Gottes unsichtbare Würfel - Helmut Satz - E-Book

Gottes unsichtbare Würfel E-Book

Helmut Satz

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Beschreibung

Gott würfelt nicht – Albert Einstein Gott würfelt doch, nur wirft er die Würfel mitunter dorthin, wo man sie nicht sehen kann – Stephen Hawking Alte Märchen kennen Schlösser mit vielen Zimmern; eines davon aber darf man nie betreten, sonst wird man ein schreckliches Ende nehmen. Es könnte sein, dass auch in unserem Universum solche Zimmer existieren. In einem glänzend geschriebenen Buch erzählt der international renommierte Physiker Helmut Satz die Geschichte der Entdeckung der letzten Grenzen des Universums und gibt Antworten darauf, was hinter dem letzten Schleier verborgen sein mag.

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     Zum Buch

Gott würfelt nicht – Albert Einstein

Gott würfelt doch, nur wirft er die Würfel mitunter dorthin, wo man sie nicht sehen kann – Stephen Hawking

Alte Märchen kennen Schlösser mit vielen Zimmern; eines davon aber darf man nie betreten, sonst wird man ein schreckliches Ende nehmen. Es könnte sein, dass auch in unserem Universum solche Zimmer existieren. In einem glänzend geschriebenen Buch erzählt der international renommierte Physiker Helmut Satz die Geschichte der Entdeckung der letzten Grenzen des Universums und gibt Antworten darauf, was hinter dem letzten Schleier verborgen sein mag.

     Über den Autor

Helmut Satz, geb. 1936, war von 1971 bis 2001 Professor für Theoretische Physik an der Universität Bielefeld. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Physik der ersten Sekundenbruchteile nach dem Urknall. Zusammen mit seinem Schüler Frithjof Karsch machte er Bielefeld zu einem der weltweit führenden Zentren für die Untersuchung von Materie bei extrem hohen Dichten und Temperaturen. Auf Höchstleistungsrechnern wird hier der Stoff erforscht, aus dem das frühe Universum ganz kurz nach dem Urknall bestand. Von 1989 bis 1995 war Helmut Satz Gastwissenschaftler am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf. Er ist Autor zahlreicher Fach- und Lehrbücher.

 

 

 

 

Gott würfelt nicht.

Albert Einstein

Gott würfelt doch,nur wirft er die Würfel mitunter dorthin,wo man sie nicht sehen kann.

Stephen Hawking

     Inhalt

Vorwort

1. Horizonte

Die Grenze der Erreichbarkeit

Verbotene Räume des Universums

Die kleinsten Bausteine der Materie

Der Rand der Erde

Das Dach des Himmels

2. Die entschwindenden Sterne

Die Lichtgeschwindigkeit

Warum ist der Himmel nachts dunkel?

Die Urknalltheorie

Kosmische Inflation

Das absolute Jenseits

3. Das heimliche Leuchten der schwarzen Löcher

Die Fluchtgeschwindigkeit

Die Kraft der Tiden

Der See der ungeborenen Teilchen

Unsichtbares Licht am Horizont

4. Die Visionen des beschleunigten Raumfahrers

Schwerkraft und Beschleunigung

Das Ende der Kommunikation

Die Temperatur des Vakuums

Der Blitz im leeren Raum

Spukhafte Fernwirkung

5. Das Ende der Teilbarkeit

Warum scheint die Sonne?

Die starke Wechselwirkung

Die Quarks

Die Quarkstruktur des Nukleons

Der Farbhorizont

6. Quarkmaterie

Kollektives Verhalten

Die höchste Temperatur

Der Urknall im Labor

Wie heiß ist das Quark-Gluon-Plasma?

7. Verborgene Symmetrien

Das Ising-Modell

Schattenteilchen

Lokale Symmetrien

Der Ursprung der inhärenten Massen

8. Der letzte Schleier

Übergänge

Am Anfang war alles gleich

Grenzen im Raum

Das Ende der Bestimmbarkeit

Neue Dimensionen

Einsteins Brücke

Die Sprache der Physik

Anmerkungen und Ergänzungen

Personenregister

     Vorwort

Vor die Wahl gestellt zwischen Paradies und Erkenntnis, hat der Mensch, so die Bibel, die Erkenntnis gewählt. Doch waren das tatsächlich Gegensätze? Denn es ergab sich, dass vielen der Gewinn von Erkenntnis und der weitere Horizont außerhalb des Gartens Eden genauso viel Glück und Zufriedenheit brachten wie das verlorene Paradies.

