Gott verdammt nochmal! - Monika Cieluch - E-Book + Hörbuch
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Gott verdammt nochmal! E-Book und Hörbuch

Monika Cieluch

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Beschreibung

Das Leben kann wie ein Überraschungsei sein ... Ein unglücklicher Vorfall bei der Arbeit stellt Joanna Sawickas Leben auf den Kopf. Als die junge Frau ihre Stelle als Restaurantleiterin in einem renommierten Hotel verliert, beschließt sie, alles auf eine Karte zu setzen und sich ein neues Leben im Ausland, genauer gesagt in London, aufzubauen. Als Babysitterin der vierjährigen Grace muss sich Joanna Herausforderungen stellen, die ihr bisher völlig fremd waren. Darüber hinaus erweist sich auch der Vater des Mädchens, Timothy Harvey, ein schroffer Besitzer eines großen Pharmaunternehmens, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann, als Problem. Joanna hat nicht die Absicht, Grace in einer Atmosphäre voller Wut und ständiger Verbitterung aufwachsen zu lassen. Also beschließt sie, eine Veränderung in deren Leben herbeizuführen, nicht ahnend, dass sie dabei selbst die Hauptrolle spielen wird ...-

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Zeit:10 Std. 9 min

Sprecher:Martina Lechner

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Monika Cieluch

Gott verdammt nochmal!

 

Saga

Gott verdammt nochmal!

 

Titel der Originalausgabe: A niech to szlag!

 

Originalsprache: Polnisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2022, 2023 Monika Cieluch und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728530344

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Kapitel 1

Gott verdammt nochmal!

Ich stand so da und starrte Skrzynecki wie ein Wesen von einem anderen Stern an. Ich beobachtete ihn intensiv dabei, wie er seine Krawatte lockerte, sich nervös räusperte und mit seiner Hand ein unsichtbares Staubkorn von seinem Jackett fegte. Er hatte total einen an der Klatsche, was das anging. Er lief ständig mit einer Fusselrolle durch die Gegend und säuberte zwanghaft seine Uniform, als ob irgendwer in der Lage gewesen wäre, diese winzigen Flusen auf ihr zu erkennen. Er ging mir damit gehörig auf die Nerven, aber aufgrund seiner Position in unserer Hotelgesellschaft schwieg ich in Solidarität mit den übrigen Mitarbeitern und versuchte, seine komischen Angewohnheiten, von denen er eine ganze Menge hatte, nicht zu beachten. Zum Beispiel überschritt er Türschwellen immer nur mit dem rechten Fuß, prinzipiell lächelte er überhaupt nicht, aß nur grünes Obst und Gemüse und trank keine heißen Getränke. Keine. Nicht einmal Kaffee. Mir kann wirklich niemand einreden, dass er normal war. Das war er nicht! Außerdem glaube ich fest, dass man Menschen, die keinen Kaffee trinken und keine Erdbeeren essen, nicht trauen kann. Und Skrzynecki war eben so ein Mensch … Einer, der ein Rad ab hat.

„Ich verstehe nicht. Entlassen? Weswegen?“, fragte ich, weil ich, Hand aufs Herz, keine Ahnung hatte, worum es hier ging. Seit drei Jahren war ich Managerin des Restaurants im The Luxury Hotel gewesen und hatte – nur um es klarzustellen – wirklich gute Arbeit geleistet. Das bewiesen das Lob unserer Gäste sowie die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter. Also warum sollte ich gefeuert werden? Man kündigt einem doch nicht von einem Tag auf den anderen, oder? Es musste einen Grund dafür geben.

Und als ich so intensiv nach dem Grund meiner Entlassung suchte, fiel mir etwas ein. Wie durch einen dichten Nebel schauend, erinnerte ich mich an eine Situation von vor drei Wochen, als einer unserer Hotelgäste ganz dreist meinen Hintern begrapscht hatte. Ohne darüber nachzudenken, reagierte ich aus Reflex und verpasste dem Typen eine Ohrfeige. Aber er hatte es doch verdient! Außerdem war das schon lange her und abends gewesen, als im Bankettsaal niemand mehr vorzufinden war. Dazu kommt noch, dass nur Bernstein, unser Barkeeper, und ich davon wussten. Und was Bernstein anging, war ich mir sicher! Er würde mich niemals verpfeifen. Also wie um alles in der Welt … Ich versuchte meine Gedanken in ein logisches Ganzes zu ordnen und schlussfolgerte, dass ich in meiner beruflichen Karriere schon schlimmere Fehler begangen hatte, als einem Kunden, der Schwierigkeiten hatte, seine Hände auf dem eigenen Hintern zu behalten, eine Ohrfeige zu geben. Einmal hatte ich sogar Wildfleischfrikassee auf einem Bankett, auf dem sich ausschließlich Vegetarier befanden, serviert. Das war tatsächlich ein Grund gewesen, mich in die Wüste zu schicken, und dennoch blieb ich angestellt – bis heute.

„Es geht um eine gewisse Situation mit einem unserer Gäste“, antwortete Skrzynecki. Als wäre nichts passiert, näherte er sich mir und verzog das Gesicht, als er seine Hand ausstreckte und etwas von meinem Jackettaufschlag nahm. Einen Fussel? Ein Haar? Egal, das ist nebensächlich.

„Wir können solch ein Verhalten nicht tolerieren. Du solltest mit einem vorbildhaften Verhalten glänzen und unsere stützende Säule sein, hast dich aber stattdessen äußerst unprofessionell verhalten. Mr Wodziński ist ein bekannter Regisseur. Dein Verhalten hat ihn erschüttert. Eine Beschwerde hat er eingereicht und uns sogar in den sozialen Medien durch den Dreck gezogen. Unser Hotel hatte, bis jetzt, immer ein tadelloses Image. Wir erwarten von unseren Mitarbeitern, dass sie sich entsprechend unserer Geschichte verhalten und du …“

Also doch!

„Hör zu, er hat mich sexuell belästigt. Hätte ich ihm dafür etwa danken oder vielleicht noch einen privaten Zimmerservice anbieten sollen?“ Ich runzelte die Stirn, weil ich, verdammt nochmal, seinen Gedankengang nicht nachvollziehen konnte. Er war mein Vorgesetzter. Er hätte auf meiner Seite stehen sollen. Ich verteidigte meine Kellner und Köche immer ganz nach der Devise, dass wir eine Familie sind. Und die Familie unterstützt man doch, oder? Selbst wenn wir sie manchmal am liebsten erschießen würden.

„Belästigt?“ Skrzynecki lachte künstlich. „Du hattest schon immer eine blühende Fantasie.“

„Es stimmt aber! Er hat mich zu seinem Tisch gerufen und eine Flasche 82’er Château Margaux verlangt. Also habe ich ihm freundlich geantwortet, dass die Flasche zehn Riesen kostet. Woraufhin er meinen Hintern angegrabscht und gesagt hat, dass er jeden Preis zahlen wird, wenn ich ihn nur den Wein von meinen Lippen kosten lasse. Den Kommentar hab ich so hingenommen, aber seine schleimigen Hände auf meinem Hintern nicht. Ich musste mich verteidigen“, erklärte ich in einem Atemzug. Ich schaute Skrzynecki an und wusste, dass er mir kein einziges Wort glaubte. Verdammte Scheiße, die können mich doch nicht wegen so etwas feuern. Ich bin eine der stärksten Stützen dieses Hotels. Ich habe die richtige Ausbildung, sehr gute Referenzen, kann mit den Kunden gut umgehen und schlage ihnen für gewöhnlich auch nicht in die Fresse. Dieses eine Mal war eine Ausnahme. Ich schwöre!

„Pass auf, vielleicht wenn du dich bei ihm entschuldigst, dann …“

„Ich? Ich soll mich bei ihm entschuldigen? Hast du sie noch alle? Er sollte sich bei mir entschuldigen“, sagte ich, möglicherweise zu laut, weil sich die im Saal arbeitenden Kellner blitzschnell zerstreuten und die Tische ungedeckt blieben. „Das werde ich nicht tun“, fügte ich etwas leiser hinzu und hob mein Kinn überheblich an.

