Granatapfeltage – Die ganze Geschichte (Doppelband) - Karolin Kolbe - E-Book

Granatapfeltage – Die ganze Geschichte (Doppelband) E-Book

Karolin Kolbe

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Beschreibung

Ein typischer Granatapfeltag ist süß und rot und voller Überraschungen. Wenn nur jeder Tag so sein könnte! Doch leider ist Greta mit ihrem Leben momentan alles andere als zufrieden. Ihr Freund hat Schluss gemacht und ihre Eltern entscheiden über ihren Kopf hinweg, was sie studieren soll. Zum Glück läuft ihr genau jetzt Artjom über den Weg, der ihr Leben wieder granatapfelsüß schmecken lässt: Denn er überzeugt sie, einfach mal aufs Fahrrad zu steigen für den Trip ihres Lebens ... Und dann heißt es: Ab aufs Fahrrad und einmal quer durch Spanien. Diesen Plan fasst Greta, nachdem sich ihr Freund von ihr getrennt hat. Doch allein hätte sie sich nie und nimmer getraut. Erst durch Artjom, den sie zufällig in Berlin kennenlernt, wird der Plan Realität, und gemeinsam machen sie sich auf eine abenteuerliche Reise, die verspricht, der Trip ihres Lebens zu werden. Doch geplatzte Fahrradreifen und Regentage durchkreuzen ihre Pläne. Vor allem aber die ungewohnte Nähe zu Artjom, diesem gut aussehenden, fast Fremden sowie die Bekanntschaft eines faszinierenden Spaniers wirbeln Gretas Gefühlswelt so richtig durcheinander. Ob sie nach diesem Roadtrip weiß, wohin ihre Lebensreise gehen soll? Zwei Bände in einem E-Book: "Granatapfeltage – Wie alles begann" und "Granatapfeltage – Mein Roadtrip quer durch Spanien"

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»Und das hält, was es verspricht?«

»Das hält.«

Ich streiche mit den Fingern über die raue Oberfläche. Noch stehen viele Haare ab, aber Sophie hat versprochen, mir später mit einer Häkelnadel alle kleine Härchen in den Dread zu ziehen. Mein erster Dread.

Sophie trennt eine weitere Haarsträhne meiner braunen Locken ab und beginnt die Strähne zu toupieren. Es ziept. Eine Zigarette klemmt zwischen ihren Zähnen, während sie konzentriert auf meinen Kopf starrt. Sie zieht an meiner Kopfhaut, ich habe noch Sonnenbrand von den vielen Tagen, die ich am See verbracht habe. Sophies Stängel verglimmt und ein feiner Rauchfaden steigt zur Zimmerdecke auf. Ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass sie jetzt raucht.

Eine Weile arbeitet sie schweigend weiter.

»Willst du Musik hören?«, frage ich und beobachte sie im Spiegel. Sie greift nach einer großen Holzperle und zieht sie auf den unfertigen Dread, ehe sie fortfährt. Sie ist zu konzentriert, um meine Worte zu beachten. Ich genieße also weiter die Stille und male Bilder in meinem Kopf.

»Auch eine Feder?«, fragt sie irgendwann und greift nach einer kleinen Dose, gefüllt mit Perlen, Bändern und Federn. Ich überlege.

»Nee, danke.«

»Sicher?«

»Bin ich ein Vogel?!«

Sophie zuckt die Schultern und hält kurz inne. Sie schwitzt, die spätsommerliche Sonne hat mein Zimmer unterm Dach während der letzten Stunden stark aufgeheizt.

Sie bemerkt ihre halbfertig gerauchte Zigarette und schielt rüber zur Uhr über meiner Tür. Pink mit Einhörnern. Schrecklich! Aber als Neunjährige kam sie mir wie die wundervollste Uhr vor, die sich ein Mädchen zum Geburtstag wünschen kann.