Die Menschen wollten von jeher die Welt erforschen, in der sie leben, und sie wollten immer wissen, was hinter dem Horizont liegt. Diese Neugier hat eine Reise ausgelöst, die vor 200.000 Jahren in einer fernen Ecke Afrikas begann und uns bis in die entlegensten Winkel der Erde gebracht hat. Alle Ozeane sind befahren, alle Kontinente überflogen. Unsere Raumsonden dringen immer tiefer in den Weltraum vor und erforschen immer fernere Galaxien. Am anderen Ende der Skala, im Mikrokosmos, lösen hochenergetische Teilchenbeschleuniger die Materie in immer höherem Maße auf, untersuchen ihre kleinsten Bestandteile und deren Wechselwirkungen, erforschen, wie alles zusammengesetzt ist. Gibt es ein Ende, stößt unsere Suche je auf unüberwindbare Grenzen, im Großen wie im Kleinen?

In den vergangenen hundert Jahren haben Physik und Kosmologie gezeigt, dass es tatsächlich solche Grenzen gibt, dass Bereiche des Universums existieren, in die wir niemals einzudringen vermögen. Diese Bereiche können wir nur in unserer Vorstellung bereisen; wir können spekulieren, wie sie wohl aussehen mögen, wie sie konstruiert sein könnten. Und wir können uns überlegen, ob womöglich nicht doch irgendwelche Zeichen ihrer Existenz, irgendwelche Hinweise auf ihre Form bis in unsere Welt dringen.

Unerreichbare Gebiete gibt es in jenen fernen Teilen des Universums, in denen sich, aus unserer Sicht, der Raum mit mehr als Lichtgeschwindigkeit ausdehnt. Näher gelegen, werden sie erzeugt durch schwarze Löcher, in denen die Schwerkraft so stark wird, dass sie selbst Licht gefangen hält. Im Bereich des Mikrokosmos sind die Quarks für immer beschränkt auf ihre Welt extremer Dichte, ohne leeren Raum, und sie können nie aus dieser Welt entkommen. Mit dem Urknall als Ursprung des Universums bestand unsere Welt in ihren frühen Stadien auch aus Materie von extremer Dichte und Hitze. In hochenergetischen Teilchenkollisionen können wir die Wechselwirkungen unter solchen Bedingungen untersuchen. Daraus folgt, dass das Universum in seiner Evolution verschiedene Zustände durchlaufen haben muss. Was waren das für Zustände, die heute für uns hinter zeitlichen Horizonten entschwunden sind?

Obwohl sich keine Information aus den unerreichbaren Gebieten in unsere Welt übertragen lässt, so können doch mitunter seltsame Zeichen erscheinen, die uns zumindest auf die Existenz jener Gebiete hinweisen. Solche Zeichen werden ermöglicht durch Quanteneffekte. Die von Stephen Hawking und William Unruh untersuchten Strahlungsformen sind Beispiele für Effekte dieser Art, die immer dann auftreten können, wenn Quantenfluktuationen an einem Horizont stattfinden, der verschiedene Kausalitätsbereiche voneinander trennt. In Anbetracht der Vielfalt sogenannter Elementarteilchen lässt sich vermuten, dass sie das Ergebnis eines Phasenübergangs sind, hervorgegangen aus einer einfacheren, symmetrischeren Welt. Einen solchen Übergang, von einem Plasma aus Quarks in ein Gas von Nukleonen und Mesonen, versucht man zurzeit durch hochenergetische Kernkollisionen im Labor nachzuvollziehen. Das würde uns einen Zugriff auf einen sonst nicht mehr erreichbaren Zustand des frühen Universums erlauben.