„Na gut.“ Skrzynecki seufzte heftig, fixierte mich mit seinem Blick und warf die Dokumente, die er bisher in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. „Unterschreib das.“

Ich schaute auf das Blatt Papier, auf dem „Beendigung des Arbeitsvertrags“ stand, und fühlte, wie meine Haut anfing des Stresses wegen zu jucken. Mit zitternder Hand hob ich das Papier auf Augenhöhe an und las, den Atem anhaltend, die nächsten Zeilen. Scheiße! Alles stimmte. Mein Vorname, meine persönlichen Daten und sogar das heutige Datum. Sie wollten mir tatsächlich den Laufpass geben! Nach allem, was ich für sie getan hatte! Nach drei Jahren vollsten Engagements und Hingebung!

„Da wir ein respektvoller Arbeitgeber sind, hat unser HR-Team vorgeschlagen, dass wir den Arbeitsvertrag in gegenseitigem Einvernehmen beenden. Wir werden dir auch deine Referenzen ausstellen, in denen wir das Geschehen von vor drei Wochen außen vor lassen.“

„Was laberst du, Ludwik?“ Ich verlor die Kontrolle über mich. Ich fühlte, wie ich vor Wut ganz rot im Gesicht wurde.

„Ich sage, dass du die Dokumente unterschreiben, deinen Schrank ausräumen, deine Uniform abgeben und das Hotel verlassen sollst. Gleichzeitig möchte ich dich daran erinnern, dass in deinem Arbeitsvertrag ein Vermerk ist, der dich dazu verpflichtet, das Hotel für die nächsten sechs Monate nicht zu betreten, da wir nicht möchten, dass dich unsere Gäste weiterhin mit unserem Personal in Verbindung bringen.“

„Selbst nach fünf Jahren werden die mich noch immer mit euch in Verbindung bringen! Selbst wenn sie mich nur auf der Straße sehen, werden die mich noch mit dem Hotel in Verbindung bringen. Weißt du, warum? Weil ich die Beste war! Ich war eure stärkste Stütze und keiner der übrigen Mitarbeiter ist den Gästen jemals so herzlich entgegengekommen wie ich! Und du, Ludwik, weißt das ganz genau!“, schrie ich, denn, falls ich den Ort, an dem ich einen Teil meines Herzens gelassen hatte, verlassen sollte, dann würde ich dies bestimmt nicht leise tun. Auf gar keinen Fall! Das ginge gegen meine Natur. „Es war dank meiner Arbeit, dass sich die größten Empfangsgalas und Bankette nicht als Flops herausgestellt haben. Ich war es, die nächtelang hier stand und, trotz der von den High Heels angeschwollenen Knöchel, zwischen den Gästen umherschwirrte, um all ihre noch so ausschweifenden Fantasien zu verwirklichen. Ich war diejenige, die diesem Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert Leben eingehaucht hat. Und ich bin es, die die bekannteste Person in diesem Hotel ist. Das tut dir unheimlich weh, nicht wahr? Du musstest echt lange warten, bis ich einen Fehler begehe, richtig?“

„Falls du in den nächsten fünfzehn Minuten nicht das Hotel verlässt, werde ich dazu gezwungen sein, den Sicherheitsdienst zu rufen, der dir dabei helfen wird.“ Er hielt mir den Kugelschreiber hin und ich schwöre, dass ich zum ersten Mal ein winziges Siegerlächeln in seinem Gesicht wahrnahm.

In diesem Moment hätte ich ihn mit meinen krallenartigen Fingernägeln zu Tode kratzen, anspucken, ihm mit den High Heels auf die Füße treten, vielleicht sogar in die Fresse hauen oder ihm seine Hand mit einer der polierten Gabeln an den Tisch nageln können, aber mir fehlte die Courage. Mit zusammengebissenen Zähnen und ohne ein Wort zu sagen, nahm ich den Kugelschreiber aus seiner Hand, legte die Dokumente vor mir auf den Tisch und unterschrieb in schwungvollem Stil: Fickt euch! Hochachtungsvoll Joanna Sawicka. Dann, als ob nichts gewesen wäre, schob ich den Kugelschreiber in Ludwiks Jacketttasche, direkt neben sein geblümtes Einstecktuch, gab ihm einen Kuss auf die Wange, absichtlich, damit der Lippenstiftabdruck blieb, und ging Richtung Garderobe, während ich mit den Tränen in meinen Augenwinkeln kämpfte.

Als ich in den Gemeinschaftsraum kam, verschlug es mir fast die Sprache. Die Kellner, Rezeptionisten, Köche und das Zimmerpersonal, alle gemeinsam standen sie dort und applaudierten mir. Manche tupften sich sogar diskret mit ihren Manschetten die Tränen aus den Augen (etwas, wofür sie vorher Anschiss von mir bekommen hätten). Meine Kehle hatte sich so zusammengezogen, dass ich kein einziges Wort herausbringen konnte. Schweigend wanderte ich von einer Umarmung zur nächsten und als ich endlich alle umarmt hatte, öffnete ich meinen Schrank zum allerletzten Mal und nahm meine privaten Klamotten heraus. Lediglich zehn Minuten später schritt ich, eskortiert von meinen Leuten (ich mochte es, sie so zu nennen), in meinen Shorts, die nur spärlich meine sonnengebräunten Pobacken bedeckten, in Richtung Rezeption. Ich hatte mich mit voller Absicht dagegen entscheiden, das Gebäude durch den Personalausgang zu verlassen. Vor drei Jahren war ich durch den Haupteingang hereingekommen und so würde ich auch hinausgehen! Immer noch dem Applaus lauschend warf ich meine Schlüssel, mein Namensschild und meine Uniform auf den Tresen und sah mir noch einmal das Interieur des Hotels und die mir bekannten Gesichter an, bevor ich das Hotel verließ. Ich lächelte, obwohl dies nicht einfach war, drehte mich um und ging zur Treppe. Und als mich Skrzyneckis Worte erreichten – „Wir danken Ihnen für ihre Zusammenarbeit!“ – erhob ich meine rechte Hand und gab ihm mit Hilfe meines Mittelfingers klar zu verstehen, was ich von ihm hielt. Ich hörte noch die lauten Pfiffe der Kellner, einer schrie, dass sie mich vermissen werden, und ich dachte mir nur, dass sie jetzt sicherlich bei Skrzynecki verschissen hatten. Bestimmt würden sie heute noch die Konsequenzen ihrer Taten tragen und das Besteck ohne die Hilfe des Wasserdampfs polieren müssen. Sie taten mir jetzt schon leid.

Ich lief hinaus auf die sonnendurchflutete Straße, meine Wangen waren blutig gebissen, und brach in Richtung Hauptmarkt auf. Vom Himmel herab stieß eine erbarmungslose Hitze. Die Luft war schwer, schwül, als ob ein Sturm aufzuziehen drohte, doch der Horizont war himmelblau gemalt. Sie hatten mich gerade gefeuert. Ich war arbeitslos, hatte einen verdammt “vorteilhaften” Kredit in Schweizer Franken und auf meinem Sparkonto befanden sich viertausendsiebenhundertundfünf Złoty und dreiundzwanzig Grosze. Besser hätte es nicht sein können. Nur ich konnte mich in so eine Situation hineinmanövrieren. Eine Weile grübelte ich über meine Entscheidung nach. War es die Richtige gewesen? Es hätte gereicht, sich zu entschuldigen. Aber war es sinnvoll, gegen seinen Willen und seine Gefühle zu agieren? Ich war mir dessen nicht sicher. Ich gehörte zu den Frauen, die sich selbst respektieren, und ich wollte weiterhin im Stande sein, in den Spiegel zu schauen, also wäre eine Entschuldigung ja völliger Quatsch gewesen. „Du hast das Richtige getan, Aśka, gut gemacht“, wiederholte ich pausenlos, als ich gleichgültig Menschen an mir vorbeigehen sah. Ich würde nur gerne wissen, wovon ich die nächste Kreditrate bezahlen soll. Ach was! Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilf’ am nächsten.