»Machen wir eine Pause?«, fragt Sophie und lässt mein Haar los. Stattdessen kramt sie in ihrer Bauchtasche nach dem Feuerzeug und reißt die Fenster auf. Sie setzt sich in den Rahmen und blinzelt in die Sonne. Schon wieder vergisst sie, ihre Zigarette anzuzünden. »Klar«, sage ich und muss mir ein Lächeln verkneifen. Eine ausgemachte Raucherin wird sie wohl nie werden. Wahrscheinlich wieder eine Phase, so wie der Apfel-Cidre. Oder der grüne Lidschatten. Oder die Festivalbändchen.

Ich sehe aus wie Struwwelpeter. Irgendwie ungepflegt und unfertig. Mein Gesicht ist rot, mein Top ein wenig verschwitzt und überall stehen zerbrochene Härchen ab. Ich hoffe, sie bekommt das mit der Häkelnadel am Ende tatsächlich hin!

Ich schiebe meinen Sitzsack zu Sophie ans Fenster. Im Gegensatz zu mir passt sie gut in die Fensterhöhle, zierlich und schmal wie sie ist. Sie lehnt den Kopf gegen den weißen Holzrahmen und schließt die Augen. Ihr schulterlanges Haar sieht aus wie Sonnenstrahlen, es ist heute noch etwas buschiger als sonst.

»Erzählst du mir noch mal von Portugal?«, frage ich und krame in ihrer Perlendose, um mir mehr von dem Schmuck auszusuchen.

Sophie öffnet die Augen und guckt mich wieder an.

»Was willst du hören?«

»Die Geschichte vom ersten.«

»Vom ersten?«

»Na ja, vom ersten der sechs.«

»Ist aber die schönste Geschichte, sicher, dass ich die nicht für ein anderes Mal aufheben soll?«

»Nein, jetzt.«

»Na gut.«

Umständlich rückt sie sich zurecht und lässt die Füße in mein Zimmer baumeln. Sie setzt ihr Geschichtengesicht auf. Sophie ist eine richtige Märchenfrau, nur dass im Gegensatz zu Märchen ihre Erzählungen wahr sind. Sie liebt es, diese zu teilen, zumindest mit mir. Und ich höre gerne zu. Ihr Leben ist so viel aufregender als das meine.

»Also, es war mein erster Abend in Lissabon. Ich war froh, überhaupt einen Couchsurfer gefunden zu haben und nach den mehr oder minder schönen Geschichten der letzten Schlafmöglichkeiten ließ ich mich also trotzdem auf eine Übernachtung bei einem Kerl ein.«

Ich glaube, Sophie ist deutlich abenteuerlustiger als ich. Aber dessen bin ich mir schon seit der Grundschule bewusst.

»Ich konnte spontan doch nicht bei ihm übernachten, weil seine Familie überraschenderweise früher aus dem Urlaub kam, als geplant. Und deswegen bot er mir an, mir den Strand zu zeigen und dann ein Hostel für mich zu suchen.«

»Und auch zu zahlen?«

»Ja, auch das. Er meinte, er habe mir ja einen Schlafplatz versprochen.«

Ich hole eine kleine gelbe Muschel mit Loch aus Sophies Kästchen und halte sie ihr hin.

»Kannst du mir die reinflechten?«

Sie nickt und wischt meine Hand beiseite. Jetzt will sie ihre Geschichte loswerden.

»Am Strand war es sehr schön und wir unterhielten uns, bis es dunkel wurde. Mein Englisch war aber deutlich besser als seins. Ging trotzdem. Irgendwann sagte er zu mir, dass jetzt der letzte Bus ins Dorf führe. Ich sollte entscheiden, ob ich ins Hostel und er nach Hause gehen sollte, oder ob wir die Nacht bis zum ersten Bus am frühen Morgen zusammen am Strand verbringen wollen.«

»Und?«

»Ich entschied mich für den Strand.«

Sophies Lippen umspielt ein katzenhaftes Lächeln. Ich liebe es, wenn sie so guckt. Sie sieht dann noch jünger aus als sowieso schon. Eher wie sechzehn als wie zwanzig.

