Quotenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - E-Book

Quotenmord - Schweden-Krimi E-Book

Björn Hellberg

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Beschreibung

Showtime für einen Mörder? Die TV-Moderatorin Fanny Cordell hat in ihrer erfolgreichen Göteborger Fernsehshow "Funny Fanny" immer wieder ungewöhnliche Personen zu Gast. In der letzten Live-Sendung vor der Sommerpause befragt sie einen inhaftierten Mörder, der zehn Jahre zuvor einen brutalen Mord an einer 18-Jährigen verübt hat. Die Sendung bricht alle Zuschauerrekorde, doch die Freude darüber währt nicht lange, denn dann wird Fanny ermordet. Sten Wall übernimmt die Ermittlungen und hat Einiges zu tun...Höchste Spannung und viel Lokalkolorit verspricht die beliebte 23-teilige Krimi-Serie um den sympathischen schwedischen Kriminalkommissar Sten Wall. Die meisten Fälle spielen in der fiktiven Stadt namens Stad in der südschwedischen Provinz Schonen. Bei SAGA Egmont sind die Bände \"Ehrenmord\", \"Mauerblümchen\", \"Todesfolge\", \"Grabesblüte\" und \"Quotenmord\" erhältlich.

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Björn Hellberg

Quotenmord - Schweden-Krimi

Saga

Quotenmord - Schweden-Krimi ÜbersetztAstrid Arz Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2006, 2020 Björn Hellberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444957

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Die Unvermeidlichkeit

Sie war eine solche Plage, dass es wehtat.

Nichts als Schmerzen bereitete sie ihm.

Sich zu befreien, schien unmöglich. Er steckte fest.

Wo er auch war, sie begleitete ihn, obwohl er sich die allergrößte Mühe gab, sie abzuschütteln.

Er versuchte, zu verdrängen, dass es sie gab, er versuchte es wirklich. Doch sie heftete sich immer wieder an ihn, unaufhörlich, hartnäckig, wie eine Klette.

Dabei hatten sie sich noch nie richtig unterhalten. Nur so im Vorbeigehen ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht.

Wusste sie überhaupt, wer er war? Wie er mit Nachnamen hieß? Ob er verheiratet war oder eine feste Freundin hatte? Kinder? Wie alt er war? Ob er ein Leben außerhalb des Fahrschulautos hatte?

Wahrscheinlich wusste sie gar nichts über ihn. Nichts, worauf es ankam. Sie kümmerte sich kein Deut um ihn. Für sie war er nur ein gealtertes, langweiliges, nichtssagendes Gesicht. Etwas, das man aus den Augenwinkeln wahrnahm, ohne ihm größere Beachtung zu schenken.

Er musste sie ein für alle Mal vergessen. Sie passten nicht zusammen. Sie war gefährlich für ihn. Das war ihm vollkommen klar.

Aber es half alles nichts.

Sie war da. Immer.

War bei ihm, wenn er abends ins Bett ging.

Begleitete ihn nachts durch den Schlaf.

Wachte morgens mit ihm auf.

Saß mit ihm am Tisch.

Atmete seine Luft.

Es war entsetzlich.

Die Situation war kaum noch zu ertragen.

Er hatte nur noch sie im Sinn. Unter der Haut. Unter der Bettdecke. Im Auto. Überall.

Sie ließ seine Außenwelt fast vollständig verschwinden, sich in nichts auflösen.

Er dachte an sie, nur an sie.

Und doch war sie so unendlich weit weg, weit außerhalb seiner Reichweite.

Er fürchtete um seine seelische Gesundheit.

Etwas musste geschehen, das war ihm klar.

Er musste den Druck ablassen.

Den Druck ablassen, damit er nicht explodierte.

Aber wie?

Die Jungfernfahrt

Sie stieß einen betont langen, lauten Protestseufzer aus. Er musste einfach begreifen, dass sie nicht klein beigeben würde.

»Krieg ich nun das Auto oder nicht?«, wiederholte sie.

»Ehrlich gesagt, finde ich das keine besonders gute Idee.«

»Papa!«

Kjell Agnelius zeigte auf die Fensterscheibe, an der ganze Rinnsale herabrannen.

»Willst du wirklich in dieses Wetter raus? Es schüttet doch aus allen Kübeln.«

»Ich habe Augen im Kopf. Ich kann selber sehen, dass es schüttet.«

»Und trotzdem willst du raus?«

»Ich hab dich gebeten, mir das Auto zu leihen. Nicht das Moped. Ich hab gedacht, dein Saab hätte ein Dach, aber vielleicht täusche ich mich ja.«

»Jetzt beruhig dich doch bitte, Lisette. Ich hab nicht nein gesagt, nur, dass es draußen Bindfäden regnet. Möchtest du nicht lieber bis morgen warten? Oder wenigstens bis es aufklart? Dieser Schauer zieht bestimmt ziemlich schnell vorüber.«

Es war ein Kräftemessen.

»Du hast kein Vertrauen zu mir, das ist ja klar.«

»Doch, natürlich.«

»Weißt du noch, wie es war, als du den Führerschein gemacht hast?«

Er nickte, und sie fuhr unerbittlich fort: »Und weißt du noch, was das für ein Gefühl war, als du endlich den Lappen in der Hand hattest? Warst du nicht wild drauf, sofort loszufahren, ganz allein, raus auf die Straße?«

Offenbar war es an der Zeit, die Waffen zu strecken. Er lächelte seiner Tochter zu, und sie erwiderte sein Lächeln.

»Also los«, schmunzelte er. »Hier hast du die Schlüssel. Möchtest du, dass ich mitkomme? Nur für alle Fälle.«

»Lieber nicht.«

»Na, das kann ich fast verstehen. Aber schön vorsichtig mit dem Gaspedal. Und vergiss eins nicht.«

»Was?«

»Glaub nicht, du könntest Auto fahren ...«

»Ich kann Auto fahren. Das hab ich schließlich schriftlich.«

»Nur weil du zufällig den Führerschein in der Tasche hast, heißt das noch lange nicht ...«

»Zufällig? Meine Fahrprüfung ist perfekt gelaufen. Aber ich hab da von einem alten Herrn gehört, der ein paar Mal durchgefallen ist. Erst, als er die Spur gewechselt hat, ohne ...«

»Wenn du lieber hierbleiben und auf mir rumhacken willst, kannst du mir die Schlüssel auch gleich wiedergeben.«

Sie rang sich zu einer lässig hingeworfenen Kusshand durch.