In diesem Buch möchte ich zeigen, wie die verschiedenen Grenzen der für uns erreichbaren Welt entdeckt worden sind – auf der Erde und im Weltraum, im Großen und im Kleinen, jetzt und in der Vergangenheit – und wie sie dazu beigetragen haben, unser Bild der Welt zu formen. Es ist eine Geschichte der Entstehung dieses Weltbilds – dessen Anfang älter ist als Naturwissenschaft und das mehr ist als nur etwas für Naturwissenschaftler. Am Anfang waren Philosophen, die sich fragten, woraus die Welt besteht; waren Seefahrer, die es wagten nachzusehen, ob die Erde irgendwo zu Ende ist; waren Astronomen, die mit Hilfe der neu erdachten Geometrie unsere Position im Weltall bestimmen wollten. Als Menschen sich fragten, warum die Sonne scheint oder warum der Himmel nachts dunkel ist, legten sie den Grundstein für unser heutiges Weltbild. Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe hat den Urknall in die Literatur eingebracht, bevor er in der Physik aktuell wurde. Vieles, was wir heute mit schwarzen Löchern und Einsteinbrücken zwischen fernen Raumpunkten verbinden, ist in den Geschichten von Lewis Carroll aufgetaucht, bevor es Naturwissenschaft wurde. Auch viele andere Ideen sind hier und da, früher und später immer wieder aufgetaucht, in Science und in Sciencefiction. Allen gemeinsam ist die Frage, ob das noch nicht Erforschte anders ist als das bereits Erforschte und ob es möglich ist, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Wenn, dann muss die Lösung natürlich im Rahmen der Physik gefunden werden, der Physik an den Grenzen des Erforschbaren.

Dieses Buch soll keine systematische Darstellung neuerer Entwicklungen in Physik und Kosmologie liefern. Es soll eine Geschichte darstellen, die vor langer Zeit begann und sicher nicht so bald zu Ende gehen wird. Sie behandelt Vorgänge, die die Welt mitunter in zwei oder drei Jahrzehnten völlig verändert haben, wie das der Fall war in der Zeit von Vasco da Gama und Kolumbus oder in der von Planck, Einstein, Bohr und Heisenberg. Andererseits hat es mitunter ein Jahrtausend gebraucht, um dem Weltbild ein paar Epizyklen hinzuzufügen, wie in den Jahren zwischen Ptolemäus und Kopernikus. Das Problem ist, wie der bekannte österreichische Theoretiker Walter Thirring einmal gesagt hat, dass, «um etwas Neues zu bringen, man eine neue Idee haben muss», und das geschieht nicht alle Tage. Das Spiel auf der Klaviatur der bekannten theoretischen Formalismen allein führt zwar zu vielen Melodien, aber nicht zu einer neuen, überzeugenden Harmonie.

Ich habe versucht, in meiner Darstellung ohne Mathematik auszukommen. Das ist, wie ich im Anhang über die Sprache der Physik erklären werde, eine zweischneidige Sache. Selbst Einstein hat mitunter, um die Relativitätstheorie zu erläutern, die Sicht von Reisenden in einem Zug mit der von Zuschauern auf dem Bahnhof verglichen. Für ein tieferes Verständnis ist aber die Mathematik wohl schon unerlässlich. Als Kompromiss habe ich hier und da technische Ergänzungen zusammengestellt, die dann am Ende des Buchs erscheinen und in denen ich einige einfachere mathematische Gedankengänge erläutern möchte. Ich hoffe aber sehr, dass die Gesamtdarstellung verständlich bleibt, auch wenn man diese auslässt.

Wenn man versucht, die Lesbarkeit so weit wie möglich zu erhalten, scheint es unabdingbar, gewisse Begriffe und Ideen zu wiederholen. Oft kann man auf «wie bereits im vorigen Kapitel dargestellt» zurückgreifen, doch manchmal ist es für den Leser sehr viel bequemer, wenn das Angesprochene kurz wiederholt wird. Ich bitte daher um Verständnis für die Wiederholungen. Und noch eine Entschuldigung scheint angebracht zu sein. Wenn ich mich entscheiden musste zwischen wissenschaftlicher Präzision und einer das Verständnis fördernden Vereinfachung, habe ich meist das Letztere gewählt. Es schien mir besser, dass der Leser die Gedanken weiterverfolgt, auch wenn dann später einige Korrekturen notwendig werden, als ihn in technischen Einzelheiten zu verlieren. Meine Inspiration war hier die Bemerkung des großen dänischen Physikers Niels Bohr, der fand, dass Wahrheit und Klarheit komplementäre Begriffe seien: Je mehr man das eine erreicht, desto weniger erfüllt man das andere.

