Grabesblüte - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - E-Book

Grabesblüte - Schweden-Krimi E-Book

Björn Hellberg

0,0

Beschreibung

Eine Satanssekte treibt ihr Unwesen in der beschaulichen schwedischen Kleinstadt Stad: Die nächtlichen Rituale auf dem Friedhof und die grausamen Tieropfer versetzen die Bürger von Kommissar Sten Walls Heimatort in Aufruhr. Als dann auch noch zwei menschliche Leichen mit einem auf die Stirn gemalten Bocksfuß gefunden werden, glaubt der Kommissar an eine Verbindung zur Sekte. Doch dann verschwindet ein Sektenmitglied spurlos und das Blatt wendet sich noch einmal... Höchste Spannung und viel Lokalkolorit verspricht die beliebte 23-teilige Krimi-Serie um den sympathischen schwedischen Kriminalkommissar Sten Wall. Die meisten Fälle spielen in der fiktiven Stadt namens Stad in der südschwedischen Provinz Schonen. Bei SAGA Egmont sind die Bände \"Ehrenmord\", \"Mauerblümchen\", \"Todesfolge\", \"Grabesblüte\" und \"Quotenmord\" erhältlich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 315

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Björn Hellberg

Grabesblüte - Schweden-Krimi

Saga

Grabesblüte - Schweden-Krimi

Übersetzt Astrid Arz

Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2005, 2020 Björn Hellberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444940

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Sonntag, 17. September, früher Abend

Das planvoll Böse brütete im bald undurchdringlichen Dunkel des Waldes, während der alte Mann mühsam seiner gewohnten Abendbeschäftigung nachging. Unversöhnliche Augen folgten ihm, während er, schwer auf seinen Spazierstock gestützt, vorantaperte, nur um etwa alle drei Minuten stehen zu bleiben und eine Verschnaufpause einzulegen.

In letzter Zeit war er immer gebrechlicher geworden. Früher hatte er auf seinen Spaziergängen nie Pausen gebraucht. In seiner besten Zeit war er ausdauernd wie kein Zweiter gewesen.

Ihm fiel eine bekannte Lebensweisheit ein: Je schneller man in seiner Jugend gelaufen ist, desto älter wird man.

Nun, wie auch immer, das Gehen fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher, das stand jedenfalls fest.

Bei seinen gelegentlichen Einkaufsgängen griff er zur Gehhilfe. In der Stadt war das sehr praktisch. Nur hier nicht. Auf den weichen Waldwegen war damit nichts anzufangen. Er hatte es einmal versucht, aber sofort aufgeben müssen. Die Räder sanken zu tief in den Erdboden ein und rutschten ihm weg.

Natürlich gab es andere Spazierwege in Stad. Zum Beispiel gefiel ihm der Park in der Stadtmitte sehr gut. Aber bis dahin war es von seiner Wohnung aus zu weit. Dieses abgelegene, ruhige Gebiet hinter den tristen Hochhäusern von »Grönland« war für ihn günstiger gelegen. Auf den Straßen zwischen den vielen Mietskasernen spazieren zu gehen, sagte ihm gar nicht zu. Der Weg ins Stadtzentrum war leider zu weit, und das Gedrängel in Bussen mochte er nicht. Ein Taxi kam für einen Mann mit seinen bescheidenen Mitteln natürlich gar nicht erst infrage.

An sich konnte er sich ja auch den Seniorenfahrdienst bestellen, aber das war mit ein wenig Aufwand verbunden. Zudem wollte er niemandem zur Last fallen. Schließlich könnte eine Zeit kommen, in der er diesen Service wirklich brauchte, und er wollte nicht als ein Parasit angesehen werden, der die Gesellschaft unnötig belastete. Bislang hatte er sich aus eigener Kraft achtzig Jahre lang über Wasser gehalten, und wenn es nach ihm ging, würde er bis zu seinem Tod so weitermachen. Natürlich wusste er, dass ihm die Benutzung des Fahrdienstes zustand, doch trotz seiner ausgeprägten Sparsamkeit ging es ihm gegen den Strich, um Zuwendungen bitten oder betteln zu müssen.

Also musste er sich wohl mit diesem etwas ungemütlichen Waldgebiet abfinden. Hier war er wenigstens allein mit seinen Gedanken.

Diese Abendstunden waren wie ein Geschenk für ihn. Ein paar Mal hatte er versucht, sie ausfallen zu lassen. Immer mit dem gleichen betrüblichen Ergebnis: Er konnte sehr schlecht einschlafen.

Seine Abendspaziergängen machten einen klaren Kopf und erschöpften ihn körperlich. Davon war er geradezu abhängig.

Da er nie allzu lange fortblieb, ließ er das Licht in der Wohnung an. Das war zwar Verschwendung, keine Frage. Aber die Vorstellung, in eine dunkle Wohnung zurückzukommen, sagte ihm gar nicht zu; das kehrte seine Einsamkeit so heraus. Das Licht war wie ein Willkommensgruß, den kleinen Luxus konnte er sich wohl leisten. Außerdem hatte er nur die eine Hälfte des Jahres erhöhte Stromkosten. Und wofür sparen und hamstern, wenn man am Ende doch nichts mit hinübernehmen konnte?

In der Regel ging er zwischen sieben und acht Uhr hinaus. Wieder zu Hause angekommen, entspannte er sich dann noch ein Stündchen vor dem Fernseher, ehe er seinen Toilettengang erledigte. Danach war es höchste Zeit für ihn, ins Bett zu gehen. Er hatte festgestellt, dass er mit dieser Zeiteinteilung gut zurechtkam, also gab es keinen Grund, etwas daran zu ändern.

Der Wald zog sich Richtung Norden. Unter den Bäumen fand er Schutz vor dem Wind, der bald kalt und durchdringend heranfegen würde – wie ihm der schwedische Winter verhasst war! Aber noch ließ es sich aushalten. Dieser Septemberabend war sogar verhältnismäßig mild. Der frische, klare Sonntag hatte immer mal wieder reichlich Sonnenschein gebracht.