»Wir hatten eine Decke dabei und lagen die ganze Nacht wach am Strand. Es passierte weiter nichts und ich war wirklich überrascht. Er hielt mich einfach nur in den Armen und einmal küsste er mich sanft auf die Wange. Das war`s. Mehr nicht. Am frühen Morgen stieg dichter Nebel über dem Meer auf und ich habe noch nie so einen zauberhaften Moment erlebt. Sand zwischen den Zehen, Tropfen in den Haaren, übermüdet und in warmen Armen.«

»Das ist alles?«

»Nicht ganz.« Sie grinst jetzt verschmitzt und schnippt die Zigarette in unseren Garten. Geraucht hat sie nicht mehr.

»Als wir aufstanden, hatte man uns die Taschen geklaut. Ich hatte nicht mitbekommen, dass außer uns jemand hier war, und konnte es nicht fassen. Zum Glück lagen meine Wertsachen unter der Decke, aber meine Schuhe, mein Essen, alles war weg. Er versuchte mich zu trösten und schenkte mir seine Schuhe. Sie waren etwas zu groß, aber mit zwei Paar Socken passten sie mir.«

»Und dann?«

»Dann nahmen wir den ersten Bus und fuhren ins Dorf. Er küsste mich noch einmal sanft auf die Wange und meinte, dass ich eine Fee wäre. Und dann bin ich weitergetrampt.«

Ich schüttelte fasziniert den Kopf. Sophie erlebte einfach immer wahnsinnig spannende Sachen. Unfassbar! Ich bin mir unsicher, ob ich ihre Geschichten selbst erleben will, neidisch bin ich deshalb nie. Höchstens etwas enttäuscht von mir und meiner Art.

»Okay, genug pausiert!«, reißt Sophie uns zurück in mein geschmacklich fragwürdiges Kinderzimmer.

»Machen wir weiter?«

Ich nicke und zücke die Häkelnadel.

»Nein, die brauchen wir noch nicht.«

»Aber ich glaube, mir reichen so zwei oder drei Dreads.«

»Sicher, dass du nicht den ganzen Kopf voll haben möchtest?«

Ich überlege kurz, aber der Gedanke fühlt sich komisch an.

»Nein, nur drei. Und die dafür richtig schön.«

Sophie wirkt ein wenig enttäuscht und zuckt dann die Schultern. »Ich kann das. Ich habe auch Pippo Dreads gemacht.«

»Ja … nee, danke dir.«

»Ganz wie du meinst.«

Wir setzen uns erneut vor den golden umrandeten Spiegel und sie zieht weiter an meinen Haarsträhnen herum.

Es dauert eine ganze Weile, bis sie zum ersten Mal die Häkelnadel ansetzt und noch länger, ehe sie zufrieden ist. Ich muss zugeben, am Ende sehen alle drei Dreads doch sehr ordentlich und schön aus.

»Fertig!«, sagt Sophie im selben Moment, in dem meine Mutter etwas von Eis und Kirschen nach oben ruft.

»Oh!«, schreit Sophie. Sie liebt Zucker in jeglicher Form und reißt meine Zimmertür auf. Eine Sekunde später hat sie das Treppengeländer erreicht.

»Jetzt komm, Greta, das Eis schmilzt doch!«

Nur schwer kann ich mich von dem Anblick im Spiegel losreißen. Ich bin noch wie gebannt von dieser kleinen äußeren Neuerung. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich mich zu selten verändere.

Ich schlurfe über den Teppich in den Flur, doch Sophie ist die Treppe schon hinabgesprungen.

Ich greife nach dem Geländer und lasse meine Hände über das Holz gleiten, betrachte im Gehen die Familienfotos an der Wand. Meine Eltern, mein Bruder, meine Großeltern, Sherlock, unser Hund, und ich.

Unser Wohnzimmer ist wie immer aufgeräumt und die weißen Vorhänge blähen sich ein wenig im Wind der offenen Terrassentür. Ich trete in den Garten, die Sonne blendet mich, doch durch die Brise ist die Hitze deutlich erträglicher als oben in meinem Zimmer.

Altweibersommer würde meine Oma sagen.

