Götterschlacht - Torsten Scheib - E-Book

Götterschlacht E-Book

Torsten Scheib

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Beschreibung

Es hat begonnen. Harmlos brach es herein. Keiner nahm die Zeichen am Himmel ernst. Man lachte, man zelebrierte, man staunte – und verspottete die mahnenden Stimmen. Ohne Vorwarnung. Erst stürzte der Himmel ein, dann löschte ihn die Eiszeit. Begrub die Erinnerungen dieser Welt unter sich, labte sich an warmen Körpern; am Gaumenkitzel nackter Angst. Wer dennoch überlebte, wurde gejagt. Von den pelzigen und geflügten Kreaturen, den flammenden und frostigen Geschöpfen. Den Streitarmeen Hels, der Fürstin der Unterwelt. Erst kam die Dämmerung. Unvermittelt fand sich eine Handvoll unbescholtener Menschen zwischen den Armeen der Unterwelt und des Asgards wieder; wurde zu Spielbällen in der womöglich alles entscheidenden Schlacht. Dann – die Götterschlacht … Wer wird obsiegen? Die diabolische Herrscherin über Firn und Finsternis? Oder doch die ehrbaren Asen? Wer wird überleben? Menschen – oder …? Ragnarök. Das Ende ist angebrochen. Gewinner des Vincent-Preis 2017 als "Bester Roman".

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Götterschlacht

Torsten Scheib

Ein Mängelexemplare–RomanHerausgegeben von Constantin Dupien

© 2017 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Herausgeber der Reihe: Constantin Dupien

Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat & Korrektorat: Andre Piotrowski

Illustration: Julia Takagi

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-562-7

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch widme ich zwei Personen:

Gisela Scheib,

für tief empfundene Liebe und Dankbarkeit;

und Oliver Schrimpf,

für ein schönes Leben,

bar von jeglichem Hass und Ignoranz.

Mach was draus, Kleiner!

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Nachwort

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser,

im März 2013 habe ich im Rahmen von Leipzig liest, dem Veranstaltungsprogramm der Leipziger Buchmesse, in der SoupBAR Summarum die erste Ausgabe der Mängelexemplare vorgestellt. Die Anthologie widmete sich voll und ganz dem Makabren. Unterstützt wurde ich an jenem Abend von den Autoren Vincent Voss, Stefanie Maucher und Michael Sonntag, die jeweils aus ihren Geschichten im Buch vortrugen.

Was damals noch keiner von uns ahnte: Auf diese Kurzgeschichtensammlung sollte nun jedes Jahr eine neue Ausgabe folgen, die sich jeweils unterschiedlichen Themen der Phantastik zuwandte und die von den treuen Fans der Reihe immer wieder sehnsüchtig erwartet wurde – aus den Mängelexemplaren ist eine kleine Erfolgsgeschichte geworden.

März 2016. Drei Jahre nach der Geburtsstunde der Mängelexemplare lernte ich an selber Stelle – in der Suppenbar, die mittlerweile zum Stammlokal der Autoren geworden ist – endlich Torsten Scheib persönlich kennen. Wir feierten mit dem Novellenband Mängelexemplare: Heimgesucht die mittlerweile vierte Veröffentlichung der Reihe.

Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Torsten beim Vorlesen aus seiner Erzählung The Lost Place der Schweiß von der Stirn perlte.

Und das nicht nur, weil es so voll war, dass einige Besucher auf dem Boden Platz nehmen mussten. Sondern vor allem weil ihm diese Geschichte alles abverlangte: die Ereignisse überschlugen sich sekündlich, es krachte, toste und donnerte allerorts.

Und dem Autor gelang es, diese famos aufgeladene Stimmung zu übertragen: Die Luft in der Suppenbar knisterte. Die Zuhörer hielten gebannt die Luft an, als Torstens Stimme sich überschlug, er es donnern, tosen, krachen ließ.

Wie im Rausch tauchten wir alle ein in seine aberwitzige Welt, in der die Handlung nur eine Richtung kannte: voll nach vorn!

In diesem Moment wurde mir bewusst: ich kann mir keinen Autor vorstellen, der besser für die erste Romanveröffentlichung der Mängelexemplare geeignet wäre.

Denn schon zu diesem Zeitpunkt stand fest, dass die Entwicklung der Mängelexemplare mit Veröffentlichung einer Novellensammlung nicht beendet sein würde, sondern einen neuen Level erreichen sollte.

Nun, ein Jahr später, ist es soweit. Der erste Mängelexemplare-Roman steht in den Startlöchern. Und ich kann euch eines versprechen: Torsten Scheibs Novelle The Lost Place war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was der Autor zu leisten im Stande ist, wenn man ihm genügend Raum für seine Ideen lässt.

Es ist nichts geringeres als die Schlacht der Götter, was da auf uns zukommt.

Und ihr, liebe Leserinnen und Leser, dürft den Titel genauso verstehen, wie er sich liest – es werden die ganz großen Geschütze aufgefahren, hier wird gigantös auf den Putz gehauen.

Ich garantiere euch, dass ihr bis hin zum ultimativen Showdown keine Minute zur Ruhe kommen werdet.

Götterschlacht ist der Auftakt einer neuen Mängelexemplare-Ebene.

Gleichzeitig löst das Buch aber auch ein altes Versprechen ein. Ein Versprechen, das Torsten Scheib und ich bereits Anfang 2014 unseren Lesern gegeben haben. Die Fans der ersten Stunde werden sich erinnern: Ursprünglich sollte die Götterschlacht als letzte Geschichte Mängelexemplare: Dystopia beschließen. Der zweite Band ist bis heute die erfolgreichste Ausgabe der Reihe und wurde in gleich drei Kategorien beim Vincent Preis ausgezeichnet.

Und schon damals merkte Torsten schnell, dass das straffe Korsett einer Kurzgeschichte für seinen Stoff zu eng war. So beschlossen wir gemeinschaftlich, im Herbst desselben Jahres, eine alleinstehende Novelle als Spin-off nachzuliefern.

Doch die Geschichte wuchs und wuchs, wurde immer größer. Das Wort gigantös ist bereits gefallen. Insgesamt dauerte es drei Jahre, bis daraus ein würdiger, ein überwältigender Roman geworden ist.

Ich bereue keine einzige Minute des Wartens.

Und ihr werdet das auch nicht!

Es grüßt euch herzlich

Euer Constantin Dupien

7. April 2017

Vorbemerkung: Dies ist eine erfundene Geschichte, wenngleich das Gros der angegebenen Orte und Plätze (zumindest jene auf dieser Welt) real existiert, ich mir jedoch die künstlerische Freiheit erlaubte, sie aus dramatischen wie narrativen Gründen (ein wenig) umzugestalten.

– Der Autor

PROLOG

Die Gegenwart

Krallen zerreißen Fleisch, zerteilen Muskeln, zerfetzen Haut. Das feuchte Knirschen geht durch Mark und Bein. Sieh nicht hin!, ermahne ich mich. Zwecklos. Ein gehässiger, pervertierter Part meines Verstandes nötigt mich dazu, die Augen vor den Schrecken nicht zu verschließen. Indirekt treiben mich die grässlichen Anblicke voran. Tina, echot es in meinem Kopf. Ich kann, darf, will sie nicht aufgeben. Selbst jetzt nicht, in diesem Moment eigentlich vollkommener Hoffnungslosigkeit.

Der Order folgt eine Frage, die ich mir schon zuvor ohne Unterlass gestellt habe: Wo steckst du? Waren seine Versprechen nichts weiter als leere Phrasen gewesen, zerbrechliche Hüllen, bar jeglichen Inhalts? War er selbst nichts weiter als eine Illusion gewesen? So wie die Stimme gerade eben?

Ich wende mich dem Fenster zu, überzogen von einer zentimeterdicken Eisschicht, der sich immense Schneemassen anschließen. Weiter nichts. Irgendwo über uns tobt wahrscheinlich noch immer der Sturm, womöglich noch stärker als zuvor. Kein Zweifel: jetzt sind wir die letzten noch lebenden Menschen; die Letzten unserer Art, und selbst wenn ich diesen Angriff abwehren könnte – wie lange wären wir, wäre ich es dann noch, bevor Schnee und Eis und Kälte endgültig das bessere Blatt haben würden?

Ächzend zerre ich Tinas steif gefrorenen, schweren Körper über den Boden. Dunkle, schwarze Ranken sind ihren Hals hinaufgeklettert, haben ihr Gesicht eingefordert, das eine hellblaue Tönung angenommen hat. Wie Gletschereis. Ich kann kaum erkennen, ob sie noch atmet. Nicht einmal ihre Augen bewegen sich unter den zugefrorenen Lidern.

Fast schreie ich auf, als sich etwas Hartes, Unbewegliches gegen meinen Rücken drängt. Es ist das Panoramafenster. Weiter geht’s nicht mehr. Sackgasse.

Jemand schreit. Ich lasse mich zu Boden sinken, kneife die Augen zusammen. Heiße Tränen lösen sich aus den Augenwinkeln, vereisen sofort. Entschlossen ziehe ich Tina zu mir. Ich will meine Wange an ihr kaltes Gesicht legen, will sie bei mir haben, muss sie ein allerletztes Mal spüren, bevor ...

KAPITEL 1

Am Rande des südlichen Odenwaldes

»Der ... Wahn...sinn!«

Es fehlt nur noch ein Eisverkäufer. Oder eine von diesen Ein-Mann-Würstchenbuden. So faszinierend das Spektakel am nächtlichen Firmament auch anmutete, für die Reihen der Gaffer hatte Robin Naths nur grimmiges Kopfschütteln übrig. In Reih und Glied standen sie auf dem Bürgersteig und ungeniert mitten auf der Straße, die Augen aufgerissen, grinsend, staunend. Handys und Kameras waren den malachitgrünen Wirbeln entgegengereckt. Techno-Opfergaben einer Zivilisation, die das wahre Leben immer mehr gegen Facebook, YouTube und Konsorten austauschte.