Die Aussichten für die nächsten Tage waren auch erfreulich. Eine Woche lang schönes Herbstwetter lautete die Voraussage. Und heutzutage lagen sie meistens richtig mit ihren Prognosen, mit all den modernen Hilfsmitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Wie waren die Wetterfrösche nur früher zurechtgekommen, als sie noch keinen Zugang zu Satellitenaufnahmen hatten?

Der alte Mann blieb stehen. Auf seinen Stock gestützt, sog er keuchend in kurzen Atemzügen die frische Herbstluft ein. Unter den Bäumen kam das Böse leise und zielbewusst Schritt für Schritt näher, während in der Ferne gedämpft und monoton der Wochenendverkehr vorbeibrauste.

Der Alte überlegte, ob er noch ein Stück weitergehen oder sich auf den Heimweg machen sollte. Er brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden.

Bald würde das Dunkel der Dämmerung in rabenschwarze Finsternis übergehen, also war es wohl das Sicherste umzukehren.

Nicht etwa, weil er Angst im Dunkeln hatte.

Die vielen Jahre an Deck mit dem Meer als einzigem Nachtgefährten hatten ihn abgehärtet. Im Dunkeln fürchtete er sich nicht, das war schon seit seiner Kindheit so gewesen.

Allerdings könnte er den Weg nicht mehr richtig erkennen, wenn sich das Dunkel zwischen den Stämmen verdichtete. Er fürchtete, einen falschen Schritt zu machen, hinzufallen und sich zu verletzen. So etwas konnte in seinem Alter gefährlich sein. Hatte man nicht oft genug von alten Leuten gehört, die mit einem Oberschenkelhalsbruch liegen geblieben waren?

So wollte er nicht enden. Auf gar keinen Fall.

Außerdem: Wer sollte ihm zu Hilfe kommen? Hier, in der selbst gewählten Einsamkeit, würde ihn niemand hören, wenn ein Unglück geschah. Da konnte er in seiner Qual herumliegen und sich heiser schreien, ohne dass es etwas nützte. In dieses Gebiet kamen fast nie andere Spaziergänger. Das Waldstück war nicht besonders beliebt, mit ein Grund, weshalb er es sich für seine Abendspaziergänge ausgesucht hatte. Die Einsamkeit gefiel ihm.

Eine Weile hatte er sich überlegt, ob er sich ein Handy anschaffen sollte, nur zur Sicherheit. Doch mit seiner Skepsis gegenüber allem Neumodischen hatte er sich nie zum Kauf überwinden können. Vielleicht war es an der Zeit, seine Einstellung zu ändern, aber das Ganze war ja auch eine Kostenfrage.

Er machte auf dem Absatz kehrt, holte dabei zu viel Schwung und merkte, wie er den Bodenkontakt verlor. Ein paar Schrecksekunden lang stand er schwankend da, den Stock fest und verzweifelt umklammernd, kurz davor umzufallen.

Doch er fand das Gleichgewicht wieder und konnte sich nach ein paar tiefen Atemzügen auf den Nachhauseweg machen.

In einiger Entfernung tappte lautlos das todbringende Böse, den Blick unablässig auf die gekrümmte Gestalt gerichtet, die sich mit dem Stock vorantastete und die so langsam ging, so aufreibend langsam.

Der Alte erinnerte sich an seine Zeit auf See. So lange war das her, dass er nicht mehr wusste, ob er sich danach sehnte oder nicht.

Nicht, dass es ihm jetzt noch etwas bedeutet hätte.

Und wenn er sich noch so sehr anstrengte, an die meisten Namen all der vielen Schiffe, mit denen er gefahren war, konnte er sich einfach nicht mehr erinnern.

Andere Dinge dagegen hatte er noch heute glasklar vor Augen. So etwa die Fahrten mit seinem Lieblingsschiff Kirribilli – ein Frachtschiff der Transatlantic – unter anderem nach Australien und Neuseeland: wundervolle Länder, weit weg vom südschwedischen Winterschneematsch und den beißend scharfen Höllenwinden.

Auf ihr – der Kirribilli – war er so gerne gefahren.

Einmal hatte er sich ernsthaft überlegt, in Adelaide abzumustern, um sein Glück als Opalsucher in Port Augusta zu versuchen, aber seine Frau hatte ihn überredet, lieber auf Nummer Sicher zu gehen.

Im Geiste hörte er noch ihre ängstliche hohe Stimme: »Da weiß man wenigstens, was man hat. Wer weiß, was einen dort erwartet, Ragnar? Schlag dir diese albernen Grillen aus dem Kopf und mach bei der Reederei weiter. Du weißt doch, dass was Kleines unterwegs ist.«

Plötzlich packte ihn eine Riesenwut auf sie, weil sie all seine Aussichten auf Abenteuer und Reichtum in Port Augusta im Keim erstickt hatte. Und wenn er eine eigene Mine gefunden und abgebaut hätte? Er hätte mit Opalen steinreich werden können, anstatt auf seine kümmerliche Rente angewiesen zu sein, die ihn zu einer schäbigen Einzimmerwohnung mit Kochnische in »Grönland« verdammte, der hässlichsten Wohngegend von Stad.

Der jäh aufgeflammte Zorn verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war. Er sah ein, dass er ihr natürlich nicht eine so ungeheuer lange zurückliegende Entscheidung anlasten konnte. Und außerdem hatte er niemanden, gegen den er seinen Zorn richten konnte, weil Agnes ja nicht mehr am Leben war.

Sie war vor ziemlich langer Zeit gestorben, aber wann genau, wusste er nicht mehr.

Seltsam: die Todestage seiner beiden Eltern (die das Zeitliche gesegnet hatten, als er noch in den Jugendjahren gewesen war) konnte er präzise benennen, aber er wusste nicht einmal mehr, in welchem Jahr seine eigene Frau verschieden war.

Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?

Auf jeden Fall im Spätwinter. Er sah noch den braunen Schneematsch an den Rädern des Krankenwagens vor sich, als die Sanitäter sie nach dem heftigen Herzinfarkt, der ihr Leben in einem einzigen grausamen Moment beendet hatte, aus der Wohnung trugen. Im Fenster der Nachbarwohnung hatten sich die Gardinen bewegt – ihr Fortgang aus dem Haus war nicht unbemerkt geblieben.