Meine Mutter hat den Holztisch im Garten gedeckt, das feine russische Geschirr mit den blauen Ornamenten. Mein Vater und mein Bruder sitzen schon auf den weißen Gartenstühlen. Wenn ich es mir recht überlege, ist fast alles bei uns zu Hause weiß. Die Lieblingsfarbe meiner Mutter, sauber und unschuldig.

Sophie lässt sich auf den Stuhl am Kopfende plumpsen, zieht die Knie an und starrt mit gierigen Augen auf die frischen Kirschen, die meine Mutter auf einer Porzellanplatte mit vielen Kugeln Vanilleeis drapiert hat. Meine Mutter trägt einen hellen Sonnenhut und neigt ihren Kopf leicht meiner Freundin zu. Manchmal frage ich mich, wieso sie Sophie mit ihrem strubbligen Haar und dem Nasenring mag. Ihre Art passt eigentlich nicht in das Weltbild meiner Mutter. Aber Ausnahmen bestätigen wohl die Regel. Und Sophie ist so herzlich, jeder mag sie.

»Margarethe, mein Herzchen, setz dich«, meint meine Mutter und drückt mich sanft auf einen der letzten freien Stühle, ehe sie beginnt, die Süßspeise auf die Teller zu häufen. Bei Sophie fängt sie an. Sie bekommt die größte Portion.

Als Letztes nimmt meine Mutter sich ebenfalls einen ganz kleinen Löffel und strahlt in die Runde.

»Ich hoffe, es schmeckt euch, meine Lieben.«

Sophie hat schon längst angefangen. Ich tauche meinen Löffel in die weiche Creme, die mir auf der Zunge zerläuft. Seit meine Mutter dieses neue Küchengerät hat, probiert sie fast täglich neue Kreationen aus. Ich muss sagen, das Eis gehört zu meinen bisherigen Favoriten.

»Wunderbar, Lisbeth«, seufzt mein Vater und streichelt kurz ihre Hand.

»Danke, Bernd.«

Bilderbucheltern. Manchmal nett, manchmal zum Kotzen.

Mein Bruder sagt nichts, er schaufelt sich nur eine zweite Portion Eis auf den Teller, sortiert die Kirschen aus und schiebt sich den Löffel in den Mund. Er kann sich so etwas derzeit erlauben, die Universalerklärung meiner Mutter lautet: »Lasst nur, der Junge ist im Wachstum.«

Auch Sophie nimmt sich nach. Als ich zum großen Löffel greifen will, guckt meine Mutter mich eine Sekunde fragend an. Ich weiß, dass ich im letzten Jahr etwas zugenommen habe. Ein komisches Gefühl steigt meine Kehle hinauf und ich ziehe die Hand zurück.

Sophie kratzt ihren Teller leer und ich sehe Franz an, dass er versucht ist, sein Geschirr abzulecken, doch er widersteht und wischt die Reste nur mit dem Zeigefinger auf, als meine Mutter sich mir zuwendet und nun doch die Dreads entdeckt.

»Margarethe!«, ruft sie und ihre glatte Stirn wirft eine Sorgenfalte. »Was ist das denn?!«

»Ähm …«

»Das sind Dreads, Frau Moosbach«, springt Sophie sofort ein. »Sie haben in einigen Kulturen spirituelle oder religiöse Bedeutungen. Die meisten hier in Europa kennen sie durch die Rastafari-Bewegung. Oder sie wissen nichts darüber und tragen sie aus modischen Gründen.«

Ich liebe Sophie.

»Ah ja?«, gibt meine Mutter argwöhnisch zurück und nimmt einen der Dreads in die Hand.

»Die fühlen sich ja an wie raue Filzwürste.«

»Die Technik ist durchaus vergleichbar«, erklärt Sophie und dreht ihren Nasenring. »Eigentlich wollte ich Greta den ganzen Kopf …«

»Den ganzen Kopf?!«, ruft meine Mutter und zuckt mit ihrer Hand zurück.