Robin trat beiseite, als er den Ford Focus näher kommen sah. Der Fahrer tat ihm leid. Die Menge der Gaffer ließ ihn maximal meterweise vorankommen, falls überhaupt. Nüchtern verfolgte er, wie der junge Mann, der eben seine Begeisterung kundgetan hatte, grölend auf die Motorhaube des Wagens trommelte, ehe er sich davontrollte. Immerhin hat dieses Cobain-Abziehbildchen nicht aggressiv auf das Hupen reagiert, fand Robin.

»Das ist falsch«, bemerkte Timo Falke, sein Freund und WG-Mitbewohner, der plötzlich neben ihm stand. Sein ausgestreckter Arm zeigte nach oben. »Ich meine, Nordlichter? In dieser Form? Über Deutschland und praktisch der gesamten Hemisphäre? Mitten im Juli? Kommt das nur mir eigenartig vor? Hallo?«

»Da ist was dran«, pflichtete ihm Robin bei. »Ich bin zwar kein Meteorologe und auch kein Autor mit ausgeprägter Fantasie, aber in Ordnung ist das nicht.«

»Mein Magengefühl sagt mir, dass das böse enden wird – und das irrt sich so gut wie nie.«

Robin nickte stumm. Manchmal mochte der Polizist in Timo zu sehr die Oberhand gewinnen, doch hier und jetzt konnte er ihm nur zustimmen. Doch wie genau würde dieses böse Ende aussehen? Was war der Grund für die Erscheinungen? Wie sah deren Fortsetzung aus? Dass das Leuchten einfach wieder verschwinden würde, daran zweifelte Robin stark. Am allerschlimmsten ist die Ungewissheit. Er klopfte seinem Kumpel auf die Schulter. »Ich hab genug gesehen. Außerdem muss ich ja morgen wieder raus.«

Timo nickte und schloss sich ihm an. Zuvor ermahnte er jedoch die Eltern eines kleinen Mädchens, das bestenfalls sechs oder sieben Jahre alt sein konnte: »Schon mal auf die Uhr geguckt? Von Bettzeiten haltet ihr nicht viel, was?«

Der Vater – bärtig, Adiletten, fleckiges Unterhemd – winkte bloß ab. Dass in seiner Hand eine Bierflasche klemmte, überraschte Robin nur geringfügig.

»Asoziales Pack«, kommentierte Timo das Gesehene. »Wegen solchen Gesocks müssen die anständigen, arbeitswilligen Arbeitslosen leiden. Und irgendwann wird die Kleine auch mal so enden. Kriegt es ja auch hübsch vorgemacht.«

Robin behielt seine Meinung für sich, fand aber, dass Timo nicht unbedingt im Unrecht war. Im Kielwasser seines Freundes bahnte er sich einen Weg durch die Schaulustigen, die kein Jota von ihren angestammten Plätzen wichen. Wozu auch? Immerhin waren sie Zeugen eines Jahrhundert-, nein, Jahrtausendschauspiels! Timo und er hätten auch ebenso gut unsichtbar sein können. Immerhin, nun wusste Robin, wie sich der Besitzer des Fords gefühlt haben musste.

Das Treppenhaus war verwaist, als sie es betraten. Ihre Schritte echoten die Stockwerke hinauf. Selbst hier drinnen konnte Robin diese merkwürdige, unheilschwangere Atmosphäre spüren, welche den Gaffern und Amateurfilmern anscheinend vollständig entgangen war. Oder bin ich jetzt genauso ein Pessimist wie Timo?

Hinter der Tür, die zur Wohnung der Badingers im dritten Stock führte, ertönte gedämpfte Partymusik – Irgendwas von Daft Punk, erkannte Robin –, unterbrochen durch fröhliche Stimmen und Gejohle.

»Sosehr ich das Gesocks von gerade eben hasse – die sind nicht viel besser«, bemerkte Timo. »Beschissene Möchtegern-Hipster. Sind mit goldenen Löffeln im Arsch zur Welt gekommen, aber zu geizig für ’n paar Einwegrasierer und machen jetzt einen auf Revoluzzer. Die würden selbst beim Weltuntergang noch einen draufmachen, dieses oberflächliche Pack!«

Wortlos brachten sie die letzten beiden Stockwerke hinter sich. Erst als Robin den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, folgte Timos Epilog: »Genau das ist mit dieser Welt nicht in Ordnung, wenn du mich fragst. Oberflächlichkeit und Indifferenz.«

Nickend stieß Robin die Haustür auf. »Lust auf ein Bier?«

»Klingt nach einem Plan«, entgegnete Timo und huschte den Flur entlang Richtung Wohnzimmer. Seufzend wandte sich Robin der Küche zu. Vor dem Fenster erkannte er die Gestalt von Tina Sellinger. Den Kopf in den Nacken gelegt und sich am Fensterbrett abstützend, starrte auch sie das grüne Flimmern an.

»Was das wohl sein mag?«, sinnierte sie mit einem langsamen Kopfschütteln. Robin platzierte sich neben seine Freundin, massierte ihr mit einer Hand die Schulter. Sie schloss die Augen, stöhnte. Ihre Wange schmiegte sich an seinen Handrücken. Robins Blick galt bereits wieder dem grün flirrenden Band am Nachthimmel. Gute Frage, ergänzte er in Gedanken und beschloss, keine Antwort zu geben. Zu viele Ungewissheiten konnten einen kirre machen.

»Ich denke, ich gehe ins Bett«, verkündete Tina nach einem ungeniert herzhaften Gähnen. »Irgendwann verliert alles seinen Reiz.« Sie löste sich von Robin. »Fast alles«, korrigierte sie sich. In ihrer Stimme lagen Versprechen und Forderung. »Und für ein bisschen Spaß bin ich nie zu müde.«

Robin, der sich mit einer Hand an der offenen Kühlschranktür abstützte, kniff die Lippen zusammen. Scheiße! Die andere Hand brachte zwei herrlich gekühlte Flaschen Bitburger hervor. »Bin ich auch nicht, aber ...« Er hob – klink, klink! – beide Flaschen. »Ich hab Timo was versprochen. Aber danach ...«

Tina winkte ab. »Ich kenne dein ›Danach‹.« Ein Achselzucken. »Halb so wild. Dann vergnüge ich mich eben mit meinem Vibrator. Oder mit Hans. Oder allen beiden.« Vergnügt blinzelte sie ihm zu und kicherte, als sie Robins verdutzten Ausdruck sah. Zum Abschied schenkte sie ihm ein kurzes Winken. »Mach nicht zu lange.« Und weg war sie.

Etwas mehr als nur verkniffen musterte Robin den Gerstensaft, bevor er die Kühlschranktür recht unsanft zuschlug. »Ach, Kacke!« Er hasste es, wenn er hin und her gerissen war. Aber vielleicht konnte er den Absacker mit Timo ein bisschen komprimieren, um danach ...?

Das Glas klirrte leise, als er durch den Flur und weiter ins Wohnzimmer ging. Timo fläzte sich schon auf der reichlich durchgesessenen Couch ihrer WG. Irgendwann war das Ding mal kirschrot gewesen. Jetzt besaß es die Farbe von verwässertem Cranberrysaft, komplettiert durch diverse Flecken und dem einen oder anderen Riss. Trotzdem würden sie diese immer noch saubequeme Sitzgelegenheit erst auf den Müll schmeißen, wenn sie – in hoffentlich ferner Zukunft – von alleine in ihre Bestandteile auseinanderbrach. Die Couch gehörte zu dieser Wohnungsgemeinschaft, ganz einfach, und war eben saubequem.

»Bitte sehr.« Robin reichte Timo die Flasche, der seine Füße vom Rand des schlichten Wohnzimmertischs aus schwedischer Fertigung löste und unvermittelt ein Feuerzeug in der anderen Hand hielt. Ein Plopp später segelte der Korken bereits durch die Luft, bevor das Feuerzeug den Besitzer wechselte. Robin machte es seinem Kumpel gleich. Schaum sprudelte über den Flaschenrand. Er beseitigte ihn schlürfend, ließ sich neben Timo auf die Couch fallen und stieß mit ihm an. Erst jetzt bemerkte er Hans, der den rechten Teil der Couch für sich beansprucht hatte. Unweigerlich musste er an Sheldon aus The Big Bang Theory denken. Mit dem Unterschied, dass dieser keine Kurt-Cobain-Matte spazieren trug und auch kein Gestell auf seinen Nasenrücken geklemmt hatte, das aus einem Teenagerfilm der 80er hätte sein können. Vorgebeugt kritzelte Hans Baudach etwas in ein Notizbuch. Abwechselnd überflog er seine aufgeschlagenen Bücher, gefolgt von einem sehr raschen Blick hinüber zum Fernseher, wo sich eine Sondersendung mit – na was wohl? – beschäftigte.

»Na, alles klar bei dir?«, wandte sich Robin an das vierte WG-Mitglied. Hans wirkte wie jemand, den man unsanft aus dem Dämmerschlaf gerissen hatte. Seine Lippen bewegten sich, seine Augen rollten murmelgleich umher, mit einer Hand schob er eine fettige blonde Haarsträhne hinters Ohr. Könntest dich auch mal wieder duschen, kam es Robin in den Sinn. Trotz Hans’ schüchternem, introvertiertem Wesen – er mochte ihn. Sehr sogar. Denn dahinter verbarg sich ein ungemein kluger, mitunter sogar sehr schlagfertiger und vor allem loyaler Geist. Wenn man ihn brauchte, war Hans stets für seine Freunde da, ein Wesenszug, den Robin nicht hoch genug einschätzen konnte. Und der nur sehr bedingt auf Timo zutrifft. Er deutete auf die Bücher, die Ausdrucke und Notizen auf dem Tisch. »Alter, büffelst du immer noch? Es ist gleich halb eins in der Früh – am Samstag!«

»Dummerweise erledigt sich so ein Studium der Allgemeinmedizin nicht von selbst«, versuchte sich Hans in Ironie. »Dafür muss man was tun. Ich kann nicht die ganze Zeit über in den Himmel starren!«

»Heißt das, wir haben unsere Zeit mit Schwachsinn verplempert?«, kam der prompte und etwas zu gereizt klingende Konter Timos.