Ein paar Tage später hatte die kräftige Sonne die letzten Schneewehen des Winters in frühlingswilde Bäche und Rinnsale verwandelt. Das wusste er noch, nur nicht mehr, in welchem Jahr das gewesen war.

Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?

Wenn er nach Hause kam, würde er Erling anrufen müssen, um zu überprüfen, ob es stimmte.

Obwohl, vielleicht war das doch keine so gute Idee. Wenn der ihm dann Senilität vorwarf? Sein Sohn hatte so merkwürdige Ideen. Das konnte sich dann so anhören:

Weißt du wirklich nicht mehr, wann Mama gestorben ist? Das ist ja furchtbar. Bist du sicher, dass du in der kleinen Bude allein zurechtkommst? Wollen wir nicht lieber zusehen, dass wir dich in einem gemütlichen Heim unterbringen, wo man sich um dich kümmert und wo du die nötige Pflege erhältst?

Der alte Mann hatte nicht die Absicht, in ein Heim zu ziehen, und wenn es noch so gemütlich war. Am besten rief er den rechthaberischen Sohn gar nicht erst an, sondern konzentrierte sich ganz auf Agnes. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt fehlte. Ihr Eheleben war nie überschäumend gewesen. Durch seine ständige Abwesenheit war die erste leidenschaftliche Liebe auffallend rasch abgekühlt, und als sein Sohn aus dem Nest geflogen war, war es, als hätten sie beide einander immer weniger zu sagen gehabt.

Die meiste Zeit schwiegen sie einander an.

Zur gleichen Zeit, als Erling auszog, ging er selbst in Rente, und es dauerte nicht lange, bis den Eheleuten klar wurde, dass sie sich auseinander gelebt hatten. Ihre Ansichten und Gewohnheiten klafften weit auseinander; dass sie trotzdem zusammenblieben, lag sicherlich nur an Gewohnheit, Bequemlichkeit und falscher Rücksicht. Keiner von beiden hatte die Kraft oder den Mut zu einer Trennung.

Und dann war sie gestorben, an einem Märztag mit Schneematsch im Jahr 1992.

Wenn es nicht 1991 gewesen ist.

Vielleicht konnte er es doch wagen, Erling anzurufen, nur um seine Neugier zu stillen. Schließlich konnte er das ja so ganz nebenbei erwähnen, während er so tat, als riefe er aus einem ganz anderen Grund an.

Das vorsätzlich Böse war jetzt keine zehn Meter mehr von seinem unwissenden Opfer entfernt, bereit zuzuschlagen.

Bald würde der entscheidende Schlag fallen.

Es war so weit.

Der Alte hatte keine Ahnung, was für ein Grauen sich hinter den Baumstämmen am Wegrand verbarg. Sonst hätte er natürlich alles unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen, so schwer das in seiner Verfassung auch sein mochte.

Stattdessen machte er eine Pause, während der er angestrengt das Gesicht seiner Frau heraufzubeschwören versuchte. Panik befiel ihn, als das Bild verschwommen und konturlos blieb, als hätte es sie nie gegeben.

Vielleicht stand es schlimmer um ihn, als ihm selbst bewusst war: sich nicht einmal die Gesichtszüge der Person vergegenwärtigen zu können, mit der er vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war – schlimm, schlimm!

Doch sein schlechtes Gefühl legte sich, als sie plötzlich vor ihn trat, breit in den Hüften, mit Pausbacken, die Nase rund wie eine Ofenkartoffel, die glanzlosen Haare streng zurückgekämmt.

So hatte sie ausgesehen. Ganz genauso.

Und in dem Moment verspürte er einen Stich, etwas wie Sehnsucht, ein Gefühl von Verlust; seine Einsamkeit machte sich deutlicher bemerkbar und erfüllte ihn mit Trauer. Er bekam Lust, alle Hemmungen fallen zu lassen und einfach draufloszuheulen.

Er schluckte ein paar Mal und ging weiter, blieb aber fast sofort wieder stehen, mitten in einem seiner wackligen Schritte.

Das Böse ging zum Angriff über.

»Leandersson?«

Der Alte zuckte zusammen.

Bildete er sich jetzt etwa auch noch ein, dass er Stimmen hörte?

Konnte das sein?

»Leandersson?«

Jetzt bestand kein Zweifel mehr.

Jemand hatte ihn angesprochen.

»Ja?«, antwortete er, noch nicht ängstlich, nur erstaunt.

Es kam sehr selten vor, dass er auf seinen Abendspaziergängen jemandem begegnete. Er hatte auch niemanden gesehen.

Er blickte sich um, entdeckte aber niemanden.

»Wer ist das?«

Woher die Antwort kam, ließ sich unmöglich feststellen:

»Nur ich.«

»Und wer ist Ich?«

»Der Graue.«

»Der Graue?«, wiederholte Leandersson ungläubig.

Er fand, dass die beiden Wörter merkwürdig im Schädel hallten. Plötzlich überfiel ihn die Furcht; etwas stimmte nicht, vielleicht etwas mit der Stimme. Sie klang so unnatürlich, so fremd. Wenn er gekonnt hätte, wäre er sofort geflohen, aber ihm war klar, dass er nicht besonders weit kommen würde. Mit keuchendem Atem lehnte er sich auf den Stock, auf das Schlimmste gefasst.

Etwas stieg aus dem Wald und glitt langsam auf ihn zu.

Der Alte versuchte, den schemenhaften Umriss schärfer ins Auge zu fassen, und spürte zugleich, wie sich sein Unbehagen in Entsetzen steigerte: Wer konnte das bloß sein?

Die Ahnung einer Gefahr wuchs von Sekunde zu Sekunde.

Die Schritte kamen näher.

Wer war das? Wie sah er aus?

Unerbittlich und drohend kam die Gestalt auf ihn zu, unscharf, wie in Nebel gehüllt – noch ließ sich nicht ein Gesichtszug desjenigen erkennen, der sich als der Graue bezeichnet hatte. Auf dem Kopf befand sich etwas Dunkles, Spitzes. Eine Kutte? Was immer es war, es verbarg das Gesicht gründlich.