»Lisbeth, bitte«, murmelt mein Vater und hebt beschwichtigend die Hände. »Wir waren doch auch mal jung. Weißt du noch, als wir uns gegenseitig die Haare mit Henna gefärbt haben, während wir in dem besetzten Haus gewohnt haben?«

Er schmunzelt.

»Du sahst damals ziemlich scharf aus, mit deinem Hexenhaar. Und ich wie Pumuckl.«

»Ach, hör doch auf«, entgegnet meine Mutter, doch ich sehe ihr an, dass sie sich ein geschmeicheltes Lächeln verkneifen muss.

»Zum Glück sind es ja erst drei, die können wir noch unkompliziert entfernen. So wirst du nie einen Job finden, Margarethe.«

»Ich habe doch noch nicht einmal einen Studienplatz«, murmle ich.

Sie putzt sich die sauberen Hände pflichtbewusst an der Serviette ab und steht auf.

»Ich hole die Schere.«

Mein Vater seufzt. »Lisbeth, lass sie doch.«

Meine Mutter ist bereits auf halbem Wege zum Haus und lässt sich nicht mehr aufhalten.

»Ich finde es hübsch«, meint Bernd zu mir und lächelt mich unter seinem Schnurrbart an.

»Greta, bist du fertig?«, fragt Sophie und spießt eine letzte Kirsche hastig mit der Kuchengabel auf.

»Denke schon.«

»Na dann los! Ehe die Schere kommt, sind wir doch längst weg.« Sie zieht mich aus meinem Stuhl und stolpert zum Gartentor.

»Bis bald, Herr Moosbach, tschüss, Franz!«

Dann reißt sie das weiße Holztörchen auf und zieht mich kichernd auf den Gehweg.

»Na, das war aber in allerletzter Sekunde«, lacht sie und ich nicke.

»Und trotzdem konnten wir das Eis deiner Mutter aufessen.«

»Gelungene Kombi«, erwidere ich und befühle einen meiner Dreads. Sie fühlen sich wirklich an wie harter Filz. Eigen, ein bisschen eklig und ziemlich, ziemlich wunderbar.

Der erste Herbsttag kommt jedes Jahr schneller, als man denkt. Er ist überraschend windig, bunt und voller Vorfreude auf die Zeit mit Tee, Kastanienmännchen und Drachen steigen.

Mittwoch hat die Sonne Sophie und mir noch auf den Pelz geschienen, während wir uns am Wannsee in der Sonne geaalt haben und Donnerstag gießt es wie aus Eimern.

Ich renne nach Hause, die Mappe mit meinen Bildern in der Hand. Zum Glück wohnen wir nahe der U-Bahn und ich trage Gummistiefel. Die Autos rasen an mir vorbei und spritzen mich mit ihrem Fahrwasser von oben bis unten nass. Egal, zu Hause werde ich heiß duschen und mich in gemütlichen Klamotten aufs Sofa kuscheln. Vielleicht läuft im Fernsehen ein Märchenfilm.

Kurz bevor ich in unsere Straße einbiege, renne ich in einen Kerl. Braune Jacke, nur wenige Zentimeter größer als ich, ich erkenne den Geruch sofort.

Meine Mappe fällt zu Boden und die entwickelten Fotos verteilen sich auf dem schmutzigen Asphalt.

»Greta!«

Ich gucke gebannt zum Boden, wo meine Fotos anfangen, auf einer entstehenden Pfütze zu schwimmen.

»Hallo, Lukas.« Einen Moment gebe ich mir noch, ehe ich aufsehe. Das dunkelbraune Haar klebt an seinen schmalen Wangen und seine Augen blicken mich weich an. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte dir deinen Fahrradhelm bringen, der lag noch bei uns in der Garderobe. Geht’s dir gut?«

»Bestens.«

Er hockt sich nun hin und beginnt, die feuchten Abzüge einzusammeln. Der Regen trommelt laut und unablässig auf seinen Rücken. Eine Fotografie von meinem Hund Sherlock betrachtet er eine Weile, während ein Tropfen von seiner Nase auf das Bild fällt.

»Ich vermisse unsere Spaziergänge mit dem Hund. Das war immer sehr schön.«

Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt.