»Aber du hast dir das Wetterleuchten angesehen«, gesellte sich Robin dazu, auch um jede Aggression im Keim zu ersticken. Mit Hans und Timo war es immer ein wenig wie mit Hund und Katze. Mal ging es gut, oft genug aber auch nicht.

»Ja, vorhin, ganz kurz«, wiegelte Hans ab, der bereits wieder die Nase in seinen Büchern stecken hatte. »Ist nichts Besonderes, wenn ihr mich fragt. Das heißt, je nach Standpunkt. Die erboste Mitteilung von Mutter Natur, nicht mehr so viel Dreck in die Luft zu schleudern, wenn ihr wisst, was ich meine. Nicht«, er wedelte in Richtung Fernseher, »so was wie das da.«

»Esoterikheinis«, ergänzte Timo. »Neo-Hippies. Und er trägt sogar Birkenstockschlappen.« Er griff nach der Fernbedienung, machte den Ton lauter. »Immerhin, seine Theorie besitzt leidlichen Unterhaltungswert. Zieh’s dir rein.«

Und das tat Robin. Schweigend verfolgte er die einigermaßen sachlich geführte Sondersendung, wenngleich es dem Moderator mitunter schwerfiel, die Contenance zu bewahren. Verständlich, in Anbetracht der Theorie, welche der Mann namens Sigurd von Hoppe-Jaaper (Autor) vorbrachte.

»Die Vorzeichen sind ganz eindeutig: Nordlichter, die synchron in jedem Teil der Welt auftauchen, die überraschend und ungewöhnlich starken Schneestürme in den nordischen beziehungsweise skandinavischen Regionen inklusive des plötzlichen Verstummens jeglicher Kommunikationsmittel ...«

»Was in Anbetracht der Stärke dieser Stürme und Unwetter allerdings keinesfalls so außergewöhnlich ist.« Hinter dem Moderator wurden Videoaufnahmen und grobkörnige Fotos gezeigt. Städte wie Oslo, Helsinki, Reykjavik oder Tallinn versanken förmlich unter den weißen Massen. Stürme tobten mit hoher Geschwindigkeit durch Stadt und Land, rissen Bäume und Strommasten um, schoben Autos und sogar schwere Lkws wie Spielzeug umher.

»Dann erklären sie mir bitte den Ausfall der Wetter- und auch Spionagesatelliten, die über besagte Gebiete geflogen sind!«, entgegnete von Hoppe-Jaaper. Der Mann wirkte ebenso selbstgefällig wie verzweifelt. Ein moderner Don Quichotte, der gegen Windmühlen anrannte. Mit Vollbart. Und Birkenstocksandalen. Auf einmal wirkte der Moderator nervös. Die Aussage seines Gegenübers hatte ihn sichtlich aus der Komfortzone gerissen. Unstet schaute er sich um, vermutlich in Richtung des Teams. Sein Zeigefinger legte sich auf den kleinen Knopf im Ohr. Erfolglos. Die Einspielung präsentierte gerade einen Hagelsturm, der sich mit voller Macht auf Kopenhagen entlud, mit Hagelkörnern, die zum Teil die Größe von Wassermelonen besaßen. Autos wurden von den Einschlägen zusammengedrückt wie leere Bierdosen, auf den Straßen und Gehsteigen entstanden tiefe Krater und auch die Fassaden der Häuser wurden nicht verschont. Schlagartiges weißes Rauschen beendete die Amateuraufnahme. Robin ahnte, was dem Filmer zugestoßen war. Ein Schaudern durchfuhr ihn.

Unterdessen fuhr von Hoppe-Jaaper unvermindert fort, diesmal mit ein paar matten Fotoausdrucken, die er im Halbkreis umherschwenkte, damit auch jeder sie richtig sehen konnte: Zuschauer, Moderator, Aufnahmeteam.

»Und was hat es damit auf sich? Erkennen Sie diese schlangenähnlichen, geflügelten Objekte? Sie wurden unweit von Fredrikstad aufgenommen, vor wenigen Stunden. Einer meiner zahlreichen Internetkontakte hat mir diese Bilder zugespielt – und was sie zeigen, ist meiner Meinung nach eindeutig.«

»Eindeutiger Blödsinn«, kommentierte Timo. Hans sah ihn scharf an und auch Robin wirkte leicht verärgert. Sein Magen verkrampfte sich.

»Gef-geflügelt? Worauf wollen Sie hinaus? Meinen Sie damit Flugkörper?«

»Durchaus, aber nicht von Menschenhand hergestellt. Diese Objekte sind Lebewesen. Auf Altnordisch heißen sie Jörmungandr – Midgardschlangen.«

»Midgard...?«

»...schlangen, ganz recht.« Von Hoppe-Jaaper kramte in der rissigen Lederaktentasche, die an seinem Designersessel lehnte, und zog ein Bild hervor, das Duplikat eines alten Gemäldes, auf dem ein nackter, muskelbewehrter Hüne gegen ein feucht schimmerndes, schwarzes Ungetüm kämpfte, das neben zwei auffällig spitzen Ohren zudem mit mächtigen Schwingen ausgestattet war.

»Es hat begonnen!« Nun hörte sich von Hoppe-Jaaper verzweifelt an, wie jemand, der begriffen hatte, dass er in der Schlacht untergehen würde. Ein geschlagener Mann. »Die Prophezeiung der Völuspá! Ragnarök! Die Götterdämmerung! Das Ende der Welt!«

Synchron schüttelten Hans und Timo den Kopf. Mit der Flasche vor seinen Lippen verharrend, lauschte Robin gebannt weiter. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb.

Inzwischen hatte sich der Moderator wieder einigermaßen gefasst und stellte die nächste Frage, während er an seiner Seidenkrawatte mit ultrahässlichem Querstreifenmuster nestelte: »Das Ende der Welt? Halten Sie das nicht für ein bisschen zu weit hergeholt?«

»Keinesfalls. Die Anzeichen sind alle da. Und sie sind eindeutig. Der Untergang der Götter oder auch Weltuntergang steht unmittelbar bevor beziehungsweise hat bereits begonnen.«

»Augenblick mal, Herr von Hoppe-Jaaper. Aber wie können ein Untergang der Götter und ein Weltuntergang ein und dasselbe sein?«

Der Experte/Autor (so die Einblendung) atmete tief ein. Dann: »Im Grunde steht Ragnarök für den finalen Kampf der Götter. Gegeneinander. Beziehungsweise gegen die Riesen. Das Böse. Eine Schlacht, die man in Worten nicht beschreiben kann. Während beziehungsweise nach dem sogenannten Fimbulwinter, einer dreijährigen Eiszeit, wenn man es so titulieren möchte.«

»Eine ... Eiszeit? Sie sprechen vom Klimawandel?«

»Nein! Ich spreche vom – Ende! Ich spreche von riesigen Wölfen und geflügelten Schlangen, die über das Antlitz der Erde ziehen, von Erdbeben und Feuerriesen, von toxischer Luft und brennenden Ozeanen, von Sternen, die auf die Erde stürzen! Hier, es steht alles hier drin!« Mit knallrotem Gesicht und zitternd hielt von Hoppe-Jaaper nun ein altes Buch in die Kamera. Die Goldlettern des Einbands waren größtenteils abgeblättert, wenn auch nicht zu stark, um das Wort Ragnarök zu entziffern.

»Na schön.« Der Moderator schindete Zeit, indem er seine Beine übereinanderschlug, sich zurücklehnte, einen auf gelassen machte. »Nehmen wir Ihre Theorie, dieses ... Ragnarök für bare Münze. Wie sollten sich die Bürger Ihrer Meinung nach verhalten, die Regierung? Welche Schutzmaßnahmen sollten anlaufen?«

Von Hoppe-Jaaper war plötzlich sehr ruhig. Gefasst. Er starrte zu Boden, als er antwortete: »Dagegen wird es keinen Schutz geben. Nicht gegen solche Kräfte. Gegen Götter und Riesen. Was die Bürger tun können? Was die Menschheit tun kann? Nichts. Außer beten vielleicht. Gut möglich, dass die Überlebenden – falls es überhaupt welche geben sollte – die Toten beneiden werden.«

Von Hoppe-Jaapers Antwort war noch nicht vollständig verklungen, als auch schon die dramatische Konservenmusik eingespielt wurde. Einen Tacken zu laut, wie Robin fand. Als er sich Hans und Timo zuwandte, fiel ihm die Nachdenklichkeit der beiden auf. Hinter der Stirn von Hans arbeitete es. Auf einmal waren seine Bücher nebensächlich geworden.