Zum Schluss möchte ich allen danken, die mir geholfen haben auf der Suche nach einem Verständnis für das Weltbild der Physik und seine Entwicklung. Wesentliche Unterstützung kam natürlich von all meinen Kollegen, in Bielefeld, in Brookhaven, am CERN, in Dubna und in vielen anderen Institutionen. Die Zusammenarbeit und die Diskussionen mit ihnen waren für mich von grundlegender Bedeutung. Zu großem Dank verpflichtet bin ich ferner Susette von Reder für ihre wertvolle technische Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Besonderer Dank geht an Stefan Bollmann, den Lektor des Verlags C.H.Beck, der den gesamten Text sorgfältig durchgegangen ist und unzählige sprachliche Verbesserungen vorgeschlagen wie auch Unklarheiten beseitigt hat. Last, but far from least, danke ich meiner Frau ganz herzlich dafür, dass sie mich all diese Jahre ertragen und unterstützt hat.

Bielefeld, 2013

Helmut Satz

Von der Westküste Lusitaniensüber Meere noch niemals befahren

Luis de Camões, Die Lusiaden

          1. Horizonte

begrenzen unsere Welt, wo immer wir auch sein mögen. Selbst vom höchsten Berg oder vom Flugzeug aus endet unsere Sicht stets an einem Horizont, hinter den wir nicht blicken können. Zudem sind Horizonte nicht fassbar: Versuchen wir, sie zu erreichen, sind sie schon wieder weitergewandert. Aber trotzdem können wir uns fragen, wie es dahinter aussieht, und zu allen Zeiten haben die Menschen das auch getan. Wohl nirgendwo stellt sich diese Frage so klar wie am Meer, wo Himmel und Wasser am Horizont aufeinanderstoßen. An der Küste des Mittelmeers haben die Phönizier schon vor über dreitausend Jahren Segelschiffe gebaut und sind damit bis an die Grenzen ihrer Welt gesegelt, zu den Säulen des Herkules, unserem heutigen Gibraltar. Die Schiffe der Wikinger fuhren hinaus in unbekannte Nordmeere, und die portugiesischen Seefahrer wagten es nachzusehen, ob die Erde nicht doch irgendwo zu Ende sein würde. Horizonte haben schon immer den Wunsch erzeugt zu erfahren, was jenseits des Meeres oder hinter dem Berg ist, wie es weitergeht. Die Suche nach besseren Lebensbedingungen, nach verträglicherem Klima, nach günstigeren Verbindungen – all das hat sicher eine Rolle gespielt. Aber stets war auch eine angeborene Neugier dabei, die vielleicht sogar die treibende Kraft für die Ausbreitung der Menschheit über die gesamte Erde und darüber hinaus war. Alle Ozeane sind befahren, alle irdischen Horizonte erforscht, und im Weltall erreichen unsere Raumsonden immer fernere Sternenwelten. Auch im Mikrokosmos, auf der Suche nach den kleinsten Bestandteilen der Materie, dringen wir immer weiter vor. Hochenergiebeschleuniger gestatten eine immer feinere Auflösung. Hört das irgendwann auf, gibt es einen kleinsten Abstand? Gibt es noch Horizonte und Grenzen, im Großen oder im Kleinen, in Raum oder Zeit, die für uns unerreichbar oder unpassierbar sind?