»Tschüs. Und danke.«

Die Regentropfen klatschten heftig auf sie ein, als sie die paar Meter zu dem beigefarbenen Saab sprintete, der auf der Straße vor dem Haus abgestellt war.

In nicht einmal fünf Minuten war sie aus dem von Regenpfützen glänzenden, nach Herbst riechenden Vorort raus. Sie trat vorsichtig aufs Gas, ließ den Blick von einer Seite zur anderen wandern und schaute gewissenhaft und regelmäßig in den Rückspiegel. Nicht auszudenken, wenn jetzt etwas passieren würde, ausgerechnet jetzt, wo sie das erste Mal allein hinterm Steuer saß.

Sie wusste genau, wohin sie unterwegs war.

Südlich der Stadt gab es viele Landstraßen, die sich gut für ihre Zwecke eigneten. Sie war noch lange nicht so sicher und mutig, wie sie sich ihrem Vater gegenüber gegeben hatte, und wollte ihre Jungfernfahrt lieber in einer verkehrsärmeren Gegend absolvieren – jedenfalls an einem Schlechtwetterabend wie diesem.

Mit einem gewissen Triumphgefühl spürte sie, wie das Steuer bereitwillig jeder ihrer Bewegungen gehorchte – sie hatte das Kommando, war Herrin der Landstraße.

Es war nicht übertrieben gewesen, als sie gesagt hatte, die Fahrprüfung sei wie geschmiert vonstatten gegangen, ohne die geringste Beanstandung. Dabei war sie entsetzlich nervös gewesen, als sie neben den strengen, gefürchteten Prüfer Stig Berger ins Fahrschulauto gestiegen war.

Fast hätte es mit einer Katastrophe begonnen. Sie war drauf und dran gewesen, mit gezogener Handbremse anzufahren, und statt des ersten Ganges hätte sie vor lauter Aufregung beinahe den Rückwärtsgang eingelegt.

Aber im letzten Moment hatte sie sich besonnen und war ohne Zwischenfälle gestartet, während ihr der kalte Schweiß auf der Stirn ausbrach. Bereits in dem Moment, in dem sie glücklich die erste Linkskurve geschafft hatte, war sie ganz in ihrem Element gewesen. Die Nervosität war wie weggeblasen, sie konzentrierte sich nur noch auf das Fahren und vergaß dabei den Prüfer auf dem Beifahrersitz vollständig. Es gab nur noch sie, das Auto und die Straße. Das Steuer richtete sich gehorsam nach ihren Wünschen, alles kam ihr leicht und natürlich vor, und ohne einen einzigen Fehler fuhr sie so verantwortungsvoll und routiniert, dass der Prüfer anerkennend nickte.

Als sie wieder am Ausgangspunkt ankamen, wusste sie, dass sie es geschafft hatte – obwohl viele ihrer Freunde daran gezweifelt hatten.

»Wer zuerst privat übt und nur ein paar Stunden in der Fahrschule nimmt, den machen die fertig«, hieß es. »Neulich ist einer fünfmal durchgefallen, bis sie ihn endlich anerkannt haben.«

Was für ein Loser! Sie, Lisette Agnelius, brauchte sich für keine derartigen Pannen zu schämen. Sie war von Berger sogar für ihren ausgezeichneten Fahrstil gelobt worden. Und damit nicht genug: Die theoretische Prüfung hatte sie praktisch fehlerfrei bestanden.

Und jetzt saß sie hier an diesem regennassen Donnerstagabend Ende September, allein im alten Saab ihres Vaters, und war die Königin der Landstraße. Der Regen trommelte unaufhörlich aufs Autodach. Das monotone Pladdern empfand sie als beruhigend, und sie fühlte sich rundum glücklich. Glücklich und frei.

Als sie irgendwann die Scheinwerfer im Rückspiegel entdeckte, war es auf der kurvigen Schotterstraße zwischen den Bäumen bereits dunkel geworden.

Jetzt war sie nicht mehr allein, konnte sich nicht mehr den Luxus leisten, ganz nach eigenem Gutdünken zu fahren, denn das Fahrzeug hinter ihr näherte sich ungeduldig. Dass jemand so dicht auffuhr, war sie nicht gewöhnt. Sie ging vom Gas, damit der Verfolger sie überholen konnte.

Doch das Auto blieb an seinem Platz, jetzt nur noch wenige Meter hinter ihr. Wahrscheinlich scheute der Fahrer das Risiko, da die enge Straße so kurvenreich war. Es konnte ihnen ja unverhofft jemand entgegenkommen.

Lisette fühlte sich von dem Verfolger bedrängt und unter Druck gesetzt. Auf einem geraden Stück Weg fuhr sie vorsichtig rechts ran, während sie weiter vom Gas ging.

Endlich zog der andere vorbei.

Erleichtert atmetet sie auf und sah den Rücklichtern des überholenden Wagens nach, bis die Schotterstraße wieder verlassen vor ihr lag. Genau wie zuvor.

Schön, von niemandem mehr gehetzt zu werden.

Es wurde dunkler, und Lisette fuhr noch langsamer. Sie fürchtete, ein Tier könnte ihr ganz plötzlich vor das Auto laufen. Schließlich musste man ständig auf Unerwartetes gefasst sein. Sie hatte gehört, dass Wild häufig in der Morgen- und Abenddämmerung wechselte. Allerdings hatte jemand aus ihrer Klasse auch von einem älteren Mann erzählt, der mitten am helllichten Tag mit einem Elch zusammengestoßen war und sein Auto halb zu Schrott gefahren hatte. Der Fahrer war mit dem Schrecken, Schürfwunden und ein paar gebrochenen Rippen davongekommen. Dem Elch hingegen war es schlechter ergangen. Er wurde von der Polizei aufgespürt. Das stattliche Tier war so übel zugerichtet gewesen, dass es ein paar hundert Meter vom Unfallort entfernt zusammengebrochen war. Eine aus nächster Nähe abgefeuerte Kugel hatte es von seinem Leid erlöst.

Dieser strömende Regen ...

Lisette beschloss, umzukehren, sobald sich eine günstige Gelegenheit zum Wenden bot. Hier war die Straße so schmal, dass sie fürchtete, zwei Autos kämen kaum aneinander vorbei, ohne dass eins von beiden im Graben landete. Sie war sich nicht sicher, ob sie eine Kehrtwende schaffen würde, daher hielt sie es für besser, weiterzufahren, bis sie eine Abzweigung, eine Hofeinfahrt oder etwas Ähnliches entdeckte.