Ein finales Zurechtrücken seiner scheußlichen Krawatte, ein nervöses Lächeln. »Tja, und damit ist unsere Sendezeit leider vorbei«, erklärte der Moderator, dessen Gesichtsfarbe für Robin einen Hauch blasser als zu Beginn wirkte. »Es ist gewiss eine interessante Theorie, welche unser Studiogast, der bekannte Esoteriker und Buchautor Sigurd von Hoppe-Jaaper soeben vorgetragen hat. Doch handelt es sich bei den merkwürdigen und zuweilen auch durchaus beängstigenden Erscheinungen und extremen Wetterumschwüngen tatsächlich um Anzeichen, die eine finale Götterschlacht ankündigen?«

Von Hoppe-Jaaper wollte protestierend aufspringen, wurde aber vom Moderator dezent, wenngleich eindeutig in die Schranken verwiesen. »Oder sind dies doch die Auswirkungen eines immer schneller fortschreitenden Klimawandels? Sie entscheiden. Selbstverständlich werden wir Sie über weitere Vorkommnisse auf dem Laufenden halten. Guten Abend.«

»Hm.« Timo ließ sich zurücksinken, nahm einen großen Schluck. »Wisst ihr, an was ich gerade denken muss?«, fragte er in die Runde. Seine Finger spielten mit dem Etikett der Flasche. »An diesen alten Zombiefilm. Keine Ahnung, wann ich den zum letzten Mal gesehen habe. Der hatte genau denselben Anfang. Sondersendung, einer weiß Bescheid, will die Leute warnen, wird ausgelacht. Und am Ende waren sie alle gefickt. So lächerlich und abgedreht dieses Ragnarök auch sein mag, mein Magengefühl sagt mir immer noch, dass diese ganze Scheiße kein gutes Ende nehmen wird. Unabhängig davon, ob es sich um den Klimawandel, ’ne Alieninvasion oder eben doch dieses beschissene Ragnarök handelt. Aber wisst ihr, was das Übelste bei der ganzen Sache ist? Keine Sau hat einen richtigen Plan. Bisher sind das doch alles vage Vermutungen. Nix Handfestes, auch nicht von unserem Jesuslatschenfreund hier. So was hasse ich. Im aktiven Dienst gab’s die Scheiße auch schon oft genug. Bei Neonaziaufmärschen, Protesten, Fußballspielen: Jedes Mal ist es wie bei einem brodelnden Vulkan. Man wartet drauf, dass er ausbricht, aber keiner weiß, wann oder in welcher Stärke – und wenn es dann so weit ist, wird man überrumpelt.«

Robin nickte stumm. Hans kratzte sich mit einem Kuli den Nacken. »Wisst ihr, an wen ich denken musste? An Arthur C. Clarke, den Typ, der 2001 geschrieben hat. ›Eine hinreichend fortgeschrittene Technologie lässt sich nicht mehr von Zauberei unterscheiden.‹ Was, wenn es gar keine Götter sind, sondern Vertreter von unglaublich weit entwickelten Rassen, deren Technik wir nicht einmal ansatzweise verstehen können? Vielleicht ist das die wahre Bedeutung von Ragnarök.«

Timos Hand sprang in die Höhe. »Alter, lass es. Mit solchem Müll begibst du dich auf das Niveau von diesem Spinner mit seinem Göttertick. Du bist schon schräg genug. Noch mehr könnte ich nicht vertragen.«

»Sagt der Typ, der seinen Testosteronhaushalt nicht bändigen kann«, ätzte Hans.

Währenddessen spürte Robin, wie er von der Müdigkeit wie von einem schweren Stein nach unten gezogen wurde. Das Bier hatte ihm einen Bärendienst erwiesen. Für ein bisschen Spaß mit Tina fehlte ihm nun einerseits die Kraft und dank des Alkohols auch das erforderliche Stehvermögen. Na ja. Dafür werde ich wenigstens gut schlafen können – sofern ich nicht von irgendwelchen Albträumen geplagt werde. Er stellte die leere Bierflasche ab, erhob sich schwerfällig. »Jungs, ich geh in die Falle. War ’n langer Tag.« Kurzer Blick auf die Uhr: gleich halb zwei Uhr morgens. »Das solltet ihr auch tun. Trotz Wetterleuchten und Ragnarök und dem ganzen Scheiß.« Mit bleischweren Gliedern schlurfte er gen Schlafzimmer.

»Gute Idee«, stieß Hans hervor und klaubte schnell seine Sachen zusammen. Timo beachtete ihn nicht. Seine Augen klebten am Fernseher, während er via Fernbedienung die Sender nach der nächsten Sondersendung, den nächsten Amateuraufnahmen, den nächsten mutmaßlichen Expertenmeinungen abklapperte.

»Ich werde noch ein Weilchen hier sitzen bleiben«, verkündete er monoton. »Zum Schlafen bin ich eh viel zu aufgekratzt.«

Ganz der Polizist, dachte Robin, als er vorsichtig die Schlafzimmertür aufstieß. Es war dunkel. Nicht mal die Nachtlampe war angeschaltet. Fahle, wabernde Helligkeit überzog Tina mit einem grünlichen Schimmer. Ihr Atem ging gleichmäßig. Das leise Schnarchen verriet Timo, dass das Sandmännchen gewonnen hatte. Was soll’s? Lautlos glitt er ins Bett, rutschte neben Tina und legte einen Arm um sie. Ihr schwaches Seufzen, als er sein Kinn in die Kuhle zwischen Schulter und Hals legte, zeugte von Geborgenheit.

* * *

Auf- und abschwellendes Geheul durchbrach die Dunkelheit, entriss ihn der wunderbaren Sorglosigkeit, dem herrlichen Nichts der Traumlosigkeit. Schwerfällig öffneten sich seine Augen. Unstet suchte sein ausgestreckter Arm nach dem Schalter der Nachttischlampe – und wurde schließlich fündig. Das grelle Licht blendete ihn. Stöhnend wandte er sich ab, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten.

Das Geheul blieb. Es dauerte einen Augenblick, bis auch sein Verstand die Schlaftrunkenheit halbwegs abgeschüttelt hatte und prompt in den Alarmmodus überging. Sirenen! Alarmsirenen! Sein nächster Gedanke galt Tina. Er wandte sich ihr zu – und schaute in ihr ratlos-besorgtes Gesicht. Just als er etwas sagen wollte, wurde die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufgestoßen. Es war Timo. Angespannt definierte seinen Zustand nicht mal ansatzweise. Er stand kurz vor der Explosion. Panik, Ungeduld und Angst hatten sich in seine Züge gebrannt. Seine Augen stemmten sich aus den Höhlen und unter seiner Haut schien ein Netzwerk aus straff angezogenen Stahlkabeln zu verlaufen: »BEEILT EUCH! STEHT AUF! ES HAT BEGONNEN! UNS BLEIBT KEINE ZEIT MEHR; WIR MÜSSEN WEG VON HIER!« Unterstützend drosch er seine Handfläche ohne Unterlass gegen den Türrahmen.

»Verdammt noch mal, Timo!« Mächtig angefressen, kickte Robin die Bettdecke beiseite und vollführte eine Sitzpirouette. Nur mit seinen Boxershorts bekleidet, tappte er eilends hinüber zu seinem Freund, dessen Atem schwer und behäbig ging. »Kannst du mir bitte schön verraten, was diese Kacke soll? Mitten in der Nacht? Um«, der schnelle Blick gen Wanduhr, »halb vier Uhr morgens? Hast du etwa die ganze Zeit über vor der Glotze gehangen?«

»Sei froh, dass ich es getan habe«, bellte Timo und deutete hinüber zum Wandschrank. »Und jetzt packt endlich eure Sachen ein, Herrgott noch mal!«

Robin wandte sich kurz an Tina, von der er Entsetzen und Verständnislosigkeit erntete. Ihm ging es auch nicht viel anders. »Einen Dreck werde ich!«, konterte er in gleicher Lautstärke. »Jedenfalls nicht, bevor mir jemand erklärt, was hier eigentlich gespielt wird!«

»Das Ende der Welt – das ist hier los«, ertönte es hinter Timos breiten Schultern. Es war Hans. Beladen mit zwei Sporttaschen, huschte er den Flur entlang, bevor er seine Sachen unsanft vor der Wohnungstür ablud. Schnellen Schrittes eilte er zu Timo und Robin: »Dieser Verrückte mit den Jesuslatschen – der hat doch recht gehabt!« Und fort war er wieder, diesmal in der Küche.

Falten erschienen auf Robins Stirn. Er suchte nach Worten, fand aber keine. Die ganze Sache war einfach zu verrückt. Doch was hatte es dann mit den Sirenen auf sich?

Timo schien seine Gedanken erraten zu haben. »Schaut aus dem Fenster.« Sein kantiges Kinn vollführte die entsprechende Bewegung. Er klang plötzlich sehr gefasst, sehr ruhig. Zu ruhig. »Bald ist es da.«

»Bald ...«, begann Robin, blickte über seine Schulter – und erstarrte. Ein hinterfotziger Kastenteufel zerrte ihm den Boden unter den Füßen weg. Während sein Körper den Anblick prompt richtig einzuschätzen schien, brauchten seine grauen Zellen etwas länger. Wie hypnotisiert trottete er zum Fenster. Dass sich Tina ihm anschloss, nahm er maximal als Marginalie wahr. Hier, im vierten Stock, direkt unter dem Dach, hatten sie eine hervorragende Sicht auf die oberrheinische Tiefebene. Selbst nachts lag die Region wie eine aufgeschlagene Landkarte vor einem, den Lichtern von Städten und Dörfern und den Bändern der Autobahnen sei Dank. Hier und jetzt aber waren Städte wie Worms oder Mannheim, die Haardt unter einem grellen orange-gelblichem Sperrfeuer verschwunden. Einer Glocke, die aus Millionen Feuertropfen zu bestehen schien – als würden sämtliche Schweißer der Welt synchron loslegen. Vage konnte Robin in der Ferne Dampfwolken ausmachen, Flammenzungen und Explosionen. Alles in ihm zog sich zusammen. Timo hat recht, erkannte er. Bald wird es da sein: das Ende, die Zerstörung. Neben ihm presste Tina beide Hände vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Ihre Tränen konnte sie jedoch nicht zurückhalten.

Erneut war es Timo, der sie aus ihrer Reglosigkeit riss: »JETZT MACHT ENDLICH! ODER WOLLT IHR VERRECKEN!«

Ungestüm zogen sich Robin und Tina an. Timo war wieder verschwunden. Robin konnte seine Stimme draußen hören. Timo redete aufgebracht mit Hans; irgendwas passte ihm ganz und gar nicht. »Bin gleich wieder da«, flüsterte er Tina zu und eilte nach draußen. Umgehend erkannte er das Problem. Sie steckte in Timos Hosenbund.