Ich schob meine Hand in meine Tasche und zog mit säuerlicher Miene mein Handy hervor, als ich auf dem Bildschirm das Bild meiner Schwester sah. Verdammt, musste sie denn immer im unpassendsten Moment anrufen? Ganz als ob sie ein beschissenes Radar, das Signale meiner Probleme auffing, montiert hätte. Ja, Zośka hatte mir schon immer gesagt, dass ich mir irgendwann einmal selbst die Schlinge um den Hals legen würde. Und nun hatte sie es heraufbeschworen! Diese gemeine Perfektionistin, die weiß, wie man sich das Leben schön macht.

„Hallo?“, sagte ich und setzte mich unter die Fontäne am Marktplatz. Ich spürte den angenehm kühlen Nieselregen, der mein Gesicht, mein Dekolleté und schließlich auch meine Beine bedeckte und damit eine zeitweilige Erleichterung von den heißen Sonnenstrahlen brachte.

„Hallo, Schwester! Lebst du noch? Was gibt’s Neues? Warum hast du dich nicht gemeldet?“ Sie plapperte wie ein Waschweib und bevor sie innehielt, fragte ich mich einen Moment lang, ob ich auch zu Wort kommen durfte. „Aśka, bist du noch dran?“

„Ja, ja, bin ich.“ Gott, war es schön, die Füße in das kühle Wasser des Springbrunnens zu tauchen, auch wenn ich dafür mit einer Fußpilzinfektion bezahlen würde. „Alles gut.“

„Ich weiß, dass du lügst. Irgendwas ist los.“

„Was?“, fragte ich überrascht. Wie konnte sie das wissen?

„Ich hatte einen Albtraum heute Nacht und wollte dich anrufen. Ich höre doch, dass etwas nicht stimmt. Sag, was los ist.“

„Es ist ganz normal, während der Schwangerschaft Albträume zu haben. Ich habe mal einen Artikel darüber gelesen. Die Schwangerschaftshormone sind schuld daran, vor allem das Progesteron.“ Ich versuchte ernst zu klingen, während ich gleichzeitig ein paar Kindern, die Wasser auf mich spritzten, mit dem Zeigefinger drohte.

„Schwester, ich frage dich ernsthaft. Was ist los?“

Ich rollte mit den Augen, denn eine von Zośkas Standpauken war wirklich das Letzte, was ich jetzt hören wollte. Ich brauchte ein wenig Zeit, um mit der neuen Situation fertig zu werden und dann könnte sie mir ihre Weisheiten auftischen. Manchmal fühlte ich mich wie eine Niete in der Lotterie des Lebens.

„Sie haben mich gefeuert“, brach es aus mir heraus, während ich nervös mit den großen Zehen wackelte. „Und ich weiß, was du mir gleich sagen wirst: dass du es dir hättest denken können, dass ich unbeholfen durchs Leben stolpere und andere ähnlich beschissene Weisheiten.“

„Aśka, das tut mir so leid. Möchtest du darüber reden?“

Sie hatte mich überrascht. Echt. Ich sah noch einmal auf den Handybildschirm, um mich zu vergewissern, dass ich wirklich mit meiner Schwester sprach. Was Hormone doch alles mit Menschen anstellen können.

„Nicht heute.“

„Falls du Hilfe brauchst, dann sag Bescheid. Du weißt, dass wir dich nicht damit allein lassen. Karol und ich haben ein wenig Erspartes, also falls du etwas brauchst …“

„Ich komme gut allein zurecht“, wies ich sie zurück.

„Das glaube ich. Und wie geht’s Mateusz?“

„Alles okay.“ Ich zuckte mit den Achseln.

„Hast du schon ein Kleid ausgewählt?“

„Ja, mir ist schon eins ins Auge gefallen“, log ich. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir überhaupt keine Gedanken gemacht. Die ganze Idee mit der Hochzeit war irgendwie daneben gegangen. Mit jedem Tag bereute ich es mehr, dass wir uns dazu entschieden hatten. Ich liebte Mateusz, aber immer öfter kam ich zum Schluss, dass ich ihn nur auf meine eigene bekloppte Art liebte und nicht so, wie man seinen zukünftigen Ehemann lieben sollte. Ich schob eine Haarsträhne hinter mein Ohr und tadelte wieder die Kinder, die weiterhin mit Wasser um sich spritzten, mit einem vorwurfsvollen Blick, was ihrer Mutter vollkommen entging.

„Ich kann deinen Junggesellinnenabschied kaum erwarten. Es wird voll abgehen, das wirst du schon sehen“, sagte meine Schwester.

„Mir ist schon fast bange vor Angst“, gab ich ohne Enthusiasmus zurück.

„Aśka, es tut mir wirklich leid, das mit deiner Arbeit.“

Ich schwöre, sie schien wirklich besorgt.

„Ach, hör auf, da gibt’s nichts zu bedauern“, log ich. Wieder. Ich wurde langsam gut darin.

Noch ein paar Wochen und ich würde Weltmeisterin in dieser Disziplin werden. Joanna Sawicka – eine hervorragende Lügnerin!

„Du findest bestimmt etwas Besseres.“

„Bestimmt.“

„Immerhin hast du einen Kerl, der weiß, was für eine großartige Frau du bist. Was braucht man mehr? Bald findest du eine Arbeit und Chefs, die dich wertschätzen. Ich bin davon überzeugt.“

„Klar“, antwortete ich ohne Überzeugung, weil die Chancen ungefähr so gut standen, wie einen Sechser im Lotto zu haben.

„Du brauchst nur ein wenig Zeit.“

„Du hast recht.“

„Du musst an dich und deine Fähigkeiten glauben.“

„Stimmt.“ Wieder bejahte ich die Aussage und betete für eine schnelle Beendigung unseres Gesprächs.

„Eine positive Sichtweise ist das Fundament des Erfolgs.“

„Natürlich.“

„Es wird alles gut, du wirst schon sehen.“

„Wie könnte es auch anders sein.“

„Geht’s dir gut, Schwester?“, fragte sie, wahrscheinlich überrascht von den fehlenden Protesten und dem leisen Schnauben meinerseits.

„Ja, sicher.“ Lüge. Wieder war mir eine Lüge herausgerutscht. So ganz unabsichtlich. „Zośka, ich muss Schluss machen. Muss noch einkaufen gehen“, sagte ich aus der Lamäng, obwohl, um es genau zu nehmen, ein Besuch beim Späti um die Ecke eigentlich ganz gelegen kam.

„Okay. Ich ruf dich in ein paar Tagen nochmal an. Ich liebe dich, Schwester.“

Ich schwöre, ihre Stimme brach dabei ein bisschen. Meine Güte, ich hoffe, die Wehen kommen bald. Denn diese Hormone meinen es nicht gut mit ihr.

Ich schob meine noch nassen Füße in das Paar roter Sneakers und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte einen ambitionierten Plan für den Rest des Tages. Wirklich. Erst einmal würde ich einen ganzen Eimer Schokoladeneis mit Kirschen essen, dann würde ich eine Flasche Quittenlikör trinken und zum guten Schluss würde ich alles mit einer deprimierenden romantischen Komödie abrunden. Im Endeffekt würde ich heulen, circa zwei Kilogramm zunehmen und vielleicht versuchen, ein paar Hotels meinen Lebenslauf zu schicken, um dann endlich einen neuen Job zum Mindestlohn anzutreten. Na ja, … niemand hat gesagt, dass das Leben fair sei. Alles in allem hatte ich das nie erwartet, aber es wäre schön gewesen, wenigstens einmal mit wehendem Haar bergab zu rennen, anstatt immer nur die Karriereleiter hinaufzuklettern. Ja … Irgendwann wird es noch schön werden. Ich schätze, so läuft das halt.

Kapitel 2

Haferkekse und andere Missgeschicke

Es ging gar nicht darum, dass ich mit meinem Leben nicht klarkam. Und auch nicht darum, dass ich seit sechs Wochen keine gut bezahlte Arbeit finden konnte und dass der Saldo meines Bankkontos fast bei null angekommen war. Nein. Wenn man den Worten meiner Schwester Glauben schenken konnte, sollte ich sie aus der Unterdrückung einer eher unfreundlichen Nepalesin befreien, die Zośka in letzter Sekunde abgesagt hatte, ihre Arbeit zu übernehmen, sobald sie in den Mutterschaftsurlaub ging. Jetzt mal ehrlich? Ich hatte meine Zweifel. Ich glaube, dass die großzügige Zośka sich dazu entschieden hatte, mir den Arsch zu retten und mir zu beweisen, dass ich mich, ohne ihre Hilfe, nicht aus meinem finanziellen Loch hieven konnte. Na ja, … die Arbeit als Barkeeperin in einem der vielen Krakauer Biergärten, wo ich auf Teilzeit arbeitete, gab mir nicht die Möglichkeit meinen Kredit abzubezahlen, also legte ich meine Würde beiseite und antwortete, dass ich sowieso nichts Besseres zu tun hätte und dass Mateusz so oder so die ganzen Ferien über im Krankenhaus verbringen würde und nahm so das Almosen meiner Schwester an.