Die Gestalt begann, schneller zu laufen, zu rennen. Als die Gestalt die Rechte hob, wurde Ragnar Leandersson von einer Höllenangst befallen, wie er sie noch nie zuvor auch nur annähernd empfunden hatte.

Davor

1 Er spürte, dass sie ihren Widerstand jetzt jeden Moment aufgeben würde.

Wunschdenken?

Vielleicht. Vielleicht verleitete ihn das heftige Begehren zu überstürzten Hoffnungen: Er wollte sie doch so gerne haben. Und zwar hier und jetzt, ohne unnötige Verzögerungen.

Es konnte also durchaus sein, dass sie ihm wieder eine Abfuhr erteilte, genau wie letzten Samstag. Aber da hatten sie sich noch kaum gekannt, und er hatte sich vielleicht ein wenig zu aufdringlich, schon fast aggressiv verhalten. Jetzt lagen noch ein paar Tage dazwischen, er hatte seine Lektion gelernt und würde sie langsam, aber sicher dahin bringen, wo er sie haben wollte.

Siegesgewiss war ihm klar, dass er seinen Willen durchsetzen würde. Doch zu dem Zweck musste er seine Karten vorsichtig ausspielen. Er durfte nicht so heftig auftrumpfen, dass sie einen Schreck bekam und dichtmachte. Gleichzeitig kam es darauf an, den Druck nicht zu weit abfallen zu lassen, sondern dranzubleiben, sanft und dominant zugleich zu sein.

Diplomatie und Timing waren alles. Er musste versuchen, die Highlights aus der Erfahrung mit seinen zahlreichen früheren glücklichen Eroberungen aus der Kiste zu zaubern. Etwas würde ihm sein Vorsprung von drei Jahren an Alter und Erfahrung doch wohl nützen.

An sich war es schon ein Erfolg, dass sie mit ihm an diesen abgelegenen Ort gekommen war. So weit war er bisher noch nie bei ihr gekommen, aber das war ja auch kein Wunder: Seine früheren Versuche waren nicht nur überhastet, sondern auch halbherzig gewesen. Heute Abend wurde die schwere Charmeoffensive gefahren.

Seine begierigen Finger sehnten sich nach der Berührung ihres verführerischen kleinen Körpers, aber er konnte sich beherrschen. Es wäre ein Fehler, alles aufs Spiel zu setzen, was er so mühsam aufgebaut hatte.

Geduld, Ted, sie wird schon nachgeben.

»Setzen wir uns doch«, schlug er vor und zeigte auf das weiche Gras an der Mauer.

»Keine besonders gute Idee. Gehen wir lieber, lass uns heute Abend was anderes machen.«

Dass er sich so verkalkuliert hatte, haute ihn um. Als sie Richtung Auto lostrippelte, wurde es noch schlimmer. Sanft ergriff er ihr eines Handgelenk und hielt sie auf.

»Wir können uns doch wenigstens ein bisschen setzen.«

Als sie zögerte, fuhr er fort: »Wo wir schon mal hier sind. Was haben wir denn in der Stadt groß zu tun? Zu dir können wir genauso wenig wie zu mir. Und fürs Kino ist es zu spät.«

»Kneipe?«

»Vielleicht danach.«

»Nach was?«

»Ich meine natürlich, wenn wir hier fertig sind.«

»Fertig mit was?«

Er lächelte ihr zu.

»Mit Sitzen.«

»Nur Sitzen?«

Reizte sie ihn, oder war sie nur naiv?

»Frag nicht so viel. Wir setzen uns, und dann sehen wir weiter.«

»Hältst du mich für total bescheuert? Glaubst du, ich weiß nicht, auf was du es abgesehen hast?«

»Ja, ist das denn so was Schlimmes? Ich mag dich doch. Und schließlich warst du auch schon mit anderen Jungs zusammen ...«

»Bloß mit Jesper.«

»Ja, aber trotzdem. Den hast du doch wohl auch nicht am ausgestreckten Arm verhungern lassen?«

»Doch, anfangs schon.«

»Aber ihr wart lange zusammen?«

»Ein halbes Jahr.«

»Na bitte.«

»Das war der Unterschied. Wir waren eben zusammen, wie du selber gesagt hast.«

»Und was sind wir beide dann?«

Die Frage blieb unbeantwortet.

»Sind wir etwa nicht zusammen?«, hakte er nach.

»Weiß nicht.«

»Sei nicht so ...«Er suchte das richtige Wort und kam nicht drauf.

Sie sagte: »Es ist nur wegen des Ortes hier.«

»Was ist damit?«

»Er gefällt mir nicht. Ist irgendwie so gruselig. Mit den ganzen Gräbern da oben. Das kommt mir nicht richtig vor.«

»Mensch, Ebba, wir sind doch nur vor dem Friedhof, nicht drauf.«

»Trotzdem, da ist doch wohl kein Unterschied.«

»O doch.«

»Aber all die vielen Toten da oben ...«

»Die können uns nicht sehen. Außerdem fühlt man sich dann erst recht lebendig. Jetzt komm schon, setzen wir uns endlich.«

Ihre Augen verrieten, dass sie kurz davor war nachzugeben. Nur noch ein klitzekleiner Anstoß, und die erste Runde würde an ihn gehen.

»Ich bin unheimlich froh, dass wir uns kennen gelernt haben, Ebba. Echt, das kannst du mir glauben.«

»Na gut, aber nur ganz kurz.«

Behutsam zog er sie an sich, und sie setzten sich mit dem Rücken zur rauen Mauer.

Es war so dämmerig geworden, dass er die vielen Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und den sonnengebräunten Wangen kaum noch sehen konnte. Bald würde es so dunkel sein, dass man sie nur noch aus nächster Nähe erkennen würde. Und hier in der Ecke blieb man immer für sich.