Jeder Horizont bildet nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Grenze. Wenn ein Reisender in vergangenen Zeiten eine ferne Bergkette am Horizont sah, dann wusste er, dass er das dahinter liegende Land erst viele Stunden später sehen würde. Sein «Erkenntnis-Horizont» hatte also eine räumliche Dimension in Kilometern und eine zeitliche in Stunden. Auch diese Form von Horizont hat die Menschen angespornt, möglichst rasch dahinterzukommen. Schon ein Pferd brachte den Reisenden damals schneller an die Bergkette heran; lange Zeit war das die Lösung. Man richtete Poststationen ein, an denen ermüdete Reiter und Pferde durch ausgeruhte ersetzt wurden; auf diese Weise ließen sich Nachrichten mit erstaunlicher Geschwindigkeit verbreiten. Solche Systeme gab es im alten Ägypten, Persien und China schon vor mehr als dreitausend Jahren; im Römischen Reich brachten es die Postreiter auf 300 Kilometer in vierundzwanzig Stunden. Postreiter und Postkutschen bestimmten den Grad der Bequemlichkeit des Reisens und die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung bis ins 19. Jahrhundert. Der Pony-Express trug wesentlich dazu bei, den amerikanischen Westen zu erschließen; mehr als 400 Pferde waren dabei notwendig, um in zehn Tagen die Post von der Ostküste nach Kalifornien zu bringen. Noch heute wird der amerikanische Präsident, der im November gewählt wurde, erst im Januar in Washington vereidigt. Die beiden Monate dazwischen gaben damals den Kaliforniern Zeit, an die Ostküste zu reiten.

Ein Postreiter verkündet 1648 das Ende des Dreißigjährigen Krieges.

Wenn man die räumlichen und die zeitlichen Aspekte der Erreichbarkeit kombiniert, erhält man eine interessante neue Form von Horizont,

die Grenze der Erreichbarkeit.

Mit dem Postreiter als Informationsübermittler, also bei 300 km/Tag, braucht man drei Tage, um einem 900 km entfernten Ansprechpartner eine Nachricht zu senden. Bis dahin ist er unabänderlich jenseits unseres Erreichbarkeitshorizonts. Je länger wir warten, desto größer wird der Bereich, mit dem wir kommunizieren können. Die Aufteilung unserer Welt in erreichbare und nicht erreichbare Gebiete ist im Bild auf Seite 16 dargestellt. Die Aufteilung hängt natürlich von der Geschwindigkeit unseres Boten ab – je schneller er ist, desto weiter können wir in vorgegebener Zeit in den Raum vordringen.

Heute haben wir Verkehrsmittel, die uns in Stunden statt in Tagen, Wochen oder Monaten ans Ziel bringen. Eine Reise von Europa nach Fernost, die noch vor hundert Jahren mehrere Wochen dauerte, erfordert heute keine zehn Stunden. Und wenn es sich lediglich darum dreht, eine Verbindung mit der «anderen Seite der Berge» herzustellen, schaffen Telefon und Funk das fast unmittelbar. Unsere zeitliche Distanz in der Kommunikation mit entfernten Regionen hängt nur davon ab, wie schnell wir Signale dorthin entsenden oder von dort empfangen können.

Der für einen Postreiter bei 300 km/Tag mögliche Erreichbarkeitshorizont

Deshalb war ein ganz wesentlicher Schritt in unserem Verständnis der Natur die Erkenntnis, dass es auch für die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung eine Grenze gibt, die endliche Lichtgeschwindigkeit. Auf der Erde ist die daraus folgende Verzögerung meist unwesentlich und beeinträchtigt selbst die Kommunikation auf interkontinentaler Ebene kaum. Aber was bei uns hier und heute geschieht, das werden entfernte Welten erst später erfahren, und was uns von ihnen übermittelt wird, ist ihre Vergangenheit. Das Licht der Sterne, das wir heute sehen, ist bereits vor Millionen von Jahren ausgestrahlt worden. Wir können nicht wissen, ob diese Sterne jetzt noch existieren, und wenn ja, wo sie jetzt sind. Es gibt demnach schon Horizonte, hinter die wir nicht dringen können.

Doch selbst diese Horizonte sind noch weitgehend durch uns selbst bestimmt. Wenn wir lange genug warten könnten, würde uns das Licht ferner Sterne doch noch erreichen, und so wie wir für den Postreiter ein Erreichbarkeitsdiagramm erstellt haben, so können wir das auch für Radiosignale tun, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Was für den Postreiter Tage dauerte, bringt das Licht in Sekundenbruchteilen. Über den Unterschied in der Übermittlungsgeschwindigkeit hinaus kommt jetzt allerdings noch ein neuer, ganz wesentlicher Aspekt ins Spiel. Im Falle des Postreiters konnte der Horizont erweitert werden, durch ein schnelleres Pferd oder häufigeren Wechsel, später durch den Einsatz von Motorfahrzeugen. Lichtgeschwindigkeit jedoch bleibt Lichtgeschwindigkeit – wir haben da eine absolute Grenze erreicht. Die Ausbreitung des Lichts definiert einen Raumzeithorizont, bestimmt durch den Lichtkegel in Raum und Zeit. Was jenseits dieses Horizonts liegt, das ist für uns unerreichbar.