Zośka kümmerte sich seit drei Jahren um das Kind eines abartig reichen Engländers. Nur der Klarheit wegen – sie nannte ihn Mr Harvey, ich hingegen hatte ihn anders getauft. Ich nannte ihn Mr Stiff, was buchstäblich Herr Steif bedeutete, denn so einen Eindruck hatte ich von ihm gewonnen, als ich den Geschichten meiner Schwester lauschte. Angeblich war die Arbeit, der ich mich widmen sollte, nicht sehr kompliziert. Zośka versicherte mir, dass ich gut damit klarkommen würde, dass ich doch kochen könne und keine Schwierigkeiten mit dem Bügeln seiner Hemden haben würde. Um alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, informierte ich sie direkt darüber, dass ich nicht putzen würde. Ja klar, ich kann auf seine Kinder aufpassen, sie zu einem Eis einladen und zu Mittag kochen, aber vollgeschissene Toiletten würde ich sicher nicht putzen.

Aufgrund der Zusicherungen meiner Schwester stieg ich gerade in einen Airbus ein und zog einen rosafarbenen Koffer mit der charmanten Aufschrift Polishprincess hinter mir her. Ich lächelte die Flugbegleiterin an, die beim Anblick meines Passfotos etwas verwundert war und ging zu meinem reservierten Sitzplatz. Ich hatte meinen Pony hochgesteckt, weil er in meinen Augen war, was mich unattraktiv aussehen ließ. Mein Handgepäck warf ich ins Gepäckfach über mir, was nicht ganz einfach war, da ich die Zehn-Kilogramm-Grenze überschritten hatte, wofür ich teuer bezahlen musste und deswegen in der Schlange vor dem Gate unflätig murmelnd geflucht hatte. Ich zwängte mich in die schmale Reihe, nahm den Fenstersitz ein und schnallte mich fast sofort an. Ich flog nicht gerne. Jeder Flug schien schrecklich lang und mühsam mit dem unveränderlichen Blick aus dem Fenster. Ein eher durchschnittliches Vergnügen. Als ich Platz genommen hatte, nahm ich ein Selbsthilfebuch mit dem Titel Wie man sich mit Kindern anfreundet aus meiner Handtasche und schlug das Buch auf, wobei ich den Passagier, der sich neben mich setzte, völlig ignorierte.

Verdammt! Wie er stank! Und es war nicht so, dass er sich nicht mit der Idee, Seife zu benutzen, anfreunden konnte, denn im Grunde genommen sah er ordentlich aus: ein helles Hemd, eine gut geschnittene Hose, nach hinten gekämmte Haare und eine Brille, die ihm Charme verlieh, aber das Parfum hätte dieser Typ nun wirklich wechseln können. Ich weiß nicht, woraus es bestand, aber sein Aroma löste beinahe augenblicklich pochende Kopfschmerzen bei mir aus. Instinktiv drückte ich auf meine Schläfen und als er mich fragte: „Hi, are you alright“?, hatte ich verdammt Lust zu sagen, dass ich mich viel besser fühlen würde, wenn er in der letzten Reihe direkt neben den Toiletten säße. Am Ende entschied ich mich für ein leichtes Lächeln und ein oberflächliches: „Hi, I’m absolutely fine, thanks“, wonach ich mir die gekühlte Flasche Wasser, die ich zollfrei gekauft hatte, schnappte und sie mir an die Stirn hielt, betend, dass mein Flug so schnell wie möglich vorbei sein würde. Wegen meiner Kopfschmerzen pfiff ich auf die Flugbegleiterinnen, die anmutig vorführten, wie man den Sicherheitsgurt an- und abschnallt und wie eine mögliche Evakuierung ablaufen würde.

Als sich das Flugzeug in die Lüfte erhob, machte sich mein Würgereflex bemerkbar. Und nein, es lag nicht an der plötzlichen Druckänderung in der Kabine, sondern an den heftigen Kopfschmerzen. Aus Angst vor dem Schlimmsten schraubte ich hastig die Flasche auf, deren Inhalt explodierte und meinen stinkenden Begleiter durchnässte.

„Heilige Scheiße, ich meine, holy fuck!I’m so sorry“, stammelte ich und griff sofort zu meiner Handtasche, um dem Mann ein Taschentuch zu geben. Ich sah ihm dabei zu, wie er stumm seine Brille von der Nase nahm und sie dann mit dem Taschentuch abwischte. Als ich Wassertropfen auf seinen Wangen sah, reichte ich ihm ein weiteres Taschentuch, und er rieb sich damit das Gesicht trocken und sah mit einem deutlich angenervten Blick auf seinen Oberkörper, an dem sein nasses Hemd klebte und einen sich darunter versteckenden, dunklen Flaum zeigte. Na ja, … wenigstens waren meine Kopfschmerzen auf überraschende Weise vergangen.

„That’s okay, nothing happened“, sagte er mit einer solch tiefen Stimme, dass ich sofort nach einem Haferkeks griff, der in der Sitztasche vor uns lag. Wenn ich nervös wurde, fing ich an zu essen. Aus diesem Grund hatte ich häufig Gewichtssprünge. Wenn es denn nur Süßes gewesen wäre. Nein. In stressigen Zeiten konnte ich alles essen, sogar ein Brötchen mit Gänseschmalz. Ich weiß, krass, aber so war ich. Und als ich mir noch einen Haferkeks in den Mund stopfte, bemerkte ich, dass der Mann neben mir kühn seine Hand in die Verpackung steckte, einen Keks herauszog und ihn sich ebenfalls in den Mund steckte. Es war schon ein bisschen dreist, oder? Aber ich dachte mir, dass ich ihn nicht darauf hinweisen würde, denn nach dieser Wasserkatastrophe schuldete ich ihm ein wenig Verständnis. Und so verbrachten wir unsere Reise nach London mit dem Entleeren einer ganzen Packung Haferkekse. Als der letzte Keks übrig war, nahm der Mann ihn aus der Packung und sah mich fragend an. Mit hochgezogener rechter Augenbraue sah er ganz nett aus und ich glaube, er war nicht mehr angepisst. Ha, ich wusste es! Liebe geht also doch durch den Magen. Er brach den Keks in zwei Hälften und gab mir eine davon, ohne etwas zu sagen. Ich steckte sie mir in den Mund, als einer der Piloten ankündigte, dass die Landung begonnen hatte.

Glaubte man seinen Worten, waren es gerade fünfzehn Grad Celsius in London, böenartige Winde und heftige Regenfälle. „Perfekt! Komm nach England“, hatte Zośka gesagt. „Es wird dir gefallen“, hatte sie mir versichert. Tatsächlich. Es schien verdammt interessant zu werden. Ihr fragt euch wahrscheinlich, ob sich der Mann, der neben mir saß, verabschiedet hatte? Nun, nein. Unmittelbar nachdem die Flugzeugtüren geöffnet wurden, schnappte er sich sein langweiliges schwarzes Gepäck und steuerte auf den Ausgang zu. Was für’n Arsch. Er hat die Hälfte meiner Haferkekse gegessen und sich nicht einmal bedankt, dachte ich, als ich nach meinem rosafarbenen Koffer griff.

* * *

Beim Anblick meiner Schwester bleib ich wie angewurzelt stehen. Sie sah aus wie ein Wal, der gerade gestrandet war. Als sie auf mich zurollte, dachte ich, dass ich nie schwanger werden würde. Ich mochte Kinder nicht und der Anblick eines dicken Bauches erfüllte mich mit Schrecken. Ich war fast schockiert, als ich spürte, wie ihre Rundung meinen Körper berührte, während Zośka versuchte, mich zu umarmen. Um die Umarmung erfolgreich zu vollziehen, musste sie sich nach vorne lehnen, so dick war sie.