»Er will die Knarre mitnehmen!«, protestierte der durch und durch pazifistisch eingestellte Hans. »Stell dir das mal vor!«

»Da draußen ist die Hölle los«, entgegnete Timo. »Lauter Irre! Da wird keiner Rücksicht nehmen! Mit netten Worten wirst du da nicht weit kommen, mein liebes Hänschen! Zuvor schlitzt dir einer die Kehle auf und pisst auf deinen Leichnam!«

»Hör zu, Hans – Timo hat recht.« Nervös kratzte sich Robin an der Stirn. Bloß jetzt keinen Streit zwischen Hans und Timo. Andernfalls würde die von Timo angedeutete Hölle bereits in ihrer WG stattfinden. »Keine Ahnung, was da gerade auf uns zukommt, aber in jedem Fall wird dort draußen das Chaos herrschen. Absolute Anarchie. ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹, wenn du verstehst, was ich meine.«

Schmollend drehte sich Hans ab.

»Okay.« Robin versuchte sich zu sammeln. »Ich dachte aber immer, dass ihr eure Dienstwaffen nach Arbeitsende abgeben müsst ...?«

»Ist nicht meine Dienstwaffe.«

»Okay, okay.« Robin wollte das Thema nicht weiter vertiefen. Dazu blieb ihnen auch keine Zeit, wie die immer stärker werdende Helligkeit bezeugte. Das Feuer kam mit mächtig großen Schritten angewalzt. Längst war es taghell in der Wohnung. »Aber ... wohin sollen wir, ähm ... fliehen? Oder fahren? Ich für meinen Teil hab jedenfalls keine Idee.«

»Bevor die Sender den Betrieb einstellten, faselten sie was von Katastrophencamps. Unter anderem bei Karlsruhe, Mannheim und ... Neu-Isenburg. Das waren jedenfalls diejenigen, die ich mitbekommen hab.«

»Den Süden können wir vergessen, denke ich. Schon unter nichtapokalyptischen Bedingungen sind die Staus auf der A 5 und A 6 bei Mannheim der blanke Horror. Darüber hinaus: Stellt euch vor, es hat die dortigen Chemiewerke erwischt ... dann wollt ihr nicht dort sein; vertraut mir. Es bleibt also nur noch Neu-Isenburg. Wenn wir es bis dahin schaffen. Das sind mindestens 50, 60 Kilometer.« Robin blickte auf. »Hältst du es denn für die richtige Entscheidung?«

»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht«, gestand Timo. »Aber hier können wir nicht bleiben. Selbst wenn wir uns im Keller verschanzen würd...«

Ein gewaltiger Knall brachte Timo zum Schweigen. Das Gebäude erzitterte wie ein Kartenhaus auf einem besonders wackligen Klapptisch. Aus taghell wurde Supernova. Ein paar Sekunden bestenfalls, doch für Robin fühlte es sich wie eine kleine Ewigkeit an. Das scharfe Weiß durchdrang selbst seine fest zusammengekniffenen Lider. In seiner Kehle formte sich so etwas wie ein Schrei, doch schrie er tatsächlich ...? Er vermochte es nicht zu sagen. Hilflos wurde er von links nach rechts geworfen wie eine Flipperkugel. Auf schmerzhafte Weise lernten sein linker und sein rechter Arm abwechselnd die Stabilität der Wände kennen. Dann war es vorbei – und doch nicht. Dieser gewaltige Blitz, der in unmittelbarer Nähe eingeschlagen war, war eine eindeutige Warnung gewesen.

Gedämpft vernahm Robin so etwas wie einen Knall – eine Explosion? –, aufgeregte Stimmen, Schreie, das Heulen von Sirenen. Draußen war die Hölle bereits ausgebrochen. Geduckt und noch immer leicht benommen, stürmte er ins Schlafzimmer, gerade als Tina den Reißverschluss der zweiten Sporttasche geschlossen hatte. Sie blickte zu ihm auf, wirkte nun weniger verängstigt, vielmehr entschlossen. »Die hier ist deine, das hier ist meine, okay?« Sie wuchtete den Riemen ihrer Tasche auf die Schulter. Das grüne Stoffband zog sich wie eine Schärpe über ihre Brust.

»Ist die nicht ... zu schwer für dich?«, erkundigte sich Robin atemlos und dabei gleichzeitig seine eigene Sporttasche schulternd.

»Vergiss es!«, kam der prompte Konter, inklusive zu Robin gerichteter Handfläche. »Ich komm schon klar, okay?«

Ein zweiter Blitz folgte. Auf Robin wirkte er noch lauter, noch hässlicher, noch zorniger. Sofort klingelten seine Ohren. Ganz in der Nähe schepperte Glas. Das Fenster! Augenblicklich riss er Tina beiseite und begrub sie unter sich, den Kopf abgewendet. Doch er war nicht schnell genug. Scharfe Splitter rissen ihm die Haut auf: am Nacken, auf der Stirn, im Gesicht. Er verdrängte den Schmerz, so gut es ging, half Tina auf die Beine. Warmer – Korrektur: heißer – Nachtwind fegte durchs Zimmer, machte das Atmen plötzlich schwer. Und dieser orange-gelbliche Schimmer ... er kam ihm nun wesentlich stärker, kräftiger vor. Als befände sich der Feuerregen ...

Zischende, fauchende, knisternde Feuertropfen versperrten die Sicht nach draußen. Robin fiel der Vergleich mit Napalm ein, doch hinkte dieser. Napalm war ein zähflüssiges Dreckszeug, diese Feuertropfen wesentlich feiner. Auf ihn wirkten sie wie Wassertropfen, die an einer hydrophoben Oberfläche einfach abperlten – der berühmte Lotuseffekt. Mit dem bedeutenden Unterschied, dass sich diese Tropfen anscheinend in alles fraßen, was sich ihnen in den Weg stellte. Oder es zumindest zum Brennen, Schmelzen oder Glühen brachten. Etwa die Fensterbank, aus der ein schwelendes Ding mit verkohlten Löchern geworden war. Oder die verbliebenen Glasscherben, die ob der Hitze zergingen, die schwartige Form weicher wurde, bevor zähflüssige, transparente Tropfen fielen. Oder der Vorhang, das Bett, der Nachttisch, die Wand, das Dach ...

Oh Scheiße ...!

Fast ehrfurchtsvoll legte Robin den Kopf in den Nacken. Ihre Wohnung befand sich direkt unter dem Dachstuhl, lediglich durch ein paar gewiss betagte Holzbalken, mit Moos überzogene Ziegel und furztrockene Glaswolle voneinander getrennt. Lange würde sich das Zeug angesichts dieses Feuerhagels nicht halten können. Wie lange, wurde ihm bewusst, als er den dunklen Brandfleck an der Decke ausmachte, einen übergroßen Rorschachklecks, dessen Ränder von hässlichen, orangen Äderchen durchzogen waren. Das Feuer, der Feuerregen, der alles verschlingende Brandhagel – er war nicht unterwegs zu ihnen. Er hatte sie längst erreicht.

»Schnell!« Gehetzt stürmte er hinüber zum Bett, schnappte sich die Tagesdecke. Als sich Robin zurückzog, löste sich der darüber befindliche Teil der Decke. Putz, Mörtel und Backstein krachte auf ihre Schlafstätte, direkt gefolgt von einem Wasserfall aus flüssigem Feuer, der Bett und Baumaterialien zu Asche reduzierte.

»HAUEN WIR AB!«, schrie Robin und zog Tina nach draußen. Hans und Timo warteten bereits vor der Haustür. Sie hatten auch ihre Taschen geschultert. »Keine üble Idee«, bemerkte Timo, als er die Decke sah. »Darauf hätte ich auch kommen können. Na ja, der Parka muss wohl reichen.« Er zog die grüne Kapuze über den Kopf. Hans, der ein gelb-schwarzes Gegenstück trug, machte es ihm nach. »Für die Jungs von der Bundeswehr ist er ja gut genug.« Timos sehnige Hand legte sich über den Türknopf. »Bereit?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Robin mit bebender Stimme. Auto!, überkam es ihn siedend heiß. Wir brauchen einen fahrbaren Untersatz! Timo stoppte ihn, als er aus der Schüssel auf dem Schuhschrank seine Schlüssel picken wollte. »Wir nehmen meine Karre! Nix für ungut, aber wenn das Feuer aus deinem Vehikel noch keinen glühenden Haufen Altmetall gemacht hat – mit den Pferdestärken des Suzuki werden wir bestimmt nicht weit kommen. Und mein Land Rover hat Power unter der Haube – und steht außerdem sicher in einer Garage.«

»Sofern das Feuer nicht ...«, wollte Robin sagen, als direkt vor ihm die ersten Feuertropfen zu Boden fielen. Zischend und von einem üblen Gestank – ein Teil faule Eier, ein Teil brennende Kunstfasern und Holz – begleitet, fraß es sich wie Säure seinen Weg.

»BEEILUNG!«, schrie Timo und riss die Tür auf. Mit Wehmut blickte Robin ein letztes Mal zurück. Behalte den Anblick gut in Erinnerung – und alles andere auch, sagte er zu sich.

KAPITEL 2

Sie stürmten die Treppe hinunter, als es hinter ihnen barst und schwere Brocken in der Wohnung aufschlugen. Zum Abschied gab es eine heiße, nach Schwefel stinkende Woge. Hier oben, im fünften Stock, waren sie die einzigen Mieter gewesen. Ein bestenfalls marginaler Vorteil, der sich spätestens ab der darunter liegenden Etage in Wohlgefallen auflösen würde, wie das Fußgetrappel, die Stimmen und die Schreie klar und deutlich belegten. Sämtliche Parteien des Wohnhauses hatten die Flucht angetreten, entsprechend stockte es nun im Treppenhaus.

»NICHT STEHEN BLEIBEN!«, versuchte Timo sich über den Krach hinwegzusetzen. »AUF KEINEN FALL ZURÜCKSCHAUEN ODER AUF EINEN ANDEREN WARTEN! WENN IHR DRAUSSEN SEID – SOFORT RÜBER ZU DEN GARAGEN, IST DAS KLAR!«

Er erhielt keine Antwort. Nicht, dass Timo damit gerechnet hätte. Nicht bei diesem Chaos.

Vierter Stock.