Mittlerweile hatte der Regen ein wenig nachgelassen, und sie schaltete die Scheibenwischer eine Stufe runter. Die Wischblätter fuhren mit einem irritierenden Quietschen hin und her. Das würde ihr Vater so bald wie möglich beheben müssen.

Im Übrigen wäre es das Beste, wenn er sich gleich ein ganz neues Auto anschaffte. Diese alte Rostlaube hielt bestimmt nicht mehr lange. Machte der Motor da nicht gerade ein stotterndes Geräusch? Wenn er ihr nur nicht mitten in der Wildnis verreckte!

Der Gedanke versetzte sie in Panik.

Nach einer scharfen Rechtskurve kam es ihr so vor, als erweiterte sich die Straße auf einmal, die Fahrspur wurde etwas breiter.

Vielleicht könnte sie ja hier ...

Im nächsten Moment stieg sie so auf die Bremse, dass sich das Auto fast quer stellte. Sie schlingerte ein gutes Stück auf den grasbewachsenen Straßenrand zu, ehe sie zum Stehen kam.

Vor ihr, praktisch mitten auf der Straße, lag ein Bündel.

Es hatte die Größe eines Menschen, aber im schummrigen Licht konnte sie keine Einzelheiten oder Konturen erkennen.

Lisette überlief es eiskalt.

Ein Unfall. Typisch, dass sie auf ihrer allerersten Autofahrt allein in so einen Schlamassel geraten musste. Aber wenn jemandem etwas zugestoßen war, war es natürlich ihre Pflicht, Hilfe herbeizuholen. Sie musste rasch ein Haus finden, um einen Krankenwagen zu rufen.

Bestimmt war es das Vernünftigste, zu wenden. Hier war die Straße breit genug, es musste gehen. Sie wusste nicht, ob Häuser in der Nähe waren, wenn sie geradeaus weiterfuhr, aber auf dem Weg, auf dem sie gekommen war, hatte sie vor einigen Kilometern einen Bauernhof bemerkt.

Wenn doch nur jemand käme, dachte sie verzweifelt. Irgendjemand. Wenn ich nur Hilfe hätte.

Bis dahin war sie dankbar gewesen, allein auf der Straße zu sein. Jetzt wünschte sie sich sehnlichst, sie wäre es nicht. Warum hatte sie sich nur diese abgeschiedene Gegend ausgesucht? Und so hartnäckig darauf bestanden, bei diesem Unwetter loszufahren?

Natürlich hätte sie auf ihren Vater hören sollen. Er hatte Recht gehabt: Es war wirklich kein Abend, um allein Auto zu fahren. Aber wie immer hatte sie es besser wissen und ihren Kopf unbedingt durchsetzen müssen. Das bereute sie jetzt bitter.

Sie war nervös. Ängstlich. Sie hatte von Überfällen auf dunklen, einsamen Straßen gehört, und ihre innere Stimme riet ihr, sofort zu wenden und den Gefahrenort zu verlassen.

Aber dann siegte ihr Pflichtbewusstsein und sie näherte sich im Schritttempo dem Gegenstand auf der Fahrbahn.

Gut zehn Meter vor dem Bündel hielt sie an. Sie schaltete das Fernlicht ein, um sich ein Bild davon zu machen, was da vor ihr lag.

Aus dieser Entfernung sah es wie eine graue Decke aus, unter der sich allem Anschein nach die Umrisse eines Körpers abzeichneten. Hier musste ein Unfall passiert sein. Vielleicht hatte jemand einen Spaziergänger angefahren und sich dann kaltblütig aus dem Staub gemacht.

Ihr fiel der Autofahrer ein, der sie vor gut fünf Minuten überholt hatte. Vielleicht hatte er das hier verursacht.

Aber etwas stimmte nicht.

Würde jemand, der Fahrerflucht beging, sich wirklich die Mühe machen, auszusteigen und eine Decke über jemanden zu breiten, den er gerade überfahren hatte?

Sein erster Impuls wäre doch bestimmt, auf und davon zu fahren. So schnell wie möglich.

Wahrscheinlicher war, dass jemand das Unfallopfer entdeckt hatte und losgefahren war, um Hilfe zu holen. Das würde die Decke über dem Körper erklären.

Die Möglichkeit, dass bereits Hilfe unterwegs war, sagte ihr sehr zu. Aber wie dem auch war: Sie konnte das Unfallopfer nicht einfach seinem Schicksal überlassen.

All ihren Mut zusammennehmend, stieg Lisette zögernd aus und näherte sich langsam dem Bündel, voller Angst, was sie wohl zu sehen bekäme, wenn sie die Decke anhob.

Zur Sicherheit ließ sie den Motor laufen. Das dumpfe Brummen vermittelte ihr ein gewisses Gefühl von Geborgenheit.

Sie hörte ihr eigenes Herz schlagen, während sie sich Meter für Meter heranwagte.

Jetzt war sie da.

Sie beugte sich hinab und zog die Decke von der Stelle, wo der Kopf des Opfers liegen musste.

Da war kein Kopf.

Unter der ganzen Decke war kein Kopf zu sehen.

Stattdessen lagen Kissen auf dem Schotter.

Sonst nichts.

Ganz kurz schoss ihr durch den Kopf, dass die Decke fast trocken war und also noch nicht allzu lange da gelegen haben konnte.

Dann begriff sie die Gefahr. Sie richtete sich auf und lief zum Auto zurück.

Die knirschenden Schritte hinter ihrem Rücken hörte sie genau in dem Moment, als sie sich auf den Fahrersitz werfen wollte.

Jemand tauchte aus der Dunkelheit auf und hinderte sie daran, die Fahrertür zuzuziehen. Ihr Puls hämmerte wild, und sie bekam nur noch mühsam Luft.

Langsam drehte sie den Kopf herum und sah einen Mann in Regenmantel und Südwester. Unter der tropfenden Hutkrempe war sein Gesicht nicht zu erkennen. Das Licht aus dem Auto war zu schwach.

Lieber Gott! Sie saß in der Falle, hatte keine Chance.

»Haben deine Eltern dich nicht auf solche Situationen vorbereitet?«

Etwas an der Stimme kam ihr wohltuend bekannt vor, und als der Mann mit einer schwungvollen Geste den Regenhut vom Kopf zog, seufzte sie vor Erleichterung.

Sie erkannte ihn. Gott sei Dank!

