisst ihr das auch schon. Ich könnte euch erzählen, dass er ein unglaublicher großer Bruder war und ein fantastischer Sohn, der uns jeden Tag stolz gemacht hat. Ich könnte Erinnerungen an ihn mit euch teilen, von dem grinsenden Kleinkind, das überall raufklettern wollte, bis hin zu dem Teenager, der die Zeiten spätabends und frühmorgens mochte. Doch stattdessen werde ich euch nur eine Sache über Sal erzählen.«

Mohan machte eine Pause und schaute auf, um Ravi und Nisha zuzulächeln.

»Wäre Sal heute hier, würde er es niemals zugeben, und es wäre ihm ungeheuer peinlich, aber sein Lieblingsfilm von seinem vierten bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr war Ein Schweinchen namens Babe.«

Ein leises, angespanntes Lachen ging durch die Menge. Auch Ravi lachte. Und viele bekamen glänzende Augen.

»Er hat das kleine Schwein geliebt. Und er mochte den Film auch sehr, weil darin sein Lieblingslied vorkam. Eines, das ihn zum Lächeln und zum Weinen bringen konnte und zu dem er tanzen wollte. Deshalb werde ich ein wenig von Sal mit euch teilen und diesen Song spielen, damit ihr jetzt sein Leben feiern könnt, während wir die Laternen anzünden und sie fliegen lassen. Doch zuerst möchte ich dir die Worte von Sals Lieblingssong jetzt sagen, mein Junge.« Das Blatt zitterte an dem Mikrofon wie Papierflügel, als Mohan sich die Augen wischte. »