Deshalb hatte er diese versteckte Oase ausgesucht, zu der er früher schon Mädchen geführt hatte – von denen allerdings noch keine so widerspenstig wie Ebba gewesen war. Die, die er früher mitgenommen hatte, hatten sich gleich auf alles eingelassen, aber Ebbas Vorsicht stellte eine besondere Herausforderung dar. Er war von der Vorstellung besessen, sie zu erobern; sie hatte den tollsten Körper von allen, mit denen er je gegangen war. Und brachte ihm von allen den größten Widerstand entgegen. Du lieber Himmel, jetzt war es bestimmt schon zwei Wochen her, dass er sie das erste Mal angemacht hatte. Es wurde also wirklich Zeit, dass was passierte.

Etwas Spannendes, Aufregendes, Wunderbares ...

Er war es nicht gewöhnt, so lange hingehalten zu werden; diese Rolle gefiel ihm gar nicht. Er brannte darauf, ihr seine Talente unter Beweis zu stellen, sehnte sich danach, sie zum Höhepunkt zu bringen. Danach würde sie ihm danken, sich an ihn hängen, neue Treffen vorschlagen.

Er spürte, wie sein Puls schneller schlug. Sie war einfach zum Anbeißen.

Sein Verlangen nahm von Sekunde zu Sekunde zu.

Er musste sie heute Abend einfach haben, koste es, was es wolle.

Hohe Rhododendronsträucher schützten sie vor neugierigen Blicken. Der kleine Weg entlang der rückwärtigen Mauer des Nordfriedhofs war jedoch ohnehin menschenleer. Sie würden ungestört sein, das stand fest.

Wenn er sich in der Gewalt hatte, würde alles planmäßig laufen.

Hatten sie erst miteinander geschlafen, würde sie alle Hemmungen über Bord werfen. So hatte es jedenfalls bisher funktioniert, mit seinen früheren Eroberungen.

Jetzt kam es also drauf an. Heute Abend grünes Licht, und der ganze Sommer wäre gerettet!

Gut fünf Minuten vorbereitendes Reden waren schon nötig, ehe er die erste Annäherung wagte. Mit einer Hand fuhr er vorsichtig unter ihren Pullover, über den BH-Rand und umfasste die eine Brust, die zu sehen er noch nicht das Vergnügen gehabt hatte.

Sie machte sich steif, stieß ihn aber nicht zurück. Das deutete er als stillschweigendes Einverständnis und versuchte es deshalb mit der zweiten Brust.

Immer noch kein Protest.

Die Brüste waren klein und warm, er wurde immer leidenschaftlicher, griff nach ihrem Gesicht, umfasste ihre Ohren, zog sie zum Küssen an sich.

Sie suchte sich eine bequemere Stellung und umspielte seine Zunge mit ihrer, ihr Unterleib pochte an seinen Lenden, eine deutliche Reaktion, und er begriff, dass die Schlacht gewonnen war. Sie rieb sich an ihm.

»Du bist wahnsinnig toll«, sagte er leise, obwohl er eigentlich nicht flüstern musste.

Niemand konnte sie ja hier hören.

Keuchend antwortete sie etwas Unverständliches.

»Was?«

»Trauen wir uns?«

»Klar. Wir hätten das schon viel früher tun sollen. Wo wir doch schon eine halbe Ewigkeit zusammen sind.«

»Erst seit zwei Wochen. Noch nicht mal.«

»Für mich ist es eine Ewigkeit«, sagte er und hätte sich dafür auf die Zunge beißen mögen: Wie sie die Bemerkung wohl aufnahm?

Rasch ergänzte er: »Ich liebe dich, du bist einzigartig, wenn du nur wüsstest, wie viel du mir bedeutest ...«

»Das fühle ich«, kicherte sie und strich mit den Fingerspitzen in einer raschen, sanft gleitenden Bewegung, von der er einen Sog in der Magengegend verspürte, über seine Erektion.

»Worauf warten wir?«, keuchte er und schob ihr den Rock über die Schenkel hoch.

Als sie sich ein wenig zurückzog, befielen ihn scheußliche Zweifel. Was musste sie aber auch so verteufelt störrisch sein! Warum nur war sie nicht so kooperativ wie all die anderen, sondern stellte sich quer, wo er schon so nah am Ziel war?

Als sie sich aufsetzte, bekam er einen ganz trockenen Mund. War der magische Moment vorbei?

Die fieberhaft zusammengesuchten Überredungskünste, die ihm auf der Zunge lagen, brauchte er gar nicht erst anzuwenden.

Denn sie wand sich aus dem Rock und stand in einem schwarzen Stringtanga vor ihm. Sie war das bezauberndste Wesen, das er mit seinen zwanzig Jahren je gesehen hatte. Keins der anderen Mädchen konnte ihr das Wasser reichen. Sie war eine Klasse für sich.

Sie hockte sich so dicht vor ihn, dass er ihren frischen Atem direkt im Gesicht hatte.

»Hast du ein Kondom?«

»Ein Gummi?«, fragte er zurück. »Nein, aber ...«

»Macht nichts. Wenn du versprichst, dass du vorsichtig bist.«

»Versprochen.«

»Sicher?«

»Hundert Prozent.«

»Denn ich will nicht ...«

»Verlass dich auf mich. Jetzt komm, komm zu mir.«

»Du hast dich doch wohl testen lassen?«

»Natürlich. Ich bin sauber wie Neuschnee. Du kannst dich absolut sicher fühlen.«

»Ich will auch nicht schwanger werden.«

»Wirst du nicht.«

»Denn wenn ich schwanger werde, bring ich mich um. Und falls nicht, nimmt mein Vater mir das bestimmt gerne ab.«

»Ich schwör dir, du kannst dich garantiert auf mich verlassen. Versprochen!«

»Also gut«, sagte sie und küsste ihn.

Gerade als er sich aufrichtete, um seinen Gürtel aufzuschnallen, griff sie nach ihm.

»Hast du gehört?«

»Was?«

»Psst«, machte sie und drückte sich dicht an ihn. »Hör mal!«

Er spitzte die Ohren, und jetzt hörte er ein merkwürdiges Geräusch, das oben auf dem Friedhof rasch näher kam.

Rhythmische Schritte auf einem knirschenden Kiesweg.

Leises Gemurmel, wie von einer monotonen Litanei.

Jemand fauchte.

Und noch jemand.

Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum an sein Ohr drang: »Das klingt unheimlich, komm, ich will hier weg.«

»Nein, bleib liegen«, flüsterte er. »Wenn wir uns bewegen, sehen sie uns. Wir drücken uns dicht an die Mauer, dann können sie uns unmöglich entdecken.«

Immer verängstigter lagen die beiden jungen Leute reglos im Gras, ohne zu ahnen, was auf dem Friedhof, nur ein paar Meter über ihnen, vor sich ging. Aber dass es etwas Unheimliches war, begriffen sie, und als plötzlich Hammerschläge und entsetzliche, gepeinigte Schreie im Dunkeln zu hören waren, mussten sie sich beherrschen, um nicht blindlings in Richtung Auto loszustürmen, das in ein paar hundert Metern Entfernung geparkt war.

Wieder dröhnten Hammerschläge, wieder ein tierischer Schrei, und noch einer.

Die Schmerzenslaute folgten dicht aufeinander und durchbohrten sie wie Messerstiche.

Ebbas Gesicht war jetzt nur noch wie etwas gespenstisch Weißes neben ihm zu sehen, und ihr Grauen übertrug sich auf ihn und fuhr ihm direkt in die Magengrube. Einen grässlichen Moment lang fürchtete er, seinen Mageninhalt zu erbrechen, aber die Krise überwand er.

Er versuchte, so lautlos wie möglich zu atmen.

Jetzt waren die entsetzlichen Schreie verstummt, aber sie vernahmen Fußgetrappel über ihren Köpfen, Körper, die sich bewegten, und ein Gemurmel wie eine permanente Geräuschkulisse, das ihnen jeden Moment beängstigender vorkam, ein Singsang, in dem einzelne Stimmen lauter und wieder leiser wurden, unheilverkündend wie ein heidnisches Ritual.

Er zischte ihr ins Ohr: »Eine schwarze Messe.«

»Du liebe Güte!«

»Sei still, Mensch, die können uns hören.«

»Wir hauen ab.«

»Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du? Das ist ein Haufen Irrer da oben. Die bringen uns um, wenn sie uns entdecken.«

Ihre Fingernägel gruben sich scharf und schmerzend in sein linkes Handgelenk. Vor Schreck war sie wie versteinert, und er spürte sein eigenes Herz heftig schlagen.

Jetzt konnten sie einzelne Wörter von der Mauer oben verstehen, eine dumpfe Stimme, die unmöglich als männlich oder weiblich zu erkennen war: »Der Graue ist der Größte ... Gott ist tot, Satan lebt.«

Viele Stimmen antworteten unisono: »Nimm entgegen unsere Opfer, für den Grauen, nimm sie an, nimm sie an.«

Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszubrüllen, als ihn plötzlich etwas an der Stirn traf und seine Wange hinabrann. Als er mit den Fingerspitzen etwas Warmes, Klebriges spürte, zog er die Hand sofort wieder weg.

Bald darauf fiel etwas Schweres zwischen sie. Etwas Haariges fuhr seinen bloßen rechten Arm entlang.

Eine Katze! Sie stieß gegen seinen Oberschenkel, prallte beim Aufschlag vom Boden ab und landete ein paar Meter von der Mauer entfernt. In der dichten Dämmerung konnte er gerade noch erkennen, dass sie an einem Holzgestell festgenagelt war.

Ihm gefror das Blut in den Adern.

»Verflucht, diese Scheißtypen haben die Katze doch echt gekreuzigt, was geht hier vor? Das sind keine Menschen da oben, das sind Monster.«

Sie drückte sich an ihn und flüsterte: »Lebt sie noch?«

»Ich glaub, die ist tot, hoffentlich jedenfalls.«

Als er sich über das Tier beugte, hörte er ein leises Rasseln und sah, wie sich die eine Pfote bewegte, ein leichtes, kaum wahrnehmbares Zucken. Ihr wimmerndes Gejammer zerrte an seinen Nerven.

»Scheiße, die lebt ja noch!«

Ihre Stimme überschlug sich fast: »Was sind das für scheußliche ...«

Er packte sie fest um eine Schulter und presste die Worte zwischen den Zähnen hervor, so leise, dass er sich nicht einmal sicher war, ob sie ihn überhaupt hören konnte: »Sei still, verdammt!«

»Habt ihr gehört?«

Die Stimme kam von oben. Die beiden hielten die Luft an, vollkommen gelähmt vor Furcht. Er starrte auf den dunklen, leblosen, aufs Holzkreuz gespannten Tierkörper. Sie kniff die Augen zusammen, wie um die Gefahr abzuwehren.

»Ach, das war bloß eine von den Katzen, die runtergepurzelt ist.«

»Soll ich sie holen?«

»Lass sie liegen, wir machen weiter.«

Und die unheimlich leiernden Stimmen ertönten aufs Neue:

»Wir schwören dir unsere ewige Treue, nimm unser unbedeutendes Opfer an, spüre, dass es aus dem Kern unserer Finsternis kommt.«

»Der Graue, der Graue!«

»Ein geringfügiges Zeichen unseres Vertrauens, wisse, dass wir dich nie verlassen werden.«

»Der Graue, der Graue!«

»Wir werden unsere Widersacher bis zuletzt bekämpfen und dafür sorgen, dass der Sieg dein ist.«

»Der Graue, der Graue.«

Die Zeit verstrich, die Minuten tickten dahin, und wieder wurde es still auf dem Friedhof.

Aber die beiden jungen Leute blieben noch lange liegen, zitternd und angewidert, bis sie endlich fest davon überzeugt waren, dass die Gestalten wirklich weg waren.

Das, wofür sie hergekommen waren, erschien ihnen nun gar nicht mehr wichtig.

Jetzt ging es nur noch um das eine: so rasch wie möglich von diesem Ort des Schreckens wegzukommen und sich in Sicherheit zu bringen.

Sie liefen los, Seite an Seite.

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass die geopferte Katze fast mit dem Gras verschmolz, auf dem sie lag. Es schien ihnen, als sei das Tier jetzt tot, aber sie kümmerten sich nicht darum, weil sie nicht noch mehr Zeit verlieren wollten.

Oben auf der Mauer waren vier weitere tote Tiere in einer makabren Reihe nebeneinander aufgebaut.