Vor ihnen stürmten gerade die Malfis die Treppe hinunter. Die achtjährige Lily und ihr halb so alter Bruder weinten. Ein Seitenblick verriet Robin, den Arm um Tinas Hüfte geschlungen, die offen stehende Wohnungstür der gegenüber wohnenden Schwägers. Von dem älteren Ehepaar fehlte jede Spur. Fast krampfhaft mühte er sich, seine Gedanken auf ein Minimum einzuschränken und sich dafür auf seine Füße zu konzentrieren. Sie wurden zum Zentrum seines Universums. Laufen ... laufen ... weiter ... weiter ...

Auf dem dritten Stock rammte ihm jemand einen Ellbogen in die Seite. Ein anderer zerrte an seiner Sporttasche. Er wehrte sich dagegen, ohne aufzublicken, weiterhin einen Arm um Tinas Hüfte gelegt.

Unmittelbar vor ihm war Hans, direkt hinter Timo, der noch immer die Führung übernommen und den Malfis den Vortritt gel...

BUMM!

Der Knall kam unvermittelt, er war brachial, ohrenbetäubend. Tina und Robin wurden nach hinten gerissen. Im Fallen bemerkte Robin etwas Großes, Schweres, das die Luft zerteilte wie ein herabsausendes Fallbeil. Nur sauste besagtes Etwas nicht herab. Vielmehr schoss es von A nach B wie ein abgefeuertes Geschoss. Eine heiße Flammenzunge folgte. Die Hitze schien sich bis in den hintersten Winkel von Robins Lungenflügeln vorzuarbeiten. Zwei, drei Sekunden lang war er zu keinem Atemzug fähig. Undeutlich sah er, wie Timo den leicht bedröppelten Hans passierte, ehe dieser ihm mit Verzögerung folgte. Scheiß Mistkerl!, überkam es Robin, ehe ihm Timos Worte von gerade eben in den Sinn kamen. Hans schaute – verständlicherweise – auch mächtig angefressen drein. Nervös rappelte sich Robin in der Zwischenzeit auf und half Tina wieder auf die Beine. Erst jetzt wurde ihm bewusst, aus welcher Wohnung die Flammenzunge gekommen war. Vorsichtig lugte er ins Innere der nun türlosen Bleibe, die lichterloh brannte. So schnell würde dort keiner mehr ausgelassen Party machen. Die Tür! Sein Kopf ruckte nach links, dorthin, wo das Geschoss – die Tür – hingeflogen war. Neben ihm stieß Tina einen knappen, spitzen Schrei aus, als sie sah, was auch er mit viel zu garstiger Deutlichkeit zu sehen bekam.

Blut. Jede Menge davon. Bedächtig verteilte es sich auf dem Parkettboden, quoll es unter der Tür hervor, deren obere Hälfte sich ins Mauerwerk gerammt hatte. Zwischen Boden und unterem Türabschluss lugten Füße hervor. Zwei Paar Erwachsenen- und ein ... nein, zwei Paar Kinderfüße. Keiner regte sich.

Ein Männlein in seinem Denkapparat riet Robin davon ab nachzusehen. Die sind tot. Für die kannst du nichts mehr machen. Du hast doch Timo gehört – also verpiss dich!

Doch sein Gewissen war drängender. Ungelenk, dabei an der Unterlippe kauend wie der Hund am Kauknochen, näherte sich Robin. Schritt. Für. Schritt. Das Knistern der Flammen, der nächste, das komplette Haus durchschüttelnde Knall: Für Robin war es irrelevant, trotz der unzähligen winzigen Nadelspitzen, die scheinbar in seine Haut getrieben wurden.

Schließlich hatte er sein Ziel erreicht, blinzelte Schweiß fort, spürte weiteren auf der Stirn, am Körper. Verdammt heiß hier drin, dachte Robin – und spielte auf Zeit. Alles in ihm sträubte sich gegen den nächsten Schritt, doch blieb ihm keine andere Wahl. Seine Hand suchte die Seite der Tür, stemmte sich dagegen. Sie rührte sich nicht. Langsam, unendlich langsam sank er daraufhin in die Knie. Er konnte fühlen, wie klobige Backsteine in seinen Magen geschmissen wurden wie Münzen in einen Glücksbrunnen.

»Robin? Robin!« Tina sah, wie ihr Freund panisch davonwich, wollte ihm entgegenkommen, doch Robin wehrte sie ab. »NEIN!«, schrie er. In seiner Stimme lagen Entsetzen, Hoffnungslosigkeit und Kummer. »Komm bloß nicht näher, um deinetwillen, ich flehe dich an!«

Große Augen folgten ihm, als er zu Tina zurückkehrte. Robin las in ihnen eine stumme Frage. Die stumme Frage. Er beantwortete sie mit einem kurzen Kopfschütteln, dann rannten sie weiter.

Zweiter Stock.

Gott sei Dank!, schickte Robin ein knappes Stoßgebet gen Himmel. Keine tödlichen Geschosse, keine Flammen, keine panischen und/oder durchgeknallten Nachbarn.

Im ersten Stock passierte es.

Sie hatten gerade mal noch eine Stufe vor sich, als direkt vor ihnen die Decke herunterkam. Eine Kaskade aus mit Stahl verstärktem Beton, Holz und Mörtel. Kein Feuerhagel. Immerhin. Noch nicht. Wäre da nicht das klaffende Loch gewesen, das ihnen den Weg zum – hoffentlich – erlösenden Erdgeschoss blockierte. Auch wenn sie sich nur im ersten Stock befanden, ein falscher Schritt, und der folgende Sturz würde trotzdem fatal enden. Eine Alternative gab es aber nicht. Robin schob die Tasche nach hinten, wappnete sich und sprang. Das Holzgeländer ächzte gefährlich, als er sich daran festhielt. Nachdem er einen halbwegs festen Stand hatte, winkte er Tina zu. »Komm!« Wie versteinert starrte sie zum zerklüfteten Rand des Abgrunds. Anderthalb Meter, die sie zu überwinden hatte. Musste. Stumm schüttelte sie den Kopf. Robin sah Tränen auf ihren Wangen. Er winkte ihr nochmals zu. »Wenn du hierbleibst, bist du tot!«

Fassungslos blickte sie ihn an, seinen nach ihr ausgestreckten Arm. »Du hast keine Wahl!«, rief Robin.

»Also gut«, wisperte Tina und füllte ihre Lungen, spannte ihren ganzen Körper an ... und sprang. Gleichzeitig ergossen sich grelle weiße Funken unmittelbar neben ihr. Falls es eine Überraschung war, so war sie geglückt. Abgelenkt, verfehlte sie Robins ausgestreckte Hand um wenige Zentimeter. Ausreichend genug, um sie in die Tiefe zu befördern.

Nein!, hallte es durch Robins Verstand, als ihr Körper von der Schwerkraft erfasst wurde – Tinas Arme jedoch zwei der zapfenförmigen Geländerstreben erwischen konnten. Hilflos baumelten ihre Füße in der Luft, zog die Sporttasche sie wie eine Fußfessel in die Tiefe. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an. Allmählich rutschten die Hände ab. Sich mit einer Hand am Handlauf festhaltend, beugte sich Robin vor, packte sich einen Arm und zog Tina grob in die Höhe. Das Holz der Treppe ächzte gefährlich. Immer mehr flüssiges Feuer ergoss sich hinter ihnen. Das komplette Gebäude stöhnte wie ein altersschwacher Riese. Nicht mehr lange, bis es einstürzen würde.

Auf dem Weg hinunter ins Erdgeschoss lauerten keine unvorhergesehenen Gefahren mehr auf sie. Weit und breit waren sie die einzigen Personen.

Dafür aber vor der offenen Haustür.

Instinktiv wichen sie vor der grellen Feuerkaskade zurück, die ihr Bestes tat, um ihnen den Weg nach draußen zu versperren. Doch warten, bis es vorüber war, diesen Luxus konnten sie sich nicht erlauben. »Okay, hör zu«, begann Robin. »Ich werde jetzt die Decke ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Die Decke! Sie war nicht mehr da.

»Was ist?«, forderte Tina.

»Die Decke! Ich muss sie verloren haben!«

Sie deutete auf seine Sporttasche. »Dann nimm was anderes!«

»Das würde zu lange dauern! Nein, ich ... wir ...« Seine Finger durchkämmten sein Haar, während er sich umschaute. Wir brauchen einen Schutz, eine Abdeckung gegen das Feuer. Wir ...

»Das könnte funktionieren.« Rasch eilte er hinüber zur Ankündigungstafel, die neben den Briefkästen an der Wand hing. Die Manifeste von Hausmeister und Mietverwaltung waren diesmal verständlicherweise von bestenfalls geringem Interesse, die eigentliche Tafel – die Aluminiumtafel – dafür umso mehr. Seine Finger klemmten sich in eine Seite, dann zog er, mit ganzer Kraft, einmal, zweimal, dreimal, bevor die Verdübelung nachgab, Robin mit seiner Trophäe zurückgeschleudert wurde und sein Rücken die unangenehme Bekanntschaft mit den Briefkästen machte.

Scheißegal. Er hatte, was er wollte, kehrte mit seinem provisorischen Schild zu Tina zurück, umschlang ihre Hüfte und zog sie an sich. Die Dübel an der Rückseite der Tafel wurden seine, wenn auch nicht besonders guten, Haltegriffe.

Es konnte losgehen.