„Wie war der Flug? Hattet ihr Turbulenzen bei der Landung? Es ist furchtbar windig“, sagte sie, stemmte die Hände in die runden Hüften und drückte ihren Bauch noch weiter nach vorn. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah müde aus. Das war nicht dieselbe attraktive Blondine, die ich mal gekannt hatte. Ein geschwollenes Gesicht, zerzaustes Haar mit einem fünf Zentimeter langen Ansatz, … sie sah verdammt nochmal nicht aus wie Zośka.

„Es war erträglich“, log ich. „Du siehst schlimm aus“, fügte ich nach einer Weile hinzu, worauf meine Schwester kaum merklich lächelte und sich mit den Händen den Bauch rieb.

„Ja, ich weiß, ich habe bis vorgestern gearbeitet und das Baby fordert jetzt schon seinen Tribut. Es wiegt fast acht Pfund und ich habe vier Wochen bis zum Geburtstermin.“

Schnell rechnete ich Pfund in Kilogramm um und als mir klar wurde, dass das Kleine über drei Kilo und sechshundert Gramm wog, fragte ich mich, wie sie es herauspressen würde.

„Komm, ich habe dort geparkt, wo ich nur zwanzig Minuten stehen kann. Ich bin gleich über dem Zeitlimit und sie werden mir für jede weitere Minute ein Pfund berechnen.“

„Abzocke“, fasste ich zusammen und machte mich langsam auf den Weg zum Ausgang des Terminals.

„Toller Koffer“, sagte Zośka, als sie über ihre Schulter sah.

„Das finde ich auch.“

Sie log. Ich wusste es ganz genau. Zośka hasste rosa. Wenn sie ein Mädchen zur Welt bringt, wird sie es blau anziehen, davon war ich überzeugt.

Als wir das Haus von Zośka und Karol erreichten, war es zwei Uhr nachmittags. Ich zog meinen Koffer aus dem Kofferraum und betrachtete das aus der viktorianischen Ära stammende Gebäude sorgfältig. Auf den ersten Blick konnte ich die enorme Arbeit meines Schwagers erkennen. Seit meinem letzten Aufenthalt in England hatten die Besitzer das Dach gewechselt, die Einfahrt gepflastert, die jetzt mit riesigen Blumentöpfen geschmückt war, und einen neuen Zaun errichtet, der sie wirksam vor den neugierigen Blicken der Nachbarn schützte.

„Schön habt ihr es hier“, sagte ich und ging zur Tür.

„Warte, bis du drinnen bist. Wir sind gerade mit den Treppen fertig geworden. Wir haben im Grunde jedes Zimmer renoviert und können endlich unser kleines Nest genießen.“

Sie hatte nicht gelogen. Das Haus roch noch immer nach frischem Holz und Farbe. Ungläubig betrachtete ich die geschmackvoll eingerichteten Innenräume, die überwiegend in grauen und weißen Farbtönen gehalten waren. Alles war so ordentlich und aufeinander abgestimmt, komplett anders als in meiner kleinen Wohnung in Krakau, wo nichts zusammenpasste. Ich beneidete sie ein wenig. Zośka hatte sich recht gut positioniert. Sie hatte einen fleißigen Mann, einen gut bezahlten Job und außerdem war sie immer sparsam gewesen, während ich auch sonntags, wenn die Geschäfte geschlossen waren, im Stande war, den Inhalt meines Sparschweins auszugeben. (Ich kam mit einer Schildkröte nach Hause zurück, weil in der Tierhandlung ein Tierarzt Dienst gehabt hatte).

„Du kannst es dir für die nächsten zwei Tage im Gästezimmer gemütlich machen. Das ist der zweite Raum auf der linken Seite.“

„Warum nur zwei?“

Zośka sah mich an und runzelte seltsam die Stirn.

„Du fängst am Dienstag an zu arbeiten, wie vereinbart, und dann musst du bei Mr Harvey wohnen.“

„Was?“, fragte ich übertrieben laut und warf meine Jeansjacke auf das Sofa im Wohnzimmer. Zośka schaute mich an. Wenn Blicke töten könnten … Also griff ich wieder nach meiner Jacke und hing sie in den Nischenschrank im hellen Flur, um meine Schwester nicht als Pedantin zu beschimpfen.

„Aśka, das habe ich dir doch gesagt.“ Sie seufzte laut und breitete ihre Arme ratlos aus.

„Du hast was gesagt?“ Ich schwang meinen Hintern auf das weiche Sofa und streckte meine Beine vor mir aus.

„Dass es ein Vollzeitjob ist. Du bekommst Unterkunft, Verpflegung und, glaub mir, ziemlich gutes Geld.“ Sie zwinkerte mir zu und ging in Richtung Küche mit mir, der erschrockenen Aśka, im Schlepptau.

„Ich soll dort wohnen und vierundzwanzig Stunden am Tag auf die Göre aufpassen?“, fragte ich ungläubig, als Zośka ein Glas Sauergurken aus dem Kühlschrank nahm. „Du hast doch nicht dort gewohnt!“

„Ich nicht, aber du hast hier keine Wohnung“, antwortete sie, ohne zu blinzeln, als wäre es nicht offensichtlich, dass ich bei ihnen bleiben würde. Immerhin hatte sie mir selbst ihre Hilfe angeboten! „Grace verbringt von Montag bis Freitag drei Stunden in der Schule. Das ist in etwa wie ein Kindergarten bei uns. Du kannst sie dorthin bringen und dann hast du Zeit für dich.“

„Drei von vierundzwanzig?“, stöhnte ich ungläubig.

„Ja. Aber glaub mir, Grace ist ein sehr höfliches und intelligentes Mädchen. Für Mr Harvey zu arbeiten, macht wirklich Spaß und das Gehalt ist zumindest zufriedenstellend.“ Sie biss in eine Sauergurke und verdrehte vor Freude die Augen.

„Zośka, was zum Teufel hast du mir hier angetan?“

„Ach, komm schon. Du wirst es mir noch danken“, sagte sie mit vollem Mund.

„Klar“, antwortete ich trotzig und streckte meine Hand nach einer Gurke aus, woraufhin meine Schwester mich ansah, als ob sie mich umlegen wollte. Ich gab auf und ließ die Gurke zurück ins Glas fallen. „Wenn du bereits frei hast, wer kümmert sich gerade um das Kind?“

„Sie war das Wochenende über bei ihren Großeltern.“

„Warum nicht bei ihrem Vater?“

„Mr Harvey ist auf Geschäftsreise.“

„Passiert das oft?“, fragte ich und versuchte das Grummeln meines knurrenden Magens zu ignorieren.

„Er ist praktisch die ganze Zeit auf Geschäftsreise. Und selbst wenn er vor Ort ist, ist er kaum zu Hause. Dir steht die gesamte Villa mit Außenpool zur Verfügung.“

„Und ein vierjähriges Kind, das mir fast vierundzwanzig Stunden lang am Arsch klebt“, fasste ich zusammen. „Ah ja, und welcher vernünftige Mensch baut in England ein Schwimmbad draußen?“, grunzte ich und starrte aus dem Fenster, durch das ich den tiefblauen Himmel sehen konnte.

„Es ist ein beheizter Pool“, erklärte Zośka. „So, jetzt pack schnell deine Sachen aus, während ich das Abendessen warm mache. Beim Essen besprechen wir alle wichtigen Themen rund um deinen neuen Job und von denen gibt es einige.“ Sie verzog das Gesicht, als wollte sie sich im Voraus entschuldigen.

Ich ging zum Gästezimmer, das wie alle Zimmer im Haus geschmackvoll eingerichtet war, und warf meinen Koffer aufs Bett. Da ich nur zwei Tage hier bleiben sollte, war das Auspacken sinnlos. Ich öffnete mein Gepäck mit der Absicht, meinen Kulturbeutel und meine Leggings herauszuholen, und dann stand die Welt plötzlich still. Ganz oben prunkte stolz eine Packung meiner Lieblingshaferkekse.