Aber davon sahen die Flüchtenden nichts, denn sie trauten sich nicht, auch nur einen Blick zurück auf den Friedhof zu werfen. Sie hasteten an dem üppigen Rhododendrongebüsch vorbei und rannten zum Auto, das sie von dieser Stätte des Wahnsinns fortbringen sollte, der sie so gefährlich nahe gekommen waren.

2 Kurz nach acht Uhr drückte Landespolizeidirektor Helge Boström seine dritte Morgenzigarette aus, ging zum Fenster, um zu lüften, und rief dann drei seiner Mitarbeiter an, die er bat, so schnell wie möglich vorbeizukommen.

Kommissar Sten Wall erhielt den ersten Anruf, und da er außerdem von allen Gerufenen den kürzesten Weg hatte, ging Boström davon aus, dass er es war, der an der Tür klopfte. Doch herein kam stattdessen der größte Fitnessfanatiker und beste Scharfschütze des Polizeipräsidiums, Otto Fribing.

»Hallo, guten Morgen. Setz dich«, sagte Boström und musterte den Ankömmling einen Moment lang verwirrt.

Etwas stimmte nicht. Er wusste nicht genau, was, aber etwas an dem bekannten Anblick hatte sich beunruhigend verändert.

»Du guckst so. Stimmt was nicht?«, fragte Fribing.

»Du hast dich verändert.«

»Das kann mal wohl sagen. Der Schnurrbart kam heute Morgen runter.«

»Das ist es also! Ach, den hast du abgesäbelt«, stellte Boström kritisch fest.

Zu seiner Verwunderung merkte er, dass ihm die Oberlippenzierde seines Kollegen fehlte. Der Landespolizeidirektor war kein Freund großer Veränderungen, nicht einmal bei Kleinigkeiten wie dem äußeren Erscheinungsbild eines Kollegen, und er wurde von einer schwer erklärlichen Gereiztheit erfasst.

»Wozu soll das gut sein?«

Fribing begnügte sich mit einem Schulterzucken.

»Warum?« Boström wollte es wissen. »Im Grunde genommen ist es natürlich deine Sache, wenn du dich von deinem Schnäuzer verabschiedest, aber es muss doch einen triftigen Grund dafür geben. Oder?«

»Es ist wegen einer Wette.«

»Wie bitte?«

»Eine Wette.«

»Was sind das für Albernheiten? Du hattest einen Schnurrbart, solange ich mich erinnern kann. Er stand dir sogar gut. Du hast damit besser ausgesehen. Jetzt wirkst du so ... ja, irgendwie nackt. Mit einer Oberlippe, so lang wie bei einem Esel. Nächstes Mal rasierst du dir vielleicht auch noch die Kopfhaare und kriegst eine Glatze wie Wall. Eine Wette, hast du gesagt? Was für eine Wette?«

Das Gespräch wurde davon unterbrochen, dass die beiden anderen Polizisten ankamen. Zuerst zwängte sich der beleibte Kommissar Wall durch die Tür, dicht hinter ihm stakste Algot Malmström herein, ein hoch gewachsener Kriminalinspektor mit spitz gestutztem Kinnbart.

Sten Wall fixierte Fribing und fragte: »Wo ist dein Schnurrbart geblieben?«

Malmström prustete schadenfroh: »Gebt mir die Schuld, wenn ihr findet, dass Otto komisch aussieht ohne seinen ganzen Stolz. Ich hab ihn ihm abgewonnen. Gestern.«

»Ihn abgewonnen? Wen denn?«

»Den Schnurrbart natürlich.«

»Wir haben gewettet«, grummelte Fribing. »Ich hätte mich gar nicht auf diese alberne Herausforderung einlassen sollen.«

»Hast du aber leider«, stellte Boström fest. »Zu schade.«

»Gewettet ist gewettet. Das ist Ehrensache. Ich war natürlich gezwungen, meinen Teil der Verabredung einzuhalten. Aber jetzt bereue ich’s.«

»Wir hätten stattdessen um Geld wetten können«, sagte Malmström. »Zum Beispiel um einen Hunderter.«

»Mein Schnurrbart ist mehr wert als hundert Kronen. Das wurde mir klar, als ich heute Morgen in den Spiegel sah. Ich sehe so ...«, er schielte zu Boström hinüber, »... irgendwie so nackt aus. Wie ein Esel.«

»Wärst du mal nicht so stur gewesen. Ich hab dir gesagt, dass du dich täuschst, aber das konntest du ja nicht auf dir sitzen lassen ...«

»Und was stand dagegen?«, unterbrach Wall mit seiner Frage an Malmström. »Was wäre gewesen, wenn du verloren hättest?«

»Das hab ich aber nicht, ich wusste, dass keine Gefahr bestand.«

»Aber wenn?«

»Dann hätte ich mir fast alle Haare abrasiert.«

Der Landespolizeidirektor machte eine weit ausholende Geste.

»Genug jetzt mit diesen infantilen Spielchen. Kommen wir zur Sache. Ja, wie ihr sicher wisst, geht es also um diese Teufelsanbeter. Ich kann das Kroppzeug nicht ausstehen. Als ich in Uppsala studiert habe, gab es einen verrückten Spiritisten, der uns zu seinen grotesken Séancen verleiten wollte. Mich hat’s geschüttelt, wenn ich den nur gesehen habe.«

»Spiritismus und Satanismus sind nicht ein und dasselbe«, stellte Wall klar. »Im Gegenteil.«

»Es gibt aber gewisse Ähnlichkeiten.«

»Überhaupt nicht. Zwei ganz verschiedene Paar Schuhe. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man Teufelsanbetung mit Satanismus gleichsetzen kann.«

»Nicht? Dann müssen wir wohl einen Experten kommen lassen, der uns die Hintergründe erläutert. Weiß Gott, es wird höchste Zeit, dass wir uns mit dem Quatsch auseinander setzen. Sofort. So kann es nicht weitergehen. Ihr habt wohl das Bladet gelesen?«

Die anderen nickten, als er die Lokalzeitung mit aufgeschlagener erster Seite auf dem Tisch ausbreitete.