In astronomischen Dimensionen, im Weltraum, wachsen die für uns unerreichbaren Gebiete in Raum und Zeit natürlich gewaltig an. Ein Stern, der hundert Lichtjahre entfernt ist, kann heute kein Signal mehr schicken, das wir zu unseren Lebzeiten noch empfangen, und er wird auch von uns in diesem Zeitraum nichts hören. Aber das ist unser persönliches Problem; in genügend ferner Zukunft können unsere Nachfahren durchaus das heute von besagtem Stern abgesandte Signal in Empfang nehmen. Mit Radiowellen, also mit Licht als der schnellsten Übermittlungsmöglichkeit, entsteht auf diese Weise ein neues Erreichbarkeitsdiagramm.

Der Lichtkegel bestimmt für uns, was wir in der Zukunft beeinflussen können, er definiert unseren Raumzeithorizont. Was außerhalb des Lichtkegels liegt, ist im «Jenseits», für uns jetzt außer Reichweite. Der ferne Stern ∗ liegt heute dort und ist für uns nicht zu erreichen. Aber wenn wir lange genug warten – sehr lange für Lichtjahre entfernte Sterne –, dann wird er in unserer Zukunft sichtbar, wir können ihm ein Signal senden und er uns.

Die Lichtgeschwindigkeit bestimmt den Raumzeithorizont, der für uns erreichbare von unerreichbaren Gebieten trennt.

In der Physik spielen heute hingegen absolute Grenzen eine wesentliche Rolle: letzte Horizonte, endgültige Grenzhorizonte. Sie begrenzen die Teile des Universums, von denen an unserem Ort niemals irgendjemand ein Signal empfangen kann, auch nicht in fernster Zukunft. Wie ist das möglich? Diese Frage führt auf einige der erstaunlichsten Phänomene in der heutigen Physik und Kosmologie. Wenn wir mit Bereichen des Universums auf keine Weise in Verbindung treten können, muss das heißen, dass Licht «von dort» uns nie erreichen kann. Das können nur Bereiche sein, die weit entfernt sind und sich zudem kontinuierlich weiter entfernen, oder solche, die kein Licht herauslassen. In der Tat existieren beide Formen.

Wie alt ist das Universum? Die heutige Kosmologie geht von einem Urknall aus, vor etwa 14 Milliarden Jahren, in dem unendlich heiße und dichte Urmaterie erzeugt wurde, die sich dann ausdehnte und so unser Universum schuf. Der Urknall ist zwar zeitlich festgelegt, nicht aber räumlich; vor 14 Milliarden Jahren begann er überall – die Urwelt war nicht eine kleine, heiße Kugel, die dann explodierte, sondern unendlich dichte Materie, die dann durch Expansion verdünnt wurde. Die Zeit seit dem Urknall reicht deshalb nicht aus, damit aus Gebieten, die damals ausreichend fern von unserem Ausgangspunkt waren, uns hier und heute ein Signal erreichen kann. Das Licht aus jenen Gebieten hat einfach noch nicht genug Zeit gehabt, um es bis zu uns zu schaffen. Die Welt, die wir sehen, ist ein Ergebnis von Lichtgeschwindigkeit und Weltalter. Somit scheint es, dass wir einfach etwas Geduld haben müssen: Mit der Zeit wird mehr und mehr des bis heute noch nicht sichtbaren Bereichs in unser Sichtfeld kommen. Das Licht ferner Sterne ist schon «unterwegs» in unsere Welt.

Nur, während wir warten, hält das Universum nicht still. Astronomische Beobachtungen zeigen, dass es sich in ständig zunehmender Geschwindigkeit ausdehnt. Wenn diese Ausdehnung schnell genug stattfindet, wird es Sterne geben, die ewig hinter unserem Horizont bleiben werden, deren Licht uns nie erreichen kann. Mehr noch, Sterne, die wir heute noch sehen, werden durch die Ausdehnung hinter unseren Horizont gedrängt – sie werden für uns erlöschen und verschwunden sein. Irgendwo im fernen Weltraum gibt es einen Horizont, hinter den wir nie dringen können, weder heute noch irgendwann später.