»Ach, du bist es nur? Was für ein Riesenglück. Was musst du mich aber auch so erschrecken! Mir wär fast das Herz stehen geblieben!«

Er antwortete kurz angebunden, mit einem feindseligen Ton in der Stimme: »Ach ja?«

Sie sah durch den Regen, der ihr in die Augen lief, zu ihm hoch.

Konnte sie sich so getäuscht haben?

»Aber das bist doch du, Sven-Erik?«

Er nickte.

»Gewiss«, bestätigte er. »Und wer bist du?«

Bei der unerwarteten Frage zuckte sie zusammen.

»Machst du dich über mich lustig? Wir kennen uns doch ...«

Die rechte Hand des Mannes schnellte vor, packte sie an einem Handgelenk und drehte es so um, dass ihr der glühende Schmerz bis in den Ellenbogen hochfuhr.

»Halt den Mund«, warnte er sie. »Kein Ton. Wir haben es eilig, es könnte jemand kommen, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist.«

»Aber Sven-Erik«, jammerte sie, »bitte lass mich los, du tust mir weh. Du kennst mich doch? Lisette, du weißt schon. Aus der Fahrschule. Ich hab eben erst den Führerschein gemacht. Wir ...«

Er griff so fest zu, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Kurz hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Hab ich nicht gesagt, dass du schweigen sollst? Hörst du schlecht? Ich weiß sehr gut, wer du bist.«

Jetzt war er ganz dicht bei ihr.

»Natürlich weiß ich, wer du bist. Du gehörst mir. So ist es nun einmal, da kannst du rein gar nichts gegen machen.«

Sie öffnete den Mund, um zu schreien.

Aber sie kam nicht mehr dazu.

Eine halbe Stunde später hatte eine achtzehnjährige frisch gebackene Führerscheinbesitzerin ihr Leben ausgehaucht, an diesem regennassen, deprimierenden Septemberabend des Jahres 1990.

Sehr früh am nächsten Morgen wurden Lisette Agnelius’ sterbliche Überreste von einem Landbriefträger gefunden. Er sah auf den ersten Blick, was der Gerichtsmediziner später offiziell bestätigen sollte: Sie war einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Ihr junger Körper, der auf dem besten Wege gewesen war, sich zu seinen runden, weichen, weiblichen Formen zu entwickeln, war noch nicht voll ausgereift.

Er würde es nie werden.

An dem Morgen weinte der Himmel, als nähme er an der Trauer teil. Nach einer kurzen Unterbrechung um die Mittagszeit setzte der Regen dann mit erneuter Heftigkeit ein. Es goss stundenlang. Alle Schleusen schienen gleichzeitig geöffnet, und jemand stellte fest, dass der Sommer für dieses Jahr leider vorbei sei.

Und so war es dann auch.

1 Er würde sich auch diesmal wieder eine Absage einhandeln.

Das wurde Lars Öster in dem Moment klar, als er zur Tür hereintrat und den glatt gekämmten Mann mit Brille hinter dem übergroßen Schreibtisch sitzen sah. Schon der gut geschnittene nussbraune Anzug wirkte ernüchternd auf seinen Enthusiasmus und dämpfte seine Hoffnungen. Das blasse, unerbittliche Gesicht des Mannes erhöhte nicht eben seine Chancen.

Jemand, der es gewohnt ist, Leute abzufertigen, dachte er, und der das genießt.

Ein Sadist.

Ein Papiertiger, der bestimmt nach oben buckelt und nach unten tritt. Der die Schwachen wie Marionetten behandelt und sich einbildet, alle müssten nach seiner Pfeife tanzen.

Um sich die unvermeidliche Absage zu ersparen, hätte er auf dem Absatz kehrtmachen können. Er hatte diese immer gleichen, schmerzhaften Demütigungen gründlich satt. Aber man konnte schließlich nie wissen – manchmal geschahen noch Zeichen und Wunder.

Also blieb er und trat vorsichtig, fast unterwürfig auf den wuchtigen Schreibtisch zu. Als könnte ihm diese anbiedernde Speichelleckerei weiterhelfen.

Das Bleichgesicht in dem nussbraunen Anzug machte ihm ein Zeichen, auf dem Stuhl gegenüber Platz zu nehmen. Der zudringliche Blick musterte ihn kritisch.

Da sitzt man nun und wird besichtigt wie ein Patient im Irrenhaus. Und das von einem Typen, der seit Jahren keine Sonne mehr gesehen hat. Was verleiht ausgerechnet ihm so eine Macht?

»Lars Öster?«, fragte der Bankangestellte.

»Richtig.«

»Und es geht um dieses Kreditgesuch, nehme ich an?«, erriet der Mächtige und trommelte mit beiden Zeigefingern auf ein Blatt Papier.

»Deshalb bin ich hier. Um das Startkapital für eine Schuhagentur zu bekommen. Ich habe mir eine Option gesichert, die noch bis Monatsende Gültigkeit hat.«

»Leider nein.«

Die Absage kam schneller als erwartet. Also gab es keinen Grund, die Qual zu verlängern. Öster stand auf, um zu gehen. Der andere machte eine beschwichtigende Geste.

»Warten Sie kurz. Lassen Sie mich meine Stellungnahme begründen.«

»Warum?«

»Weil es um eine beträchtliche Summe geht.«

Öster lachte und hoffte, dass es höhnisch genug klang.

»350 000 Kronen? Beträchtlich? Für eine Bank? Sind Sie so arm dran?«

Der Braunanzug sagte ungerührt: »Momentan ist es uns unmöglich, einen Kredit über einen solchen Betrag zu bewilligen ...«

»... und deshalb haben wir nichts mehr miteinander zu bereden«, unterbrach ihn Öster. »Ein Nein ist ein Nein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

»Lassen Sie mich bitte zum Punkt kommen. Wie ich sehe, haben Sie also die Möglichkeit, das Recht auf die schwedische Exklusivvertretung dieser deutschen Firma zu erwerben, und brauchen Startkapital. Ich bin keiner, der Eigeninitiative und Zielstrebigkeit nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil, wir ermuntern ehrgeizige Gründungsprojekte. Selbst junge Start-ups ohne Erfahrungshintergrund haben Unterstützung von uns bekommen.«

»Aber ich bin Ihnen nicht gut genug? Ich bin ja natürlich auch schon über dreißig.«

Der Banker quittierte die sarkastische Bemerkung mit einem müden Lächeln, ehe er fortfuhr: »In diesem Fall sind wir mit einem doppelten Problem konfrontiert. Erstens scheint die ausländische Firma, die Ihnen ihre Vertretung anbietet, nach unseren Recherchen nicht allzu solvent zu sein. Und zweitens flößt uns Ihr Hintergrund – mit permanenten Überziehungen und etlichen Mahnbescheiden – nicht eben Vertrauen ein.«

»Ich bin nicht hier, um mich beleidigen zu lassen.«

»Bleiben Sie bitte sitzen. Wenn Sie die Schuhagentur bekommen, wäre das natürlich eine Chance für Sie, sich auf eigene Füße zu stellen.«

»Ein Schuhverkäufer, der auf die Beine kommt? Offenbar haben Sie auch Humor.«

Der Blasse verzog keine Miene.