Boströms nikotingelber Zeigefinger fuhr eine fette Schlagzeile rechts oben entlang:

Makabres Ritual auf dem Friedhof

Fünf Katzen brutal getötet

Die bräunliche Fingerkuppe trommelte zu einem kleineren Artikel weiter unten, der mit der Schlagzeile lockte:

Wer ist der »Graue«?

»Ja, wer ist das eigentlich?«

»Wer?«

»Der Graue.«

»Ich meine«, sagte Wall zögernd, »dass das nach altem heidnischen Aberglauben die Bezeichnung für den Unnennbaren war, also für den Bösen höchstselbst. Aber da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Das muss überprüft werden.«

»Der Experte soll uns den Begriff erklären«, sagte Boström.

»Gibt es Experten für Teufelsanbeter?«

»Es gibt Experten für alles«, gab der Landespolizeidirektor zurück. »Habt ihr die Artikel schon gelesen?«

Alle Angesprochenen bejahten.

»Dann lasst mich mal aus den Bildunterschriften zitieren«, tönte Boström und zeigte auf das vierspaltige Schwarzweißfoto, das den Leitartikel illustrierte. »›Hier auf der rückwärtigen Mauer des Nordfriedhofs stellte man am Montagabend die gekreuzigten Katzen zur Schau. Ein Zeuge berichtet, dass schreckliche Laute zu hören waren, als die Katzen auf so grausame Weise ums Leben kamen.‹ Na, was sagt ihr dazu?«

»Immerhin hatten sie so viel Anstand, das Bild ohne Katzenleichen zu veröffentlichen«, sagte Malmström.

»Ich meine natürlich, wie beurteilt ihr die Sicherheit des Zeugen? Ist der Junge in Gefahr?«

»So wie ich es sehe, nicht«, sagte Wall. »Solche Fanatiker vergreifen sich selten an Menschen. In der Regel sind es keine Schwerverbrecher.«

»Fünf ans Kreuz genagelte Katzen. Wenn das nicht schwerwiegend genug ist«, empörte sich Boström.

»Ja, schon, aber der Name des Zeugen taucht doch nirgends in dem Artikel auf.«

»Den finden die trotzdem, wenn sie sich nur genügend anstrengen.«

»Die Redaktion ist zwar vom Gesetzgeber dazu verpflichtet, ihre Informationsquelle zu schützen«, sagte Wall, »aber ich bin ganz deiner Meinung. Wenn sie wirklich alles dransetzen, seinen Namen herauszufinden, dann kriegen sie ihn auch. Trotzdem halte ich den Jungen nicht für gefährdet.«

»Wie heißt er übrigens?«, fragte der Landespolizeidirektor.

»Ted Johansson«, antwortete Fribing, der Polizist, der die Anzeige aufgenommen und den verschreckten Zeugen verhört hatte.

»Und soweit ich weiß, war er nicht allein dort?«

»Nein, er und ein Mädchen.«

»Natürlich. Welcher normal veranlagte Neunzehnjährige ...«

»Er ist zwanzig.«

»In dem Alter spielt ein Jahr mehr oder weniger überhaupt keine Rolle. Welcher normal gepolte Zwanzigjährige sucht schon allein und ohne besonderes Ziel abends einen Friedhof auf? Keiner. Und das Mädchen? Wer ist sie?«

»Ebba Andersson, sie wohnt an der Prästgatan in Bro.«

»Für mich klingt Ebba Andersson nach einer uralten Person«, stellte Wall fest.

»Warum?«

»Weil meine allererste Lehrerin so hieß, als ich in die Grundschule kam, oder Volksschule, wie es damals hieß. Und die war damals schon uralt. Jedenfalls in meinen Augen. Wie alt ist denn diese Ebba Andersson?«

»Erst siebzehn. Und deine Ebba?«

»Die ist tot.«

»Aber wenn sie noch am Leben wäre?«

»So etwa hundert, hundertzehn, würde ich meinen. Sie muss auf jeden Fall im 19. Jahrhundert geboren sein.«

»Auf die hatte es Ted Johansson bestimmt nicht abgesehen«, sagte Fribing, während er über seine glattrasierte Oberlippe strich.

»Zu dumm, dass der Junge in seinem Interview den Grauen erwähnt hat«, sagte Boström. »Das kann zu unnötigen Ängsten in der Bevölkerung führen.«

»Ach was, die Leute sind doch keine Heiden mehr.«

»Aber der Graue – das klingt doch verdammt gruselig, findet ihr nicht?«

»Vielleicht«, stimmte Wall zu. »Na, und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun, Helge? Diese Art von schwarzer Kunst hat es immer schon gegeben, damit müssen wir uns leider rumschlagen.«

»Aber findest du nicht auch, dass wir es in letzter Zeit mit galoppierendem Antichrist-Schwachsinn zu tun haben? In der ganzen Gegend Grabschändungen. Teuflische Parolen an Häuserwänden. All so was. Und jetzt die armen Katzen auf dem Nordfriedhof. Wurden sie übrigens getötet, bevor die sie ans Kreuz nagelten?«

»Laut Zeugenaussage müssen sie am Kreuz verendet sein. Die Hammerschläge und die Schreie ertönten gleichzeitig.«

Ein eisiger Luftzug fuhr durch den Raum.

Sten Wall kratzte sich an seiner Glatze und sagte: »Antichristliche Umtriebe müssen nicht unbedingt mit satanistischen Neigungen zusammenfallen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde August Strindberg der Ketzerei angeklagt, als er sich gegen ...«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Boström. »Der Experte soll die feinen Unterschiede klären. Ich will nur gesagt haben, dass uns das Ganze so allmählich aus dem Ruder läuft. Vielleicht ist das ja erst der Anfang von etwas ganz Scheußlichem, Verfaultem ... Es kann noch schlimmer kommen, wenn wir nicht auf die Bremse treten. Und deshalb habe ich euch also herbestellt. Ich stelle mir das so vor, Sten: Du kommandierst Algot und Otto ab, um in dem ganzen Sumpf herumzustochern und vielleicht Namen und Beweismaterial für eventuelle Anklagen herbeizuschaffen. Kriegst du das rein personell auf die Reihe?«

»Eigentlich nicht.«