»Warum sagst du so was?«

Die Autos rauschen weiter an uns vorbei und ich bin unsicher, ob er mich verstanden hat.

Irgendwann meint er: »Keine Ahnung, das hätte ich vielleicht lassen sollen.«

Er sammelt die Reste ein und reicht mir die triefenden Aufnahmen.

»Schöne Bilder«, sagt er, kramt in seinem Beutel und reicht mir meinen Helm. Ich schaue ihm in die Augen, nicke knapp und gehe mit festem Schritt an ihm vorbei. Ich hoffe er sieht nicht, dass mir eine Träne über die Wange läuft. Zum Glück habe ich ohnehin genug Regen im Gesicht, sodass die Chancen gut stehen.

Umdrehen werde ich mich nicht, ich gehe im Stechschritt zu unserer Haustür. Erst, als ich im Flur stehe und den guten Teppich meiner Mutter volltropfe, atme ich erleichtert auf.

Ich pelle mich aus dem feuchten Pulli und möchte mich die Treppe nach oben ins Dachgeschoss schleichen, doch ich war zu laut.

»Margarethe«, flötet meine Mutter aus dem Wohnzimmer heraus. »Bitte zieh die Schuhe im Bad aus und komm dann zu uns. Wir haben eine Überraschung.«

Ich rolle mit den Augen, eine Angewohnheit, die meine Mutter seit Jahren versucht mir abzugewöhnen. Die durchweichten Chucks stelle ich ins Bad und knete meine vereinzelten Dreads. Wenn die erst mal nass sind, dauert es eine Weile, ehe die Feuchtigkeit gänzlich verschwindet. Ich wische mir mit einem Stück Klopapier über die Nase, dann atme ich einmal tief durch und drücke die Glastür zum Wohnzimmer auf.

Meine Eltern sitzen auf der weißen Ledergarnitur. Auf dem Couchtisch brennen Kerzen, ein kleiner Schokokuchen in Herzform und zwei Briefumschläge sind hübsch hindrapiert.

Die Hand meines Vaters liegt auf dem Knie meiner Mutter. Er lächelt.

Die Hand meiner Mutter liegt auf den Fingern meines Vaters. Sie strahlt.

»Margarethe, setz dich!« Sie greift zum Messer und schneidet den Kuchen in schmale Streifen.

»Ich habe gebacken, für dich, zur Feier des Tages.«

Argwöhnisch betrachte ich den Tisch. Sie drängt mir ein Stück Kuchen auf, obwohl sie normalerweise pingelig genau darauf achtet, dass ich nicht zu viel Süßkram bekomme. Ich beiße hinein, doch meine Kehle ist zu trocken, um den Rührkuchen zu schlucken, und belasse es bei dem einen Bissen.

»Na, los doch!«, sagt meine Mutter und packt die Hand meines Vaters so fest, dass er pfeifend ausatmet. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen!«

»Was meinst du denn?« Ich runzle die Stirn.

»Na, die Briefe! Beide Unis haben dir endlich die Zulassungen geschickt. Du musst sie nur noch öffnen und dich für eine Uni entscheiden.«

Der Kloß in meinem Magen wird wieder groß. Jetzt ist der Moment da. Ich glaube, meine Mutter hat mehr auf ihn gewartet als ich. Ursprünglich wollte ich gar nicht studieren. Ein FSJ wäre schön gewesen, es muss ja nicht gleich eins mit schwer erziehbaren Kindern sein, wie Sophie es jetzt begonnen hat. Einfach etwas anderes nach der Schule machen. Mein Vater fand die Idee in Ordnung, meine Mutter hielt es lediglich für Zeitverschwendung. Meine zwei Unibewerbungen, beide hier in Berlin, denn laut meiner Mutter ist es günstiger und praktischer, wenn ich zu Hause wohnen bleibe, waren entsprechend etwas halbherzig.