»Ich kann verstehen, dass Sie dieses Verkaufsrecht wirklich haben wollen. Und wenn es Ihnen gelingt, bin ich der Erste, der Ihnen gratuliert. Ärmel hochkrempeln, zupacken, aufbauen. Das ist meine Devise. Und die der Bank.«

»Schön gesprochen. Und, bekomme ich nun den Kredit oder nicht?«

»So, wie es jetzt aussieht, leider nicht. Aber wenn Sie ein paar solide Bürgen auftreiben oder irgendeine Art von Sicherheit hinterlegen könnten, wären wir nicht abgeneigt ...«

»Adieu«, sagte Öster und ging, ohne sich umzusehen.

Dem Impuls, die Tür hinter sich zuzuschlagen, gab er nicht nach. Vielleicht konnte ihm der Typ im braunen Anzug nochmal nützlich sein – Feinde hatte er schon genug. Er brauchte sich nicht noch mehr zuzulegen, nur um seine üble Laune abzureagieren.

Statt eines cholerischen Anfalls, der unter seiner Würde war, entschied er sich für übertriebene Höflichkeit. Er drehte sich noch einmal um und schaffte es sogar, sich etwas wie ein Lächeln abzuringen: »Danke für den guten Rat. Ich verstehe, dass Sie eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen müssen, und nehme Ihnen die Absage nicht übel. Ich werde schon eine andere Lösung finden, irgendwann.«

»Hoffen wir es. Viel Glück. Und kommen Sie gerne wieder, wenn Sie vertrauenswürdige Bürgen finden.«

Lars Öster kochte vor Wut, während er durch die große Bankhalle stapfte, die voller Kunden war. Es war sein fünfter Banktermin in zwei Wochen. Und die fünfte Absage.

Die Deutschen warteten ungeduldig auf seine Zusage. Die er ihnen nicht geben konnte.

Dieser April war wirklich zu ganz besonderen Scherzen aufgelegt.

Als er die Bank vor weniger als zehn Minuten betreten hatte, hatte es in Strömen geregnet. Jetzt schien die Sonne.

Er überquerte den Platz und ging zu seinem Auto, das er vor der Apotheke geparkt hatte. Unterwegs kam er an dem Zeitungskiosk vorbei und warf einen Blick auf die reißerischen Schlagzeilen der Abendzeitungen.

Eine von ihnen posaunte heraus:

Neuer Zuschauerrekord

für Funny Fanny

Er fühlte sich verhöhnt. Als würde er auf offener Straße ausgelacht.

Die einen kriegen alles, die anderen nichts.

Er würde wohl wieder zu Kreuze kriechen müssen.

Der Versuch schadet ja nicht, dachte er grimmig. Eine Demütigung ist wie die andere.

Bald begann seine lange herbeigesehnte Urlaubswoche auf Jersey.

Das Leben hatte auch seine guten Seiten.

Zwischendurch.

2 Plötzlich packte sie die Angst.

Ihr Mund fühlte sich trocken wie Papier an, sie bekam nur noch mühsam Luft und spürte, wie ihr Puls völlig unkontrolliert davongaloppierte. In ihrem Bauch rangen zwei Unruhestifter miteinander. Das große Flattern und ein unbarmherziger Zahnarztbohrer.

Gerade waren die Flatterwesen obenauf, doch das konnte binnen Sekunden umschlagen. Das wusste sie aus Erfahrung.

Wenn sie nur keine Bauchlandung fabrizierte. Sie musste nicht glänzend, nicht gut, ja, nicht einmal mittelmäßig sein. Sie konnte sich eine schlechte Form leisten, das war absolut drin. Wenn sie nur keine Bauchlandung hinlegte.

Was, wenn ihr die Sprache wegblieb, wenn sie die Konzentration verlor, aus dem Konzept kam?

Mein Gott, ich krieg das nicht auf die Reihe! Warum hab ich mir nicht lieber einen normalen Beruf ausgesucht, wie alle anderen?

Sie versuchte, die Lähmung mit einer Spur Galgenhumor abzuschütteln: Fernsehmoderatorin zu sein ist die Hölle. Aber immer noch besser, als arbeiten zu müssen ...

Der Witz verfehlte seine Wirkung. Sie fühlte sich wie in den eigenen Nervenenden verfangen. Ein vollkommen unlogischer Gedanke drängte sich ihr auf: Wenn heute Abend alles schiefging, war es Gabys Schuld ...

Nur die Ruhe, redete sie sich selbst gut zu, nur nicht in Panik geraten. Versuch, klar zu denken. Dich zu entspannen. Trotz allem ist das doch nichts Neues für dich. Du hast es doch schon oft genug erlebt. Und souverän bewältigt. Aber wenn der Schweiß durch die Schminke sickert? Wenn ich total den Faden verliere?

Die Stimmung im Studio war aufgeladen, die Erwartungen der Zuschauer hingen wie eine festgezurrte Plane über dem Raum. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Bluse am Rücken klebte, aber vielleicht täuschte sie sich auch.

In dieser Phase neigte man zu Übertreibungen.

Und im tiefsten Innern wusste sie ja, wie es ablaufen würde: Dieser Kampf gegen ihre Nervosität war ihre Art, ihren Adrenalinausstoß anzukurbeln, der sie dazu brachte, das Beste aus sich herauszuholen.

Mit anderen Worten: Es war genau wie immer vor einer Livesendung.

Der bärtige Studioleiter war in seinem Element, wie er da auf dem Boden einen Stepptanz zwischen Kabeln, Kameras, Bühnenmöbeln und Requisiten aller Art aufführte.

Mit einer tüchtigen Portion Humor kam er seiner so wichtigen Aufgabe nach, das Publikum einzustimmen. Die obligatorischen Informationen (Keine Fotos machen! Nicht in der Nase bohren! Keine Handys während der Sendung! Die Notausgänge sind da drüben – aber während meiner vierzig Jahre in diesem Haus mussten sie noch nie benutzt werden!) würzte er mit kleinen pfiffigen Anekdoten.