„Ich glaub’s nicht“, sagte ich zu mir selbst, während ich dumpf auf die Verpackung starrte, die sich über mich lustig zu machen schien. Ich hatte diesen Typen nicht nur mit Wasser überschüttet, sondern auch die Hälfte seiner Kekse gefressen, ihn gedanklich schlechtgeredet und ein dreistes Arschloch genannt. Bravo, Aśka! Toll gemacht!

Ich schüttelte den Kopf, weil ich mir sicher war, die Kekse in meine Handtasche gesteckt zu haben, und mich dann vertan und gedacht hatte, sie in meine Sitztasche vor mir gesteckt zu haben. Zu meiner Verteidigung konnte ich nur hinzufügen, dass mir der Parfumgestank des Mannes Kopfschmerzen bereitet hatte, was wiederum, kombiniert mit der Flaschen-Situation, bewirkt hatte, dass mir die Klarheit des Denkens entrissen worden war. Ja, das ist auf jeden Fall der Grund.

„Ist das etwa meine Lieblingsschwägerin, die hier ist?“, Karols Stimme kam von unten auf mich zu.

Ich schloss meinen Koffer und ging mit einem Lächeln im Gesicht zur Treppe. Karol war nett. Er war auch lustig und gut aussehend. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass meine ständig nörgelnde Schwester ihn sicherlich nicht verdient hatte, aber Zośka wusste, wie man sich das Leben schön macht. Ja, ich weiß, das habe ich schon einmal gesagt, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass es so ist.

Kapitel 3

Ungeahntes Pech

Ich war nervös. Wirklich. Um ehrlich zu sein, bin ich nie gestresst. Um so mehr fürchtete ich mich an diesem Morgen.

Die letzten zwei Tage hatte ich vollständig mit dem Lesen der Notizen verbracht, die Zośka für mich vorbereitet hatte. Auf diese Weise fand ich heraus, dass Grace eine Nussallergie hatte und Mr Stiff allergisch auf Eier reagierte. Ich kannte den Titel des Lieblingsbuchs des kleinen Mädchens und hatte mir schon gemerkt, dass sie es nicht gern hatte, wenn man sie umarmte. Zośka hatte bereits erwähnt, dass die Kleine Probleme mit Nähe hatte und körperlichen Kontakt scheute. Also, ich bin natürlich keine Expertin in Sachen Kinder, aber das schien mir doch recht merkwürdig, denn welche Vierjährige mochte es nicht, geknuddelt zu werden oder Küsschen zu bekommen? Ich lernte außerdem Mr Harveys Arbeitszeitplan auswendig. Jeden Morgen wachte er um halb sechs auf, trainierte eine halbe Stunde lang in seinem Fitnessstudio, trank um genau sechs Uhr einen Kaffee, der mit einem Löffelchen Zucker versüßt und sanft mit Milch betupft war (was auch immer das bedeutete), und las die Zeitung. Um sechs Uhr dreißig fuhr er ins Büro und kehrte gegen zwanzig Uhr zurück nach Hause, manchmal noch später.

Grace’ Stundenplan war etwas abwechslungsreicher. Das Mädchen sollte um sieben Uhr geweckt und ihr Frühstück vorbereitet werden, wobei Erdnussbutter und -öl, so wie andere Nahrungsmittel, die auch nur in geringsten Mengen Nüsse beinhalten, natürlich gemieden werden sollten. Um halb neun sollte sie zum Kindergarten gebracht und um elf Uhr fünfunddreißig abgeholt werden. Wieder zuhause angekommen, war es Zeit fürs Mittagessen. Danach hatte Grace eine Stunde für “spaßige Aktivitäten”, wie Zośka es nannte. Die nächsten zwei Stunden waren dafür bestimmt, mit ihr das Schreiben des Alphabets und der Ziffern zu üben, Bücher zu lesen und Geschichten zu erzählen. Um achtzehn Uhr war es Zeit fürs Abendessen, kurz danach war Badezeit und spätestens um halb acht musste sie im Bett sein. Der Eintrag bezüglich des Fernsehens hatte mich allerdings etwas stutzig gemacht – sie durfte nur zwanzig Minuten täglich vor der Glotze verbringen. Das Verbot, Freunde aus dem Kindergarten und anderswoher mitzubringen, fand ich auch absurd. Mr Harvey wünschte sich, dass sie das Spielen mit fremden Kindern mied, und untersagte den Kontakt mit Tieren, vor allem Hunden und Katzen, vollständig, was ich nicht so recht verstand, weil in Zośkas Notizen nichts von einer Tierhaarallergie stand. Ich war sehr verwundert, weil selbst ich, eine kinderlose Frau, wusste, wie wichtig der soziale Kontakt und der Kontakt zu Tieren für ein Kind ist. Ich verstand nicht nur den Gedankengang ihres Vaters nicht, sondern stimmte auch nicht mit ihm überein, weswegen ich fix einen Kugelschreiber zur Hand nahm und die Regeln bezüglich ihrer Freunde und Tiere durchstrich. Des Weiteren verlängerte ich die Fernsehzeit auf eine Stunde und unterstrich die Informationen bezüglich der Nussallergie mit einem roten Stift.

Vertraut mit der Geschichte der Harvey-Familie, sprang ich in meine Jeans, zog mir das Sportsakko an, auf das Zośka bestanden hatte, und machte mich auf den Weg, meinen neuen Arbeitgeber zu treffen. Ob ich nervös war? Höllisch nervös sogar! Mit jeder Minute wurde ich nur nervöser und als wir die Türschwelle zum gläsernen Bürohaus im Herzen Londons, in dem sich die Firma von Mr Stiff befand, übertraten, fühlte ich, wie mein Magen sich vor Nervosität verkrampfte.

Zośka ging mit einem Lächeln im Gesicht und vorgeschobenem Bauch durch die Rezeption, ständig Höflichkeiten mit jemandem austauschend, und als wir endlich den gläsernen Aufzug betraten, drückte sie den Knopf mit der Nummer zwölf. Genau in dem Moment, als sich die Tür schloss, keuchte sie schwer:

„Aśka, ich bitte dich, bring mir ja keine Schande nach Hause.“

Ich sah sie sichtlich verärgert an, denn lasst uns nicht übertreiben, ich wusste, wie man sich in Gesellschaft eines potenziellen Chefs zu verhalten hatte und hatte schon ernstere Bewerbungsgespräche absolviert. Und hier war die Sache schon im Trockenen, also wo lag das Problem?

„Sei einfach nett und halte dich mit deinen Bemerkungen zurück, okay?“ Damit hatte sie mich nur noch weiter angeheizt und verwandelte den Stress, der mich einnahm, in Irritation.

„Zośka, halt doch mal den Mund, ja?“, bügelte ich sie ab. Sie hatte die letzten zwei Tage ununterbrochen geplappert, mich mit ihren Erkenntnissen überschüttet und mir den Eindruck vermittelt, dass selbst ein Job im Buckingham Palace weniger Aufwand erfordern würde. Ich weiß wirklich nicht, wie Karol es mit ihr aushielt. Nach zwei Tagen in Zośkas Gesellschaft war ich froh, dass ich weit weg von ihr wohnen würde.

„Ich will nur, dass alles gut läuft.“ Sie lächelte und zog die Bluse auf dem Bauch zurecht, gerade als sich die Aufzugtür öffnete und wir von einem riesigen goldblinkenden Schild begrüßt wurden: AfromaPharm. Aus Zośkas Notizen hatte ich erfahren, dass Mr Stiff der Besitzer eines Pharmaunternehmens war, das Medikamente testete, bevor sie auf den Markt kamen. Ein recht verantwortungsvoller Beruf, der in gewisser Weise seinen betriebsamen Lebensstil erklärte, aber meiner Meinung nach nicht den Zeitmangel für sein einziges Kind rechtfertigte.

Zośka blieb vor der Rezeption stehen, tauschte Höflichkeiten mit einer elegant gekleideten Frau mit schneeweißen Haaren aus, und als sie uns ankündigte, dachte ich, als ich ihre Nervosität sah, dass ich dieses Gespräch gerne hinter mir hätte.

„Mr Harvey wartet in seinem Büro. Geradeaus und dann nach rechts, die erste Tür“, wies sie uns an, als ob Zośka keine Ahnung hatte, wo sie herumtrampeln sollte, und gestikulierte gleichzeitig mit ihrer Hand, die mit einer schönen französischen Maniküre glänzte.

Mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller und schneller. Vor der großen Holztür mit der Aufschrift „General Director T. Harvey“ blieben wir stehen und ich wischte mir instinktiv meine verschwitzten Handflächen an der Hose ab. Als Zośka klopfte und dann ihren hellen, mit Ansätzen bedeckten Schopf ins Büro steckte, spürte ich den vertrauten Duft von dem Parfum, das mir sofort Kopfschmerzen bereitete. Ich hatte gerade noch Zeit zu denken, dass es ein verdammter Zufall sein musste, als meine Schwester den rechten Flügel der Tür weit aufriss und mich hineinzog. Ich bekam fast einen Schlaganfall, vor Entsetzen und von den starken Kopfschmerzen, die mein Gehirn zerhäckselten. Ich sah den Haferkeks-Typen ungläubig an und wiederholte immer wieder im Geiste: Ach du heilige Scheiße! Das kann doch nicht wahr sein!

* * *

Ich weiß nicht, wo ich anfangen sollte. Als ich meine Tochter von meinen Schwiegereltern abholte, blieb ich aufgrund einer Kollision auf der M25 auf der Autobahn stecken, was dazu führte, dass ich mit einer Stunde Verspätung auf der Arbeit erschien. Auch Grace kam zu spät zum Kindergarten, was eine düstere Miene in ihrem Gesicht hervorrief, da sie jeden Montag den Unterricht mit dem Skelett-Tanz begannen, den sie so liebte. Auf diese Weise musste ich es die ganze Zeit mit ihrem schmollenden Blick und ihren tränenden Augen aufnehmen. Ich fühlte mich schlecht deswegen. Ich hätte meine Tochter gestern Abend abholen sollen, aber ich wollte nicht, dass sie mich in so einem Zustand sah. Ich war zerstreut und betrunken gewesen, denn manchmal konnte der Schmerz in meinem Herzen nur mit Alkohol gelindert werden. Wegen der Verspätung musste ich das morgendliche Meeting mit meinen Geschäftspartnern auf den Nachmittag verschieben, was wiederum dazu führte, dass ich bis spät in die Nacht im Büro beschäftigt war. Und am Morgen hatte ich andere Pläne. Ich wollte etwas früher nach Hause kommen, weil ich ein bisschen Angst hatte, meine Tochter mit der neuen Nanny allein zu lassen. Dass Grace von Sophies Schwester betreut werden sollte, beruhigte mich ein wenig, aber schließlich hatte ich sie noch nicht kennengelernt, und das Leben hatte mir beigebracht, dass die Zusicherungen der Menschen manchmal nicht viel mit der Wahrheit zu tun hatten. Außerdem hatte ich meine Tochter in letzter Zeit kaum gesehen. Zum einen wegen der hohen Arbeitsbelastung, aber auch, weil ich ein miserabler Vater war. Ich kam mit ihrer Erziehung überhaupt nicht zurecht. Ich konnte ihr nicht nahekommen, geschweige denn ihr meine Liebe zeigen. Ja, ich versicherte ihr, dass ich sie liebte, wenn sie darum bat, aber mehr nicht. Wir hatten keine engere Bindung und ich schaffte es nicht, zu ihr durchzudringen. Vielleicht, weil Grace mit jedem Tag mehr und mehr wie Elizabeth aussah und ich immer noch Schwierigkeiten hatte, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie weg war, dass die Flamme von Beths Leben in dem Moment, in dem Grace ihren ersten Atemzug tat, erloschen war. Es gab Zeiten, in denen ich meine eigene Tochter hasste, gerade weil ihr Erscheinen mir den Sinn meines Lebens genommen hatte. Ich konnte es aus keiner anderen Perspektive betrachten. Als ich Grace sah, dachte ich: Wenn du nicht da wärst, hätte ich immer noch Elizabeth. Und so etwas darf kein Vater denken. Niemals.

Ein Klopfen an der Tür ging dem Erscheinen einer lächelnden Sophie voraus. Ich mochte sie. Sie war zuverlässig, befolgte meine Anweisungen und hatte außerdem einen recht guten Kontakt zu Grace, was meine Gewissensbisse etwas linderte. Ich hatte die Illusion, dass ihre Schwester genauso einfallsreich und vernünftig sein würde wie sie. Und weil das Leben es liebte, unsere Vorstellungen auf die Probe zu stellen, wurde mir schnell klar, dass das Schicksal auch diesmal beschlossen hatte, mir meinen ohnehin schon komplizierten Alltag zu erschweren.

Ich war sprachlos und ließ meinen Stift auf den Schreibtisch fallen, als sich eine große junge Frau hinter Sophies Rücken hervorlehnte. Ich kannte sie! Ich war mir sicher, dass es genau dieselbe Frau wie im Flugzeug war, die mich zuerst mit Wasser übergossen und dann dreist die Hälfte meiner Kekse gegessen hatte. Mein Blick glitt über ihre schlanke Figur, beginnend an ihren von engen Jeans umspannten Beinen bis zu ihrem sommersprossigen Gesicht. Sie hatte wunderschöne grüne Augen, die jetzt durch das Büro wanderten, als wollten sie meinem Blick um jeden Preis ausweichen, und feuriges Haar, das in Wellen über ihre Schultern fiel. Sie war hübsch. Sogar als sie sichtlich eingeschüchtert vor mir stand und eigenartig die Nase rümpfte.

Ich stand auf, ging um den Schreibtisch herum, knöpfte mein marineblaues Jackett zu und streckte meiner Angestellten die Hand entgegen.

„Guten Morgen, Sophie, wie geht es dir?

„Guten Morgen, Mr Harvey, ganz gut, danke. Wie geht es Grace? Zufrieden mit dem Besuch bei den Großeltern?“

„Sagen wir, es war durchschnittlich. Wir kamen zu spät zum Kindergarten.“

„Oh nein! Und heute ist Montag und …“

„Genau, sie hat ihren Skelett-Tanz verpasst“, unterbrach ich Sophie, deren Enttäuschung ich in ihren Augen sah.

„Das tut mir leid, Mr Harvey.“

„Mir auch.“ Ich strich mir mit der Hand die Haare zurück und fühlte mich schlecht damit, zu wissen, dass sie es nie so sehr vergeigt hätte wie ich.

„Mr Harvey, das ist meine Schwester, Joanna Sawicka.“ Ich sah das Mädchen an, das an Sophies Seite stand und hielt ihr meine Hand hin.

„Die Keksdame“, kommentierte ich. „Guten Morgen, Timothy Harvey.“

Einen Moment lang beobachtete ich, wie sich eine stattliche Röte auf ihren Wangen bildete, und als sie endlich meinen Händedruck erwiderte, befeuchtete sie hastig ihre Lippen mit ihrer Zunge und begann, meine Hand heftig zu schütteln und sich zu entschuldigen:

„Guten Morgen, ich kann das wirklich erklären. Ich war voll und ganz überzeugt, dass dies meine Kekse waren und …“

„Bitte, sparen Sie sich die Erklärungen. Solche Streitigkeiten können gütlich geschlichtet werden. Nehmen wir an, es war ein Unfall und ich werde es Ihnen vom Gehalt abziehen.“ Und obwohl ich scherzte, versuchte ich ernst zu klingen, denn so wollte ich auch behandelt werden.

Im Business und in den Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen hatte ich immer versucht, Professionalität und ein kühles Verhältnis zu wahren, was zu einer tadellosen Zusammenarbeit führte.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Ich zeigte auf die beiden Sessel, die am Schreibtisch standen, und kehrte auf den von mir zuvor besetzten Platz zurück. „Miss Joanna …“

„Aśka. Sie können mich so nennen. Joanna klingt sehr offiziell.“

Ich sah in ihre grünen Augen, nickte stumm, schob ihr dann den Stapel Papiere zu und sagte:

„Miss Joanna, das ist Ihr Vertrag. Ich hoffe, dass unsere Zusammenarbeit reibungslos verlaufen wird.“

„Das bleibt abzuwarten.“

Ich hörte ihre leise Stimme, als sie dem Vertrag mit ihrem Blick folgte. Ich schaute Sophie an und sah die Verlegenheit in ihrem Gesicht. Sie waren so völlig anders. Sie unterschieden sich nicht nur in Aussehen und Größe, sondern vor allem in ihrem Wesen. Die ältere Schwester war ruhig und gefasst. Ich wusste, dass ich mich auf sie verlassen konnte. Joanna hingegen sah rebellisch aus und ich hoffte, dass mich meine Intuition irreführte, sonst müsste ich hart durchgreifen.