In alten Märchen gibt es ein Schloss mit vielen Zimmern; eines davon aber darf man nie betreten, sonst wird man ein schreckliches Ende nehmen. Es scheint, dass auch in unserem Universum solche Zimmer existieren,

verbotene Räume des Universums.

Wer sich je in ein schwarzes Loch begibt, wird es nie wieder verlassen und wird darin vernichtet. Schwarze Löcher sind sehr schwere, aber sehr kleine «tote» Sterne. Ein Stern beginnt sein Leben als Gaswolke, die durch die Schwerkraft mehr und mehr zusammengepresst wird. Wenn das Gebilde kompakt genug geworden ist, lässt die Fusion von Wasserstoff zu Helium es leuchten, und der Hitzedruck des Prozesses verhindert, dass es weiter schrumpft. Aber wenn der Brennstoff verbraucht ist, presst die Schwerkraft die «Asche» in eine immer kleinere Kugel von immer höherer Dichte. Zum Schluss haben wir einen Himmelskörper, dessen Schwerkraft so immens ist, dass alles um ihn herum in seinen Bann gerät, selbst Licht. Kein Lichtstrahl kann aus seinem Inneren an die Außenwelt gelangen, und so können wir nie in sein Inneres sehen. Für alles in seinem Inneren sind wir draußen hinter einem unüberwindbaren Horizont. Und wer oder was von draußen dem schwarzen Loch zu nahe kommt, wird durch dessen Schwerkraft verschluckt und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Es gibt demnach in den Weiten des Kosmos für uns unerreichbare, auf immer unsichtbare Gebiete. Aber auch am anderen Ende der Skala, im Mikrokosmos, im Bereich des ganz Kleinen, gibt es solche Erscheinungen. Nicht nur, dass wir nicht beliebig weit sehen können; wir können die Welt im Kleinen auch nicht beliebig fein auflösen. So wie es eine Grenze für die Möglichkeiten des Teleskops gibt, so gibt es auch eine für das Mikroskop.

Bereits im Altertum haben Philosophen versucht, die Komplexität unserer Welt zu verstehen als das Zusammenwirken vieler einfacher Grundbausteine, die durch fundamentale Kräfte verkoppelt sind. Die Komplexität wäre dann ein Zufallsprodukt eines viel einfacheren Würfelspiels, aus dem sie durch bestimmte Entwicklungsschemen hervorgeht. Dieser «Reduktionismus», das Zurückführen auf einfachere Grundbausteine, hat sich als unwahrscheinlich erfolgreich erwiesen für das Verständnis der Struktur der Materie. Je nach der Packungsdichte und der Anordnung der Bausteine erhalten wir feste, flüssige oder gasförmige Zustände. Die Bausteine selbst sind Moleküle, verkoppelt in abnehmender Regelmäßigkeit von Kristallen zu Gasen. Die Moleküle bestehen aus Atomen und diese wiederum aus positiv geladenen Kernen, umgeben von negativ geladenen Elektronen. Elektromagnetische Kräfte binden die Bestandteile zu elektrisch neutralen Einheiten.

Wenn wir ein solches System genügend erhitzen oder einem sehr starken elektrischen Feld aussetzen, etwa einem Blitz, dann werden die Atome in ihre geladenen Bestandteile aufgebrochen, und es entsteht ein vierter Zustand der Materie, ein Plasma. Unsere Liste von Zustandsformen der Materie – Festkörper, Flüssigkeit, Gas und Plasma – deckt sich also mit der bereits im Altertum aufgestellten, als sie aus Erde, Wasser, Luft und Feuer bestand. Und schon die damaligen Philosophen, in der griechischen wie auch in der hinduistisch-buddhistischen Welt, fanden es notwendig, eine fünfte Form, eine Quintessenz, hinzuzufügen, als Raum für die anderen, als die Bühne, auf der die anderen ihre Rollen spielen: das Vakuum, der «leere Raum».