Viele auf den Zuschauerbänken waren zum ersten Mal bei einer live übertragenen Fernsehsendung dabei, und selbst die Zuschauer verspürten eine gewisse kribbelnde Nervosität, obwohl sie unter keinerlei Leistungsdruck standen.

Jetzt kam es auf sie an.

»Eine Minute bis zum Vorspann«, verkündete jemand.

Ihre Verzweiflung war abgrundtief.

Stimmte alles mit ihrer Frisur? Dem Outfit? Der Schminke? Würde sie die einführenden Worte schaffen, ohne sich zu verhaspeln? Hatten sie wirklich alles ausreichend geprobt? Konnte sie sich darauf verlassen, dass die Studiogäste dem Druck standhielten? Waren sie überhaupt alle da? Oder war einer von ihnen mit akuter Blinddarmentzündung im Krankenhaus gelandet, ohne dass sie davon erfahren hatte?

Ich krieg’s nicht geregelt. Ich brech zusammen. Die Aasgeier werden sich um meine Leiche scharen. Und Gaby hat bald freie Bahn für rauschende Erfolge.

Sie räusperte sich mehrmals laut, während sie – vielleicht zum zwanzigsten Mal – die erste Seite ihres Ablaufplans studierte, der auf hellbraunes Papier geschrieben war, damit er sich nicht allzu sehr vom Walnussimitat des Tisches abhob.

Unter ihrem verwirrten Blick verschmolzen die Buchstaben zu einem unverständlichen Kauderwelsch. Sie begriff nicht, warum sie sich überhaupt die Umstände machte, die Papiere durchzusehen.

»Dreißig Sekunden.«

Die Lichter wurden abgedämpft.

Gaby soll nichts zu lachen haben.

Aus den Augenwinkeln sah sie das Gesicht des Produzenten hinter den Vorhängen neben der Bühnendekoration.

»Leg dich ins Zeug«, zischte er.

Mach ich.

»Fangen wir wie immer mit der Zwei an?«, fragte sie mit einer Stimme, die nicht versagte.

Der Studioleiter nickte bejahend.

Kurz darauf sagte er: »Der Vorspann läuft.«

Und das Wunder geschah auch diesmal.

Genau wie jedes einzelne Mal zuvor.

Das Flattern legte sich. Der Zahnarztbohrer gab Ruhe. Die Angst verschwand. Ihr Puls normalisierte sich. Ihr Atem ging nicht mehr stoßweise, sondern gleichmäßig und rhythmisch.

Der Studioleiter zeigte auf die Kamera, in die sie verführerisch lächeln und den Schweden (und etlichen anderen – die Sendung erzielte auch in den Nachbarländern hohe Einschaltquoten) mit schräg gelegtem Kopf ein paar sorgfältig gewählte Begrüßungsworte sagen sollte.

Das rote Licht an der Kamera zwei zeigte den Beginn der Übertragung an.

Die Sendung hatte angefangen, und von dieser Minute an würde sie jede Sekunde genießen – das wusste sie.

Mit lieblichem Lächeln ließ sie ihre Haare ein wenig nach rechts fallen, legte alles in ihren Blick, mit dem sie ihr Millionenpublikum irgendwo draußen im Dunkeln einschmeichelnd betörte, und sagte: »Es ist also wieder so weit. Hallo und guten Abend, liebe Freunde, herzlich willkommen zu einer weiteren Folge von Funny Fanny. Aber ob ich wirklich ›funny‹ bin, das entscheiden allein Sie.«

Vereinzelte Lacher von den verdunkelten Sitzreihen auf den beiden Tribünen.

Ihren dankbaren Vornamen nutzte sie immer in den Einleitungen aus, da waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Inzwischen wurden derlei Wortspiele mit ihrem Namen von ihr erwartet, was sie im Grunde genommen allmählich ermüdete.

Doch noch fielen ihr immer neue Scherze nach dem Geschmack der Zuschauer ein. Und sie setzte ihre Ehre daran, jedesmal mit etwas Neuem zu kommen und kein Fanny-Wortspiel öfter als einmal anzubringen.

Kamerawechsel.

Und jetzt der Teleprompter: »Heute reden wir über Pfarrerinnen, allerdings aus einem etwas anderen Blickwinkel als bei den sonst üblichen Litaneien. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihnen was anderes auftischen werden als den sirupsüßen theologischen Einheitsbrei, der vielen schon damals zum Halse heraushing, als Margit Sahlin vor über vierzig Jahren ihr Pfarramt antrat. Außerdem haben wir für Sie einen Filmclip mit einem waghalsigen Abenteurer, der den vielleicht isoliertesten Volksstamm der Welt aufgesucht hat, und gegen Ende steht noch ein Plauderstündchen mit einer Frau an, die dem monströsen Josef Mengele Auge in Auge gegenüberstand. Ein atemberaubendes, unvergessliches Erlebnis, soviel kann ich jetzt schon verraten. Halten Sie uns also eine Stunde lang die Treue. Natürlich werden Ihnen auch musikalische Unterhaltung und kurze aktuelle Reportagen geboten – und all das hier bei uns in Funny Fanny.«

Nun sagte sie die erste Künstlerin an, eine populäre Sängerin mit breitem Repertoire, ebenholzschwarzen Haaren und einem landesweit bekannten Problem mit dem Tempolimit – was Fanny die Gelegenheit zu kleinen Spitzen gab: »Bitte alles anschnallen, jetzt geht die Post ab. Halten Sie sich fest in den Kurven, wir geben Vollgas!«

In ihrem voraufgezeichneten Auftritt brachte die Sängerin einen Country-Hit aus den sechziger Jahren.

Währenddessen überflog Fanny die zweite Seite des Programmablaufs, und jetzt hatte sie kein unverständliches Buchstabengewirr mehr vor Augen, sondern ein sinnvolles Ganzes. Das Flattern im Bauch war also verflogen, zusammen mit dem fiesen Zahnarztbohrer. War sie noch vor kurzem wirklich von solchem Blödsinn belästigt worden, oder bildete sie sich das nur ein?

Fanny Cordell – eine der beliebtesten Fernsehmoderatorinnen des Landes – war ganz und gar die Ruhe selbst, hatte sich und ihre Sendung völlig im Griff.