„Ich schließe daraus, dass Sophie Ihnen Ihre neuen Pflichten vorgestellt und eventuell das erklärt hat, was einer Erklärung bedurfte.“

„Ich habe ihr alles erzählt, Mr Harvey.“

„Großartig.“ Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Dann holte ich einen grauen Umschlag aus der Schreibtischschublade und schob ihn über den Tisch zu Joanna.

„Ich glaube, einige der Richtlinien für Grace’ Betreuung sind …, wie soll ich sagen …“ Joanna kniff die Augen zusammen und platzte dann heraus mit „dumm und irgendwie sinnlos. Man darf einem Kind den Kontakt zu Gleichaltrigen nicht verbieten. Außerdem sollte eine Vierjährige nicht den halben Tag mit Lernen verbringen. Wenn sie jetzt keine Kindheit hat, wann wird sie sich dann unbeschwert fühlen können? Ich denke, diese Fragen müssen besprochen werden.“

Und schon geht es los, dachte ich mir. „Miss Joanna, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn unsere Zusammenarbeit genauso vonstatten ginge, wie ich mir sie wünsche. Momentan sehe ich keinen Freiraum für Veränderungen in der Erziehung meiner Tochter. Grace ist ein sehr kluges Mädchen und das liegt vor allem an ihrer Disziplin und der Regelmäßigkeit ihrer Aktivitäten.“

„Sie haben mich falsch verstanden“, unterbrach sie mich. „Ich wollte einfach auf die Tatsache aufmerksam machen …“

„Das sind Ihre Schlüssel“, sagte ich und zeigte auf den Umschlag. Ich wollte deutlich betonen, dass in unserer Beziehung ich es bin, der entscheidet, nicht Joanna. „Der Umschlag enthält auch eine Kreditkarte und eine PIN. Bitte verwenden Sie sie bei Bedarf. Manchmal ist es notwendig, einen Schreibwarenladen zu besuchen oder andere Kleinigkeiten zu kaufen, zum Beispiel Kleider für eine Schulaufführung.“

„Ich verstehe, danke.“

„Hat Sophie erwähnt, dass meine Tochter gegen Nüsse allergisch ist?“

„Ja. Ich erinnere mich daran.“

„Großartig.“ Ich lehnte mich gegen die Rückenlehne meines Bürostuhls. „Dann betrachte ich unser Treffen als abgeschlossen. Bitte verzeihen Sie mir, aber ich sollte mich nun mit meinen Geschäftspartnern in Verbindung setzen.“

Ich sah mit ernster Miene zu, wie die beiden Damen gleichzeitig aufstanden und Sophie wie ein Schulmädchen knickste.

„Auf Wiedersehen, Mr Harvey“, fiel ihr aus dem Mund.

„Wir sehen uns zu Hause“, flüsterte Joanna und verließ, ihre Umhängetasche über die Schulter werfend, zusammen mit ihrer Schwester mein Büro.

Erst nachdem sie gegangen waren, bemerkte ich, dass ich meine Hände mit solcher Kraft zu Fäusten geballt hatte, dass sich meine Nägel in die Handflächen gebohrt und mir weh getan hatten. Wir sehen uns zu Hause – ihre Worte hallten in meinen Ohren wider. Ich schloss meine Augen und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren, die sich in genau dem Moment beschleunigt hatte, als Joanna diese Worte ausgesprochen hatte. Der Satz, mit dem sich Beth immer von mir verabschiedet hatte.

* * *

Ich hätte nie gedacht, dass Zośka so schnell laufen konnte. Ich musste ihr fast hinterherrennen. War sie wütend? Was war jetzt schon wieder? Ich schwöre, meine Geduld mit ihr sank langsam auf ein kritisch niedriges Niveau.

Als wir auf dem Parkplatz ankamen, explodierte sie. Sie drehte sich abrupt zu mir um und fing an, etwas von Scham und Demütigung zu schreien, und gab hier und da hinzu, dass ich sie wieder im Stich gelassen hätte und dass sie es bereits bereute, mich hierher gebracht zu haben. Schließlich fügte sie noch hinzu, dass ich lernen sollte, den Mund zu halten und meine Weisheiten für mich zu behalten. Ich bemerkte, dass ihr Gesicht rot wurde, sie heftig atmete und ich war schon bereit ihr zu sagen, dass sie sich beruhigen solle, sonst würde sie hier auf dem Parkplatz gebären, aber Zośka stand mit furchtbar angsteinflößendem Gesicht vor mir und fragte freiheraus:

„Woher kennt ihr euch und was hat es mit diesen Keksen auf sich?“

Sie legte ihre Hände in die Hüften und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen.

„Jesus, Maria und Joseph, Zocha, wie du dich immer aufregst.“ Ungläubig schüttelte ich mit einem Hauch von Spott den Kopf.

„Nenn mich noch ein Mal Zocha und du kriegst so dermaßen eine gelatscht, dass du nicht mehr weißt, wo vorne und hinten ist!“, schrie sie und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf den Boden.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Ja, … Zośka verlor immer leicht die Beherrschung. Aus diesem Grund nannte ich sie früher eine Cholerikerin und wie man sieht, war dieser Begriff absolut adäquat. Aus dem gleichen Grund war Karol immer brav und gehorsam wie ein Schoßhündchen. Er würde es nie im Leben wagen, eine Meinung zu äußern, die nicht mit der seiner Frau im Einklang stand. Manchmal tat er mir leid. Wirklich.

„Reiner Zufall“, sagte ich und lehnte mich gegen ihren schokoladenfarbenen Opel Mokka. „Wir saßen zufällig nebeneinander im Flugzeug.“

„Warte …“ Sie kniff die Augen wieder zusammen, als ob sie etwas erspähen wollte. „Willst du mir damit sagen, dass du Mr Harvey während des Flugs nach London getroffen und mir kein Wort davon gesagt hast? Du hast mich wie eine Idiotin aussehen lassen! Einen totalen Kretin!“

„Woher sollte ich wissen, dass er es war?“ Ich zuckte mit den Schultern und sah auf meine Uhr, denn wir sollten Grace um elf Uhr fünfunddreißig vom Kindergarten abholen. „Hätte ich gewusst, dass mein zukünftiger Chef neben mir sitzt, würde ich die Wasserflasche ganz sicher vorsichtiger öffnen und seine Kekse eben nicht essen.“

„Wovon sprichst du?“ Zośka wurde blass.

„Über die Tatsache, dass ich ihn versehentlich mit Wasser übergossen und dann seine Haferkekse gefuttert habe, weil ich überzeugt davon war, dass sie mir gehörten.“ Ich stieß mich vom Auto ab, griff nach der Türklinke, ignorierte den Gesichtsausdruck meiner Schwester und sagte: „Mach diese verdammte Limousine auf, sonst kommen wir noch zu spät, um die Kleine abzuholen und ich würde ungern schon am ersten Tag etwas vermasseln.“

„Du hast seine Kekse gegessen?“, stöhnte sie kläglich und öffnete die Tür mit der Fernbedienung. Dann murmelte sie etwas Unverständliches vor sich hin, ging um das Auto herum und zwängte sich auf den Fahrersitz, wobei sie sofort die Klimaanlage einschaltete. Sie keuchte, als hätte sie den Mount Everest erklommen. Keine Schwangerschaft, Aśka, denk dran! Bloß nicht schwanger werden, waren die Worte meines inneren Ichs.

„Zośka, entspann dich“, sagte ich und versuchte einen ruhigen Ton beizubehalten, als ich bemerkte, mit welcher Wut sie in den ersten Gang schaltete, bis die Gangschaltung protestierend winselte.

„Weißt du was, Aśka?“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu, während sie den Parkplatz verließ.

„Was?“

„Halt den Mund! Ich habe dich für heute satt!“