* * *

Geduckt und noch angespannter als zuvor, als jemals zuvor in ihrer beider Leben, stürmten Robin und Tina, die sich fest an ihren Freund gedrückt hatte, los. Der Katarakt aus zahllosen, feinen Feuertropfen spritzte auf die Tafel. Für Robin hatte es was von Hagelkörnern, die auf ein Wellblechdach knallten: trommel-trommel-trommel-trommel-trommel. Sofort stank es nach Schwefel und Eisen. Als würde die Tafel mit einer Flex bearbeitet werden. Das Feuer spritzte knapp an beiden Seiten an ihnen vorbei, dann hatten sie es geschafft. Robin hielt kurz inne, erlaubte sich einen Blick über die Schulter. Hinter ihnen löste sich das Vordach, welches sich für den Sturzbach aus Feuer verantwortlich gezeichnet hatte, und landete scheppernd und schwelend vor dem Hauseingang. Schnell schüttelte Robin die Tafel, in der Hoffnung, dadurch möglichst viele der gefräßigen Tropfen abzuschütteln. Voller Entsetzen erkannte er die ersten, zerklüfteten Löcher in ihrem provisorischen Schild – und noch immer spie eine unbekannte Kraft diesen Feuerregen auf sie herab. Er orientierte sich. Rechts, wir müssen rechts lang. »Los!«, rief er Tina zu, deren Finger sich nun fester in Robins Stoffjacke krallte. »Und sieh nicht hin!«

Es musste schnell gehen. Je länger sie hier im Freien waren, dem gefräßigen Feuer praktisch ohnmächtig ausgesetzt, desto geringer standen ihre Chancen, Timos Land Rover unversehrt respektive lebendig zu erreichen. Die Strecke betrug maximal hundert bis hundertfünfzig Meter. Am Haus entlang, dann hinunter über den gepflasterten Hof, und schon war man da.

Es wurde zu einem Spießrutenlauf in der Hölle. Überall erklangen Schreie, manche grässlich schrill, andere monoton. Aufgebrachte, durcheinanderrufende Stimmen. Glas splitterte, Metall ächzte. Ein Hund fegte unmittelbar vor ihnen vorbei. Sein Fell stand in Flammen. Das elende Winseln des bedauernswerten Tiers war mit das Schlimmste, was Robin jemals gehört hatte. Ihm folgte ein Mann – jedenfalls dachte Robin, dass es einer war. Aufgrund seines verkohlten Äußeren ließen sich nur Vermutungen anstellen. Leblos schlug er auf dem Gehweg auf. Die Süße von verbranntem Fleisch mischte sich mit dem stechenden Aroma von verbrannten Kunstfasern und einem fast schon würzigen Duft von zischendem Fett. Robin wurde übel, als er die weißlichen, an Hähnchenstreifen wirkenden Fetzen sah, die sich beim Sturz von Unterarm- und Wadenknochen gelöst hatten. Feuertropfen prasselten weiterhin auf dieses verschmorte, unkenntliche ... Ding, brachten es auf unheimliche Weise zum Zucken. Als würde der Mensch, der dieses Fleisch einst mit Leben erfüllt hatte, immer noch in Saft und Kraft stehen. Schnell überstiegen sie den Toten. »Rasch!«, ermahnte Robin. Im Augenwinkel sah er eine Frau. Ihre Haare brannten, waren dank des Feuers zu einer zähflüssigen Masse geworden, die bedächtig nach unten rann. dorthin, wo es Haut und Muskeln bereits vorgemacht hatten. Neben ihr fiel gerade etwas Schweres auf das Pflaster, der Schrei des Mannes erstarb und wurde von einem widerlichen Schmatzen abgelöst. Aus dem Fenster gesprungen!, begriff Robin, dem auffiel, dass aus den – bislang – kleinen Löchern auf der Tafel allmählich ein scheißgroßes Loch wurde. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

Es waren nur wenige Meter bis zur Hausecke, Robin kam es dennoch wie ein Marathonlauf vor. Überall Menschen – Frauen, Männer, Kinder, alt wie jung, dem Tode geweiht oder bereits einen Schritt weiter. Löcher im Beton, Gehwegplatten, die unter der Wucht einfach ... explodiert waren.

Wie der VW hinter ihnen, der in die Luft ging wie ein gottverdammter Silvesterkracher, mit einem diabolischen Feuerball im Zentrum. Die Druckwelle riss Robin und Tina nach vorne, beide schrien auf, als ihre Knie hart auf den rissigen Betonplatten aufschlugen. Instinktiv wollten Robins Hände nach der Schmerzquelle greifen, doch er wehrte sich dagegen, dachte nur an die kurz vor der Auflösung begriffene Tafel, während es rings um sie Glas, Metall, Füllung und Plastik regnete – und sich die Finger seiner Hand mit dem Tempo eines zurückschnellenden Gummibands von der Tafel entfernten, weil sie auf einmal so verflucht heiß geworden war ...

Er zog Tina mit sich gegen die Hauswand. Oder was davon noch geblieben war. Über ihnen erstreckten sich die Reste eines Gesimses, hoffentlich ausreichend, um ihnen wenigstens ein bisschen Schutz zu geben. Darüber kotzten die fensterlosen Öffnungen Rauch, noch mehr Feuer und gelegentlich Reste von irgendwelchen Gegenständen aus. Robin stellte sich vor, er wäre die sprichwörtliche Insel. Ein Eiland, Anfang und Ende des Kosmos und dass dieser Irrsinn gar nicht existierte, während die schartige Struktur des Verputzes über seinen Rücken kratzte wie spitze Fingernägel.

Geschafft! Unsagbare Erleichterung blühte in ihm auf, als sie die Ecke des Hauses erreicht hatten – und ihn Tina unvermittelt zurückzog. Was zum ...?

Schwerfällig, knarzend kippte ein brennender Baum vor ihnen um, versperrte ihnen den Weg hinunter zu den Garagen und damit zu Timos Land Rover. Was sollten sie jetzt bloß tun?

Die Antwort kam mit quietschenden Reifen und viel zu schnell. Das bereits verkohlte Vehikel, das einem Z3 verdächtig ähnlich sah, donnerte die Auffahrt herauf, rammte den Baum und obendrein noch ein paar fliehende Menschen, die von der Wucht wie leere Stoffsäcke durch die Luft befördert wurden. Der Weg war frei und Robin nutzte ihn. Nun kam ihnen das Plexiglasdach zugute, das sich hier parallel zu den aufgestellten Garagen an der Hausseite entlangzog. Wie durch ein kleines Wunder war es größtenteils noch intakt, sah man von den Brandblasen ab, den kleinen, aber durchaus gefräßigen Flammen oder dass die miteinander verbundenen Plexiglaselemente durchhingen wie besonders zähflüssiges Gelato. Und gleich da vorne ... Timos Garage! Ein Seufzer der Erleichterung drang über Robins staubtrockene Lippen, als er Hans erblickte, der, von der Garage und dem hochgezogenen Garagentor noch halbwegs geschützt, seine Sachen in den Kofferraum quetschte, bevor er sich umdrehte. Sorgenvoll hielt er nach seinen Freunden Ausschau – und entdeckte sie schließlich.

»Kommt her«, rief er und winkte den beiden zu. »Beeilung!« Immer wieder schweifte sein Blick ab, während über ihm Feuertropfen zischend detonierten, sich in kleinere Tröpfchen verwandelten oder das dünne Metall des Tors zerfraßen. Robin umschlang Tina fester und eilte los, den mörderischen Geschossen entweichend. Ohne eine Bemerkung beförderte er seine und Tinas Sachen in den Kofferraum, ließ den Deckel nach unten knallen, bevor Hans dies erledigen konnte.

»Na endlich!«, meldete sich Timo von vorne. »Scheiße, ich dachte, ihr würdet es nicht mehr schaffen!«

Robin gab Hans zu verstehen, neben Tina auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, bevor er sich auf den Beifahrersitz neben Timo schob. »Du wärst wirklich ohne uns losgefahren, stimmt’s?« Unvermittelt wallte Zorn in ihm auf, jede Menge davon. Wäre ihre Lage nicht so beschissen ungünstig, er hätte Timo eins in die Fresse gegeben.

Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen rammte Timo die Automatik des Rovers in den Rückwärtsgang und schoss aus der Garage. Robin wurde gegen den Sitz gepresst, hinter ihm schrien Hans und Tina auf. Schnell wechselte Timo in den Vorwärtsgang. Hatte Robin damit gerechnet, dass er denselben Weg nehmen würde wie der Z3 vorhin, wurde er überrascht; es ging in die entgegengesetzte Richtung. Timo fiel Robins fragender Ausdruck auf, als neben ihnen die Garagen wie Kartenhäuser brennend in sich zusammenfielen. Flüssiger Teer klatschte wie Honig auf das Pflaster und trieb dichte, giftige Nebelschwaden in die Höhe.

»Die Straßen wären sinnlos!«, erklärte Timo lautstark. Der Motor röhrte, als er Stoff gab. Feuertropfen perlten am Glas ab wie Porzellankugeln, brachten das Glas zum Schmelzen oder trübten es partiell. Vom Wagendach kam abermals dieses grässliche, unablässige Trommel-trommel-trommel-trommel-trommel. Die Verlockung, lauthals »STOPP!« zu schreien, war mehr als verführerisch.

»Unsere einzige Chance ist der Wald! Die Bäume stehen nicht zu dicht beisammen und das Blätterdach – falls vorhanden – bremst vielleicht diese Feuersbrunst ab. Auf keinen Fall die Straßen, irgendeine Straße! Du hast doch mit eigenen Augen gesehen, was da abgeht! Hatte bloß nicht gedacht, dass es so schnell passieren würde.«

»Dann können wir uns die Fahrt nach Neu-Isenburg auch gleich sparen!«, konterte Robin.

»Gewiss doch, aber hast du eine bessere Idee?«

Die hatte er nicht und darum hielt Robin die Klappe.

»Wir brauchen ein Ziel und das haben wir jetzt.« Timo deutete auf den kleinen, am Armaturenbrett angebrachten Kompass. »Und solange der da noch funktioniert, werden wir uns auch nicht verfranzen! Das einzige Problem dürfte der Rover selbst sein. Die Briten haben ihn leider nicht so stabil gebaut, dass er plötzlichen apokalyptischen Feuerschauern lange Widerstand leistet. Wir können nur hoffen und beten, dass die Reifen und die Karosserie lang genug durchhalten werden.«

Na großartig, dachte Robin und verfolgte, wie sich die Scheibenwischer träge über das eingedrückte und teils geschmolzene Glas bewegten, bevor auch sie auf eine zähflüssige dunkle Suppe reduziert wurden, die an der Frontscheibe kleben blieb wie zerschmetterte Käfer. Einzig der regelmäßige Einsatz des Scheibenwischwassers verhinderte Schlimmeres. Zischend, wie schmelzendes Butterfett in der Pfanne, verdampfte es. Hinten fing Hans zu husten an, als der scharfe Schwefelgestank durch die Klimaanlage ins Wageninnere befördert wurde.