Sie musste heimlich lächeln, als sie sich die Aufnahmeleiterin in der Regie vorstellte, wie sie, die Wangen gerötet und mit den Fingern schnipsend, auf den Zehenballen wippte und ihren Blick routiniert über die vielen flimmernden Bildschirme hin- und herwandern ließ.

Carita musste man einfach in Aktion gesehen haben. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, mit scharfer, praktisch unfehlbarer Präzision das für den Gesamteindruck beste Bild zu finden.

Die ganze Zeit angespannt, immer auf den Zehenballen und mit schnipsenden Fingern, entging ihrem Blick nie etwas Wesentliches; und sie war extrem belastbar.

»Jetzt die Vier! Ranzoomen, dranbleiben. Nahaufnahme mit der Drei vorbereiten. Jetzt ran! Ich hab jetzt gesagt, nicht morgen.«

Der Studioleiter kam mit gespreizten Fingern auf Fanny zu.

Dann folgte sein Countdown. Die Musiknummer war gleich zu Ende, und Fanny wappnete sich für ein paar Minuten Geplauder mit der Schwarzhaarigen, die zum Besuchersessel auf der Bühne kommen würde, um den Eindruck zu erwecken, eben erst live gesungen zu haben.

Dabei hatten sie vier Aufnahmen gebraucht.

Normalerweise wurden die Gesangs-und Musikeinlagen live gesendet, aber diese Künstlerin hatte eine Erkältung erwischt und befürchtete, dass ihre Stimme versagen könnte. Deshalb hatte sie darauf bestanden, ihren Song am Nachmittag voraufzeichnen zu lassen, was der Produzent genehmigt hatte.

Wie üblich ging die Stunde schnell herum.

Das Publikum ging nach Hause, zufrieden mit dem Gebotenen.

Fanny seufzte tief: Es war gut gegangen, es war wirklich gut gegangen. Auch diesmal.

»Super, Fanny! Spitze!«

Der Produzent strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Das sagst du jedes Mal.

Im Hintergrund machte die Aufnahmeleiterin mit beiden Händen das Victory-Zeichen. Dann war es wohl wirklich recht gut gegangen: Carita Zell war normalerweise nicht so überschwänglich wie der Produzent Bo Svärd.

»Der verrückte Abenteurer ist total gut angekommen«, brabbelte Svärd. »Von der Mengele-Alten ganz zu schweigen. Ein Knaller. Und du warst glänzend. Um nicht zu sagen: einsame Spitze.«

»Hast du nicht noch mehr Superlative auf Lager?«

»Nein, aber ich möchte dich gern zum Festschmaus ins Lilla London einladen. Das hast du dir verdient. Das haben wir uns verdient, nach so einem Triumph.«

Sie wusste, dass das kommen musste – bekam er denn nie genug von ihren Körben?

Dem untersetzten Produzenten waren seine Hoffnungen nicht auszutreiben. Er war schon lange hinter ihr her und machte aus seinem Herzen keine Mördergrube.

Sie schüttelte den Kopf.

»Mensch, komm doch einfach mit«, bat er. »Bitte! Wenigstens mir zuliebe.«

Etwas im Magen wäre ihr jetzt zwar recht gewesen, sie war ein wenig hungrig. Vielleicht hätte sie zugesagt, wenn er sie nicht so eindringlich, so voller Hoffnung angeblickt hätte. Und wenn er seine Absichten etwas besser hätte verbergen können. Aber so, wie die Dinge lagen, ertrug sie ihn einfach nicht.

Sie malte sich das ganze Szenario aus: ein einigermaßen neutrales, ungefährliches Geplauder bis zum Aperitif und vielleicht auch noch zu Beginn ihrer Mahlzeit, dann die ersten Annäherungsversuche, die zeitgleich mit seinem Alkoholkonsum an Intensität zulegten. Schließlich würde er sie plump betatschen und flehentlich darum bitten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, nur auf ein paar Gläschen, mehr nicht – bloß ein kleines Schwätzchen unter guten Freunden, da war doch wohl nichts dabei?

Fanny hatte keine Lust, sich im Lokal neue Ausreden einfallen zu lassen, während neugierige Augen sie anstarrten. Da war es besser, gleich die Handbremse zu ziehen. Wenn sie auf Sex aus war (zur Stunde nicht ihre oberste Priorität), gab es wahrlich interessantere Kandidaten als diesen übereifrigen Typ mit Wampe.

»Tut mir Leid, Bosse. Ich bin einfach zu müde. Ich muss gleich nach Hause. War ein harter Tag.«

Das war keine Lüge. Nicht einmal eine Übertreibung. Sie war seit dem frühen Morgen unausgesetzt beschäftigt gewesen – fast fünfzehn Stunden am Stück. Und sie war müde, jetzt, wo sie darüber nachdachte. Die Sendung forderte mentale Hochleistungen, die an ihren Kräften zehrten. Da gab es kein Vertun.

Svärd hatte einfach kein Pokerface. Er schaffte es nicht einmal, seine große Enttäuschung teilweise zu überspielen. Sie stand ihm ins runde, ziemlich naive Gesicht geschrieben. Offensichtlich hatte er diesmal an den großen Durchbruch geglaubt. Er blinzelte ein paar Mal.

»Bist du sicher?«

»Absolut.«

»Aber du musst doch was essen?«

»Ich weiß nicht, wie du es hältst, aber ich habe zu Hause einen Kühlschrank mit Gefrierfach und eine Speisekammer.«

Er feixte: »Wenn du so gerne sehen möchtest, wie es bei mir aussieht, bist du bei mir zu Hause in Hisings Backa mehr als willkommen.«

»Nicht heute Abend, Bosse.«

»Du kannst dir also vorstellen, meine bescheidene Hütte zu besuchen? Vielleicht später mal?«

Er konnte manchmal anstrengend sein, bis zur Grenze ihrer Geduld. Sie verspürte das Bedürfnis, ihn mit richtig harten Worten zu treffen, ihn ein für alle Mal zu verjagen, aber sie widerstand der Versuchung.

»Wir sprechen verschiedene Sprachen«, sagte sie verärgert. »Ich habe nicht vor, mit dir nach Hisings Backa zu fahren. Ich dachte, du hättest was vom Lilla London gesagt.«

»Hab ich auch. Prima. Dann lass uns aufbrechen, solange die noch offen haben.«

Fanny spürte, wie ihr die Hutschnur riss. Sie konnte es ihm ebenso gut jetzt an den Kopf knallen, dann war es wenigstens heraus.