Die Kerne der Atome bestehen ihrerseits aus Nukleonen: positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen. Durch die Bindung von verschieden vielen Nukleonen – das ist natürlich elektromagnetisch nicht möglich, da ja nur positive Ladungen vorliegen; hierfür kommen die viel stärkeren Kernkräfte ins Spiel – entstehen die Kerne der verschiedenen Elemente, von Wasserstoff (ein Proton) bis zu Uran (92 Protonen und 146 Neutronen) und noch darüber hinaus zu den künstlich erzeugten Transuran-Elementen. Alle diese Grundbausteine der Materie gibt es wirklich. Elektronen, Protonen und Neutronen existieren einzeln im Vakuum, man kann sie isoliert betrachten, sie haben eine Masse und eine räumliche Ausdehnung. Sie sind eigentlich

die kleinsten Bausteine der Materie.

Aber die Untersuchung der Kräfte zwischen Nukleonen hat gezeigt, dass wir wohl doch noch nicht am Ende angelangt sind. Für das Verständnis der dabei auftretenden Wechselwirkung und der verschiedenen Anregungszustände von Nukleonen ist eine weitere Infrastruktur erforderlich: Ein Nukleon besteht aus drei gekoppelten Quarks – so stark aneinandergekoppelt, dass eine unendlich hohe Energie erforderlich wäre, das Nukleon in Quarks zu spalten. Ein einzelnes Quark kann somit nicht existieren. Der römische Philosoph Lukrez war schon vor über zweitausend Jahren zu dem Schluss gekommen, dass die kleinsten Bestandteile der Materie nicht einzeln existieren könnten, sondern nur als untrennbarer Teil einer größeren Einheit. Die Quarks, für uns heute die fundamentalen Konstituenten der Materie, haben genau das als ihre wesentliche Eigenschaft: Sie sind auf ewig mit anderen Quarks verkoppelt, mit denen sie dann Nukleonen als größere Einheiten bilden. Die Welt, in der die Quarks existieren, unterscheidet sich wesentlich von unserer: Es ist eine Welt ohne Vakuum, ohne leeren Raum, und sie können dieser Welt nie entkommen, wie auch niemand aus dem Inneren eines schwarzen Lochs entkommen kann.

Da sich das Universum seit dem Urknall ständig ausgedehnt hat, war die Welt der Quarks nicht immer nur ein Aspekt des Mikrokosmos. Wenn wir den Film der Expansion der Welt zurückspulen, dann werden Galaxien ineinandergepresst, Sterne werden zu Wolken von dichtem, heißem Gas, und es gibt immer weniger leeren Raum. Wenn wir uns zeitlich dem Urknall nähern, übersteigt die Energiedichte des Universums die eines einzigen Nukleons, und es gibt kein Vakuum mehr. In anderen Worten, in seiner allerfrühesten Zeit bestand die Welt aus einer Urmaterie dicht zusammengepferchter Quarks. Das ganze Universum war damals hinter dem Horizont, den heute nur noch die Quarks sehen.

Die Reduktionskette mit den Quarks als den letzten Bestandteilen der Materie

Wo immer der Mensch hingeschaut hat, auf Erden oder im All, im Großen oder im Kleinen, immer tauchten Horizonte auf, Grenzen, und dahinter weitere und wieder weitere. Wir haben immer nach letzten Grenzen gesucht, und diese jahrtausendealte Suche hat sicher ihren Teil dazu beigetragen, die Menschheit so zu formen, wie sie heute ist. Gehen wir ein wenig zurück und erinnern uns, wie die Suche angefangen hat.

Der Rand der Erde

war in alten Zeiten die schlimmste aller Gefahren, die Seefahrern drohte. Und es gab viele Gefahren, unzählige Seefahrer kamen nie zurück, unzählige Mütter und Frauen weinten um Söhne, Brüder und Männer.

Denn im weiten Meer das Salz,das sind die Tränen Portugals,

meinte dazu der große portugiesische Dichter Fernando Pessoa. Felsen, Stürme, Riesenwellen, Seeschlangen, Kraken und andere Seeungeheuer – schlimmer aber als all diese Schrecken war der Gedanke, am Rande der Erde, der Erdscheibe, einfach hinunterzufallen und zu verschwinden im Nichts, ohne Grab, ohne Kreuz, ohne die Segnungen der Kirche. Irgendwo musste die Welt ja aufhören, und so weit sollte man lieber nicht segeln.