Meine Mutter kichert und stößt meinen Vater an: »Vor uns sitzt eine zukünftige Biologin oder eine Juristin, die sich gleich für einen Studiengang entscheiden wird.«

Mit meinen Gedanken bin ich noch bei Lukas, als ich beide Briefe aufreiße. Deswegen dauert es auch mehrere Sekunden, ehe ich realisiere, was ich da in den Händen halte. Als ich es ausspreche, fällt meiner Mutter fast die Kinnlade herunter, ihr Entsetzen ist groß, noch größer als an dem Tag, an dem sie Franz zum ersten Mal aus der Milchtüte hat trinken sehen.

»Margarethe …«, flüstert sie und blickt fassungslos auf die Zettel in meinen Händen. Mein Vater räuspert sich und streichelt ihr Bein.

Ich stürme aus dem Raum, die Treppe hinauf, in mein Traumzimmer einer Neunjährigen.

Die beiden Ablehnungsbescheide lasse ich unten liegen.

Ich drehe den Fahrradhelm in den Händen, während ich meine Füße unter der Bettdecke vergrabe. Ich wusste genau, dass er noch bei Lukas lag, aber nach dem »Brief« hatte ich den Eindruck, dass er ihn mir bringen soll, nicht umgekehrt. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur Schiss.

Das mit der Uni ist mies. Klar, so richtig viel Lust hatte ich zwar nicht, aber jetzt habe ich keinen Plan mehr bis zum nächsten Semester. Super. Ich hasse es, wenn ich keine Aufgabe habe, ich hasse es, dafür halte ich die Zeit mit mir allein einfach zu schlecht aus. Ich betrachte den Fahrradhelm. Er ist etwas Besonderes, denn Lukas hat ihn mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt, als alles noch gut war.

Wir wollten immer mit dem Rad nach Spanien fahren, so ein gemeinsamer, kindischer Traum. Doch dann kam unser Abi, seine Studienpläne, und es kam die Idee, ein anderes Leben zu führen und damit war es vorbei mit träumen.

Erneut rollt mir eine Träne die Wange hinab und tropft auf die Plastikschale des Helms. So etwas Dummes!

Jetzt stehe ich da, ohne Studienplatz und ohne Fahrradreise. Wahnsinn. Wäre ich Sophie, würde ich die Gelegenheit beim Schopf packen, das Ganze als schicksalhaftes Zeichen deuten und alleine losradeln. Aber ich bin nicht Sophie.

Als ich sie anrufe, sagt sie mir genau das. Ich kenne sie gut, meine Freundin aus der Grundschule.

»Hast du Lust, zu mir zu kommen?«, fragt sie mich durchs Telefon.

»Wir können Sims spielen oder irgendetwas anderes Dämliches aus Kindertagen machen, das dich aufbaut.«

Ich denke kurz nach. Alles ist besser, als in meinem rosa Zimmer zu sitzen, zu weinen und mich dann doch der Enttäuschung meiner Mutter zu stellen.

»Okay«, murmle ich.

»Was sagst du?«

»Okay.«

»Ich kann dich nicht verstehen. Sei lauter, sei überzeugter.«

»Okay!«

»Sag Ja!«

»Ja!«, brülle ich in den Hörer und muss plötzlich doch lachen. Ich liebe sie einfach.

»Ich nehme die nächste U-Bahn, dann bin ich da.«

»Nein, du schnappst dir deinen Helm und radelst hierher.«

»Okay.«

»Wie heißt das?«

»Ja!«

Am Ende des Tages haben wir tatsächlich mehrere Stunden Sims gespielt, Freundschaftsbänder geknüpft und geschätzte zehn Kilo Schokopudding sowie eine Flasche Sekt verputzt.

Es lebe die Freundschaft!

Ich mag Sophies Küche, seitdem ich sie zum ersten Mal beim Streichen betreten habe. Das ist jetzt drei Jahre her. Sie ist schmal, hell und eine typische WG-Küche.

Das T-Shirt, das ich mir über die angezogenen Knie ziehe, ist viel zu groß und gehörte sicher einem von Sophies unzähligen Exfreunden. Ich frage nicht nach, welchem von ihnen.

Lesen Sie weiter in der vollst?ndigen Ausgabe!

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