»Bosse, jetzt hör mir mal gut zu. Vielleicht werde ich später irgendwann mal mit dir ausgehen und etwas essen. Ja, das kann ich dir sogar hier und jetzt versprechen. Ich werde mit dir ausgehen, wenn es mir passt. Aber mehr als das wird nicht geschehen. Nie. Nicht heute Abend, und auch nicht an einem anderen Abend. Und ich glaube, dass du das im Grunde genommen auch weißt. Tu mir also den Gefallen und lass mich in Ruhe. Mach die gute Arbeitsbeziehung, die wir haben, nicht kaputt.«

Sein Gesicht war ausdruckslos. Er kapitulierte.

»Lass mich dich wenigstens nach Hause fahren«, versuchte er es.

»Nicht nötig. Ich möchte zu Fuß gehen.«

»Allein im Dunkeln?«

»Jetzt hör auf! Ich bin in fünf Minuten zu Hause.«

»Du bist der sturste Mensch, der mir je begegnet ist.«

Sie feuerte ein Lächeln ab, das schon fast auf Sendungsniveau war: »Deshalb bin ich die, die ich bin.«

»Na gut. Ich gebe mich geschlagen. Aber, Fanny?«

»Ja?«

»Vergiss nicht, dass du heute Abend glänzend warst. Glänzend!«

»Hoffentlich sind die Rezensenten genauso begeistert.«

3 Fanny Cordell stellte das Weinglas auf einem Hocker neben der Badewanne ab und ließ sich wohlig in das dampfende Wasser sinken. Für gewöhnlich duschte sie lieber, aber an diesem Abend brauchte sie genau diese Art von Entspannung.

Sie hob das Glas an ihre Nasenflügel, sog das satte Aroma ein und schwenkte den Rotwein ein paar Mal im Glas, ehe sie den ersten Schluck nahm.

»Auf dich«, prostete sie sich selbst zu.

Erst nach einer halben Stunde stieg sie aus der Wanne. Ihre Fingerspitzen waren schrumpelig geworden, als wären sie eingetrocknet.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, betrachtete sie sich im Spiegel und stellte fest, dass ihre Haut krebsrot war und die Augenbrauen vielleicht wieder gezupft werden müssten. Aber darauf hätte die Maskenbildnerin sie sicher hingewiesen, also bildete sie sich das vielleicht nur ein. Jedenfalls brauchte sie sich darüber jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte weder die Energie für eine gründliche Beauty-Behandlung noch akuten Bedarf an einer.

Ihre aschblonden Haare waren vom Wasser dunkler geworden. Mit Hilfe des lärmenden Föhns bauschte sie ihre Frisur wieder auf.

Danach ging es auf die Waage. Ihr Gewicht war noch wie am Morgen, bis auf hundert Gramm. Danach griff sie zu ihrem Kalender. Sie notierte sich stets gewissenhaft, was die Waage anzeigte, und zwar zweimal am Tag.

Als Jugendliche hatte sie nie ernsthaft Sport getrieben oder sonst irgendetwas getan, was mit regelmäßiger Bewegung zu tun hatte. Aber in den letzten Jahren – und besonders nach ihrem Durchbruch im letzten Frühjahr – hatte sie eine schon fast rabiate Einstellung zu körperlicher Betätigung ausgebildet. Sie ging so oft wie irgend möglich ins Fitnessstudio und war bestrebt, rund ums Jahr im Durchschnitt dreimal die Woche zu joggen.

Wenn sie zu Hause in Göteborg war, nahm sie gerne einen der angelegten Joggingwege um den See Delsjön, und anderswo vergewisserte sie sich stets, dass es geeignete Joggingstrecken in erreichbarer Nähe gab. Sie hatte sich zur Gewohnheit gemacht, immer an den Sendetagen von Funny Fanny morgens eine Runde zu laufen.

Jetzt zog sie eins ihrer Lieblingskleidungsstücke für zu Hause an: einen Morgenrock aus Seide. Er war mit kitschigen Motiven vollgepackt – Palmen, Sonnenschirme und tropische Cocktails, in denen Schirmchen steckten – eigentlich eine Orgie der Geschmacklosigkeit.

Trotzdem mochte sie ihn.

Sie hatte ihn als Neunzehnjährige auf ihrer ersten Charterreise nach Mallorca von einem Verehrer geschenkt bekommen. Der edle Spender, ein Mitreisender, war ein von sich eingenommener siebenundvierzigjähriger sechsfacher Vater gewesen, der auf ein Abenteuer aus gewesen war und sich in seiner Naivität eingebildet hatte, der Seidenkimono würde ihm alle Türen öffnen.

Daraus war nichts geworden. Fanny hatte dem sexhungrigen Siebenundvierzigjährigen gar nichts geöffnet (dem Ansturm eines jungen, arroganten Spaniers hingegen nachgegeben, eine Nachgiebigkeit, die sie später bereute, was aber mit der Morgenrockgeschichte nichts zu tun hatte).

Der schwedische Supervater in den besten Jahren hatte also vergebens investiert, aber das Geschenk hatte Fanny behalten. Warum auch nicht? Sie hatte nicht darum gebeten, hatte ihn zu nichts ermuntert. Wenn er ihr unbedingt ein kleines Geschenk machen wollte, war sie sich nicht zu schade, es anzunehmen.

Aus unerfindlichen Gründen war ihr dieses Kleidungsstück dann ganz besonders ans Herz gewachsen. Nur damit bekleidet und nichts darunter, aalte sie sich zu gern auf dem Sofa herum – das gab ihr ein überwältigendes Gefühl von Freiheit. Allerdings war sie strengstens darauf bedacht, sich niemandem darin zu zeigen. Nicht einmal Julia, vor der sie sonst keine Geheimnisse hatte.

Ach ja: Ihre Schwester würde bald anrufen.

Fanny schenkte sich noch ein Glas Wein ein, sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie den Sender vor genau einer Stunde verlassen hatte. Also hatte sie innerhalb der nächsten Viertelstunde einen Anruf zu erwarten.

Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das weißlackierte Klavier im Wohnzimmer. Wie gern würde sie sich jetzt ein Weilchen an die Tasten setzen – aber dafür war nicht eben der passendste Zeitpunkt. Als Mieterin respektierte sie die Hausordnung. Sie war nun wirklich niemand, der eine Sonderbehandlung verlangte – nur weil sie eine gewisse Berühmtheit erreicht hatte. Das würde sicher anders werden, wenn sie sich irgendwann einen Mann, Kinder und ein eigenes Haus zulegte. Wenn