»Tina! Hans!«, meldete sich Timo. »Haltet Ausschau nach Brandlöchern. Sobald die Verkleidung zu kokeln beginnt, schnappt ihr euch was und löscht sie! Ist das klar!«

War es, wie Robin im Rückspiegel erkannte. Gemeinsam zogen Hans und seine Freundin die Decke vom Rücksitz.

Abermals wurden sie durchgeschüttelt, als es über ein kleines, verbranntes Feld ging, bevor der Wall aus Flammen, die Mauer aus brennenden Bäumen, immer größer und größer wurde und sie schließlich darin verschwanden.

Es war Irrsinn – aber auch ihre einzige Chance.

KAPITEL 3

Irrsinn-Irrsinn-Irrsinn-Irrsinn. Stets dasselbe Wort, abgefeuert mit der Geschwindigkeit von Luft-Luft-Raketen. Sie waren vom Regen in die Traufe geraten; daran bestand nicht der geringste Zweifel. Besser gesagt: vom Feuerhagel ins Inferno. Immerhin – die Bäume waren nicht ganz so dicht gestaffelt wie bei jenem Wald, durch den sie vorhin gerauscht waren. Aber machte es wirklich solch einen großen Unterschied? Weniger Bäume, dafür mehr Unterholz, Gebüsche, Sträucher. Und ausnahmslos alles brannte wie trockener Reisig. Timo mochte zwar recht gehabt haben, was den Baldachin über ihnen betraf – noch hielt er jedenfalls den Feuerhagel einigermaßen zurück, noch! –, aber auch er stand bereits in Flammen. Unablässig fielen brennende Blätter und knorrige Äste auf den Boden, trafen dumpf das Dach oder die Motorhaube des Land Rovers. Immerhin, der Boden, die Erde war feucht und versorgte daher das Flammenheer eher ungenügend. Für ihren fahrbaren Untersatz war sie trotzdem reinstes Gift, Vierradantrieb hin oder her. Regelmäßig scherte der Wagen aus, musste Timo hektisch gegenlenken, damit sie sich nicht überschlugen oder frontal mit einen brennenden Baum kollidierten. Seine Anspannung materialisierte sich in hervorstehenden Halsmuskeln und sehnen, der pochenden Vene auf der Stirn. Seine Zähne hatten sich dermaßen stark ins weiche Fleisch der Unterlippe gegraben, dass diese zu bluten begonnen hatte. Timo glich einem rabiaten Raubtier, das die Häscher in die Ecke getrieben hatten. Angeschlagen, jedoch noch lange nicht ausgeknockt, die Krallen für den finalen Schlag schon erhoben. Jeder Schrei, jede noch so kleine Bemerkung der anderen hätte nun unter Garantie fatale Folgen gehabt. Doch Robin und die anderen hatten ihre eigenen Probleme, während sie unablässig durchgerüttelt wurden wie die Schampusflasche beim Formel 1-Gewinn. So huschten Robins aufgerissene Augen umher, erfassten die Frontscheibe – teils geschmolzen, teils rissig, teils mit glimmenden Löchern überzogen –, die Beifahrerfenster – dasselbe –, Hans und Tina, die verzweifelt gegen die schmorende Verkleidung ankämpften und an manchen Stellen schon verloren hatten. Kühle Nachtluft drang über ihren Häuptern aus kantigen Löchern ein, während anderswo ein neues entstand oder die sich nächste Sektion der Verkleidung verdunkelte. Und es stank: schwefelig, nach faulen Eiern, kokelndem Plastik und schwärendem Stoff. Der nächste klebrig-schleimig-glühende Tropfen klatschte gegen die Frontscheibe, fraß sich mühelos durch das Hindernis, ehe er zischend auf das Armaturenbrett tropfte wie eine Träne aus purem Feuer. Von hässlichen schweren Wölkchen umrahmt brachte sie die Abdeckung zum Schmelzen, alles unter den Augen von Robin. Lange werden wir es nicht mehr machen. Der Gedanke war keine Vermutung, auch keine Vorahnung. Er war Fakt, unumstößlich, unabwendbar. Bis ins Mark trieb er seine schwarzen Fänge – und noch weiter. So gut Timos Fahrkünste auch sein mochten, letztlich konnten sie nur auf das Schicksal bauen, das ihnen hoffentlich wohlgesinnt war.

»Dreck!«, entkam es Timo. Abermals wirbelte er das Lenkrad zur Seite, spritzten die Reifen nasses Erdreich auf, das gegen die partiell verschmorte Karosserie spritzte. Diesmal war er nicht schnell genug. Der rechte Vorderreifen streifte den aus dem Erdreich herausragenden Findling und der Wagen hob plötzlich ab. Die vier Insassen versteiften sich. Ein kurzer Augenblick zog sich wie Melasse – als hätte eine göttliche Macht die Stopptaste gedrückt.

Tausend Szenarien huschten vor Robins geistigem Auge vorbei wie wirbelnde Schatten: Die Achse wird brechen. – Wir werden von den Flammen verschlungen werden. – Der Aufprall wird tödlich sein. Und einige mehr.

Nahezu anmutig beschrieb der Land Rover einen weiten Bogen, ließ den Findling hinter sich und schwebte sekundenlang in der freien Luft, direkt unter dem steil in die Tiefe führenden Abhang. Bis die Schwerkraft doch ihren Tribut forderte: Wie eine Bleikugel wurde der Wagen nach unten gerissen, mit der Front voraus. Nur beiläufig registrierte Robin das Rebellieren seines Magens. Im Augenblick plagten ihn wichtigere Dinge als die Frage, ob er gleich loskotzen würde. Eine sonderbare, fast friedliche Stille schien sich über alles gelegt zu haben. Eigentümlich entrückt wirkende Sekunden der Ruhe. Fast schon meditativ.

Bis sie aufschlugen.

Es geschah jäh und mit einer Wucht, mit der keiner von ihnen gerechnet hatte. Der Rover sackte schier in sich zusammen. Jede Naht, jede Schraube, alles schien unisono gewählte, stöhnende Laute der Pein auszustoßen. Wie auch die Insassen, wenngleich ihre Schreie lauter, schriller, verängstigter klangen. Selbst Timo schrie, bevor er – synchron mit den anderen – vom Aufprall in die Höhe gerissen wurde und sein Kopf gegen das Wagendach schlug. Was folgte, war ein Schmerz, mächtig und garstig und brennend wie das Feuer, der vehement Timos Körper und Geist zu übernehmen schien. Timo konnte spüren, wie er die Kontrolle verlor, wie sie ihm zwischen den Fingern hindurchrieselte wie feinster Quarzsand. Vor seinen Augen verlor die Welt ihre Textur, verwandelte sich in einen sinnlosen Mischmasch. Gequält kämpfte er darum, seine Lungen wieder aufzufüllen. Irgendwo in einer dunklen Ecke seines Verstands konnte er jenen Schatten krächzend lachen hören, der ihn immer tiefer in die ewige Schwärze der Ohnmacht zerren wollte.

Nicht ... mit ... mir! Timos Überlebensinstinkt setzte ein – und obsiegte. Er schüttelte den Kopf, fühlte etwas Warmes, Klebriges, das an seiner Wange hinablief, dazu den untrüglichen Geschmack von Blut auf der Zunge. Und er war sich sicher: Dies war nur die Spitze des Eisbergs.

Doch vorläufig hatte er andere Sorgen, beispielsweise die Lenkung seines Rovers, die ein Eigenleben entwickelt zu haben schien. Unablässig riss das Lenkrad aus, schoss es nach links, nach rechts und wieder zurück. Reagierte er nicht schnell genug, wurde Timo, dessen verkrampfte Finger mit dem Lenkrad förmlich verschmolzen waren, einfach mitgerissen.

Brennende Bäume fegten an ihnen vorbei. Ein schnelles Augenzwinkern, und schon waren sie weg. Denkbar knapp schoss der Rover an ihnen vorbei. Doch es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis ...

Kollektives Aufschreien, als der Wagen von Neuem mit einem Findling kollidierte, irgendwas im hinteren Teil brach – Die Achse, es ist garantiert die Achse, überkam es Timo –, der Wagen hart aufschlug und sich zu drehen begann wie ein Fahrgeschäft auf der Kirmes. Hilflos waren sie erneut den Gesetzen der Schwerkraft ausgesetzt, noch hilfloser als zuvor.

Der nächste Baum kam, schien sie förmlich zu erwarten. Begierig fraß sich der Stamm in die hintere Seite des Rover, verbeulte Blech wie dünne Alufolie. Das Rückfenster explodierte. Ein klirrender Glasregen prasselte auf Tina und Hans hinab, der Robins Freundin mit seinem Rücken schützte. Währenddessen gelang es Timo, seine verkrampften Hände wieder zu lösen, die ihm wie aufgebläht erschienen. Zitternd suchte seine Rechte die Handbremse. Zugleich legte sich sein Fuß aufs Bremspedal. In Gedanken zählte er bis drei, ignorierte er den nächsten dumpfen Schlag oder dass der Rover kurzfristig kurz vorm Umkippen stand. Dann stampfte er aufs Pedal, zog den Hebel zurück und hoffte, dass es etwas bringen würde.

Sie wurden zwar nicht langsamer, aber immerhin drehte sich der Wagen nicht mehr um sich selbst. Blieben nur noch die Bäume und die verzweifelte Hoffnung, dass sie ihnen nicht frontal den Weg versperren würden.

BUMM!